Nichts als Überraschungen: Das Scala-Orchester mit starkem Auftritt im Konzerthaus Dortmund

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Scala-Orchester. Foto: Petra Coddington

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Orchestra Filarmonica Della Scala. Foto: Petra Coddington

Impressionen eines Konzertes, die, so dahingewürfelt, seltsam klingen mögen. Doch gemach: Die Symbolkraft und Besonderheit der Beobachtungen wird sich alsbald erschließen. Also halten wir fest, dass Daniil Trifonov jetzt Vollbart trägt, dass die Zugabe dieses spannenden Nachmittages ein zeitgenössisches Stück ist – der Komponist sitzt im Saal – und dass Schumanns Musik teils wie von Fieber geschüttelt, teils ungewohnt introvertiert klingt.

Wir hätten das so nicht erwartet, bei diesem Gastspiel des Mailänder Orchestra Filarmonica Della Scala in Dortmunds Konzerthaus, am Pult der Chefdirigent, Riccardo Chailly. Andererseits gehört es ja zur Philosophie der Dortmunder Veranstalter, dem Publikum immer aufs Neue scheinbar Bekanntes im veränderten Klanggewand zu präsentieren. „Raus aus deinen Hörgewohnheiten“ ist das Motto. Nun, in diesem Konzert mit Schumanns „Manfred“-Ouvertüre, dem Klavierkonzert und seiner 2. Sinfonie ist das auf Eindrucksvollste gelungen. Nichts als Überraschungen, wohin sich Aug’ und Ohr auch wenden.

Beginnen wir mit dem Solisten. Der 25jährige Daniil Trifonov scheint aus seiner übervirtuosen Sturm-und-Drang-Phase schon herausgewachsen, technische Schwierigkeiten können ihm offenkundig kaum noch etwas anhaben, sein Spiel hat an Reife und Reflektion enorm gewonnen. Bei Schumann jedenfalls nimmt er sich extrem zurück. Versinkt in der Musik, artikuliert zartfühlend, wirkt wie ein scheuer Zeremonienmeister. Oder auch, die Assoziation sei ob des Bartes gestattet, wie ein Eremit, der ganz im Klang gefangen ist.

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

So einer will nicht auftrumpfen, nicht voller Überschwang durchs lebhafte Finale fegen. Stattdessen rhythmische Strenge, das Virtuose fest unter Kontrolle, auf dass der Satz ja nicht zu viel Gewicht bekomme. Schumanns Konzert atmet gewissermaßen romantische Clarté, hell im Klangbild und wie abgespeckt. Dies ist dem fulminanten Dirigat Chaillys zu danken: Nie wird das Klavier vom Mailänder Orchester zugekleistert, vielmehr hören wir eine dynamisch wunderbar ausbalancierte Musik.

Trifonov spielt Schumann im Geiste Chopins. Das mag nicht jedermanns Sache sein, wenn hier und da die gestelzte Dekadenz eines Salons durchschimmert, doch am Ende hat der Pianist das Publikum auf seiner Seite. Überraschung gelungen. Wie denn auch das Orchester staunen macht. Ein Klangkörper, der mit warmen Holzbläserfarben überzeugt, dessen Violinschmelz wohltönt, der überhaupt ungemein wach agiert auf Chaillys Dirigat. Der Chef der Mailänder ist ein Kapellmeister der alten Schule, ohne körperliche Verrenkungen und andere Marotten.

Und er ist, was nun die Aufführungspraxis angeht, ein Vollblutmusiker, der etwas wagt. Weil er, in Schumanns Ouvertüre und Sinfonie, nicht der Originalklangbewegung nachspürt, die ja längst in der Spätromantik angekommen ist, sondern vielmehr die Retuschen Gustav Mahlers verwendet. Und da geht es nicht um Kleinigkeiten, sondern um beherztes Eingreifen in die Originalpartituren. Da klingen plötzlich Blechbläser mit Dämpfer auf, die Schumann niemals verwendet hat, da tummeln sich allein 26 erste und zweite Geigen sowie neun Kontrabässe auf der Bühne. Eine großorchestrale Besetzung, als gelte es, bloß ordentlich Effekt zu machen.

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Doch Chailly ist kein fahrlässiger Maestro am Pult, der es mal richtig knallen lassen will. Er stellt zur Diskussion. Und wenn in der „Manfred“-Ouvertüre das Klangbild hell und aufreizend funkelt, der musikalische Verlauf wie im Rausch vorüberflitzt, jede Beruhigung mehr Schein als Sein ist, wenn es schroff und wild zugeht, dann fällt es schwer, „ja, aber…“ zu rufen. Immerhin sei angemerkt, dass die Holzbläser oftmals kaum zu hören sind. Erst am Ende, wenn die Spannung nach und nach verebbt, Schumann (mit Mahler) auf Reduktion setzt, entdecken wir den balsamischen Klang von Flöten, Oboen oder Klarinetten.

Ähnlich geht es in der Sinfonie zu. Deren Hauptmotiv wird anfangs zwar noch etwas unstrukturiert vorgetragen, doch alsbald liegt alles so offen wie fiebrig und dynamisch exaltiert vor Ohren. Als Höhepunkt darf der langsame Satz gelten, dessen tristaneskes Sehnsuchtsmotiv sich ins Hymnische weitet. Da ist der Weg zu Bruckner nicht mehr fern. Dann wieder Atemlosigkeit im auftrumpfenden Finale, kraftstrotzend und roh wie bei Beethoven, teils in grenzwertiger Lautstärke. Alles vom Mailänder Orchester souverän gemeistert, präzise und mit unbedingter Leidenschaft. Überraschung erneut gelungen.

Doch damit nicht genug. Das Orchestra Filarmonica Della Scala tritt zur Zugabe an. Rasch huschen noch ein paar Musiker herbei, darunter das Personal für kleine und große Trommel sowie Becken. Sollten die Italiener als Rausschmeißer noch einen Rossini in Petto haben, serviert aus dem Mutterland der Oper? Weit gefehlt. Angekündigt wird Carlo Boccadoros „Fast Motion“. Eine vierminütige Raserei mit scharfen harmonischen Reibungen, teuflisch komplexer Rhythmik und in zumeist eminenter Lautstärke. Maschinenmusik wie von futuristischer Hand, garniert indes mit allerlei Jazzidiomatik. Ein neues Stück, wie sich herausstellt, der Komponist sitzt gerührt im Publikum, von vielen italienischen Fans frenetisch bejubelt. Überraschung gelungen: Hier, im Konzerthaus Dortmund, erklingt das Stück – eine Zugabe (!) – tatsächlich als deutsche Erstaufführung. Respekt.

 

 




Ordnung, Rhythmus, Anarchie: François Morellets Konzept-Lichtkunst in Unna

François Morellet: „Néon abscon“  (1963). Foto: Frank Vinken.

François Morellet: „Néon abscon“ (1963). Foto: Frank Vinken.

Er liebe die Strenge der Geometrie, sagte François Morellet, aber noch mehr liebe er es, alle Strenge zu ignorieren. Was wie ein nettes dialektisches Wortspiel wirkt, ist nun im Zentrum für Internationale Lichtkunst in Unna am konkreten Kunstwerk abzulesen. Das weltweit erste Lichtkunstmuseum – im Mai 2001 eröffnet – widmet dem Pionier der Konzeptkunst aus Licht eine Sonderausstellung. Sie entstand noch in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler, der im Mai kurz nach seinem 90. Geburtstag verstorben ist.

Alle zehn ausgestellten Arbeiten treiben ihr Spiel mit der perfekten Form. Sie ist wie eine Matrix, auf der sich das Aufbrechen statischer Symmetrie ereignet. Die Stabilität von Linien und Formen wird, wenn sie nicht überhaupt nur vorgetäuscht ist, infrage gestellt.

Die drei Arbeiten aus Morellets Anfangsphase, aus den sechziger Jahren, wirken noch sehr streng. Zumindest auf den ersten Blick. Damals, 1963, entdeckte Morellet das Medium Licht, das ja eigentlich ein uraltes expressives Mittel ist. Die religiös motivierte Kunst der gewaltigen Megalith-Baukomplexe der Jungsteinzeit setzt es ein, die Kathedralbaumeister des Mittelalters wussten um seine Symbolik. Mit der Konstanz und Berechenbarkeit des elektrischen Lichts gewann das Medium eine neue Qualität. Jetzt war es möglich, Licht „an sich“ zu nutzen, frei von den Beschränkungen des natürlichen Lichts, frei von der Vergänglichkeit des Scheins von Kerzen oder Feuer.

Das Zentrum für Internationale Lichtkunst in der ehemaligen Lindenbrauerei in Unna. Foto: Werner Häußner

Das Zentrum für Internationale Lichtkunst in der ehemaligen Lindenbrauerei in Unna. Foto: Werner Häußner

Morellet erkannte die transzendierende Kraft des Lichts. Im Dunkel der Kavernen der Lindenbrauerei in Unna, wo einst Maische gärte und Bier reifte, tritt durch das Licht die Form an sich vors Auge, scheinbar durch keine Krücke der Materie gestützt. „64 lampes – Allumage avec 4 rythmes superposès“, die älteste Arbeit von 1963, könnte ein bewegungsloses Quadrat sein – sozusagen die überzeitliche ideale Form. Aber die Lichtquellen schalten sich an und ab, in vier unterschiedlich gegliederten Rhythmen, und schaffen so durch den Einfluss der Zeit eine verwirrende Vielfalt von Formen. Bezügen, Linien und Körpern. Das Auge wird auf Dauer überfordert: Es nimmt die Formen wahr, kann sie aber nicht behalten, hat nur noch einen rasch verblassenden Eindruck. Wahrnehmungsreste auf der Netzhaut, hastige Erinnerung, überlagert von Neuem. Das komplexe Thema Wahrnehmung behandelt Morellet in dieser Arbeit auf eine so minimalistische wie umfassende Weise.

Ähnlich geht er in „Néon – Éclairage avec 3 rythmes superposés“ von 1964 vor: In einem Quadrat sind neun Reihen von Leuchtstäbchen angeordnet. Zeitweise dominiert die Waagrechte, wenn der Rhythmus entsprechend geschaltet ist. Dann laufen die horizontalen Linien auch nach oben oder unten, aber die Regelmäßigkeit wird gestört und schließlich zerstört: Die Vertikale setzt sich durch, die sich überlappenden Rhythmen erzeugen flirrende Anarchie, aus der sich für Augenblicke vertraute geometrische Formen bilden, um gleich wieder im Wechsel der Lichter zu zerstieben. Auch „Néon abscon“ mit seinen sattroten Kreisen und Linien wirkt zuerst beruhigend stabil, wie eine typische Schmucktapete der sechziger Jahre. Aber dann schalten sich für Augenblicke einzelne Segmente ab und hinterlassen irritierend fragmentierte Figuren.

François Morellet: "Gesticulation 1, 2, 3" im Keller der ehemaligen Lindenbrauerei. Foto: Frank Vinken.

François Morellet: „Gesticulation 1, 2, 3“ im Keller der ehemaligen Lindenbrauerei. Foto: Frank Vinken.

Die späteren Arbeiten verzichten auf Rhythmus und Zeit. Sie füllen statisch und veränderungslos, in vollendeter Schönheit, ihren Raum. „Gesticulation“ heißen die drei jüngsten Arbeiten von 2015: an die Wand komponierte schlanke, weiße Neonröhren, die wirken, als habe jemand eine bewegte punktförmige Lichtquelle in einer Langzeitbelichtung auf Fotopapier festgehalten: Linien, die aus Bewegung entstanden, aber nun im Raum festgeschrieben sind.

Morellet spielt das Spiel mit der Polarität von Ordnung und Freiheit nun auf andere Weise: Das Auge sucht eine Regel, späht nach Symmetrien oder Bezügen, meint sie auch zu entdecken, wird aber enttäuscht. Während das rote Kreuz aus zwei unterschiedlich lang pulsierenden Lcht-Linien in „2 Néons 0“ – 90“ avec 2 rythmes interférents“ wenigstens für einen kurzen Moment seine perfekte Form zeigt, sind die „Gesticulationes“ in ewige Helle gebannte Spontaneität.

Dass die Lichtwerke in Unna an den gefurchten Wänden eines Steinkellers hängen, macht sie noch beziehungsreicher: Ihr reines, ätherisches Licht lässt die Narben und Spalten des Steins hervortreten und schafft – ebenso wie die hängenden, schwarzen Stromzuleitungen, einen materiell-skulpturalen Charakter, den Morellet vielleicht nicht beabsichtigt hatte, der aber seinen Objekten eine zusätzliche Dimension gibt.

Die ehemalige Lindenbrauerei in Unna. Foto: Werner Häußner

Die ehemalige Lindenbrauerei in Unna. Foto: Werner Häußner

Der Rundgang durch die Licht-Keller der 1979 stillgelegten Lindenbrauerei beginnt auf einer Glasplatte, durch die man auf eine Arbeit von Jan van Munster (geb. 1939) blickt: „Ich (im Dialog)“ von 2005 lässt in zehn Sprachen das Wort „Ich“ in variablen Rhythmen auf mehreren Ebenen aufleuchten – und im Lauf des Rundgang steht man dann am Boden des ehemaligen Fallschachtes und schaut nach oben auf die blau blinkenden Buchstaben. Nicht zu verpassen ist François Morellets Arbeit „NO END NEON (Pier and Ocean)“, die er 2001/2002 für einen der Keller geschaffen hat – als Hommage an Piet Mondrian, auf dessen gleichnamige Zeichenserie sich der Titel bezieht.

Die Bewegung des Besuchers verändert hier die Installation – ähnlich wie die Versuchsanordnung in einem physikalischen Experiment. Passiert er eine unsichtbare Lichtschranke, wandelt sich das zuvor in erhabener Symmetrie ruhende Lichtwerk in eine bewegte, von schrägen Linien und Diagonalen durchsetzte Raumlandschaft. Ein Werk, das vielfältige Assoziationen zulässt – ein Merkmal der genial einfachen Konzeptkunst Morellets überhaupt.

Diese Kunst bewahrheitet auf ihre Weise, was Heinrich Heine in seinem Satz „Die Welt ist die Signatur des Wortes“ ausgedrückt hat – ein Zitat aus dem Dritten Buch von „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, das Joseph Kosuth in einer Installation am Beginn des Rundgangs in einer monumentalen, von keinem Ort des Raums zur Gänze lesbaren Leuchtschrift auf den Grund eines Eiskellers gelegt hat.

Die Ausstellung „Morellet“ im Zentrum für Internationale Lichtkunst Unna ist bis 29. Januar 2017 zu sehen. Sie ist zugänglich im Rahmen der öffentlichen Führungen, die Dienstag bis Freitag um 13, 15 und 17 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen zu jeder vollen Stunde von 12 bis 17 Uhr stattfinden. Info: www.lichtkunst-unna.de

Das Zentrum für Internationale Lichtkunst bietet am 1. Oktober ab 18:30 Uhr eine „Lichtreise“ von Unna über Schwerte und Bönen nach Bergkamen an, bei der Lichtkunstinstallationen von wie Kazuo Katase, Rosemarie Trockel, Mischa Kuball, Andreas M. Kaufmann oder Maik und Dirk Löbbert zu erleben sind. Am 26. November findet im Rahmen des Projekts „Hellweg – ein Lichtweg“ die erste „Nacht der Lichtkunst“ statt. Auf neun „Lichtreisen“ lassen sich die Lichtkunstwerke zweier oder mehrerer Städte erfahren.




Leben wird Literatur, Literatur wird Leben: Navid Kermanis Roman „Sozusagen Paris“

Welch eine Überraschung: Gerade hat der Autor in einer Kleinstadt aus seinem neuen Roman gelesen, da steht die Figur, um die sich im Buch alles dreht, vor ihm. Als Schüler war er unsterblich in ein schönes und kluges Mädchen verliebt: das ist jetzt 30 Jahre her. Beide haben sich aus den Augen verloren. Doch bei ihm ist die Sehnsucht nach der Frau, die er im Roman Jutta nennt, geblieben.

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Nun erfährt er, dass sie verheiratet ist und drei Kinder hat. Sie ist Ärztin geworden und Bürgermeisterin in einem Provinz-Kaff. Als sie ihn spätabends in ihr Haus auf ein letztes Glas Wein, einen Joint und ein Gespräch einlädt, sagt der ebenso faszinierte wie irritierte Autor nicht nein. Doch während Jutta bis zum Morgengrauen von ihrem Leben und ihren Ehekrisen erzählt, denkt der Erzähler bereits darüber nach, wie er aus dem unverhofften Wiedersehen einen Roman machen könnte.

„Sozusagen Paris“, der neue Roman des 1967 in Siegen geborenen und heute in Köln lebenden Navid Kermani, ist kein politisches Buch. Das mag manche überraschen. Denn der streitbare deutsch-iranische Autor, Journalist und Orientalist ist zuletzt nur noch als politische Stimme, als Mahner und Warner wahrgenommen worden. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat der bekennende Moslem dazu aufgerufen, den islamistischen Terror militärisch zu bekämpfen, bevor er die versammelten Honoratioren aufforderte, mit ihm gemeinsamen für den Frieden zu beten.

In seinem Buch „Ungläubiges Staunen“ untersucht Kermani aus muslimischer Sicht die Bilder-Sprache des Christentums und versucht, eine Brücke zwischen den Religionen zu bauen. Manchen gilt er gar schon als geeigneter Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten.

Wer nun aber den neuen Roman nach politisch verwertbaren Statements und Debatten fördernden Argumenten im Streit der Kulturen durchforstet, wird das Buch enttäuscht beiseite legen. Denn auf den ersten Blick ist „Sozusagen Paris“ ein Liebesroman, auf den zweiten eine Reflexion über das Schreiben. Doch eigentlich ist es ein Buch darüber, wie sich Schriftsteller ungeniert bei Vorläufern aus der Weltliteratur bedienen und wie sich das Leben in Literatur verwandelt. Oder ist es nicht vielleicht umgekehrt?

Kermani nimmt Themen und Personal seines Romans „Große Liebe“ wieder auf und verwickelt den Leser erneut in ein literarisches Verwirrspiel: Er hantiert furios mit seiner Rolle als Erzähler, fleddert die französischen Ehekrisen-Romane es 19. Jahrhunderts, zitiert Stendhal und Proust, Balzac, Flaubert und Zola, kommt irgendwann auch bei Adorno vorbei und scheut schließlich nicht davor zurück, seine eigenen Bücher ironisch auszuschlachten.

Warum auch nicht. Denn für alles, was Jutta dem Autor (der eine gewisse Ähnlichkeit mit Kermani hat) in dieser langen Nacht über sich und ihre Arbeit, ihre Ehe und ihre aufgehäuften Frustrationen erzählt, gibt es literarische Vorbilder. Wenn in Juttas Bücherregal Flauberts „Madame Bovary“ oder Balzacs „Erinnerungen zweier junger Ehefrauen“ stehen, warum soll der Erzähler dann nicht daraus zitieren? Alles verwandelt sich in Literatur, die Realität ist nur ein Traum und die Wirklichkeit ein Reise in die Welt der Fantasie.

Weil der Erzähler Moslem ist, möchte Jutta natürlich auch über Terror, Flucht und Integration diskutieren. Doch der Autor, der sein frisch entflammtes Begehren nach seinem alten Jugendschwarm kaum zügeln kann, will viel lieber über Sex und Erotik reden, will mehr darüber erfahren, warum sich Jutta dem indischen Tantra verschrieben hat und wie man es anstellt, nicht enden wollende Orgasmen zu bekommen.

Um das literarische Spiel auf die Spitze zu treiben, streitet sich der Autor auch jetzt schon mit dem Lektor des noch gar nicht geschriebenen Romans, versucht bereits, dessen Kritik an einzelnen Formulierungen und den Vorwurf, der Erzähler würde sich allzu sehr in Ehe-Kitsch und Alltags-Klischees suhlen, zu entkräften.

Immer wieder richtet der Autor auch das Wort an den Leser und macht ihn zum Komplizen seiner Wünsche und Ängste. Die Leser, so scheint es, dürfen entscheiden, ob der Autor die sich in Rage redende und in Tränen ausbrechende Jutta nicht nur tröstend in den Arm nehmen, sondern auch ins Bett begleiten soll. Oder ist das Begehren nur eine nostalgische Lüge und die Sehnsucht ein frommes Gift? Darüber darf der intelligent und vergnüglich unterhaltene Leser (bzw. die Leserin) in Ruhe nachdenken, während der Autor bei Jutta auf dem Gästeklo hockt, seine Liebe zu Neil Young wieder entdeckt und sein altes „Buch der von Neil Young Getöteten“ mit neuen Überlegungen ins Heute weiterdenkt.

Navid Kermani: „Sozusagen Paris“. Roman. Hanser Verlag, München 2016, 287 S., 22 Euro.

Infos:
Geboren wurde Navid Kermani 1967 in Siegen, heute lebt der für sein literarisches und essayistisches Werk vielfach ausgezeichnete Schriftsteller, Journalist und habilitierte Orientalist in Köln. Nach dem Kleist- und dem Joseph-Breitbach-Preis erhielt er 2014 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Zu seinen bekanntesten Büchern gehören „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ (2002), „Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime“ (2009), „Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigende Welt“ (2013), „Große Liebe“ (2014), „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ (2015).
Nachdem Joachim Gauck seinen Verzicht auf eine weitere Amtszeit erklärte, wurde Kermani als möglicher Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Spiel gebracht.




Gilgamesh muss erwachsen werden: Eröffnung der Theatersaison in Düsseldorf

Das Schauspielhaus Düsseldorf im Zelt Foto: Eva Schmidt

Das Schauspielhaus Düsseldorf im Zelt
Foto: Eva Schmidt

Der Mann in Unterhose rennt über die Kö. Er ist mit verkrustetem Schlamm bedeckt und schreit.

Es handelt sich aber nicht um ein Shopping-Victim, sondern um Gilgamesh (Christian Erdmann), dem Theaterzelt entsprungen, das am Anfang der Düsseldorfer Königsallee aufgebaut ist. Hier eröffnete das Schauspielhaus unter der neuen Intendanz von Wilfried Schulz die Saison und öffnete sich gleichzeitig zur Stadt hin – mit einer sehr lebendigen, witzigen, aber nicht unbedingt tiefschürfenden Inszenierung des archaischen Gilgamesh-Mythos (übertragen von Raoul Schrott) von Roger Vontobel.

Uruk hieß diese erste City, 5000 vor Christus. Sie lag im Zweistromland. Bei Vontobel liegt Uruk in der Zirkusmanege , die großen Leuchtlettern, die einem Hollywood-Schriftzug nacheifern, sind zerbrochen, der Grund ist sandig, der Herrscher Gilgamesh verkommen, grausam, egomanisch. Er hurt herum, plustert sich auf, ein eitler Nichtsnutz.

Aus Sorge um die Stadt erflehen die Bürger Hilfe und diese kommt in Gestalt von Enkidu, dem Naturmenschen. Sehr tänzerisch ist die Schöpfung dieses Wesens aus Lehm umgesetzt, das zunächst wie ein Tier unter Tierherden lebt und nach und nach zu einem Menschen, sogar einem besseren Menschen wird. Eine kraftvolle und körperbetonte Performance liefert dabei der Tänzer Takao Baba, später übernimmt André Kaczmarczyk den Sprechpart der Rolle und erinnert eher an Jesus, den Propheten. Er findet den Weg unter die Menschen, in die Stadt und liefert sich mit Gilgamesh einen Zweikampf, der zum Glück in Freundschaft endet.

Als Freunde, die niemand trennen kann, wollen beide nun die Welt erobern und haben es zunächst auf den Beherrscher des Waldes Humbaba abgesehen. Ein Abenteuertrip für Halbwüchsige, es fehlt eigentlich nur noch der Campingkocher. Klar, dass sie den Waldkönig besiegen und erfolgreich wie nie zuvor nach Uruk zurückkehren.

Doch die Story wäre nicht stimmig, würde nicht doch noch das Schicksal zuschlagen: Enkidu wird krank und kränker, schließlich stirbt er und lässt einen fassungslosen, fast traumatisierten Gilgamesh zurück. Die neue Aufgabe lautet nun: Werde erwachsen! Ganz unmissverständlich macht seine Mutter Ninsun (Michaela Steiger) ihm das klar. Die blonde Diva im Glitzerkleid ist schon etwas länger Königin und weiß, wo die Reise hingeht: heiraten, Kinder kriegen, ordentlich regieren. Das soll der nichtsnutzige Spross jetzt mal endlich lernen und nun sieht er es auch selber ein. Über die Kö kann er dann ja immer noch laufen, vielleicht in gemäßigterem Tempo: Am Samstag, zum Shoppen.

Karten und Termine: www.dhaus.de

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Grußwort des Intendanten Wilfried Schulz zur Situation des Theaters in Düsseldorf:
http://www.dhaus.de/home/willkommen/




Heilige oder Rächerin: Elisabeth Stöpplers „Norma“ aus Gelsenkirchen nun in Mainz

Von Pollione (Joska Lehtinen) bedrängt: Adalgisa (Marie-Christine Haase). Foto: Andreas Etter

Von Pollione (Joska Lehtinen) bedrängt: Adalgisa (Marie-Christine Haase). Foto: Andreas Etter

Ein aussichtsloser Konflikt, von Anfang an. Noch ist alles in der Schwebe, zu Beginn der Oper „Norma“ von Vincenzo Bellini. Der Status Quo ist prekär, aber gefestigt. Die zur Keuschheit verpflichtete Priesterin der Gallier kann seit Jahren ihre beiden Kinder verbergen. Und ihre Liebe zum Feind ebenso, denn der Vater ist kein anderer als der römische Prokonsul Pollione, der die verhassten Besatzer anführt. Noch kann Norma den bewaffneten Konflikt verhindern, aber dann eröffnet ihr die junge Novizin Adalgisa eine schockierende Erkenntnis …

Bellinis Oper hat in den letzten zehn Jahren eine bemerkenswerte Wiederkehr auf deutschen Bühnen erlebt. Ausweglos gefangen zwischen den Erwartungen und Tabus einer nach Kampf und Krieg gierenden archaischen Gesellschaft und der gescheiterten Liebe zu einem Mann, der ihr Volk unterdrückt, hat Norma mehr zu bieten als den Selbstzweck ebenmäßiger Legati und perfekt geformter Koloraturen.

Die Nähe dieser zerrissenen Frau zur gedemütigten Kindsmörderin Medea ist oft beobachtet worden. Wohin sich Norma wendet, ob sie kompromisslose Rächerin oder heroisches Opfer wird, bleibt bis zum letzten Moment offen. Und dazwischen liegen zwei Stunden eines inneren Konflikts, der in seiner ganzen Unerbittlichkeit und Ratlosigkeit von der Musik und der Dichtung Felice Romanis in wichtigen psychologischen Facetten ausgebreitet wird.

Jossi Wieler und Sergio Morabito haben in ihrer legendären Stuttgarter Inszenierung 2002 in erschütternden, schlüssigen Bildern Bellinis Oper endgültig aus dem Mief plüschiger Historisierung befreit, ohne ihr eine zwanghafte Aktualisierung aufzudrücken. Das hatte Jorge Lavelli schon 1983 in Bonn vor, ist aber mit Mara Zampieri als Revoluzzerin auf einem Lastwagen längst nicht so gut gefahren.

An Rhein und Ruhr gab es in den letzten Jahren mehr (Dortmund, Bonn) oder weniger (Düsseldorf) überzeugende Versuche, sich Bellinis nach eigenem Bekunden bester Oper zu nähern. In der letzten Spielzeit hat sich dann Elisabeth Stöppler in Gelsenkirchen in Hermann Feuchters abstraktem Bühnenraum ganz auf die Personen fokussieret. Norma ist das Kraftzentrum, um das sich alle drehen.

Nadja Stefanoff als hoheitsvolle Priesterin. Foto: Andreas Etter

Nadja Stefanoff als hoheitsvolle Priesterin. Foto: Andreas Etter

Jetzt hatte die Produktion am Staatstheater Mainz Premiere, wo Stöppler als Hausregisseurin Stil und Spielplan prägen kann – und das nicht zum Nachteil eines in dieser Spielzeit besonders vielfältigen Angebots. Noch stärker als im Musiktheater im Revier konzentriert sie sich auf die Beziehungen der Personen, schwächt Nebenwege wie eine angedeutete homoerotische Verbindung zwischen Pollione und seinem Offizier Flavio ab, arbeitet vor allem Normas Schwanken zwischen impulsiver Liebe zu ihren Kindern und kalkulierender Berechnung ihrer Rache deutlich heraus. Geblieben sind die von Flavio (wie in Gelsenkirchen: Lars-Oliver Rühl) hervorragend rezitierten, den Gang des Stücks zerreißenden Texte von Pier Paolo Pasolini: bewusst gelegte Stolpersteine, die aber eher stören als vertiefen. Geblieben sind auch szenische Symbole wie das nackte Opfer, das am Anfang schon die Sichel am Hals spürt, dann aber von Norma erlöst wird. Ein anrührendes Bild vom Verletzlichkeit und Ausgesetztsein.

Dass in Norma am Ende die Menschlichkeit siegt, wird nicht heroisiert, sondern wirkt fast, als sei ihre Kraft letztendlich erschöpft. Zu Beginn die Hohepriesterin in nachtblauem, langem Kleid, zeigt das Kostüm (Nicole Pleuler, sonst mit nicht immer glücklicher Hand) Normas Wandel zur Kämpferin und schließlich zum idealisierten Opfer. Nicht Norma selbst stilisiert sich dazu: Statt auf dem Scheiterhaufen zu sterben, wird sie von der Gesellschaft im weißen Ornat einer Heiligen erhoben.

Nadja Stefanoff, die Mainzer Norma, spielt mit hoheitsvoll schlanker Gestalt die Facetten der Rolle aus – mit erheblichem Stimm-, aber auch Körper-Einsatz: von der selbstbewussten Priesterin bis zur gebrochenen Frau, von der wild entschlossenen Rache bis zum selbstzerstörerischen Aufgeben. Musikalisch beglaubigt Stefanoff ihre Rolle weniger durch flexibel-weichen Schöngesang, sondern eher durch einen kalt glänzenden, ausdrucksstarken, dynamisch facettenreichen Ton, der auf seelische Schwankungen reaktionsschnell eingeht und sie – technisch abgesichert – im Klang vernehmbar macht. Eine Norma, die man so schnell nicht vergisst.

Die Adalgisa der Marie-Christine Haase hat gegen so viel Dominanz keine Chance. Stimmlich ist sie der Partie – die der kritischen Rekonstruktion der Urfassung gemäß einen leichten Sopran vorsieht – vollkommen gewachsen. Aber die Regie Elisabeth Stöpplers gesteht ihr wenig eigenes Gewicht zu, trotz der wundervollen Duette der beiden Frauen. Die Nebenrolle der Clothilde, der eingeweihten Dienerin Normas, ist in ihr aufgegangen – das lässt den Aspekt der Freundschaft zu Norma hervortreten. Auch Oroveso, der Vater Normas, hat wenig eigenständiges Gewicht; Dong.Won Seo mit einer rauen, dem Ideal des „basso cantante“ nicht eben gewogenen Stimme, ist nicht der Sänger, der die Figur aus sich heraus wachsen ließe.

Bleibt Pollione, der Urheber des Konflikts: Joska Lehtinen gibt ihm den eindimensionalen, leicht gaumig gefärbten Ton, der einem auf den ersten Blick ziemlich einfältigem Macho angemessen ist. Auf den zweiten Blick hätte man sich für die gespenstische Traumschilderung von „Meco all’altar di Venere“ mehr Farbe, für den verhärteten Trotz des Finales mehr Furor gewünscht. Was von diesem Mann zu halten ist, macht Stöppler am Ende deutlich: Er stiehlt sich einfach davon.

Sebastian Hernandez-Laverny hat mit dem Chor des Staatstheaters eine gewaltige Aufgabe achtbar gemeistert, auch wenn die Stimmgruppen Mühe haben, sich zu koordinieren, wenn die Sänger über die ganze Breite der Bühne hoch oben auf einer Brüstung stehen müssen. Das Philharmonische Staatsorchester offenbart wenig Schwächen, aber auch wenig Subtilität im Ton. Clemens Schuldt dirigiert wie viele andere eine rasche Ouvertüre und differenziert die Tempi nicht, wodurch der gerade Takt Bellinis in die Nähe eben jener „Leierkastenmusik“ rückt, die der italienischen Oper der Zeit gerne unterstellt wurde.

Wenn Schuldt die Sänger zu begleiten hat, lässt er das Orchester immer wieder zu laut spielen, lässt sich aber auf den Atem der „melodie lunghe“ ein, phrasiert sinnig und arbeitet vor allem die instrumentalen Details heraus, die in der kritischen Fassung für farbige Nuancen sorgen. Dass die Tutti arg knallig wirken, ist nicht nötig; das Martialische stellt Bellini nur im berühmten „Guerra“-Chor aus. Elisabeth Stöppler ist in Mainz eine starke Antwort auf die ambitionierte „Norma“ von Gabriele Rech am anderen Ufer des Rheins, in Wiesbaden (2015), gelungen.

In dieser Spielzeit hat Bellinis „Norma“ noch in Essen (8. Oktober) und in Nürnberg (13. Mai 201) Premiere. Weitere Vorstellungen in Mainz am 1. und 9.Oktober, 1., 17. und 20. November.

Info: www.staatstheater-mainz.com/web/veranstaltungen/oper1617/norma




Schrilles Styling, graue Würste – „Kasimir und Karoline“ im Dortmunder Megastore

Ekkehard Freye Christoph Jšde Bettina Lieder

Schrilles Outfit, graue Würste (von links): Ekkehard Freye, Christoph Jšöde, Bettina Lieder (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Bühne groß, die Musik laut, das Licht grell und die Figuren so unwirklich bunt und künstlich, als seien sie einem Videospiel entsprungen. Gordon Kämmerer inszeniert im Megastore „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth – oder das, was er noch davon übrigläßt. Doch das ist gar nicht wenig, man lasse sich durch den furiosen Anfang nicht täuschen, in dem die brave Exposition, wer mit wem und warum und so weiter ersetzt worden ist durch wütend in Richtung Publikum geschleuderte Statements.

Diese Jugend, die älter aussieht als sie ist, ist hart, weil man hart sein muß in schweren Zeiten. Und der Rummelplatz ist das Vergnügen über dem Abgrund, ganz nahe am wirtschaftlichen Absturz in die Arbeitslosigkeit. Der große inszenatorische Aufschlag, den Kämmerer hier macht und den er eindreiviertel Stunden durchhält, ist also durchaus schlüssig, weil sich so die Aktualität des Stoffs einem jüngeren Publikum auf Augenhöhe unverkrampft vermittelt.

Julia Schubert Ekkehard Freye

Julia Schubert und Ekkehard Freye sind Karoline und Kasimir (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Damals im Opernhaus

Mit leichtem Grausen denkt man an die Düsseldorfer „Kasimir und Karoline“-Einrichtung Nurkan Erpulats, die 2013 bei den NRW-Theatertagen in Dortmund zu sehen war, übrigens wegen umfänglicher Kulisse und Drehbühnenerfordernis im Opernhaus. Ein ziemlich unerquickliches Moraltheater war das damals, das darin gipfelte, daß die Darsteller durch die Zuschauerreihen gingen und Menschen im Publikum provozierende Fragen stellten, die sich, so jedenfalls meine Erinnerung (aber was auch sonst?) um Recht und Gerechtigkeit in der Welt drehten.

Um wie vieles angenehmer ist da Kämmerers Ansatz, bei dem die trübe Moral von der Geschicht’ doch fraglos auch rüberkommt. Es wundert einen sowieso, wie wenig Denkfähigkeit viele Regisseure ihrem Publikum zutrauen, um dann finale Botschaften mit dem Bühnenholzhammer herauszuhauen. Hier gilt dies – wie gesagt – ausdrücklich nicht. Aber ich schweife ab.

Ekkehard Freye BŸhnentechniker Fanfaren-Corps 1974 Dortmund-Wickede

Ekkehard Freye – er hat wohl wirklich was am Fuß und geht an Krücken -, BüŸhnentechniker (links), Mitglieder des Fanfaren-Corps 1974 Dortmund-Wickede und das aufblasbare Festzelt (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Groteske Figuren

Figuren also in Plastik-Outfits und mit grotesken Frisuren, die dem Theater-Kosmos eines Robert Wilson entstammen könnten (Kostüme: Josa Marx), zeigen uns die Geschichte vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir (Ekkehard Freye) und seiner Freundin Karoline (Julia Schubert), deren zarte Beziehung den drohenden wirtschaftlichen Absturz nicht überleben wird; vom Zuschneider Schürzinger (Frank Genser), der seinem ehemaligen Chef Karoline als „leichtes Mädchen“ zuführt, um seinen Job wiederzubekommen; vom gewalttätigen Kleinkriminellen Merkl Franz (Christoph Jöde), der bei einem Einbruch geschnappt wird und von „Dem Merkl Franz seine Erna“ (Bettina Lieder), die illusionslos feststellt, daß diese Verhaftung das Ende ihrer Beziehung darstellt. Denn als Wiederholungstäter bekommt der Franz bestimmt fünf Jahre, eine Ewigkeit.

Carlos Lobo Christoph Jšde Julia Schubert Frank Genser

Spaßgesellschaft (von links): Carlos Lobo, Christoph Jöšde, Julia Schubert und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Extrem sportlich

Die fünf jungen Leute spielen extrem sportlich, tanzen, vergnügen sich im Planschbecken, sind überhaupt fast immer in Bewegung. Spaßige Elektro-Carts, mit denen sie auf der sparsam möblierten Bühne (Jana Wassong) ihre Achterbahnfahrt vorspielen (wo gibt es die eigentlich zu kaufen?), sorgen außerdem für putzige Bewegung.

Einzige größere Ausstattungsstücke sind eine Art Festzelt, das auf aufgeblasenen Beinen steht und, was man erwarten konnte, irgendwann in sich zusammenfällt, sowie etliche gleichermaßen aufgeblasene graue Riesenwürste, die im Laufe der Handlung als Spielobjekte, Liebesbetten, Verstecke und so weiter herhalten müssen und überdies natürlich an sich schon eine Art Rummelplatzsymbol sind, was in diesem Stück dann sozusagen die Würstchenbude ersetzt.

Ebenso dick aufgeblasen wie die Würste treten der Kommerzienrat Rauch (Carlos Lobo) und der Landgerichtsdirektor Speer (Max Thommes) auf, Charakterlumpen alle beide, aber durch Amt und Reichtum vor den schlechten Zeiten gut geschützt. Vielleicht sind sie ein wenig zu einseitig als Slapstick-Typen in Slapstick-Nummern abgebildet, doch haftet typischen Vertretern des Establishments ja wirklich oft etwas Groteskes an, das ist nicht zuletzt eine Frage der Perspektive.

Gute Klänge

Max Thommes zeichnet übrigens auch verantwortlich für „Komposition und Live-Musik“, und man muß sagen, daß die Verbindung von Theater, Sound und Musik recht gut gelungen ist. Wenn beispielsweise Bettina Lieder – einer der Höhepunkte des Abends – ihren wütenden Monolog über die „Wiesenbraut“ hält, dann grollt darunter ein elektronisches, waberndes Crescendo, das, wie man heute gern und meistens gedankenlos sagt, Gänsehaut erzeugt.

Bettina Lieder Frank Genser Julia Schubert Christoph Jšde Max Thommes

Es geht um die Wurst, wie man vielleicht sagen könnte. Von links: Bettina Lieder, Frank Genser, Julia Schubert, Christoph Jšöde, Max Thommes (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nicht unerwähnt bleiben darf natürlich das Fanfaren-Corps 1974 Dortmund-Wickede, das seinen vergnüglichen Rummelplatzauftritt hat und mit Tschingderassabum auf die Bühne marschiert. Sie dürfen sogar ein bißchen mitspielen, jedenfalls einige von ihnen. Der Auftritt des Corps wurde mit Fingerspitzengefühl implementiert, er ist heiter und stimmig, ohne peinlich zu sein (was schnell passieren kann). Und vielleicht hat das Dortmunder Theater zukünftig noch mehr Besucher aus Wickede, wäre doch schön.

Ehrgeiz entwickeln

Übrigens, kleine Randbemerkung, scheinen nicht nur Hausherr Kay Voges, sondern eben auch Regisseure wie Gordon Kämmerer immer besser mit der Raumsituation des Megastore zurechtzukommen und Ehrgeiz zu entwickeln, etwas Besonderes daraus zu machen. Nachher wollen die da gar nicht mehr weg!

Gewiß hat der sehr laute, plakative Zugriff auf den Stoff einige Schwächen dort, wo für Gespräche und Vertrautheiten Kammerspielton vorgesehen ist. Doch sei’s drum; der stringente, zupackende Stil dieser Inszenierung sorgt auch an einstmals leisen Stellen für das nötige Verständnis. Schrill und respektvoll ist dieser Horváth geraten. So etwas läßt sich nicht oft über Theaterproduktionen sagen.

  • Termine, 1., 15., 26. Oktober, 3., 11., 18. November, 26. Dezember 2016
  • Januar, 26. Februar, 5. Mai 2017
  • www.theaterdo.de



Wahnwitz bei der Telekom: Was der simple Transfer von Telefonnummern kostet

Ja, Leute, ich weiß, dass man z. B. Telefonnummern, die man auf seinem Handy/Smartphone gespeichert hat, in einer Cloud, auf Karte, Stick, PC oder sonstwo auf diesem gottverdammten virtuellen Planeten aufheben und sodann in ein anderes Gerät rieseln lassen kann. Wenn man’s kann.

Alles kinderleicht wahrscheinlich, wenn man so ein Nerd oder ein ständig aufs Display starrender Handy-Maniac ist. Ich jedenfalls habe zwar das externe Speichern, nicht aber den Transfer hinbekommen und sah mich mal wieder höllisch angewiesen auf den so genannten Service der Telekom.

Also suchte ich ganz dreidimensional einen T-Shop in der Innenstadt auf. Dort sind die meisten Mitarbeiter(innen) recht nett. Doch was hilft’s? Sie haben halt ihre Vorgaben und ihren eng begrenzten Handlungsrahmen. Ergo: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren…

Im Bannstrahl der Telekom (Foto: BB)

Im Bannstrahl der Telekom (Foto: BB)

Und jetzt ratet mal, was dieser saubere Konzern für die klitzekleine Dienstleistung verlangt, Telefonnummern von einem alten Smartphone auszulesen und eben mal schnell aufs neue Gerät derselben Apfel-Marke zu schaufeln. Ungefähr 9 Euro? Ja, das hat es vor ca. zwei Jahren tatsächlich mal gekostet und schien mir auch schon etwas überteuert zu sein. Es braucht ja nur eine unscheinbare Apparatur und ein paar Fingertipps zum Copy & Paste.

Die werden doch nicht inzwischen ihren Preis für das bisschen Gefummel auf rund 20 Euro verdoppelt haben? Nein, nein, keineswegs.

Nicht nur verdoppelt.

Sollten sie einen etwa mit satten 30 Euro zur Kasse bitten? Quatsch, wo denkt ihr hin.

Auch das reicht ihnen nicht.

40 Euro? „Nein, sag, dass das nicht wahr ist…“ Ist es auch nicht.

Wir sind nämlich immer noch nicht am Gipfel der Unverschämtheit angelangt.

Nun gut. Ihr wollt die ganze Wahrheit wissen?

Die Telekom verlangt für die lächerliche Handreichung 49,95 Euro. Neunundvierzig komma fünfundneunzig Euro.

Sind die verrückt? Sind die bekifft?

Natürlich habe ich das wahnwitzige Angebot ausgeschlagen, mich lieber ca. zweieinhalb Stunden hingehockt und jede einzelne Nummer mühsam wieder neu eingepflegt.

Liebe Juristen, ich frage euch: Gibt es nicht einen Wucherparagraphen, der solch eine exorbitant unverhältnismäßige Preisgestaltung verbietet? Darf man denn alle Dämme brechen lassen?

Just gestern, einen Tag, nachdem ich mich – wie schon so oft – abermals über die Telekom und ihre Absurditäten geärgert habe, las ich mit einer gewissen Genugtuung in der FAZ-Sonntagszeitung einen Artikel von Dennis Kremer, der schon zwei Jahre zuvor an den Praktiken dieses Unternehmens verzweifelt ist.

Diesmal dreht es sich vor allem um die mehr als holprige Einführung der netzbasierten IP-Telefonie bei der Telekom und um die ständigen Pannen, die offenbar System haben. Da stimmt offenbar etwas an der ganzen Struktur nicht. Und obwohl (wie die Alltagserfahrung immer wieder zeigt) bei vielen Unternehmen der typische Hotline-Dilettantismus rapide um sich greift, behauptet doch die Telekom souverän eine Spitzenstellung auf diesem Gebiet.

Kurzum: Dennis Kremer ist in allen Punkten Recht zu geben. Seine Berichte stimmen ziemlich genau mit unseren eigenen familiären Erfahrungen überein. Hätten wir uns in den letzten Monaten punktgenau unseren Verdruss über die Telekom-Hotline und die abstrusen Folgen notiert, wäre eine Mixtur aus Odyssee, absurdem Theater und Slapstick dabei herausgekommen. Aber irgendwann haben wir es aufgegeben, das alles nachhalten zu wollen. In manchen Punkten haben wir mittlerweile fast resigniert. Sie zermürben einen. Aber das dann doch gründlich.

Über Wochen und Monate hinweg haben wir beispielsweise versucht, zwei Sprachboxen, die unter verschiedenen Endziffern an einem Hauptanschluss hängen, auseinander zu schalten, so dass die aufgesprochenen Nachrichten hübsch sortiert worden wären, wie es sich gehört und ehedem kein Problem war. Von jedem, aber auch wirklich jedem Hotline-Menschen kamen wieder andere Ideen. Und nichts von alledem hat funktioniert. Auch zwei Techniker, die schließlich vor Ort werkelten, standen staunend vor Rätseln und mussten ihrerseits bei einer speziellen Hotlinie nachfragen. Und auch das nur mit mäßigem Erfolg.

Da schrumpft ein Malheur wie die hier bereits gegeißelten, mangelhaften Mail-Ausdrucke schon fast zur Petitesse.

Doch sobald man einen Anbieterwechsel erwägt, bekommt man zu hören, andere seien „noch schlimmer“. Ja, wie soll denn eine solche Unterbietung menschenmöglich sein? Mit einer solchen Behauptung geht doch schier die ganze Logik zuschanden.




Maler zwischen den Epochen – Conrad Felixmüller in Haus Opherdicke

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Conrad Felixmüller im Selbstbildnis von 1954 (Foto: Kreis Unna)

Suchte man nach einem Wort, das kennzeichnend wäre für den Maler Conrad Felixmüller, so wäre es vielleicht das Wort „dazwischen“. Conrad Felixmüller, der eigentlich Konrad Felix Müller hieß und den Felix seinem Nachnamen zuschlug, um sich von den anderen Müllers dieser Welt zu unterscheiden, lebte und wirkte zwischen Epochen.

Geboren 1897, arbeitete er als junger, hoch begabter und früh geförderter Künstler im modernsten Stil seiner Zeit, dem Expressionismus. Er sah seine Arbeit politisch, wurde früh KPD-Mitglied. 1920, mit gerade einmal 23 Jahren, erhielt er den sächsischen Staatspreis und hätte für zwei Jahre nach Italien in die Villa Massimo ziehen können. Doch statt dessen ging er als Kunststipendiat ins Ruhrgebiet, brachte im harten Schwarzweiß der Tuschezeichnung, der Radierung oder des Holzschnitts Arbeits- und Streikszenen auf das Papier, deren ungeschönte Wirklichkeit sich trotz expressiven Umgangs mit Perspektiven und Dimensionen auch heute noch augenblicklich erschließt.

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Fabrikarbeiter (Arbeitsinvalide), 1921, Holzschnitt auf Bütten, Sammlung Wilke (Foto: Kreis Unna)

Klassenkämpfer

Der Künstler als Klassenkämpfer – bis etwa 1925. Da wandte er sich abrupt vom Expressionismus ab und pflegte fürderhin weitgehend die Malweise der Neuen Sachlichkeit, die nur sehr gedämpft noch stilistische Anleihen beim Expressionismus nahm. Felixmüller wurde das Glück zuteil, nicht schon im Ersten Weltkrieg zu fallen und fast 80 Jahre alt zu werden. Wenngleich er, dessen Kunst die Nazis als entartet gebrandmarkt hatten, ab 1949 Kunstprofessor in Halle war, wird er die neuen Strömungen in Westdeutschland registriert haben, den Abstrakten Expressionismus, das Informel, Zero und was es sonst noch so gab.

Volkswagen im Holzschnitt

Er muß auch die Pop-Art wahrgenommen haben, die in seinem Todesjahr 1977 ihren Höhepunkt auch in Europa schon überschritten hatte. Doch nichts davon schlägt sich in Felixmüllers Schaffen nieder. Im Gegenteil ist es geradezu frappierend, wie der gereifte Künstler, seinen Stilmitteln treu bleibend und kompositorisch noch souveräner als in frühen Jahren, sich wiederum dem Ruhrgebiet zuwendet. Sein später Blick auf die Verhältnisse ist, zu Recht vielleicht, milder geworden. Den Schichtwechsel auf der Zeche sieht er nun vom Parkplatz aus – was, kleine Bemerkung am Rande, dem VW-Käfer dazu verholfen hat, im Oeuvre Conrad Felixmüllers präsent zu sein („Schichtwechsel auf Zeche ,General Blumenthal’ (Recklinghausen)“, Holzschnitt, 1974).

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Dieses Bild ziert auch die Titelseite des Katalogs: Bildnis Londa im blauen Samtkleid (Ausschnitt), 1927, Öl auf Leinwand (Foto: Kreis Unna)

Abschiedsgeschenk

In Haus Opherdicke, das dem Kreis Unna gehört und sich vorzüglich für die Präsentation kleiner und mittlerer Bildformate eignet, sind nun rund 100 Arbeiten des Künstlers zu sehen. Thomas Hengstenberg und Sigrid Zielke-Hengstenberg, Leiter bzw. Kulturreferentin des Fachbereichs Kultur, haben die Ausstellung zusammengetragen und realisiert, und unhöflicherweise, wie es vielleicht scheinen mag, wurde hier der Herr zuerst genannt, weil Thomas Hengstenberg mit dieser Bilderschau in den Ruhestand geht. Er hat sich also, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt, mit Felixmüller selbst ein schönes Abschiedsgeschenk gemacht. Und dem Publikum selbstverständlich auch.

Der Drucker

Und natürlich wäre diese Ausstellung ohne viel Kontaktpflege und Netzwerkerei in den vergangenen (Dienst-) Jahren nicht möglich gewesen. Wiederum steuert der Sammler Frank Brabant einige Werke bei, und ein Großteil der ausgestellten Druckgraphik stammt aus der Sammlung Wilke. Hans-Jürgen Wilke war in Berlin Felixmüllers Drucker, und die Holzschnitte und Radierungen, die er als Auflagenwerke druckte, hat er auch gesammelt. Die beiden schätzten sich, und sie mochten sich wohl auch, denn 1976 hat Felixmüller den Drucker und seine Frau Dagmar gemalt, in Farbe, Öl auf Leinwand. Weitere Leihgaben kamen aus der Sammlung Bunte, vom P.A.Böckstiegel Freundeskreis und aus dem Von der Heydt-Museum Wuppertal.

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Frühlingsabend in Klotzsche, 1926, Öl auf Leinwand, Sammlung Brabant (Foto: Kreis Unna)

Perfekt und gesittet

Es gibt kaum einen Künstler vom Rang Felixmüllers, der in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts noch – und in fortgeschrittenem Alter zudem – so intensiv die anstrengende Kunst des Holzschnitts pflegte. Und wenn man kein ausgewiesener Felixmüller-Experte ist, gibt erst der Blick auf die Bildunterschrift Aufschluß über die Entstehungszeit, so homogen wirkt das Werk.

In der Landschaft und in Stadtansichten aquarellierte er einige Male meisterlich, doch vorzugsweise malte er in Öl, vor allem Portraits. Auch die Familie – die Söhne Luca und Titus, Gattin Londa – mußten immer wieder einmal auf die Leinwand, auf der es gut bürgerlich zugeht, züchtig und gesittet, manchmal fast ein bißchen langweilig.

Von der expressiven Wucht der frühen Jahre jedoch, von der etwa die Holzschnitte von Max Liebermann und Christian Rohlfs noch künden und die der Katalog auf einer Doppelseite nebeneinander stellt, ist späterhin nichts mehr zu spüren. Möglicherweise war die Zeit für diese Kunst vorbei, jedenfalls in den Augen Conrad Felixmüllers.

  • Conrad Felixmüller
  • 25. September 2016 bis 26. Februar 2017
  • Haus Opherdicke, Dorfstraße 29, Holzwickede
  • Di-So 10.30 – 17.30 Uhr
  • Eintritt 4,00 €, Katalog 26,00 €
  • www.kreis-unna.de, www.kulturkreis-unna.de



Das Konzept ist die Kunst: Die Sammlung Fischer in Düsseldorf

Ach, Verklärung tut ja so gut! Einhellig schwärmen selbst konservative Bürger, Politiker und Lobbyisten für die späten 1960er-Jahre, als der leicht verkrachte Künstler Konrad Fischer in einem Torbogen an der Neubrückstr. 12, mitten in der Düsseldorfer Altstadt, diese winzige Avantgarde-Galerie aufmachte.

Mag sein, dass damals kaum einer hinguckte. Mag sein, dass spätere Kunst-Superstars wie Gerhard Richter und Bruce Nauman bei einer Vernissage mit dem Galeristen allein dastanden und resigniert ein Bier trinken gingen. Heute will jeder, der alt genug ist, dabei gewesen sein. Und die Jungen erschauern vor Ehrfurcht.

Die Kunstsammlung, neu gemischt: "25 Blocks and Stones" von Carl André aus der Sammlung Fischer vor Jackson Pollocks monumentalem Bild "Number 32" von 1950. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Die Kunstsammlung, neu gemischt: „25 Blocks and Stones“ von Carl André aus der Sammlung Fischer vor Jackson Pollocks monumentalem Bild „Number 32“ von 1950. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Wie eine Offenbarung wird die wilde Zeit gefeiert. Und wie ein Zeichen dieser Offenbarung leuchtet ein pinkfarbenes Neonröhren-Denkmal von Dan Flavin am Eingang der Ausstellung „Wolke & Kristall“ in der Kunstsammlung NRW. Auf 2000 Quadratmetern beschwören über 200 Werke der Sammlung Fischer die Öffnung der Kunst hin zum Konzept. Die Idee ist dabei wichtiger als das Werk selbst, dessen Bestandteile unter Umständen sogar austauschbar sein können.

Aus den einstigen Versuchen ist ein Schatz geworden

Nicht gerade ein populäres Feld, aber das Publikum der Landesgalerie sollte sich daran gewöhnen. Denn das renommierte Museum hat den größten Teil der Sammlung und des Archivs von Konrad Fischer (1939-1996) und seiner 2015 mit 78 Jahren verstorbenen Frau Dorothee erworben. Kaufpreis: eine diskret verschwiegene Summe im, wie es heißt, „niedrigen zweistelligen Millionenbereich“. 7,7 Millionen zahlte jedenfalls das Land, das übrige Geld wurde von Stiftungen und Sponsoren aufgebracht.

Marion Ackermann, die scheidende Direktorin, führte schon vor über sechs Jahren die ersten Gespräche mit Dorothee Fischer, schloss den Deal jetzt mit den Kindern Berta und Kasper Fischer ab und betont die „unglaublich faire Verabredung“. Lediglich die Hälfte des unteren Schätzwertes für die gesamte Sammlung musste gezahlt werden, die andere Hälfte ist ein Geschenk der Fischers an die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, die dadurch zum Museum auch der spröderen Moderne wird. In der von 1962 bis 1990 dauernden Ära des Gründungsdirektors Werner Schmalenbach wäre das nicht passiert. Er verachtete neue Trends, kaufte nur die abgesegneten Meisterwerke der klassischen Moderne und bescherte den Düsseldorfern einige der berühmtesten Bilder von Paul Klee, Max Ernst, Picasso oder Modigliani.

Das Format und das Feeling der Original-Galerie

Deren betörende Wirkung hat die Sammlung Fischer nicht. Aber sie öffnet den Blick für die Entwicklung der Kunst und der Gesellschaft in der zweiten, freieren Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es lohnt sich, genauer hinzusehen, zumal Kuratorin Anette Kruszynski für eine originelle Inszenierung sorgte. Etliche der 16 Ausstellungsräume haben das Format und damit das Feeling der Original-Galerie: drei mal elf Meter. Auf dieser bescheidenen Fläche legte der New Yorker Carl André zur Eröffnung im Herbst 1967 hundert gleich große, industriell gefertigte Stahlplatten aus. Das war die begehbare Bodenskulptur „5×20 Altstadt Rectangle“. So mancher lief über die Kunst und erkannte sie nicht. Derlei spitzbübische Effekte waren durchaus im Sinn des Galeristen, der selbst künstlerische Ambitionen hatte und sich als serieller Maler Konrad Lueg nannte.

Nach Carl Andrés Boden-Installation "Wolke und Kristall" wurde die Ausstellung benannt. Der Spruch an der Wand stammt von Lawrence Weiner. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Nach Carl Andrés Boden-Installation „Wolke und Kristall“ wurde die Ausstellung benannt. Der Spruch an der Wand stammt von Lawrence Weiner. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Aber sein wahres Lebenswerk war die Entwicklung der Galerie, die zunächst, in Ermangelung wirtschaftlicher Erfolge, vom Lehrerinnengehalt seiner Frau Dorothee finanziert wurde. Konsequent präsentierte Fischer, was vom bürgerlichen Publikum als Spinnerei abgetan wurde. „He made things possible“, er machte Dinge möglich, sagt der heute als Videokünstler weltbekannte Amerikaner Bruce Nauman, dessen Installation „Six Sound Problems for Konrad Fischer“ von 1968 man jetzt in der Kunstsammlung betrachten – und vor allem hören kann. Mit einem Tonband, aufgespannt zwischen einem Stuhl und einem authentischen Wiedergabegerät, wird da ein jaulendes Geräusch erzeugt, während sich eine leere Spule dreht.

Mit Fantasie, Konsequenz und Spürsinn

Sinnlos? Gewiss. Aber schon damals erzeugte Nauman durch penetrante Wiederholung eine Aufmerksamkeit, die ihn schließlich berühmt machte. Und er weckte das Empfinden für unsere eigenen verrückten Wiederholungen und Zwangshandlungen. Ganz anders ging der britische Land-Art-Neuling Richard Long zu Werke, als er die kleine Galerie Fischer mit Streifen aus fein beschnittenen Weidenstöckchen auslegte. Lothar Baumgarten fantasierte mit einer poetischen Diashow „Ein Reise mit der MS Remscheid auf dem Amazonas“. Von April bis Juli 1969 schickte der japanische Konzeptkünstler On Kawara täglich eine Postkarte aus New York mit der Mitteilung: „I got up“, ich bin aufgestanden. Die vergilbenden Karten werden zum zarten Hinweis auf die vergehende Zeit – wie sechs Telegramme, die On Kawara 1970 schickte: „I am still alive“, ich lebe noch. Man liest es – und spürt die Vergänglichkeit.

Langsam, aber sicher, erreichte Konrad Fischer die Beachtung der Zeitgenossen und konnte 1974 mit der Galerie in bis heute existierende Räume an der Platanenstraße ziehen. Auch die Sammlung wurde repräsentativer. Viele Stücke passen ausgezeichnet in den Zusammenhang des Museums – geradezu magisch wirkt das schwarze Tier („Black Animal“) das Mario Merz, der italienische Meister der Arte Povera, in den 1990er-Jahren aus Papier und Leuchtzahlen konstruierte. „25 Blocks & Stones“, 25 Betonklötze mit aufgelegten kleinen Natursteinen, die Carl André 1973 erstmalig arrangierte, liegen wie selbstverständlich unter einem monumentalen Werk des Abstrakten Expressionismus aus den 1950er-Jahren: Jackson Pollocks 1964 von Schmalenbach erworbenes Bild „Number 32“. Mit knarrenden grauen Dielen, einer verschlossenen Tür, einem verhangenen Fenster und einer rätselhaft gruseligen Atmosphäre öffnet sich unvermittelt der „Raum für einen Tag“, den Gregor Schneider erst 1999 für die Galerie Fischer konzipierte.

Da war Konrad Fischer schon nicht mehr auf der Welt. Sein Tod 1996 hatte die Künstler erschüttert und zu besonderen Werken inspiriert. Thomas Schütte malte zwölf berückend schöne „Blumen für Konrad“ und schuf einen Keramikkopf nach Zeichnungen, die am Totenbett des Freundes entstanden waren. Carl André, der Partner der ersten Stunde, konzipierte aus zwei mal 144 Bleiblöcken, die er auf dem Boden auslegte, ein stummes Requiem für den Galeristen: „Wolke & Kristall. Blei Leib Leid Lied“. Die dunklen Klötze, nach Andrés Plan im Raum verteilt und angeordnet, zeigen, wie eindringlich Konzeptkunst wirken kann. Sie fordert das Denken und die Empfindung heraus.

„Wolke & Kristall – Die Sammlung Dorothee und Konrad Fischer“: ab 24. September bis zum 8. Januar 2017 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr. Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Der Katalog kostet 48 Euro.
www.kunstsammlung.de

Extra:

„Ich habe große Dinge vor“

„Lieber Kasper König“, schrieb Konrad Fischer im Juli 1967, an seinen in New York arbeitenden Freund: „ich habe große Dinge vor … Ich mache eine Galerie auf.“ König sorgte für erste Kontakte, und im Herbst 1967 eröffnete Fischer mit einer Bodenskulptur des New Yorkers Carl André seine Mini-Galerie an der Neubrückstr. 12, gleich neben dem legendären Künstlerlokal Creamcheese.

Fischer, 1939 in Düsseldorf geboren, hatte selbst an der Kunstakademie studiert, mit den Kommilitonen Gerhard Richter und Sigmar Polke einige Experimente gemacht und sich unter dem Namen Konrad Lueg als Maler profiliert. Die Mission seines Lebens aber fand er mit der Galerie, die Konzeptkunst, Minimal Art und Arte Povera gesellschaftsfähig machte.

Nach dem Tod Fischers 1996 führte seine Witwe und Partnerin Dorothee Fischer die Galerie bis zu ihrem Tod 2015 weiter. Sie sorgte noch selbst für den Erwerb der Sammlung Fischer durch die Kunstsammlung NRW. Die Galerie Konrad Fischer wird inzwischen von seiner Tochter Berta geführt.




Dies und das in schmalen Spalten: Michael Angeles Buch „Der letzte Zeitungsleser“

Vom Buch mit dem Titel „Der letzte Zeitungsleser“ hatte ich mir einiges versprochen. Eine kulturgeschichtliche, womöglich auch ansatzweise literarische „Aufarbeitung“ des leidigen Themas war zu erhoffen.

Michael Angele, stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung „Der Freitag“, hat sich – vielleicht auch aus beruflicher Drangsal – der Malaise des gedruckten journalistischen Wortes angenommen.

9783869711287

Sein Buch ist in zeitungshafter Spaltenbreite von nur rund 30 Anschlägen pro Zeile gesetzt. Auf die Weise bringt man sehr schnell einige Buchseiten hinter sich. Furchtbar viel Text steht also nicht in diesem Band.

Zum Inhalt. Als besonderer Gewährsmann der früher weit verbreiteten Zeitungsleidenschaft wird der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard herangezogen, der beispielsweise kein Caféhaus gelten ließ, in dem man die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) nicht hielt. Einmal soll er 350 Kilometer gereist sein, um endlich eine NZZ zu bekommen.

Gleich das einleitende Zitat erfasst einen Moment, in dem der Sänger Udo Jürgens entgeistert feststellte, dass ihm gegenüber just Thomas Bernhard saß. Beide aßen Wurst und lasen dabei Zeitung. Welch eine Gleichzeitigkeit. Damals blätterten eben (fast) noch alle Leute.

Als Bernhards Gegenpol gilt ein weiterer Österreicher: Peter Handke, der Zeitungen und Journalismus verachtete, sich aber gleichwohl angelegentlich nach der einen oder anderen Rezension erkundigte.

Durchaus nostalgisch gestimmt, erinnert sich Angele, ehemaliger Macher der „Netzeitung“, an die entschleunigte Tageslektüre jener Zeiten, in denen es kein atemloses Internet mit wahnwitzigen Live-Tickern und allfälligen Hasskommentaren („Shitstorm“) gegeben hat. Selbst wenn es mal ein paar böse Leserbriefe hagelte, dann wurden sie in Form und Inhalt stark kanalisiert.

Bis in die mittleren 90er Jahre hinein (auch schon wieder rund 20 Jahre her), eröffnete die Zeitung noch einen hauptsächlichen Zugang zur Welt, die besten Blätter waren wahrhaft kosmopolitisch, aber eben noch nicht „globalisiert“. Überdies war die Zeitung eine ideale Tarnung für Menschenbeobachter, hinter der man sich gut verstecken konnte. Nicht der geringste Vorzug…

Besagter Thomas Bernhard tat in einem Interview kund: „…es ist ja in den Zeitungen überhaupt alles zu finden, was es gibt (…) Mehr kann man nicht finden.“ Gerade im boulevardesken Bereich lag eine wesentliche Stärke des Mediums, das merkwürdige Vorfälle aus aller Welt festhielt, welche oft genug literarische Werke anregten. Ja, Heinrich von Kleist brachte mit den „Berliner Abendblättern“ selbst eine Vorform späterer Boulevardblätter heraus.

Auch nicht völlig neu, aber immer noch gültig ist, dass die Zeitung mit dem Journalisten „einen recht windigen Menschenschlag hervorgebracht hat“, wie es zuerst in dieser Schärfe Honoré de Balzac in „Verlorene Illusionen“ beschrieben hat.

Von der „Renovierung“ der Süddeutschen Zeitung, insbesondere der Wochenendausgabe, ist noch en passant die Rede, von der sonntäglichen FAZ und der ungemein umfänglichen, durch schiere Fülle geradezu belastenden „Zeit“. Kann man nur einen Bruchteil lesen, bleibt ein Ungenügen, ein schlechtes Gewissen zurück. Wozu man sagen muss, dass auch die „Zeit“ früher noch dicker gewesen ist und längere Artikel enthalten hat.

Andererseits findet Angele die Schritt-für-Schritt-Erklärseite des „Tagesspiegel“ eher deprimierend. So sieht es aus, wenn man die Leser – wie die abgenudelte Formel lautet – „da abholt, wo sie sind“.

Geradezu rührend die Episode um den Vater einer Freundin, der tagtäglich das „Trostberger Tagblatt“ las, am Wochenende aber den Ehrgeiz aufbrachte, die Süddeutsche Zeitung ausgiebig zu absolvieren. Eine Hommage an den unbekannten Leser. Tempi passati.

Und auch das Klo als vielfach bevorzugter Ort der Zeitungslektüre bekommt seine pflichtgemäßen Zeilen. Warum denn nicht?

Um dem Buch doch noch etwas mehr namentliches Gewicht zu verleihen, hat Angele noch Franz Xaver Kroetz (inzwischen vorwiegend Online-Leser) und Claus Peymann befragt. Peymann sagt, er lese 10 bis 15 Zeitungen täglich. Wann inszeniert der Mann eigentlich noch?

Und so hangelt sich Angele von Einfall zu Einfall, vermeldet dies und das, als gelte es, einen längeren Beitrag für eine ambitionierte Wochenendbeilage zu bestreiten, nicht aber ein Buch. Gewiss, ein paar hübsche kleine Passagen und Anekdoten kommen da zusammen. Doch wird man nicht so richtig satt.

Michael Angele: „Der letzte Zeitungsleser“. Verlag Galiani Berlin. 160 Seiten (153 Seiten reiner Text), 16 €.




Erstarrte Last verdrängter Tat: „Von Dingen, die vorübergehen“ nach einem Roman von Louis Couperus bei der Ruhrtriennale

Gijs Scholten van Aschat (Takma) und Frieda Pittoors (Grootmama Ottilie), erstarrt in Schuld und Schweigen. Foto: Jan Versweyveld

Gijs Scholten van Aschat (Takma) und Frieda Pittoors (Grootmama Ottilie), erstarrt in Schuld und Schweigen. Foto: Jan Versweyveld

Es gibt Dinge, die vorübergehen. Leidenschaften zum Beispiel, oder Begierden. Für einen Moment des blinden und wilden Habenwollens gab es zwanzig Jahre Gezänke und Geschrei, zieht der hart und kalt gewordene Mann mit dem bezeichnenden Namen Steyn de Weert (Robert de Hoog) die Bilanz seiner Ehe. Seine Frau Ottilie gehört zu einer Familie, in der ein „Ding“ nicht vorübergeht, sondern bedrohlich präsent bleibt: ein Mord aus Leidenschaft, begangen vor Jahrzehnten im fernen Niederländisch-Indien. Großmutter Ottilie hat mit ihrem Geliebten Takma ihren Mann umgebracht. Doktor Roelofsz hat die Untat gedeckt.

Ein Geheimnis, das die drei – inzwischen uralt geworden – nicht in Ruhe lässt; ein Geheimnis, das keines ist: Am Ende der zweieinviertel Stunden bedrückenden Spiels wissen wir, dass es (fast) alle gekannt haben. Nur die Alten, die sterben in der Illusion, mit dem „Ding“ alleine gewesen zu sein.

„Van oude mensen, de dingen die voorbij gaan“ heißt der Roman von 1904, den Koen Tachelet für die Bühne bearbeitet und den der renommierte belgische Regisseur Ivo van Hove für die Ruhrtriennale inszeniert hat.

Schon im letzten Jahr hat Johan Simons, Intendant der Triennale bis 2017, von dem Team um van Hove einen Roman des Niederländers Louis Couperus auf die Bühne bringen lassen: „De stille kracht“ („Die stille Kraft“), eine Studie über das Unergründliche im Menschen, das sich in der Konfrontation von unvereinbaren Kulturen und in dunklen Verbrechen offenbart.

„Von alten Menschen, den Dingen, die vorübergehen“ ist ein Schlüsselwerk Couperus‘, der zu den wichtigsten Schriftstellern der Niederlande gehört. Leider ist das Werk auf Deutsch nicht mehr erhältlich; die letzte Ausgabe erschien 1985. Und es ist bedauerlich und ein wenig verwunderlich, dass kein Verlag den Impuls der letztjährigen Triennale aufgegriffen und sich dem Schaffen von Couperus zugewandt hat – zumal die Buchmesse dieses Jahres Flandern und die Niederlande zu Gast haben wird.

Die Maschinenhalle der ehemaligen Zeche Zweckel in Gladbeck, Spielort der Ruhrtriennale für Louis Couperus' "Die Dinge, die vorübergehen". Foto: Werner Häußner

Die Maschinenhalle der ehemaligen Zeche Zweckel in Gladbeck, Spielort der Ruhrtriennale für Louis Couperus‘ „Die Dinge, die vorübergehen“. Foto: Werner Häußner

Nachlesen lässt sich also nur auf Niederländisch, und das ist schade. Denn Ivo van Hoves Arbeit in der Maschinenhalle der ehemaligen Zeche Zweckel in Gladbeck stellt Couperus als einen Autor mit aktuellem Potenzial und zeitlos relevanten Themen vor. Sicher geht es um das Altwerden, um das Ersterben der Leidenschaft, um die unbändige Kraft nicht zu bezwingender Triebe, um eine schonungslose Analyse der Familie als Ort des Verschweigens, der Sprachlosigkeit, der Selbsttäuschung. Es geht um die verdrängte und gerade deshalb machtvolle Sexualität, die van Hove in zugespitzten Bildern vor Augen führt: Die Umarmungen, die Küsse von Mutter Ottilie (Katelijne Damen) und Sohn Lot haben etwas ungeniert Sinnliches und Gieriges; die Kälte statuenhafter Dialoge sind so fröstelnd unheimlich wie die unverhohlene Pädophilie von Ottilies Bruder Anton, von Hugo Kolschijn mit der verzehrenden Unruhe, aber auch der eisigen Egozentrik des finsteren Begehrens verkörpert.

Ivo van Hoves konzentrierter Inszenierungsstil schafft auf der Bühne von Jan Versweyveld dichte, atmosphärisch faszinierende Bilder. Foto: Jan Versweyveld

Ivo van Hoves konzentrierter Inszenierungsstil schafft auf der Bühne von Jan Versweyveld dichte, atmosphärisch faszinierende Bilder. Foto: Jan Versweyveld

Aber es geht auch um die Folgen einer Tat, die sich mit biblischer Wucht bis in die Enkelgeneration auswirkt. Couperus ist kein Moralist, er stellt – wie das alttestamentliche Wort von den Wirkungen der Sünden der Väter – den Zusammenhang fest. Aber der erstickt das Leben, nimmt die Freude und die Leichtigkeit des Seins. Eine Last, der die jungen Leute auch durch Flucht in den Süden nicht entkommen. Und die Momente entfesselten sexuellen Begehrens wirken weder frei noch beglückend – sie schnaufen unter Zwang und Druck.

Jan Versweyfeld schafft das Paradoxe, die weite Spielfläche der riesigen, denkmalgeschützten elektrischen Kraftzentrale in ein bedrückendes Gefängnis zu verwandeln: Figuren in hochgeschlossenem, calvinistischem Schwarz (Kostüme: An D’Huys) sitzen auf Stühlen an den Rändern einer hell-ockerfarbenen Fläche, die sich nach hinten in einer Spiegelwand verliert. Dort gehen Uhren ihrem gleichförmig mechanischem Tagwerk nach: Ihr unerschütterliches Ticken – Harry de Wit greift es in seiner unheimlich ausdrucksstarken Musik auf – endet erst mit dem Tod der Großmutter. Auch wenn das „Ding“ dann vorüber ist: die Menschen, die immer wieder wie ein Leichenzug die Fläche beschreiten, wirken nicht entlastet; die Protagonisten des Epilogs bilden stehend ein Kreuz. Und Lot, der den Namen des Überlebenden des Infernos von Sodom und Gomorrha trägt, bleibt alleine zurück, in Angst vor Alter und Endlichkeit. Unfähig, das Neue zu „umarmen“, das sich ankündigt, versinkt er in undurchdringlich weißem Nebel.

Kein Fünkchen Hoffnung? Doch – und die formuliert Couperus religiös: Die Alten räsonieren in ihren quälenden Dialogen über Schuld und Strafe, über Gott und Vergebung. Eine Ahnung von Barmherzigkeit haben sie nicht. Aber die Großmutter Ottilie bittet am Ende ihre Tochter Thérèse (Celia Nufaar), ihr zu zeigen, wie man betet. „Ich habe es vergessen“, sagt sie. Und die Tochter, die, als sie dreißig Jahre vorher von dem Mord erfahren hatte, alle sexuelle Sinnlichkeit mit Hass belegt und sich ins stellvertretende Gebet vergraben hat, stellt mit Genugtuung fest: Ihre Mutter ist mit gefalteten Händen gestorben. Hoffnung auf Heilung, auf Versöhnung bei Gott? Sie klingt zumindest an.

Dass dieses Plädoyer für die Aktualität und die Gedankentiefe von Louis Couperus erneut so grandios gelingt, ist Ivo van Hoves mätzchenfreier, konzentrierter Regie zu verdanken, den bedachtsamen choreografierten Ensembles (Koen Augustijnen), vor allem aber der großen Klasse der Darsteller der Toneelgroep Amsterdam: Schon der Klang der Rede – das Niederländische wird in Übertiteln übersetzt – ist ein Erlebnis. Momente höchster emotionaler Anspannung werden ohne Druck entwickelt. Die klare Artikulation, der ungezwungene Sprachfluss, die differenzierte Dramaturgie von Tempo und Dynamik machen schmerzhaft bewusst, wie viele Schlampereien sich in die am deutschen Schauspiel üblich gewordene verschliffene Sprache eingeschlichen haben.

Van Hove lässt seinen Menschen auf der Bühne viel Raum, entlässt sie aber nicht aus der Disziplin einer auch in der Zuspitzung kontrollierten Aktion. Gijs Scholten van Aschat ist der unter der quälenden Last der verdrängten Tat erstarrte Emile Takma; Frieda Pittoors als Großmutter Ottilie erzeugt Gänsehaut-Momente, wenn das „Ding“ im Zimmereck vor ihrem geistige Auge aufsteigt. Sie zeigt ihre Klasse aber nicht nur in den spitzen Staccati ihrer Schreie, sondern mehr noch, wenn ihre bitteren Monologe von Schuld und Strafe in den Griff knöcherner Angst geraten.

Aus Greidanus (Lot) und Abke Haring (Elly) spielen mit Passion das junge Paar, dessen Beziehung keine Zukunft hat. Hans Kesting (Harold) und Bart Slegers (Daan), Jip van den Dool (Hugh), Janni Goslinga (Anna) und Maria Kraakman (Ina) entwickeln in unprätentiösem Spiel scharf gezeichnete Charaktere; Fred Goessens macht aus Doktor Roelofsz einen Menschen, den sechzig Jahre verbissenes Schweigen ruiniert haben, der aber, als er sich einen Augenblick lang entdeckt fühlt, noch einmal den Habitus eines gefährlichen Gewalttäters aufblitzen lässt. Der wiederentdeckte Louis Couperus hat nicht nur dank der konturscharfen Handschrift von Ivo van Hove zu einem Höhepunkt der am 24. September zu Ende gehenden Ruhrtriennale geführt. Der letzte Teil der Couperus-Trilogie im nächsten Jahr darf mit Spannung erwartet werden.

Weitere Vorstellungen am 23. und 24. September. www.ruhrtriennale.de




Mit Flummi im Spiegelzelt – Torsten Sträter beim Dortmunder Festival RuhrHochDeutsch

Soziale Netzwerke, insbesondere Twitter, werden ja oft als virtueller Marktplatz sich unreflektiert aufschaukelnder Erregungstumulte rund um einen griffigen Hashtag wahrgenommen. Im medial nicht so aufgeblasenen Bereich der Twittergemeinde ermöglicht es aber gerade diese Hashtag-Kultur, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen über das, was man mag; was man gerne liest, guckt, hört oder auch, worüber man lachen kann.

Zunehmender Beliebtheit bei den manchmal mit einem recht eigenwilligen Humor gesegneten Twitter-Nutzern erfreut sich seit einiger Zeit der Waltroper Torsten Sträter. Was also lag näher als ein Ruhrpott-Twittertreffen mit einem Abend im Dortmunder Spiegelzelt bei Sträters Auftritt im Rahmen des Festivals RuhrHochDeutsch zu kombinieren?

Torsten Sträter im Dortmunder Spiegelzelt

Begegnung nach seinem Auftritt: Torsten Sträter im Dortmunder Spiegelzelt. (Foto: Michael Reimann)

Nicht alle Besucher kamen wie wir mit einem großen Begeisterungs-Vorschuss. Man hörte im Biergarten durchaus Stimmen à la „Hoffentlich gibt datt watt, hoffentlich liest der nich nur stur ab“. Aber etwaige Bedenken dürften schnell hinweg gefegt gewesen sein. 10 Minuten nach Beginn seines neuen Programms „Es ist nie zu spät, unpünktlich zu sein“ war der auf’s Zeltdach trommelnde Regen nicht mehr zu hören. Gut, Heimspiel könnte man sagen. Aber bitte, wer ist kritischer als die eigene Nachbarschaft? Eben.

Schnell bestätigt sich der bisher nur am Bildschirm gewonnene Eindruck: Sträter funktioniert am besten als Gesamtkunstwerk. Um das „Hoffentlich liest der nicht stur ab“ des Bedenkenträgers aufzugreifen: Ja, stimmt. Sträters Texte sind für sich genommen nur mäßig witzig, liest man sie in gedruckter Form selbst, reißt es einen nicht unbedingt vom Hocker. Trägt Sträter sie aber mit seiner unnachahmlichen Intonation vor, bettet er sie gar ein in einen frei vorgetragenen Kontext, dann hebt sich dieses Gesamtkunstwerk sehr wohltuend ab von dem, was einem sonst gerne als Kabarett verkauft werden soll. Nicht nur in diesem Punkt fühlt man sich im Laufe des Abends des öfteren angenehm an Fritz Eckenga erinnert. Möglicherweise gibt es ja so etwas wie eine Dortmunder Schule des Humors. Weiß man da Näheres?

König der Abschweifungen

Rund um die vorgelesenen Texte ist Torsten Sträter der ungekrönte König der Abschweifungen, was aber gerade den besonderen Reiz ausmacht. Man weiß nie, wo er hin will oder auch nur im Ansatz, was als Nächstes kommt. Ist er jetzt noch in Torgau beim Probelauf oder verlobt er sich gerade mit seinem Urologen? Vom Hölzken auf Stöcksken zu kommen und dann nach fast 3 Stunden den Kreis geschmeidig mit einem Flummi zu schließen – das muss man erstmal können. Sträter kann das und zwar so, dass das Publikum gleichermaßen verblüfft und begeistert verharrt. Zaubern mit Worten oder wie Sträter es nicht ohne Stolz formulierte: „Hab ich schick zusammengehäkelt, ne?“

Politisches Kabarett ist seine Sache nach eigener Aussage nicht, dennoch haben viele seiner Texte eine zumindest gesellschaftspolitische Aussage. So wie der Text, in dem er einem mit ihm befreundeten syrischen Flüchtling erklärt, wie Deutschland funktioniert und dabei die unguten „das wird man ja wohl noch sagen dürfen Vorurteile“ ganz geschickt umadressiert. Möglich, dass die Subtilität dieses Textes mehr bewirkt als fromme Lippenbekenntnisse aus der Politik. (Hoffen kann man ja)

Nicht nur mit diesem Text hält Sträter seinem Publikum den Spiegel vor. Wiedererkennungswert seiner Programme: höher geht nicht. In beide Richtungen. Zum einen erkennt der Zuhörer sich selbst wieder, zum anderen aber ertappt er sich dauernd bei den alltäglichsten Dingen, dabei an Sträter zu denken. Es soll Leute geben, die nicht ein einziges Hemd mehr ohne die Beschwörungsformel KSRKBÄM bügeln, Und falls es jemand interessiert: Ich habe mir heute mehr als einmal ein „Ey, datt iss ein Fahrradweg“ verkniffen. Bitte gerne.

Unaufgeregter Ruhrpott-Pragmatismus

Sträter beherrscht die ganze Palette vom eher grobschlächtigem Humor mit und ohne Storno bis hin zu den leiseren Tönen. Wenn man genau hinhört, dann kann man zwischen den Zeilen den Poeten hören. Sträters Anfänge in der Wortkunst wurzeln ja auch dort: Im Poetry Slam. Damit wurde er erstmals vor Publikum bekannt, da kommt er her. So die Geschichte über seine Afrika-Reise: So witzig sie zwischenzeitlich daherkam, so kleidsam der Hut, so gelungen die Pointe auch war: Man war auch berührt von dem, was er erzählte, man merkte gut, wie sehr ihn das dort Gesehene bewegte. Die Balance zwischen Witz und leisen Zwischentönen hält er durch, auch für Sträter scheint Satire eine Möglichkeit zu sein, den Absurditäten des Lebens zu begegnen. Entweder man verbittert oder man lacht darüber.

Und selbst wenn Torsten Sträter sich geschmeidig in New York bewegen kann, ganz klar ist er ein Ruhrpottjunge. Seine Sprache ist die der Menschen hier, sein Humor ebenfalls. Umso schöner, dass es auch außerhalb des Reviers funktioniert. Humorvoller, unaufgeregter Ruhrpott-Pragmatismus kann der Republik nicht schaden. Auch im entspannten After-Show-Gespräch ist es ganz einfach, in ihm den gelernten Herrenschneider von „umme Ecke“ zu sehen. In diesem Sinne „Glückauf“ für seine Sendung „Männerhaushalt„, die – wie er uns noch verriet – ab November im WDR in Serie geht.

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Mehr über ihn auf seiner Webseite. Alle Termine finden sich hier.




Vor 50 Jahren hob das Raumschiff „Orion“ ab

Der folgende Beitrag ist erstmals am 13. August 2013 in den Revierpassagen erschienen. Anlass der neuerlichen Veröffentlichung: Gestern (17. September) vor 50 Jahren hat die Ausstrahlung der legendären Reihe begonnen. Hier also nochmals der Text von 2013:

So hat man sich vor 47 Jahren die Zukunft vorgestellt: Die Menschen leben in einer keimfreien Unterwasserwelt. Das Mobiliar sieht poppig und furchtbar avantgardistisch aus. Leute in Einheitskluft vollführen schon mal seltsam roboterhafte Tänze. Vor allem aber brechen sie tagtäglich in die unendlichen Weiten fremder Galaxien auf.

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von "Raumpatrouille". (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von „Raumpatrouille“. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Willkommen bei der „Raumpatrouille“, der legendären Science-Fiction-Spielserie aus den 1960er Jahren! Willkommen an Bord des Raumschiffs „Orion“!

Der „alte Adam“ ist noch lebendig

Als „Märchen von übermorgen“ wird das Ganze schon im Vorspann der einstündigen Auftaktfolge bezeichnet, die ich mir jetzt noch einmal angesehen habe. Unter den Erdbewohnern herrscht Frieden, es gibt keine Nationalstaaten mehr. Doch der blaue Planet muss sich unentwegt gegen extraterrestrische Angreifer wehren – allen voran die geheimnisvoll glitzernden, ungreifbaren „Frogs“, gegen die auch Laserpistolen nichts ausrichten können. Trotzdem sind sie an einem Punkt verwundbar…

Auch der „alte Adam“ ist in dieser fernen Zukunft noch lebendig. Es gibt immer noch Hierarchien und Intrigen, aber auch Teamgeist und Freundschaft. Und es gibt immer noch diese uranfängliche, zuweilen etwas komplizierte Sache zwischen Männern und Frauen.

Dietmar Schönherr als smarter Kommandant

Im Zentrum der am 17. September 1966 gestarteten, siebenteiligen ARD-Reihe schwebt natürlich das Raumschiff „Orion“ unter dem Kommando des smarten Allister McLane (Dietmar Schönherr). Weil der oft allzu husarenhaft und eigenmächtig vorgegangen ist, degradieren ihn die Chefs für eine Bewährungsfrist von drei Jahren. Auch stellen sie ihm als Aufpasserin die rigide Sicherheitsoffizierin Tamara Jagellovsk (Eva Pflug) zur Seite, was der eingeschworenen „Orion“-Besatzung gar nicht in den Kram passt. Ein Hauptstrang der Serie schildert denn auch gruppendynamische Prozesse.

Der „Kalte Krieg“ und die Verweigerung

Man beachte den russisch klingenden Namen Jagellovsk und stelle sich vor, dass das alles mitten im Kalten Krieg (und vor der ersten Mondlandung) gesendet wird. Da ist es schon eine kleine Sensation, dass jene Tamara gelegentlich menschliche Seiten durchschimmern und mit sich reden lässt. Das Dauerthema Gehorsams-Verweigerung deutet, wenn man so will und genau hinhört, schon zaghaft auf die Rebellion von 1968 voraus. Jedenfalls ist es sozusagen sternenweit entfernt vom „Kadavergehorsam“ im Zweiten Weltkrieg, der damals gerade erst 21 Jahre zurücklag.

So erlesen auch das Darsteller-Ensemble war (außer Schönherr und Pflug u. a. Wolfgang Völz, Benno Sterzenbach, Friedrich Joloff usw.), wurde es doch beinahe in den Schatten gestellt, nämlich von den ungemein kreativ ausgeklügelten Spezialeffekten, die mit einfachsten Mitteln bewerkstelligt wurden. Computer im heutigen Sinne gab es halt noch nicht. Aber Phantasie und Tüftlergeist waren reichlich vorhanden!

Spezialeffekte mit Reis, Rasierklinge und Bügeleisen

So wurde ein interstellarer Lichtsturm mit Hilfe hochgeworfener Reiskörner erzeugt. Kosmische Strahlen? Die ritzte man mühsam in die einzelnen Filmbilder ein – per Handarbeit mit einer gewöhnlichen Rasierklinge. Berühmtheit erlangte das Bügeleisen, aus dem im Handumdrehen ein Bestandteil der futuristischen Raumschiff-Armaturen wurde. Oft halfen bewusst unscharf aufgenommene Bilder, viele aufgeregt blinkende Glühbirnchen oder wallende Nebelschwaden, um den galaktischen Budenzauber zu inszenieren. Und dabei haben wir noch gar nicht die futuristische Geräuschkulisse mit ihren bizarren Halleffekten erwähnt.

Es wurde spannend erzählt, doch keineswegs ohne Humor und einen Schuss Selbstironie. Der technische Jargon wurde bis zur Parodiereife ausgereizt, menschliche Schwächen geradezu wonnewoll ausgekostet. Trotz tollster Raumfahrttechnik lebten die uralten Instinkte aus Verfolgungsjagden in Dialogen dieser Art fort: „Sie kommen!“ – „Nichts wie weg hier!“ So ähnlich muss sich das schon in der Steinzeit angehört haben.




Hymnische Hundertschaften: Die Neue Philharmonie Westfalen feiert ihr Jubiläum

Rasmus Baumann, Generalmusikdirektor der Neuen Philharmonie Westfalen (Foto: Pedro Malinowski)

Rasmus Baumann, Generalmusikdirektor der Neuen Philharmonie Westfalen (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Ist dies nun Größenwahn? Ein musikalischer Exzess? Ein monumentales Spätwerk oder eine „metaphysische Riesenschwarte“, wie Theodor W. Adorno meinte? Ein Universum in Tönen oder eine „missglückte Wiederbelebung des Kultischen“, um noch einmal Adorno zu zitieren? Wie immer man zu Gustav Mahlers 8. Sinfonie stehen mag, leicht zu fassen ist sie beim besten Willen nicht.

Da sind zum einen die schieren Dimensionen des Riesen-Werks, das bei seiner Uraufführung am 12. September 1910 in München mehr als 1000 Sänger und Musiker vereinte: verteilt auf diverse Chöre, ein üppig besetztes Orchester, ein Fernorchester und acht Gesangssolisten. Zum anderen kostet es erhebliche Mühen, den utopischen Gehalt der Texte zu durchdringen. Mahler vertonte einen mittelalterlichen lateinischen Pfingst-Hymnus und die Schluss-Szene aus Goethes „Faust II“. Wiewohl seine Musik die zwei unterschiedlichen Teile miteinander verzahnt, hebt die Tonsprache sich von allen anderen Mahler-Sinfonien ab. Sie ist ein sperriger Solitär, diese 8. Sinfonie, die ein findiger Marketing-Experte im Jahr 1910 flugs als „Sinfonie der Tausend“ bewarb.

Um mit einem Ausrufezeichen in ihre Jubiläumsspielzeit zu starten, entwickelten Dirigent Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen jetzt den Ehrgeiz, das kolossale Werk aus eigener Kraft zu stemmen. Das Landesorchester besitzt die dafür nötige Größe. Was vor 20 Jahren aus der Fusion der Orchester von Gelsenkirchen und Recklinghausen entstand, ist heute ein Klangkörper von etwa 130 Musikerinnen und Musikern, die rund 300 Auftritte im Jahr absolvieren.

Minister, Regierungspräsident, Landräte, Bürgermeister und zahlreiche Freunde und Förderer kamen ins Ruhrfestspielhaus Recklinghausen, um das Ereignis zu feiern. Recklinghausens Bürgermeister Christoph Tesche sprach in seinem Grußwort die finanzielle Unsicherheit an, die das Orchester in den vergangenen Jahren seiner komplizierten Trägerstruktur wegen ertragen musste. Er erinnerte daran, dass es die Bürger selbst waren, die in schwierigen Zeiten den Erhalt des Orchesters gefordert hatten. Bis zum Jahr 2021 sei dessen Existenz zwar gesichert, aber er hoffe, dass es auch darüber hinaus eine Lösung geben werde. Rainer Nörenberg vom Orchestervorstand erwähnte den ehemaligen Generalmusikdirektor Johannes Wildner als wichtigen Motor für das Gelingen der Fusion, die weit glückreicher verlief als die bereits nach fünf Jahren gescheiterte Vermählung der Opernhäuser von Gelsenkirchen und Wuppertal zum „Schillertheater NRW“.

Die Neue Philharmonie Westfalen ist mit rund 130 Musikerinnen und Musikern eines der größten Orchester der Region (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Die Neue Philharmonie Westfalen ist mit rund 130 Musikerinnen und Musikern eines der größten Orchester der Region (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Wer danach gespannt Mahlers ekstatische Anrufung des Schöpfer-Geists erwartete, sah sich zunächst vor allem mit einer schwierigen akustischen Situation konfrontiert. Wohl war die Bühne des Ruhrfestspielhauses so weit wie möglich nach hinten geöffnet worden, um den immerhin mehr als 400 Mitwirkenden Raum zu geben. Dass der Recklinghäuser Rahmen dem Riesenwerk nicht genügen konnte, war dennoch keine Überraschung. Wo die Hymne auf den „Creator spiritus“ sonst über den Hörer hinweg braust wie ein Orkan, kam – zumindest auf dem Rang – eine wenig strukturierte Klangmasse an.

Weit mehr zahlten sich die Mühen aller Beteiligten im zweiten Teil aus. Von der schier hypnotischen Wirkung der mystischen Anachoreten-Musik ausgehend, entfalteten Chöre, Solisten und Orchester unter der Leitung von Rasmus Baumann ein himmlisches Panorama, das in Engels- und Erlösungsmusik gipfelte. Acht Gesangssolisten verkörperten christlich-faustische Figuren, unter anderem die „Mater gloriosa“, die von den Klängen von Celesta und Harfe umrauscht entschweben konnte.

Gänsehaut-Momente waren durch starke Chorleistungen garantiert: Zu nennen sind hier der Opernchor des Musiktheaters im Revier (Einstudierung: Alexander Eberle), der Chor der Universität Duisburg-Essen und der Konzertchor Unna (Einstudierung Hermann Kruse), der Projektchor „Sinfonie der Tausend“ (Einstudierung: Christian Jeub), der Knabenchor Gütersloh und die Jugendkantorei Gütersloh (Einstudierung: Sigmund Bothmann). Mit dem Erreichen des Chorus Mysticus wurde das Unzulängliche – um Goethes Schlussvers zu zitieren – am Ende doch Ereignis.

(Informationen zu weiteren Konzerten der Neuen Philharmonie Westfalen: http://www.neue-philharmonie-westfalen.de/konzerte.html)




In den Iran und nach Syrien: Sonderbarer Journalisten-Verband lädt zu Pressereisen ein

Nein, danke. Auf diese Einladung möchte ich wirklich nicht zurückkommen. (Repro/Ausriss: BB)

Nein, danke. Auf diese Einladung möchte ich wirklich nicht zurückkommen. (Repro/Ausriss: BB)

Da erreicht mich doch dieser Tage eine Einladungs-Mail zur Journalistenreise in den Iran. Aber wer steckt dahinter? Mal schauen…

Nun, mit der Nachfrage beginnen schon die Seltsamkeiten. Die etablierten Journalistenverbände DJV und dju (bei Ver.di) sind mir seit vielen Jahren aus beruflichen Zusammenhängen wohlvertraut, im DJV bin ich selbst Mitglied. Doch von einem vollmundig so benannten „Journalistenzentrum Deutschland e. V.“ hatte ich bis dato noch nichts gehört, auch nicht vom zugehörigen Träger „DPV“ („Deutscher Presse Verband e. V.“) und dessen Schwestergewächs bdfj (Bundesvereinigung der Fachjournalisten).

Für ihr sonderbares „Imperium“ haben sich die Betreiber auch noch die hochtrabend klingende Internet-Adresse www.journalistenverbaende.de gesichert; ganz so, als stünden sie – gleichsam als Dachorganisation – für Deutschlands journalistische Zusammenschlüsse überhaupt. Was natürlich kompletter Unsinn ist. Nebenbei gefragt: Woher haben die eigentlich meine private Mailadresse?

Etliche Ungereimtheiten

Ein wenig Nachforschung im Netz fördert schnell einen lesenswerten Beitrag des Journalisten Ulf Froitzheim zutage, der bereits 2009 für den „BJV Report“ (Zeitschrift des bayerischen Landesverbandes im renommierten Deutschen Journalisten-Verband DJV) auf gründliche Spurensuche gegangen war und derart viele Absurditäten, Ungereimtheiten und zweifelhaftes Gebaren beim „DPV“ vorgefunden hat, dass es kaum zu glauben ist.

Man sollte das nachlesen: Hier ist der Link zu Froitzheims Bericht, der einen Kaufmann namens Christian Zarm als (nahezu einzige) treibende Kraft des „DPV“ ausmacht, welcher offenbar aus einer Art Vespa-Motorroller-Fanclub hervorgegangen ist. Journalismus im eigentlichen und seriösen Sinne scheint demnach nicht gerade das Kerngeschäft des „DPV“ (gewesen) zu sein. Um es mal ganz vorsichtig zu sagen. Auch die auf eine einzige Person zugeschnittene Satzung des Verbandes sorgt, wenn man Frotzheim folgt, für ungläubiges Kopfschütteln. Übrigens hat sich Zarm laut Focus und Froitzheim in den 1990er Jahren auch schon mal als dubioser Doktortitel-Händler verdingt.

Zurück zum „DPV“. Von einem solch undurchsichtigen Vereins-Konstrukt mag ich mich jedenfalls nicht einladen lassen – erst recht nicht in den Iran oder gar nach Syrien. Diese letztere Reise, so heißt es auf der „DPV“-Homepage, sei freilich schon ausgebucht. Behaupten lässt sich ja so manches.

„Terminverschiebung möglich“

Unterdessen ist die Iran-Reise (Teilnehmerzahl von „ca. 8 Personen“ offenbar noch nicht erreicht) bereits einmal verschoben worden und wird nunmehr für 4. Bis 11. November angekündigt, plus/minus 1-2 Tage, wie es heißt. Zusätzliche Anmerkung: „Terminverschiebung möglich“. Da muss sich der interessierte Journalist (welche Zielgruppe wird hier eigentlich angepeilt?) halt mal eine Zeit lang mit gepackten Koffern bereithalten und demütig abwarten, was da kommen mag…

Überhaupt bleibt rätselhaft, was sich wohl hinter diesen beiden, jeweils einwöchigen Reisen verbirgt, deren angeblich (von wem?) subventionierter Pauschalpreis je 1980 Euro beträgt. Laut „DPV“ alias Journalistenzentrum Deutschland werden Details zum Ablauf – „auch aus Sicherheitsgründen“ – erst kurz vor dem Abflug bekannt gegeben. Man habe allerdings so gute Kontakte, dass Treffen mit Vertretern hochrangiger Institutionen „fest eingeplant“ seien. Aha.

Extremistenführer treffen

Damit bei weitem nicht genug: Als „Referenzen“ aus früheren Reisen werden ferner (neben vielen, vielen weiteren Grandiositäten) u. a. Begegnungen mit „lokalen Stammesfürsten, Interviews mit Extremistenführern (Al Qaida, Taliban)…“ genannt. Da schau her. Die trauen sich was. Zumindest verbal.

„Delegationsleiter“ (der „DPV“ und seine Ableger zahlen niemals in kleiner Wortmünze) soll offenbar Shams ul-Haq sein, der aus Pakistan stammende „Fachgruppenleiter für Internationale Beziehungen“, der anderwärts als Journalist und Terrorismusexperte firmiert – beides keine gesetzlich geschützten Berufsbezeichnungen, die sich also notfalls jeder anheften kann.

Apropos bisherige Trips: Es gibt bei YouTube ein reichlich bizarres, rund 20 zähe Minuten langes Video von der „Ersten europäischen Journalistenreise“ (wie gesagt: Sie lieben die prahlerischen Formulierungen) in den Iran – selbstverständlich unter Führung des genannten Shams ul-Haq. Zu orientalischer Musik werden da x-beliebige Filmaufnahmen einer irgendwie gearteten Pressereise gezeigt. Gegen Ende macht Shams ul-Haq dann auch mal ein albernes Späßchen. Was haben wir gelacht.

Schon im Filmvorspann werden als Teilnehmer Christoph Hein von der „Frankfurter Allgemein“ (sic!), Jörg Lau von der „Zeit“ und Daniel Steinworth von der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) genannt. In Sachen medialer Markennamen geht’s im hiesigen Sprachraum schwerlich edler, es fehlt eigentlich nur noch die „Süddeutsche Zeitung“. Und was ist wirklich dran? Das könnten wohl nur die Genannten bezeugen.

Undercover im Flüchtlingsheim

Zum Namen Shams ul-Haq finden sich im Internet einige Verknüpfungen, die zu denken geben. Sie gipfeln vorerst in der Rechtsaußen-Postille „Junge Freiheit“ als angeblichem Auftraggeber einer 2015 entstandenen Undercover-Reportage aus einem Flüchtlingsheim, mit der Shams ul-Haq seinerzeit mächtig hausieren ging. Auch die Netzadresse der außerordentlich „flüchtlingskritischen“ „Epoch Times“, die bei Shams ul-Haq ebenfalls anliegt, ist nicht gerade als fein verschrien.

Und weiter geht’s: Für den 3. Oktober wird in einem Verlag namens SWB Media Publishing ein Haq-Buch über Zustände in Flüchtlingsunterkünften angekündigt, es heißt bezeichnenderweise „Die Brutstätte des Terrors“. Aparte Zuspitzung im Zusammenhang mit Asylbewerbern, nicht wahr? Dabei ist Shams ul-Haq einst selbst als Flüchtling nach Deutschland gekommen.

Schon vorab werden zu dem Buch einige begeisterte Testimonials verbreitet, unter anderem ausgerechnet von Prof. Dr. Frank Überall, seines Zeichens vor allem umtriebiger WDR-Journalist und – Obacht! – Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes DJV, der angeblich geäußert haben soll: „Ein spannendes Werk, das sicherlich viele Debatten auslösen wird.“ Ob mit diesem Zeugnis wohl alles so seine Richtigkeit hat?

Strittiger Wikipedia-Artikel

Besagter SWB (SüdWestBuchVerlag) scheint übrigens längst nicht nur als klassischer Verlag tätig zu sein, sondern vorwiegend mit Books on Demand (BoD) zu handeln und zudem vielfach als „Dienstleister“ aufzutreten, sprich: auf dem Felde des umstrittenen Druckkostenzuschuss-Wesens. In einschlägigen Internet-Foren gehen die Meinungen dazu freilich auseinander.

Unterdessen ist für Shams ul-Haqs (von ihm selbst verfassten?) Wikipedia-Eintrag Löschung beantragt worden. Begründung auf der Diskussions-Ebene des Internet-Lexikons: „Es bestehen erhebliche Relevanzzweifel“. Nanu! Sollte der Mann etwa gar nicht so furchtbar wichtig sein, wie er sich offenbar nimmt? Mal abwarten, wie sich der Vorgang entwickelt.

So weit also die ersten Ergebnisse einer bloßen Internet-Recherche, die noch erheblich ausgedehnt werden könnte. Aber ganz ehrlich: Ich mag mich nicht weiter auf solche Untiefen einlassen. Man wagt sich ja gar nicht auszumalen, was sich mit investigativen Mitteln aus solcherlei Ansätzen noch herausholen ließe.




Routine der Empörung oder: Die seltsame Sucht nach Krawall in den Schlagzeilen

Wie kommt ein Polit-Promi der A-, B- oder C-Kategorie knackig in die Medien? Indem er etwas Vernünftiges sagt, was dann allseits ernsthaft diskutiert wird. Haha. Guter Gag. Nein, leider oft in erster Linie mit verbalem Krawall, Provokation und „Tabubrüchen“.

Beispiele hatten wir jüngst zuhauf. Donald Trump ist in dieser Disziplin der Champion aller Klassen, beispielsweise mit seinem Smash-Hit „Wenn wir schon Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?“ Er kam auch noch mit einigen anderen Krachern in die Charts. Eine milliardenteure Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen und die blöden Mexen dafür zahlen lassen wollen, das war sein Latin-Sound mit dem besonderen Salsa-Feeling.

Wenn du kein honorarfreies Bild hast, so nimm einfach ein selbst fotografiertes Einhorn (alte Journalisten-Weisheit). (Foto: Bernd Berke)

Wenn du sonst kein honorarfreies Bild hast, so nimm einfach ein selbst fotografiertes Einhorn (alte Journalisten-Weisheit). (Foto: Bernd Berke)

Ähnlich penetrant, wenn auch auf weitaus kleinerer Macht- und Bedrohungsflamme, gerieren sich deutsche Polit-Barden, vorwiegend auf dem Gebiet der tümelnden Volksmusik. Oder gleich „völkisch“. Mit diesem historisch immens vorbelasteten und nimmermehr zu rettenden Wort jonglierte dieser Tage bekanntlich die AfD-Chefin Frauke Petry. Sie möchte es aufgewertet wissen.

Viel Luft nach rechts unten bleibt da nicht mehr. Wird sie bald das Wort „Führer“ enthistorisieren und sodann positiv aufladen wollen, wird sie den Holocaust relativieren oder das abgründige „Arbeit macht frei“ als aufmunternde Parole lesen wollen? Man weiß es nicht. Jedenfalls ist in derlei Provo-Sprech ein Zwang zur ständigen Überbietung und Steigerung eingebaut. Und nachher will man’s wieder nicht gewesen sein.

Da hat’s der CSU-Bierzeltmann Horst Seehofer vergleichsweise ein paar Nummern harmloser und doch lachhaft genug getrieben. Sein Holzhammer-Vorschlag, ARD und ZDF zusammenzulegen (damit dann irgendwann nur noch private Prekariats-Sender übrig bleiben?) ist allzu durchsichtig. Weil gerade die öffentlich-rechtlichen Medien ihn kritisch betrachten, will er sie gleich dezimieren. In Kindertagesstätten geht es manchmal rationaler zu.

Viele Medien spielen als Verstärker die üblen Spielchen des haltlosen Ausposaunens mit, nicht immer ganz unfreiwillig. Und machen wir uns nichts vor: Weite Teile des linken und liberalen Spektrums gieren insgeheim nach solch idiotischen Aussagen, um sich gehörig aufzuregen und aber so was von deutlich sichtbar auf der richtigen Seite zu stehen. Das geschieht inzwischen so ungefähr im Dreitages-Abstand; ganz so, als müsse auch hierbei die Dosis ständig erhöht werden. Es ist eine Sucht nach permanentem Alarm.

Erst wenn die dummen Sprüche (gegen die man ja auch angehen muss) via Talkshow, Interview oder dergleichen in der Welt sind, können Besserwissende mit selbstgerechter Empörungs-Routine loslegen, indem sie kübelweise Belehrungsbrei bzw. mehr oder weniger treffliche Häme ausgießen. Dürftiger noch, wenn sie nur noch abgedroschene, längst nicht mehr per se „vielsagende“ Formeln à la „Der Schoß ist fruchtbar noch“, „Wehret den Anfängen“ bzw. „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte“ vom Stapel lassen. Nicht, dass diese klassischen Satzfetzen neuerdings unwahr wären. Doch häufig werden sie ohne weitere Mühen der Argumentation benutzt.

Im allfälligen Shitstorm werden eventuell problematische, aber eben partout nicht „faschistische“ Figuren wie de Maizière oder erst recht Seehofer und Söder flugs zu Quasi-Nazis ernannt. Danach bleiben dann für wirkliche Rechtsradikale kaum noch passende Worte übrig. Da sehnt man sich doch nach abwägender Nüchternheit.




Alles fließt: Der Rhein im Strom der Zeit – eine gedankenreiche Ausstellung in Bonn

Warum ist es am Rhein so schön? Etwa, „weil die Mädel so lustig und die Burschen so durstig“? Nee, du gutes altes Stimmungslied, es gibt noch etwas Anderes als das nervige Partygetümmel an den Promenaden von Düsseldorf, Köln oder Rüdesheim.

Der "Vater Rhein" in seinem Bett, umgeben von Städten und Nebenflüssen - so malte es 1848 Moritz von Schwind. (Foto: Raczynski-Stiftung, Poznan)

Der „Vater Rhein“ in seinem Bett, umgeben von Städten und Nebenflüssen – so malte es 1848 Moritz von Schwind. (Foto: Raczynski-Stiftung, Poznan)

Abseits, auf den Uferwiesen, da fließen die Gedanken und Gefühle. An den windigen Stränden, wo die Kinder des Rheins lernen, flache Kiesel so über das Wasser zu werfen, dass sie hochhüpfen, ehe sie versinken. Dort, wo sich die Pänz nasse Füße holen und den Schiffen hinterherträumen, die aus Basel oder Rotterdam kommen und mit ihren langen Lasten und fremden Leuten so leicht und fast lautlos vorüberfahren.

Es kam zu allen Zeiten etwas Neues mit dem Strom, und etwas Altes wurde fortgespült, bis es weiter oben im Meer verschwand. Vielleicht sind die Menschen am Rhein deshalb tatsächlich etwas offener und toleranter und, ja, manchmal auch etwas weniger treu und beharrlich als ihre Mitbürger, die tief verwurzelten Westfalen. In Bonn, der (typisch Rhein) verflossenen Hauptstadt der Republik, präsentiert die Bundeskunsthalle in den nächsten Monaten das große Thema „Der Rhein“ und zwar, wie der Untertitel heißt, als „Eine europäische Flussbiografie“. Das klingt ein wenig anstrengend und ist es auch.

Krieg und Kirche, Macht und Wacht

Zwischen leuchtend blauen Wellenwänden wird dem Betrachter einige Wissbegier abgefordert. Eine Fülle an Fakten und neuerer Forschung muss durchgearbeitet werden. Zahlreiche Bücher, Dokumente und historische Exponate erfordern mehr als beiläufiges Interesse für flussrelevante Themen wie Hochwasserregulierung, Kriegs-, Kirchen- und Industriegeschichte, die Macht und die Wacht am Rhein. Der Gesamteindruck ist irgendwie halbtrocken wie der Wein vom Drachenfels, den Kalauer konnten wir uns jetzt nicht verkneifen.

Nüchtern betrachtet: "Der Rhein I", Fotografie von Andreas Gursky. (Foto: Gursky / VG Bild-Kunst)

Nüchtern betrachtet: „Der Rhein I“, Fotografie von Andreas Gursky. (Foto: Gursky / VG Bild-Kunst)

Aber es lohnt sich, artig hinzusehen, zumal Kuratorin Mare-Louise Gräfin von Plessen eine kunstvolle Idee zur Einstimmung hatte. Unter den Klängen von Schumanns „Rheinischer Symphonie“ werden da drei Rheinbilder zusammengeführt. Die nüchtern-rätselhafte Fotografie eines nicht identifizierbaren Uferstreifens aus dem Werk des Starfotografen Andreas Gursky (1996) hängt gegenüber Moritz von Schwinds schwärmerischer Darstellung von „Vater Rhein“, der anno 1848 in den grünblauen Fluten sitzt und seinen Töchtern, den Flüssen und Städten, ein rheinisches Liedchen fiedelt. Daneben bannt uns der alienhafte grüne Kopf, den Max Ernst, der Surrealist und Weltbürger, 1953 seinem „Vater Rhein“ gegeben hat.

Nach Jahren im Exil war der in Brühl geborene Künstler zurückgekehrt an den heimischen Fluss und besang ihn auf seine Weise: „Hier kreuzen sich die bedeutendsten europäischen Kulturströme, frühe mediterrane Einflüsse, westliche Regionalismen, östliche Neigung zum Okkulten, nördliche Mythologie, preußisch-kategorischer Imperativ, Ideale der französischen Revolution und noch manches mehr“, stellte er fest.

Der Flussgott trägt zwei Hörner

Und das belegt die Ausstellung mit Bildungsgut. Die Chronologie beginnt bei den alten Römern, die den Rhenus fluvius als Flussgott sahen, mit zwei Hörnern, bicornis, wegen der Gabelung an der Mündung. Der Fluss, nicht so leicht zu überqueren, galt als natürliche Grenze zwischen Gallien und Germanien. Hier spielten sich über Jahrhunderte, bis hin zum Zweiten Weltkrieg, die Konflikte zwischen Franzosen und Deutschen ab, der Machtkampf zwischen Marianne und Germania. In nicht allzu schlechter Erinnerung hat man die sogenannte Franzosenzeit zwischen 1794 und 1814, als die nachrevolutionären Truppen aus Paris auf ihrem Eroberungszug nicht nur ein geregeltes Rechtssystem (Code Napoléon), sondern auch ein gewisses savoir vivre an den Rhein brachten.

Aufwallung: der "Vater Rhein" von Max Ernst, 1953. (Foto: Kunstmuseum Basel / VG Bild-Kunst)

Aufwallung: der „Vater Rhein“ von Max Ernst, 1953. (Foto: Kunstmuseum Basel / VG Bild-Kunst)

Heute bemüht man sich im europäischen Geist, die friedliche Einigkeit der Nationen zu betonen. Die Verbundenheit mit den Rhein-Nachbarn Schweiz, Frankreich und den Niederlanden wird auch in der Bonner Ausstellung beschworen, aber, Hand aufs Herz, die westlichen Anwohner sind nie zu solchen Rheinromantikern geworden wie es die angereisten Engländer schon im 19. Jahrhundert waren, als sie die Romantik und die erbauliche Flussfahrt entdeckten. The river Rhine is so lovely, Ladies and Gentlemen!

Die Geschichte der fatalen Loreley

Doch halt! Da sind wir wieder mal zu schnell im Strom der Zeit vorausgetrieben. Zunächst einmal baute die christliche Kirche auf den Stätten der Antike ihre Kathedralen, und das Heilige Römische Reich breitete sich aus. Kaiser und Ritter residierten bevorzugt am Rhein, und es entstanden die Burgen, deren Ruinen sich noch heute so malerisch erheben, und es entstanden die Sagen und Märchen, die sogar disziplinierten japanischen Touristen die Tränen in die Augen treiben. Am Felsen der Loreley, die mit ihrem Gesang und ihren goldenen Haaren so manchen Schiffer ins Verderben lockte, da singen sie im Chor: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin …“.

Zum Fürchten: Lorenz Clasens "Germania als Wacht am Rhein", 1880. (Foto: Kunstmuseen Krefeld)

Zum Fürchten: Lorenz Clasens „Germania als Wacht am Rhein“, 1880. (Foto: Kunstmuseen Krefeld)

Heinrich Heine schrieb die berühmten Verse, denn selbst scharfsinnige Spötter werden sentimental, wenn sie nur lange genug auf die Fluten schauen. Und nicht nur Richard Wagner suchte mit ganz großem Pathos nach dem Rheingold. Über Kopfhörer kann man allerlei vom Rhein inspirierte Musik hören.

Ansonsten ist in der Ausstellung relativ wenig Platz für sinnliche Erlebnisse. Sie hat einfach zu viel zu erzählen: vom Strom der Händler, von den Waren und Menschen, die über den Rhein kamen, von wachsenden Städten und von glanzvollen Höfen wie dem des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz, genannt Jan Wellem, der in Düsseldorf die erste Gemäldegalerie für das Volk eröffnete und von dessen ganzer Prachtentfaltung nur noch ein kleiner übriggebliebener Schlossturm zeugt. Das Türmchen ist heute Domizil eines hübschen kleinen Schifffahrtsmuseums und steht gleich vorn in der Altstadt an der Promenade der immerwährenden Party. Womit wir wieder beim Stimmungslied wären: „Warum ist es am Rhein so schön?“ Ich empfehle, einen kleinen Spaziergang zu machen, ein wenig abseits, und sich den Wind des freien Rheins um die Nase wehen zu lassen.

„Der Rhein. Eine europäische Flussbiografie“. Bis 22. Januar 2017 in der Bundeskunsthalle Bonn, Friedrich-Ebert-Str. 4, Museumsmeile. Di und Mi. 10 bis 21 Uhr, Do.-So. 10 bis 19 Uhr. Eintritt: 12 Euro (ermäßigt 8 Euro). Katalog (Hrsg. Marie-Louise von Plessen), Prestel-Verlag, 336 Seiten, 39,95 Euro. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm. www.bundeskunsthalle.de




Schalke vs. Bayern 0:2 – von Dusel, Revier-Solidarität und zweifelhaften Verknüpfungen

Und wieder hat’s – neben dem bekannten Können – der übliche Bayern-Dusel gerichtet. Sie haben Schalke mit 2:0 unter Wert geschlagen. Warum nur hat Huntelaar diesen unseligen Lattentreffer nicht reingemacht? Und überhaupt…

„Lewandowski macht den Unterschied“ schreibt oder palavert in derlei Fällen der gemeine Sportreporter. Wir rufen ihm spontan und beherzt zu: Halt doch den Schnabel! Morgen drücken wir uns dann etwas zivilisierter aus. Oder auch nicht.

Screenshot vom Spiel Schalke 04 - Bayern München (© Sky Bundesliga)

Screenshot vom Spiel Schalke 04 – Bayern München (© Sky Bundesliga)

Schalke hat sich eindeutig verstärkt, der neue Trainer Weinzierl scheint wahrhaftig ein Konzept zu haben. Doch was hat es heute genutzt? Die Blauen stehen ganz hinten in der Tabelle, doch das wird sich gründlich ändern.

Was vorher geschah: Kaum war die Bundesliga nach schier ewig anmutender Pause endlich wieder gestartet, hatte es gleich diese zwei dämlichen Länderspiele gegen Finnland und Norwegen gegeben. Welch eine unsinnige Planung. Umso mehr dürstete man nach Fortsetzung der wahren Kicks – und die gab’s heute gleich mit der ziemlich hoch anzusiedelnden Partie FC Schalke – Bayern München.

Als Dortmunder und BVB-Anhänger tut man sich gerade mit dieser Begegnung ziemlich schwer. Instinktiv möchte man zu beiden n i c h t halten und möglichst beiderseits je null Punkte und null Tore vergeben. Aber das geht ja nun mal nicht.

Außerdem ist dies schließlich eine Nagelprobe auf die Revier-Solidarität. Wenn schon, dann muss man es in solchem Falle wohl mit den Schalkern halten. Die altgediente und gar oft ausgekostete Rivalität an Ruhr und Emscher muss dabei einmal hintan stehen; übrigens in umgekehrter Richtung auch morgen, wenn’s für den BVB gegen diesen seltsamen Retorten-Club aus Leipzig geht.

Wo wir gerade bei Leipzig sind: In Dortmund und Gelsenkirchen spielen selbstverständlich jeweils „Elf Freunde“ (plus ein paar weitere Kumpel) ohne Ansehen des Kommerzes. Einfach aus Spaß an der Freud’. Gut, nech?

Aber mal im Ernst: Dass etliche BVB-Fans an diesem Wochenende lieber den eigenen Amateuren zuschauen und das Bundesliga-Match gegen Leipzig nur kollektiv im Radio hören wollen, das hat doch was.

Noch’n kleiner Einschub: Auf Dauer nervt es ein wenig. Im Ruhrgebiet wird selbst bei vielen journalistischen Kultur-Terminen auf die Konkurrenz zwischen Schalke 04 und BVB 09 abgehoben. Nichts geht ganz ohne Fußball. Und wer zählt die Leute, die an stinknormalen Tagen im sündhaft teuren BVB-Trikot durch die Straßen gehen? Von ballonseidenen Trainingsklamotten ganz zu schweigen.

Aber ich verplaudere mich. Ganz gegen meine Gewohnheit.

Schalke – Bayern also. Tagsüber hatte schon die Nachricht für netzweite Häme gesorgt, dass der Vereinsstatus des FC Bayern juristisch angefochten wird, vielleicht droht sogar eine Löschung aus dem Vereinsregister mit eventuell weit reichenden Folgen. Vielen wär’s gerade recht.

Schalker Fans hielten vor dem Anpfiff Transparente hoch, auf denen sie ihre „alten Helden“ von Kuzorra über Klodt und Libuda bis Wilmots priesen. Wer hat, der hat. Auch wenn es schon lange her ist.

Im Spiel begann Bayern stärker, doch Schalke fuchste, fudelte und wurschtelte sich relativ rasch `rein, wurde dann hie und da wirklich gefährlich, um nicht zu sagen: streckenweise ebenbürtig.

Bayerns Hummels holte sich früh eine gelbe Karte ab, was ihm beim BVB so gut wie nie passiert ist. Das sollte ihm zu denken geben.

Fast schon niedlich, wie sie immer noch ihren Ex-Torhüter Manuel Neuer auspfeifen, der schon vor Jahren zu den Bayern gegangen ist.

Schiedsrichter Manuel Gräfe verletzte sich und bekam einen königsblauen Wadenverband. Wenn das mal nichts zu bedeuten hatte…

Doch nein. Der letztmalige Meister des Jahres 1958 (S 04), der mit Gazprom und dem Fleischfabrikanten Clemens Tönnies nicht gerade sympathische Wirtschaftsverbindungen geknüpft hat, hat es wieder einmal dem BVB et al. überlassen, die Bayern in der Liga zu bremsen – wenn’s denn dazu kommt. Denkt euch an dieser Stelle zwei bis drei tiefe Seufzer.




Wenn die Eschen und Kastanien sterben…

Obacht, hier kommt ein Text, der im naiv-grünen Sinne von „Mein Freund, der Baum“ rezipiert werden könnte und den manche vielleicht belächeln oder herzig finden werden. Mir doch egal. Ich mache mir trotzdem Sorgen um „unsere“ Kastanien. Und um ein paar andere Bäume, zum Exempel Eschen. Ernsthaft jetzt.

Das waren noch Zeiten: Kastanienblüte in der Dortmunder Arndtstraße am 8. Mai 2009. (Foto: Bernd Berke)

Das waren noch Zeiten: Kastanienblüte in der Dortmunder Arndtstraße am 8. Mai 2009. (Foto: Bernd Berke)

Die bange Rede ist von heftigen Baumkrankheiten, gegen die offenbar einstweilen kein Kraut gewachsen ist. Die Ruhrnachrichten schrieben bereits im Juli über „Blutende Stellen am Hauptstamm, eingetrocknete Äste“ und starken Blattverlust. Es schmerzt schon beim bloßen Lesen. Es sei denn, man gehöre zu jenen impotenten Vollidioten, die immer schon lauthals tröten „Mein Auto fährt auch ohne Wald“.

Was im Juli drohte, ist im September wohl noch dringlicher geworden. Dieser Tage berichtete der WDR in TV und Hörfunk (Landesstudio Dortmund) vom rapide fortschreitenden Befall. Während die Ruhrnachrichten noch quasi-wissenschaftlich vom Bakterium der Spezies Pseudomonas syringae pv. aesculi geraunt hatten, gab sich WDR-Autorin Claudia Wietfeld jetzt geradezu poetisch morbid: „Falsches weißes Stengelbecherchen – so schön der Name – so tödlich die Krankheit“.

Wenn man solchen winzigen Wesenheiten denn böse Absichten unterstellen will: Heimtückische Bakterien sind also am Siechtum der Kastanien schuld. In den Eschen-Beständen wütet derweil ein (asiatischer) Pilz. Die Bäume verfaulen elendiglich. Nur gut, dass wir sie nicht schreien hören.

Haben die lokalen Medien den Sachverhalt nun aufgebauscht oder womöglich sogar noch unterschätzt?

Schon werden die Äxte und Motorsägen geschärft: Hunderte Bäume müssen allein in Dortmund gefällt werden. Auch in den Nachbarstädten Hagen und Witten geht’s sozusagen ans Eingemachte. Und wer weiß, wo sonst noch überall. Schon munkelt man, in zehn bis 15 Jahren könne die Kastanie im Revier ganz und gar ausgestorben sein.

Alles bloße Panikmache? Das in den 80er Jahren immerzu beschworene Waldsterben ist ja auch nicht so apokalyptisch eingetreten. Und heute sehnen altgediente Zyniker an jedem etwas kühleren Tag den wahren Klimawandel mitsamt tropischen Temperaturen herbei.

Doch nun mal von der naturnahen, meinethalben treudeutschen Gemütsanwandlung („Waldeslu-hu-hust“) aufs Gelände der schieren Ästhetik, also zur Kultur übers Pflanzwesen hinaus: Ich mag mir einige schattige Straßen nicht ohne die bislang so majestätischen Kastanien vorstellen. Ich mag mir auch nicht ausmalen, dass Kinder in den Herbsten der näheren Zukunft keine herabgefallenen Kastanien mehr sammeln können, wie es gerade jetzt wieder an der Zeit ist. Mir geht’s da übrigens nicht nur ums Basteln von Kastanienmännchen.

Wieso ist eigentlich noch kein Gegenmittel gefunden? Schläft die Forschung? Und ist mal wieder vor allem das Ruhrgebiet betroffen, während Holsteiner, Bayern und Schwaben weiterhin unter Kastanien lustwandeln? Das kann doch wohl nicht wahr sein.




Museum Ludwig: Die Kunst des Nachdenkens

Der neue Direktor neigt nicht zur großen Show. Yilmaz Dziewior, der Anfang 2015 vom Bregenzer Kunsthaus in Kölner Museum Ludwig wechselte, feiert das 40jährige Bestehen des renommierten Hauses am Dom, wie es seine Art ist – mit einer reflektierenden Gruppenausstellung zum Thema Sammler, Institution und Gesellschaft. „Wir nennen es Ludwig“ heißt das kuratorische Projekt mit Werken von 25 politisch korrekt gemischten Künstlern, und man muss sich schon durcharbeiten.

Am Eingang der Jubiläumsausstellung im Museum Ludwig steht das Publikum vor „Bakunins Barrikade“, einer Installation des türkischen Künstlers Ahmet Ögüt. Gleich vorne am Bauzaun hängt Warhols Porträt des Sammlers Peter Ludwig (links im Bild). (Foto: bikö)

Am Eingang der Jubiläumsausstellung im Museum Ludwig steht das Publikum vor „Bakunins Barrikade“, einer Installation des türkischen Künstlers Ahmet Ögüt. Gleich vorne am Bauzaun hängt Warhols Porträt des Sammlers Peter Ludwig (links). (Foto: bikö)

Der Schokoladenfabrikant Peter Ludwig (1925-1996), schwerreicher Mäzen und Stifter für 15 internationale Museen, gehört zu den Phänomenen, mit denen sich die Ausstellung beschäftigt. Sein 1980 bei Andy Warhol bestelltes Porträt hängt schief neben Kokoschkas „Ansicht der Stadt Köln“ an einem Haufen Schrott mit umgekippten Autos, Steinen, Rohren, Gittern und Bauzäunen. Der türkische Konzeptkünstler Ahmet Ögüt hat die Bilder für „Bakunins Barrikade“ benutzt. Die Installation weist etwas umständlich hin auf den Dresdner Aufstand von 1849, als der russische Anarchist Michail Bakunin angeblich Bilder der Gemäldegalerie benutzte, um die Soldaten zu stoppen.

Das Publikum sollte sich nicht aufhalten lassen und hinter der Barrikade nach weiteren Erkenntnissen und einer kleinteiligen Installation des Afrikaners Georges Adéagbo suchen. Eine Reihe von Druck-Collagen, mit denen Hans Haacke 1981 den vielgerühmten Sammler und „Pralinenmeister“ provozierte, enthüllt – über Packungen von Novesia-Goldnuss und Schogetten – die machtbewussten Ansichten Peter Ludwigs. „Der Markt für Pop-Art ist entscheidend durch die Aktivitäten des Ehepaars Ludwig geprägt worden“, soll der Big Spender selbst gesagt haben. Auch der Videokünstler Marcel Odenbach hat sich mit der schillernden Figur beschäftigt. Er projiziert dokumentarische Filme auf ein Bild des Garagentors von Ludwigs Aachener Privathaus, wo eine Skulptur des Nazi-Bildhauers Arno Breker im Garten stand. Ludwig mochte Breker. Odenbach bewertet nichts, er präsentiert, zeigt Erinnerungen an den Sammler.

In flimmernden Interviews spricht Peter Ludwig über Fantasie, Disziplin und Empfindsamkeit. Er agierte, das wird klar, wie ein Sonnenkönig der modernen Kunst, deren Bedeutung er festlegen wollte, um sich selbst eine über den wirtschaftlichen Erfolg herausragende Bedeutung zu verschaffen: „Meine Sammlung ist keine Kapitalanlage, kein Spekulationsobjekt“, versicherte er. Immerhin hat die Kunst dem Unternehmer durch geschickte Stiftungen und Schenkungen eine Menge Steuern erspart.

Die Ausstellung schweift weiter ab in die Sphären kritischer Betrachtung von Kultur und Gesellschaft an sich. Nicht gerade ein Garant für Spannung. Die amerikanische Performance-Künstlerin Andrea Fraser präsentiert in einer Vitrine sämtliche Seiten ihres Arbeitsvertrags. Die „Guerrilla Girls“ aus New York, bekannt für Auftritte mit Gorilla-Masken, rechnen die Beteiligung beziehungsweise die Abwesenheit weiblicher Künstler in wichtigen Museen vor. Die Mexikanerin Minerva Cuevas lässt die Hymne ihrer „International Understanding Foundation“ hören.

Ai Weiweis Objekt aus 42 umgekippten und aneinander montierten Fahrrädern, die einerseits auf Chinas Verkehr, andererseits auf Duchamps „Roue de bicyclette“ hinweisen, gehört noch zu den opulenteren Erscheinungen des Parcours zum 40jährigen Bestehen der Institution Museum Ludwig. Der in Köln lebende Kunstsuperstar Gerhard Richter zeigt nur ein paar kleinere Werke mit lokalem Bezug wie die Fotografie einer Demonstration von 1987 und das Reprint eines Gemäldes von der „Domecke“. Da bleibt nur eins: Auf in die Dauerausstellung mit Spitzenwerken von der klassischen Moderne! Picasso, Rothko, wir kommen.

Info:

Vor 40 Jahren, 1976, schenkten die Eheleute Peter und Irene Ludwig der Stadt Köln 350 Werke der modernen Kunst mit der Auflage einer eigenen Museumsgründung. Zehn Jahre später, im September 1986, wurde das von den Architekten Peter Busmann und Godfried Haberer entworfene Gebäude gleich hinter dem Kölner Dom eröffnet.

Die Ausstellung „Wir nennen es Ludwig – Das Museum wird 40“ beschäftigt sich bis zum 8. Januar 2017 kritisch mit den Themen Sammeln und Gesellschaft. Di.-So. 10 bis 18 Uhr. www.museum-ludwig.de




Festspiel-Passagen: „La Donna del Lago“ in Pesaro zeigt, was bei Rossini zu entdecken ist

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Als 1980 das Rossini Festival in Pesaro, der Heimatstadt des Komponisten, gegründet wurde, gehörte der einstige Superstar unter den Musikschöpfern noch zu den großen Unbekannten: Die Literatur war überholt und geprägt von Anekdotischem, zuverlässiges Notenmaterial gab es kaum, Aufführungen beschränkten sich auf den allgegenwärtigen „Barbier von Sevilla“ und dessen – damals noch nicht lange wiederentdeckte – buffoneske Flügelwerke „La Cenerentola“ und „Die Italienerin in Algier“.

In Deutschlands dichter Theaterszene waren zumal die ernsten seiner fast 40 Opern kein Thema. Wenn überhaupt, spielte man einstige Mega-Erfolge wie „Tancredi“, „Semiramide“ oder „Guillaume Tell“, weil man virtuose Gesangsspezialisten wie Marilyn Horne oder Montserrat Caballé präsentieren wollte.

Die Gründung des Festivals „Rossini in Wildbad“ und seine spätere inhaltliche Absicherung durch den seit 25 Jahren unermüdlich tätigen Jochen Schönleber setzte ein Zeichen: Die mühevolle wissenschaftliche Erschließung des Œuvres Rossinis, in Pesaro durch die Fondazione Rossini mit ihrer kritischen Edition der Werke und des Briefwechsels geleistet, findet in dem Kurbad in Württemberg einen lebendigen theatralen Widerhall: In manchmal abenteuerlich improvisierten szenischen Aufführungen eröffnete sich einem staunenden Publikum eine neue Welt eleganter, spritziger, einfallsreicher Musik, vorgetragen von Sängern, die im Lauf der Zeit das technische Rüstzeug für Rossinis Belcanto immer sicherer beherrschten. Die Impulse aus Pesaro kamen in Deutschland an, fanden aber kaum Widerhall. Erst in jüngerer Zeit erwachte die Aufmerksamkeit für das gesamte Werk Rossinis, wagen sich neben Mannheim („Tancredi“) oder Frankfurt („La gazza ladra“) selbst mittlere und kleinere Bühnen wie Gelsenkirchen und Nürnberg („Guillaume Tell“) Rostock („Ermione“) oder Würzburg (ebenfalls mit der „diebischen Elster“) an den weniger bekannten Rossini.

Doch dass ein so tiefgründiges Werk wie „Sigismondo“ – in diesem Jahr die zentrale Produktion in Bad Wildbad – ebenso unbeachtet bleibt wie die köstliche Satire „La pietra del paragone“ – 2017 in Pesaro auf dem Plan – ist kaum verständlich und keineswegs mit der Qualität der Werke zu rechtfertigen.

Immerhin: Die Zeiten, in denen Rossini als irgendwie genialer, aber wenig tiefgründiger Vielschreiber galt, der sich rechtzeitig vor dem Bannstrahl der musikalischen Entwicklung in seine Gourmet-Küche zurückgezogen hatte, sind vorbei. Beide Festivals haben entscheidend dazu beigetragen, den Firn vom Bild des „Schwans von Pesaro“ abzutragen und seine Persönlichkeit wie seine vielseitige Kunst in frischen Farben strahlen zu lassen.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Dass dennoch einiges zu tun bleibt, zeigt ein Besuch beim „Original“, dem Rossini Festival Pesaro. Wo am Strand Teutonen, aber auch Angelsachsen und Moskowiter grillen, flanieren durch die Einkaufsmeile – Via Rossini, wie sollte sie sonst heißen – die Rossinianer, vorbei an der prächtigen Gründerzeitpost an der Piazza del Popolo und am Geburtshaus Rossinis, heute ein Museum. Das Ziel ist das Teatro Rossini, ein hübsches, klassisches, 1818 erbautes Theater. Dort und in der „Arena adriatica“, einem umgebauten Sportpalast, finden die Vorstellungen an den zwölf Festival-Tagen statt.

Das Festival stand diesmal im Zeichen des 20-jährigen Pesaro-Jubiläums von Juan Diego Flórez. 1996 begann der Tenor mit der kristallen schimmernden, technisch phänomenal abgesicherten Stimme seine Karriere an der Adria – und beim irischen Wexford Opera Festival in einer Oper eines anderen großen Unbekannten des 19. Jahrhunderts: „L’Etoile du Nord“ von Giacomo Meyerbeer.

Flórez war der Star in Rossinis „La Donna del Lago“, die in einer ambitionierten Regie von Damiano Michieletto in der Sportarena Premiere hatte. Für die Rossini-Rezeption ein gutes Zeichen: Der Tenor mag der prominenteste im Sängerteam sein, aber er agierte als Gleicher unter Gleichen. Auch der vorher schon in Wildbad bewunderte Amerikaner Michael Spyres – einer der seltenen „baritenori“, der scheinbar mühelos drei Oktaven durchmisst – wurde gefeiert.

Die beiden Sängerinnen Salome Jicia und Varduhi Abrahamyan standen ihnen in nichts nach: Die Damen sind ein Beispiel dafür, wie sich Pesaro in der Accademia Rossiniana unter Leitung des bald 90-jährigen Alberto Zedda seinen eigenen Sängernachwuchs heranzieht. In den Kursen bekommen junge Interpreten den letzten Schliff, um den schwindelerregenden technischen und stilistischen Anforderungen der Rollen gerecht zu werden.

Melancholische Erinnerung eines gealterten Ehepaares

„La Donna del Lago“ war mehr als ein Sängerfest. Als die Oper 1819 in Neapel uraufgeführt wurde, war sie auf der Höhe der literarischen Entwicklung der Zeit. Mit Sir Walter Scotts „The lady of the lake“ benutzten Rossini und sein Librettist Andrea Leone Tottola einen modernen romantischen Stoff eines in ganz Europa angesagten Unterhaltungsautors. Aus der Geschichte um eine wehmütig umflorte Liebe in politisch bewegten Zeiten (Scott bezieht sich auf Jakob V. von Schottland, Vater von Maria Stuart und dessen Kampf gegen schottische Clans und das von der katholischen Kirche abtrünnige England Heinrichs VIII.) macht Michieletto die melancholische Rückerinnerung eines gealterten Ehepaares.

Elena, Tochter des Clanchefs Duglas, soll eigentlich aus politischen Gründen Rodrigo heiraten, den Anführer eines anderen mächtigen Familienverbands. Heimlich liebt sie jedoch den jungen Malcom. Der König, der ihre Schönheit rühmen hörte, trifft sie inkognito an einem Gewässer. Zwischen dem Unbekannten und dem „Fräulein vom See“ entwickelt sich tiefe Sympathie. Als Duglas und Malcom, von königlichen Truppen überwältigt, gefangen gesetzt werden, will Elena mit einem Ring, den ihr der Unbekannte gab, ihre Befreiung erwirken und erkennt den König. Der verzichtet auf das Mädchen und führt die Liebenden zusammen.

Ein Opernabend der Extraklasse

Zu Beginn, es sei gestanden, wirkt Michielettos Exposition ein wenig manieriert: Ein altes Ehepaar sitzt in einem leeren Raum, auf einem Tisch ein Bild, davor schwarze Blumen. Die Frau trauert vor einem Konterfei – und wir ahnen, es steht für eine unerfüllte Liebe. Der alte Herr erregt sich, schüttet das Blumenwasser weg, wirft die Blüten auf den Boden, verlässt den Raum. Bald zeigt sich: Die stumme Handlung ist der Schlüssel zu Michielettos Konzept, „La Donna del Lago“ als ein Stück über ein gelebtes Leben zu inszenieren. Die ausgeklügelte Bühne Paolo Fantins öffnet einen zweiten Raum, ein verfallenes, herrschaftliches Haus: Die Decke ist eingebrochen, Wurzeln ragen in den Raum, die Scheiben der Fenster sind gesplittert. Man fühlt sich an verlassene Ruinen wie Moore Hall in Irland erinnert, vermooste Zeugnisse einer imaginierten einstigen „heilen“ Welt.

Der magische Realismus Fantins und des Kostümbildners Klaus Bruns schafft einen Ort der Erinnerung, der Fantasie, der verschütteten und wiedererwachenden Gefühle; Alessandro Carlettis Licht setzt mit unwirklichem Blau Zäsuren und bricht vermeintlich Reales. Schilfumstandene Teiche lassen den Raum traumhaft-absurd und symbolisch geladen erscheinen. Gegenwart und Erinnerung verschwimmen ineinander: Michieletto setzt für Elena und Malcom – das alte Paar – Doubles ein, mit denen die Interaktion der Zeitebenen erfahrbar wird.

Rossinis Geburtshaus in Pesaro. Foto: Werner Häußner

Rossinis Geburtshaus in Pesaro. Foto: Werner Häußner

Der europaweit gefragte italienische Regisseur schafft in dieser brillanten Konzeption, ein wesentliches Element des Versromans schlüssig zu übersetzen: Denn Scott schreibt nicht so sehr eine poetische Elegie über Erfüllung und Verzicht in der Liebe, sondern reflektiert – wehmütig und verklärend – die schmerzlichen Risse und Brüche in Schottlands Geschichte. Michieletto verfällt nicht dem historisierenden Fehlschluss, Rossinis Oper zu „Braveheart“ zu machen. Er übersetzt Scotts nostalgisches Geschichtsbild in das innere Schicksal von dessen Figuren, einfühlsam gedeutet von Rossinis Musik.

Es ist ein Opernabend der Extraklasse, an dem die ausgezeichneten Sänger, aber auch Dirigent Michele Mariotti sowie Chor und Orchester des Teatro Communale di Bologna entscheidend Anteil haben. Selten hört man Rossinis Musik so beweglich und transparent, aber auch so achtsam auf ihre damals modernen romantischen Ausdruckswerte befragt wie an diesem Abend.

Noch drei andere Bühnenwerke präsentierte das Festival an der Adria in diesem Jahr: „Il Turco in Italia“ ist eine der bekannteren hintersinnigen Komödien Rossinis; „Ciro in Babilonia“ die erste aufgeführte ernste Oper des zur Zeit der Uraufführung 1812 Zwanzigjährigen. Dazu kam „Il Viaggio a Reims“ als Produktion mit jungen Sängerinnen und Sängern. Im nächsten Jahr sollen zwischen 10. und 22. August „Le Siège de Corinthe“ und die erwähnte Satire „La Pietra del Paragone“ aufgeführt werden, dazu kommt die Wiederaufnahme von „Torvaldo e Dorliska“.

Außerdem organisiert die Fondazione Rossini vom 9. bis 11. Juni 2017 einen Kongress, bei dem die junge Generation der Musikologen zu Wort kommen und neue Methoden und Zugänge zu Rossinis Werk und seiner Rezeption vorgestellt werden sollen. Das Festival verkündet in diesem Jahr ein bisher nie erreichtes Rekordhoch bei den Einnahmen (1,16 Millionen Euro) und den Besuchern (17.250, davon 71 Prozent aus dem Ausland) – und das bei stetigen Kürzungen der Mittel und der ständigen Unsicherheit durch die chaotische Kulturpolitik des italienischen Staates.

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Ausblick:

Es bleibt dabei: Der „Barbier von Sevilla“ dominiert auch in der Spielzeit 2016/17 die deutschen Spielpläne in Sachen Rossini. Aufgeführt wird er unter anderem in Bremen (Premiere am 22. Oktober), in Essen (ab 16. September) und in Mönchengladbach im Theater Rheydt (ab 24. September). Herrlich absurd die Spielplangestaltung in Berlin: Dort zeigen alle drei Opernhäuser als einzige Rossini-Oper den „Barbier“ – die Komische Oper trägt zu diesem Einerlei auch noch eine Premiere bei (9, Oktober, Regie Kirill Serebrennikow).

Der „andere“ Rossini lässt sich zum Beispiel bei den Bregenzer Festspielen erleben, wo Lotte de Beer die biblische Oper „Mosé in Egitto“ inszeniert (Premiere am 20. Juli 2017). Oder in Mannheim, wo am 9. Oktober Cordula Däupers asketische Inszenierung von „Tancredi“ wiederaufgenommen wird. Am 12. Februar 2017 hat an der Bayerischen Staatsoper München „Semiramide“ Premiere (Regie: David Alden, Musikalische Leitung: Michele Mariotti). Um „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ zu erleben, muss man zwischen 17. und 28. März 2017 das Theater an der Wien in Österreichs Hauptstadt besuchen.

 

 

 




Deklamationen am Rande der Kohlenhalle – Johan Simons inszeniert in Marl „Die Fremden“

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Sandra Hüller (rechts), weitere Mitwirkende (Foto: JU/Ruhrtriennale)

In seinem Roman „Der Fremde“ läßt Albert Camus den Franzosen Meursault in Algerien einen einheimischen Mann ermorden, der namenlos bleibt. Für den Gang der Geschichte ist das sinnvoll, aber etwas kränkend für die arabische Seele war es offenbar auch. Vor wenigen Jahren – auf Deutsch erschien das Buch im Februar – hat der algerische Schriftsteller Kamel Daoud seine Version der Camus-Geschichte verfaßt: „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“.

Daoud erzählt den Plot aus der Perspektive der Familie des Opfers, das hier den Namen Moussa trägt. Sein Bruder, ein alter Mann mittlerweile, erinnert sich, und Camus’ Geschichte über einen vorgeblich zufälligen Mord wird zu einem Lehrstück über Kolonialismus, Rassismus, Identität, über Verhältnisse kurzum, deren logische Folge geradezu dieser Mord war. Nun gut.

Steiniger Untergrund

Jetzt hat sich Johan Simons, Ruhrtriennale-Intendant, des Buchs von Daoud bedient, um daraus eine Bühnenproduktion zu machen. Spielort von „Die Fremden“ (!) – Bühne kann man es nicht nennen – ist die Kohlenmischhalle der kürzlich stillgelegten Zeche Auguste Victoria in Marl, ein steiniger, staubiger Untergrund, auf dem zu agieren sicher keine Freude ist.

Das Orchester Asko/Schönberg hat auf dem Spielfeld seinen Platz bezogen und intoniert während der rund 100 Minuten Spielzeit Kompositionen von Mauricio Kagel, Claude Vivier und György Ligeti. Dominiert wird die Szene von einer riesigen Maschine auf Schienen, der Kohlenmischmaschine wohl, die sich irgendwann im Mittelteil sinnfällig in Bewegung setzt und langsam und lautlos nach hinten wegfährt.

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Im Hintergrund ist die Videoarbeit von Aernout Mik zu sehen (Foto: JU/Ruhrtriennale)

Bedeutungsschwer

Die Maschine ist aber auch das Originellste an dieser Inszenierung, deren Ende man nach einiger Zeit doch sehr herbeisehnt. Wie im letzten Jahr schon in Simons’ Einrichtung von „Accattone“ nach Pasolini – in einer großen Kohlenhalle in Gladbeck – besteht der gesprochene Text fast nur aus bedeutungsschweren Deklamationen, deren akustische Verständlichkeit zudem dadurch erschwert ist, daß die Mimen vorwiegend niederländische Muttersprachler zu sein scheinen. Mit dem Deutschen und seiner richtigen Betonung tun sie sich schwer. Gerade einmal Sandra Hüller, die jüngst im Film „Toni Erdmann“ neben Peter Simonischek brillierte und die man offenbar als Star eingekauft hat, gibt manchmal eine Ahnung von dem, was Schauspielkunst (auch hier) sein könnte.

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Szenenfoto (Foto: JU/Ruhrtriennale)

Flachbild

Mit dem Spielort, ein weiteres Ärgernis, weiß Simons wenig anzufangen, sieht man einmal von der erwähnten Kohlenmischmaschine ab. Der größte Teil des riesigen, tiefen Raums bleibt für die Inszenierung praktisch ungenutzt, alles spielt sich an einem Kopfende der Halle ab, vor dem die Zuschauerränge aufgebaut sind.

Hier offenbaren sich die Grenzen eines „freien“, improvisationsfreudigen Theaters nach Simons’ Art, das fast überall Spielräume zu schaffen weiß, sich mit vorgegebenen Räumen aber schwertut. Mit einer gewissen Wehmut denkt man da an bombastische Produktionen der Ära Heiner Goebbels, die lustvoll mit der Tiefe spielten, an ausschwenkende Lichtkräne über nächtlicher Jahrhunderthalle und an bedrohliche, in das Publikum hineinrollende Dampflokomotiven. Tempi passati.

Flüchtlingslager im Video

Natürlich wurde auch das Migrationsthema nicht ausgelassen. Eine Videoinstallation von Aernout Mik zeigt die Kohlenmischhalle als Flüchtlingslager, erschöpfte Menschen, Kinder, Verwaltungsbeamte, Polizisten. Natürlich gibt da Zusammenhänge; trotzdem wirkt das Video wie der etwas ungelenke Versuch, möglichst viel Aktualität in einen Stoff zu pressen, der auch aus sich heraus bestünde.

Erwähnt sei noch, daß auch der Bundespräsident im Publikum saß. Sein Auftritt mit Gefolge und ein bißchen Händeschütteln vollzog sich glücklicherweise in wenigen Minuten, und die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen blieben erträglich. Leider konnte man ihn nicht nach seiner Meinung fragen. Wie immer sie auch ausgefallen sein mag – gewiß hätte er sie in die richtigen Worte gekleidet.




Wo alles unentschieden bleibt: Genazinos Roman „Außer uns spricht niemand über uns“

Schon auf Seite 9 wehrt sich der namenlose Mann auf seine Weise gegen allseitige Überforderung durch anbrandende Wirklichkeit: „Ich schloss die Fenster und schaltete aus Ratlosigkeit das Radio ein.“

Doch dort läuft ein läppisches Gewinnspiel. „Es war unglaublich: Solche zerknautschten Hausfrauenspäße machte der Rundfunk immer noch.“

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Nirgendwo scheint Rettendes zu wachsen, nicht einmal im Rückzug.

Sehnsucht nach Bedeutsamkeit

Auch in seinem neuem Roman, der den bereits zagend klingenden Titel „Außer uns spricht niemand über uns“ trägt, lässt Wilhelm Genazino wieder (s)einen überaus empfindlichen Menschen durch die Stadt streifen und ratlos im Zimmer sitzen, der den Alltag als ungeheure Summierung und Verdichtung kleinster Vorfälle erlebt, welche sich noch und noch häufen und als vielfach zersplittertes Rätsel vor ihm aufragen. Nur wenige Anblicke bieten Labsal, die meisten Erlebnisse verstören.

Eine tiefere, dauerhafte Bedeutung erschließt sich ihm aus all den winzigen Beobachtungen jedenfalls nicht. Dabei sehnt er sich so sehr nach einem bedeutsamen Leben. Doch wie soll man das anfangen, angesichts all der Unübersichtlichkeit?

Unendliche Fortschreibung

Genazinos Romane muten zuweilen wie eine endlose, freilich immer wieder faszinierend genaue Fortschreibung an: Der Ich-Erzähler, naher Verwandter und Wiedergänger bisheriger Figuren des Autors, ist diesmal ein gescheiterter Schauspieler, welcher sich damit durchhangelt, den einen oder anderen Text für den auch unter Sparzwang stehenden Rundfunk zu sprechen. Wegen Geldknappheit muss er sich daher schon mal herbeilassen, Modenschauen in der Provinz zu moderieren. Eine immerhin noch schuldenfreie Existenz, doch nur knapp oberhalb des Prekariats am Rande des Kulturbetriebs.

Zwischendurch hat dieser Mann also viel übrige Zeit zum Grübeln beim eher freudlosen Flanieren (auch Bahnhöfe und Museen sind keine rechten Fluchtorte mehr wie ehedem). Vor allem sinniert er über seine rundum ungeklärte Beziehung zu Carola, deren Tattoo- und Marathonlauf-Anwandlungen ihn irritieren.

Täppische Tröstungen

Ob sie in seine kleine Wohnung zieht, ob sie beide noch Kinder haben wollen, inwiefern sie überhaupt treu sein will – alles bleibt unentschieden in der Schwebe. Es ist eine zuwartende Zuneigung mit täppisch rührenden Momenten, eher unbeholfene Tröstung als Erotik, sozusagen kuschelndes Rest-Sexeln.

Seine Erinnerung schweift zurück zu früheren Begebenheiten mit diversen Frauen, die zumeist einen absurden oder peinlichen Beigeschmack haben. Doch was heißt schon Erinnerung? „Die fehlenden Erlebnisse betätigten sich als Geschichtenfinder und füllten dreist die Erinnerung.“ Auch da gibt es keinen verlässlichen Halt.

Keine Erlösung in Sicht

Die allumfassende Unentschiedenheit mündet in solche Sätze: „Es geschah nichts, es wurde keine neue Schuld sichtbar, aber es trat auch keine Durchsichtigkeit ein und keine Erlösung.“ Große Worte.

In ruhigeren Phasen genießt der Erzähler seine eigene Zerstreuung, er will dann gar nichts anderes mehr. Doch dann naht wieder schleichendes Ungenügen – oder es springt ihn geradezu an.

Zerlumpte Menschen

In sämtlichen Lebens- und Text-Fasern spürbar ist eine soziale Unsicherheit, deren Niederungen sich auch im Stadtbild als öffentliches Elend zeigen: „Ich sah die zunehmende Zerlumptheit der Menschen…“ Es sind nicht nur Übungen in bloßer Empfindsamkeit, dies ist ein sozialer Roman über die Wirklichkeit in unseren Städten, ob sie nun Frankfurt oder sonstwie heißen.

Und wie geht es mit Carola weiter? Katastrophal. Erst erleidet sie eine Fehlgeburt, dann verlässt sie ihn – allerdings auch nicht so ganz richtig. Bald darauf folgt, quasi in einem Nebensatz, die nahezu banale Mitteilung: „Carolas Selbstmord war für alle, die Carola kannten, ein Schock.“ Ja, was denn auch sonst?

Helden der Verschrobenheit

Es reihen sich nun Szenen und Inbilder der hilflosen Trauer, des Stillstands. Überforderung wird vollends zum alles beherrschenden Hauptwort. Gleichzeitig erweisen sich manche Mechanismen der Wahrnehmung als verschlissen. Auch das bislang so heilsame Gehen durch die Stadt hilft wohl nicht mehr. Wo ist die wahre Gegenwart, die nicht gleich wieder vermodert?

Dass ausgerechnet Carolas Mutter die nächste Frau ist, mit der der traurige Held schläft, mag man eigentlich kaum für möglich halten. Und doch hört es sich seltsam glaubhaft an.

Wilhelm Genazino schreibt nach wie vor eine Prosa, der man – auch wenn sie sich im Duktus perpetuiert – mit angehaltenem Atem folgen kann. Man darf möglichst keinen Satz überlesen, keine Regung übersehen. Wer gern aphoristisch zugespitzte Passagen anstreicht, wird ein Genazino-Buch am Ende übersät vorfinden. Und immer wieder liest man staunend von der mal sanften, mal schroffen, immer aber geradezu heldenhaften Verschrobenheit, mit der sich Genazinos Gestalten der zerfaserten Realität stellen.

Übrigens: Gibt es eigentlich schon germanistische Aufsätze über das Motiv der Jacke in Genazinos anschwellendem Oeuvre? Wenn ich mich nicht irre, scheint das Utensil spätestens seit seinem Buch „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ immer wieder an markanten Romanstellen aufzutauchen.

Wilhelm Genazino: „Außer uns spricht niemand über uns“. Roman. Hanser Verlag. 155 Seiten. 18 Euro.




Mahler und Migranten – Alain Platels Stück „nicht schlafen“ bei der Ruhrtriennale

Alain Platel, Steven Prengels, Berlinde De Bruyckere, les ballets C de la B: nicht schlafen/ Ruhrtriennale 2016

Sie gehen sich an die Wäsche. Szene aus „nicht schlafen“ von Alain Platel, Steven Prengels und Berlinde De Bruyckere. (Foto: Chris van de Burght/Ruhrtriennale)

An die Belle Époque erinnern sie eher nicht, die Tänzer und die Tänzerin auf der Bühne. Eher wirken sie migrantisch. Fallschirmseide, Trainingsanzüge. Nach einer langen Phase statuarischen Wartens werden sie gewalttätig, kämpfen miteinander, reißen sich die Kleider vom Leib. Körperliche Jungmännerrituale, ist man geneigt zu denken.

Doch was haben diese Personen, vorwiegend womöglich arabischer und afrikanischer Herkunft, mit dem Komponisten Gustav Mahler zu tun, der von 1860 bis 1911 lebte und dem das Projekt den Arbeitstitel „Mahler Projekt“ verdankt? Und was hat der Altar auf der Bühne zu bedeuten, auf dem zwei Pferdekadaver (nicht echt) liegen? Alain Platels Tanzabend in der Bochumer Jahrhunderthalle, dargeboten im Rahmen der Ruhrtriennale, verlangt nach Interpretation.

Seele auf Achterbahnfahrt

Nun, zunächst einmal ist „nicht schlafen“ eine Choreographie auf Mahlers Musik, auf sein dramatisches Seelenleben, das sich in ihr ausdrückt. Wiederholt, beispielhaft in seiner 5. Symphonie, wechseln manische Aufwallungen sich mit trostlos depressiver Trübnis ab, entwickeln die gegenläufigen Stimmungen in ihrem Kontrast geradezu eine eigene Dynamik.

Um solche Achternbahnfahrten durch die eigene Seelenlandschaft verstehen zu können, muß man sich (fast ganz) nackt machen, ungeschützt und angreifbar, womit sich die ersten Szenen der Choreographie erklären ließen. Im Tanz der jungen Männer zum dritten Satz der Fünften spiegelt sich des Komponisten Seelenpein geradezu mustergültig, mal kraftvoll und athletisch, mal verzweifelt und erschöpft.

Die Musikliste dieses Abends übrigens – dem 3. Satz aus der Fünften folgt ein 4. Satz der Dritten, hernach intensives Tieratmen unter dem Titel „Breathing – Mahler“, und so fort – listet neben den Mahler-Zitaten auch afrikanische Klänge sowie etliche zum Teil recht freie Bearbeitungen und Arrangements von Steven Prengels auf, der die musikalische Leitung hat.

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„nicht schlafen“ – Probenfoto (Foto: Chris van der Burght/Ruhrtriennale)

Vor dem Ersten Weltkrieg

Alain Platel, ist im Programmheft zu lesen, will Mahler auch verstanden wissen als eine Art Seismograph seiner Zeit, in der es, meint der Regisseur, ziemlich drunter und drüber ging, drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Technischer Fortschritt, Bevölkerungsexplosion und Psychoanalyse, um nur mal drei Schlagworte zu nennen, revolutionierten Gesellschaften und Staaten mit vielfach veralteten, autoritären, reformunwilligen Machtstrukturen. Das männliche Selbstbild wankte, und das alles konnte nicht gutgehen, da baute sich zu viel Druck im Kessel auf.

Feinnervige Künstler wie eben Mahler, so die These, gaben diesen atmosphärischen Veränderungen in ihrem Schaffen Ausdruck. Die Choreographie wäre somit ein getanztes Sitten- oder Gesellschaftsbild, das Gefühle von Verunsicherung, Gefahr, diffuser Gewalt oder Verlustangst (von Männern) aufnimmt. Das tut sie in engen Grenzen gewiß, doch bietet sie kaum zusätzlichen Erkenntnisgewinn.

Alain Platel, Steven Prengels, Berlinde De Bruyckere, les ballets C de la B: nicht schlafen/ Ruhrtriennale 2016

Herren von „Les ballets C de la B“ in „nicht schlafen“ (Foto: Chris van de Burght/Ruhrtriennale)

Wer sind die Opfer?

Eher schon drängt die migrantische Anmutung dieses Auftritts von „Les ballets C de la B“ aus Gent in Belgien ins Blickfeld. Leben wir wieder in Zeiten des Umbruchs? Welche Opfer müssen gebracht werden, wer sind die Opfer? Eine größere Sequenz des Getanzten bearbeitet dieses Thema, zeigt die Ausgrenzung eines Mannes, der sich auffällig juvenil und tuntig gibt und wohl deshalb ausgeguckt wird, zeigt seine Isolierung von der Gruppe, sein Leiden und Sterben. Schließlich liegt er neben den Tieropfern auf dem Opferaltar. Und den anderen geht es wieder gut; so ein Opfer besänftigt die Seele und gibt den Menschen neue Kraft. Oder? Wenn der Opfergang auf seinem Höhepunkt angelangt ist, vermeint man im dichten Klangrausch auch die hämmernden Klänge aus Stravinskys „Frühlingsopfer“ zu vernehmen, doch nennt die Musikliste diesen Komponisten nicht.

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„nicht schlafen“ – Probenfoto (Foto: Chris van de Burght/Ruhrtriennale)

Immer wachsam sein

Der Titel des Tanzabends, das entnehmen wir einem Aufsatz von Hildegard de Vuyst im Programmheft, ist durchaus appellativ gemeint („Wir sind dazu verurteilt, immer auf der Hut zu sein“) und rekurriert seinerseits auf Zeilen des Philosophen Friedrich Nietzsche, die Mahler für Zarathustras Nachtwandlerlied verwendete („O Mensch! Gib acht!…). Von Nietzsche wiederum wissen wir, daß er dem Wahnsinn anheimfiel, nachdem er auf der Straße ein Pferd geherzt hatte. Taugt dies für eine assoziative Kaskade bis zu den (künstlichen) Pferden auf dem Opferaltar im Tanzstück? Oder setzt man damit auf das falsche Pferd?

In Wiederholungsschleifen

Die umfangreiche theoretisch-historisch-philosophische Grundierung findet im Tanz der Männer leider nur zum Teil ihre Entsprechung. Da ist ein selten unterbrochenes, in seiner Gleichförmigkeit ermüdendes Agieren aller auf der Bühne, Bilder im Sinne einer dramatischen Strukturierung bleibt diese Einrichtung schuldig. Nach etwa der Hälfte der Zeit wirkt der gestische Vorrat endgültig verbraucht, man wähnt sich in Wiederholungsschleifen.

Eindrucksvoll aber bleibt, wie die jungen Männer (und die eine Frau) mit großem Körpereinsatz in stickig-heißer Jahrhunderthallenluft rund zwei Stunden fast permanenter, bewegter Bühnenpräsenz ohne Erschöpfungszeichen meisterten. Ein bißchen mehr Präzision im Tanz hätte hie und da gutgetan, aber bei einer solchen frei konstruierten Choreographie soll man nicht zu streng sein.

Manche applaudierten heftig, manche gingen etwas früher – wie das eben so ist.

Weitere Termine: 3., 8., 9., 10. September
www.ruhrtriennale.de