Ritual und Routine zu Halloween

Ganz nüchtern statistisch betrachtet, war es so: Zwischen 18 und 20 Uhr haben heute insgesamt 18 Kindergruppen bei uns geschellt und „Süßes oder Saures“ verlangt.

Die beiden größten Rudel waren 12 bzw. 10 Kinder stark, alles in allem standen da – wenn ich richtig notiert habe – 78 kleine Leute. Manche waren nur zu zweit unterwegs, zwei Kinder liefen (in Begleitung ihrer Eltern) sogar allein los. Das sah ein wenig traurig aus. Aber bitte, wer kennt die Gründe?

Ganz ohne Kürbis geht die Chose nicht... (Foto: BB)

Ganz ohne Kürbis geht die Chose nicht… (Foto: BB)

Vor Jahresfrist waren es im selben Zeitraum noch über 20 marodierende Grusel-Formationen gewesen. Manche Zeitungen würden jetzt atemlos hechelnd von einer Trendwende sprechen und solche Fragen aufwerfen: Hat „Halloween“ seinen Zenit überschritten?

Über all die kleinen Auftritte vor der Haustür ließe sich glatt eine multiple Rezension schreiben, hochnäsige Urteile über Mimik, Gestik, Sprechkultur und Choreographie inbegriffen. Doch das lassen wir lieber bleiben. Auch wollen wir nicht über einige ältere Herrschaften wettern, die sich in abgedunkelten Wohnungen verschanzen und ihre Türen verschlossen halten. Ob sie hartherzig sind? Nun ja…

Tatsache ist, dass sich nicht mehr allzu viele Kinder die Mühe machen, wenigstens noch ein gereimtes Sprüchlein aufzusagen oder ein garstiges Liedchen zu schmettern. Manche stehen gar vollends stumm da und halten nur die mitgebrachten Beutel auf. Man ist versucht, eine solche Handlungsweise phantasielos zu nennen. Aber das ist pädagogisch wahrscheinlich nicht korrekt, weil nicht ermutigend.

Eigentlich sollte der Tag, wenn er denn schon so begangen werden muss, den Kindern unter 10 vorbehalten bleiben. Die haben noch wirklichen Spaß daran. Gelangweilte Trittbrettfahrer über 14 stehen eher ratlos neben sich. Sie machen das, weil „man“ es halt macht. Aber so richtig cool finden sie es eben auch nicht mehr.

Die Kostümierungen beruhen nur selten auf Eigenschöpfungen, das Allermeiste ist fix und fertig gekauft. Alles durchkommerzialisiert? Naja, ein bisschen schon. Und nachher weiß man, wer bei welchem Discounter gewesen ist.

Durch Erfahrung gewitzt, versorgt man sich inzwischen vorab mit etlichen Süßwaren, und zwar in Packungsformen, welche sich gut auf Kindergruppen verteilen lassen; wie denn überhaupt Ritual, Routine und Gewohnheit einen Großteil der Sache ausmachen.

Übrigens sind in diesem Jahr offenbar mehr wachsame Eltern mitgegangen, wahrscheinlich, um etwaige Gruselclowns abzuschrecken, die sich leicht ins Geschehen hätten mischen können. Oder hat man sich das nur eingebildet?

Viel ungesundes Zeug füllte schließlich die Beutel, die offenbar von Jahr zu Jahr größer werden (wie auch jene für „Kamelle“ zu Karneval). Nur die Frau an der nächsten Straßenecke hat den Kindern Äpfel gegeben. Sie lebt in London und ist zu Besuch. Immer diese Sonderwege. Immer diese Insulaner…




Fabelhaftes Einverständnis: Der Oboist Albrecht Mayer und das Schumann Quartett in Essen

Das Schumann Quartett. Foto: Kaupo Kikkas.

Das Schumann Quartett. Foto: Kaupo Kikkas.

„Ich steh mit einem Fuß im Grabe“, kündigt Albrecht Mayer die erste Zugabe an und weckt eine gewisse Heiterkeit im Saal der Philharmonie Essen. Die Sinfonia zu dieser Kantate Johann Sebastian Bachs passt für den Solo-Oboisten der Berliner Philharmoniker: Sie stammt wohl aus einem früheren Oboenkonzert Bachs.

Bei der zweiten Zugabe war der Fuß gleich wieder aus der Grube draußen: Bernhard Crusells Divertimento für Streicher und Oboe op. 9, 1823 in Leipzig erschienen, ist in der Tat ein veritabler „Rausschmeißer“: Spritzig und agil schreibt der Klarinettenvirtuose und schwedische Hofmusikus, geprägt von seinem Lehrer Abbé Georg Joseph Vogler und ein wenig im Stil Carl Maria von Webers.

Mit dieser originellen Zugaben-Kombination endet ein Kammerkonzert, dessen Programm mit einem Meisterstück der Quartettliteratur begonnen hat, Mozarts letztem Werk für diese Besetzung in F-Dur (KV 590). Es lässt die elegischen Ausflüge nach Moll vernehmen, die das Abschlusswerk des Abends, das Quintett in c-Moll (KV 406) prägen werden. Zu hören ist sozusagen eine doppelte Bearbeitung: Mozart selbst hat seine „Nacht-Musique“ für Bläser (KV 388) umgeformt – und aus dem Streichquintett wurde jetzt eine Bearbeitung für Oboe und Quartett.

Mayer findet in den geheimnisvollen Schatten und melancholischen Eintrübungen zu einem fabelhaften Einverständnis mit dem jungen Schumann Quartett. Die Formation, bestehend aus drei jungen Herren mit dem Nachnamen Schumann und der estnischen Bratscherin Liisa Randalu, hat sich seit 2012 Achtung und Aufmerksamkeit erspielt. Sie wird in dieser Saison eine dreijährige Residenz bei der Chamber Music Society des Lincoln Center New York beginnen, spielt Konzerte in London, München und Zürich, debütiert beim Rheingau Festival und kündigt eine CD mit Werken von Haydn, Bartók, Takemitsu und Pärt an.

Auf dem Weg zur Weltspitze: das Schumann Quartett. Drei Brüder aus dem Rheinland und eine junge Dame aus Estland. Foto: Kaupo Kikkas.

Auf dem Weg zur Weltspitze: das Schumann Quartett. Drei Brüder aus dem Rheinland und eine junge Dame aus Estland. Foto: Kaupo Kikkas.

Auch beim Essener Konzert flankiert Mozart eine ungewöhnliche Auswahl. Eine reizvolle Entdeckung ist das Quintett für Oboe und Streicher des Engländers Arnold Bax. Der 1953 gestorbene Wahl-Ire – Schönbergs Neuerungen hat er abgelehnt – schwelgt in der ausgekosteten Schönheit tonaler Harmonien, bleibt aber originell: Seine Musik ist wie in seinen leider kaum gespielten sinfonischen Dichtungen atmosphärisch dicht, farbenreich und nie kitschig. Die Streicher und der Oboist Albrecht Mayer finden in der behutsamen Melancholie zu atmendem Einverständnis, halten die üppigen Harmonien in perfekter Balance. Die Oboenstimme wird manchmal wie improvisiert geführt, erinnert dann wieder an gedankenverlorene meditative Hirtenweisen und im dritten Satz an einen irischen Volkstanz.

Auch in Mozarts Quintett fällt auf, wie feinsinnig die Balance zwischen der Oboe und den Streichern gestaltet ist: Mayer räumt der Oboe keine Dominanz ein, fügt sich mit einem ausgeglichenen Ton in das dichte Stimmengeflecht ein, hält ihn auch in der Höhe weit, weich und klar. Die jungen Streicher spielen mit leichtem, noblem Klang, dynamisch vielfältig abgestuft und in einer wie selbstverständlich wirkenden Übereinstimmung. In Mozarts F-Dur-Quartett hält Erik, der erste Geiger, seine Dominanz diszipliniert zurück, Ken an der zweiten Geige schmiegt sich harmonisch in die melodischen Verläufe ein, Mark Schumann am Cello hat hier, aber auch im c-Moll-Quintett und bei Arnold Bax wunderschöne Momente, ebenso die Bratschistin Liisa Randalu mit berückender Formung des Ton. Manchmal halten sich die jungen Leute freilich zu vornehm zurück: Das Mozart-Quintett vertrüge einen Schuss Temperament sehr gut.

Von diesem erzmusikalischen Feingefühl profitiert auch Alfred Schnittkes Drittes Streichquartett. Der Sohn deutsch-russischer Eltern hielt nichts von den Fortschritts-Ideologien der westlichen Moderne. Er bildete seine eigene Sprache heraus, tonal und atonal, vor allem aber mit vielfältigen Rückbezügen in die Geschichte der Musik. In dem Quartett von 1983 zitiert er zu Beginn ein Motiv von Orlando di Lasso, spaltet es harmonisch auf, setzt einen kraftvollen Halteakkord und beginnt dann, das Material durchzuarbeiten. Da tritt noch Beethoven hinzu. Und die Töne D-Es-C-H als Kürzel für Schostakowitsch.

Das Schumann Quartett spielt Schnittke genau abgestuft im Klang und im besten Sinn unbeschwert: Die dichte Verarbeitung der Motive bleibt stets durchhörbar. Im Vordergrund steht, mit den klanglichen Raffinessen nicht zu überwältigen, sondern die inneren Spannungen und Entwicklungen der Musik zu demonstrieren. Das wirkt manchmal etwas vorsichtig, aber nie trocken oder akademisch. Es zeigt sich die alte Wahrheit: Musik wird „schön“ nicht durch den gekonnt gesetzten Effekt, sondern durch die lebendige Darstellung ihrer Form.

Mayer eröffnete als Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker mit seinem Auftritt die „Ruhr Residenz“ des Spitzenorchesters. Sie wird am 5. Dezember vom Blechbläserensemble mit einem weihnachtlichen Konzert fortgeführt und findet ihren Höhepunkt im Februar 2017 mit drei Orchesterkonzerten in Dortmund und Essen. Weitere Informationen: http://www.philharmonie-essen.de/themen-reihen/ruhrresidenz.htm




Zum Tod von Manfred Krug – „Liebling Kreuzberg“: Das Glück des Müßiggangs im Kiez

Heute erreichte uns die betrübliche Nachricht, dass der Schauspieler Manfred Krug mit 79 Jahren gestorben ist. Aus diesem Anlass noch einmal ein Text über seine Erfolgsserie „Liebling Kreuzberg“, der erstmals am 29. November 2013 in der Revierpassagen-Reihe „TV-Nostalgie“ erschienen ist:

Vielleicht waren die 1980er Jahre die letzte wirklich fruchtbare Fernsehzeit. Damals liefen beispielsweise grandiose, ja unsterbliche Serien wie „Monaco Franze“, „Kir Royal“ – und „Liebling Kreuzberg“.

Ganz entspannt in der Kanzlei: Anwalt Robert Liebling (Manfred Krug). © ARD/Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=3kHio8EwgBc

Ganz entspannt in der Kanzlei: Anwalt Robert Liebling (Manfred Krug). © ARD/Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=3kHio8EwgBc

Manfred Krug als Anwalt Liebling war sozusagen die Berliner Antwort auf die genannten Münchner Edelserien. Die Autoren galten etwas in der literarischen Welt, sie erwiesen sich hier zudem als Schriftsteller, die ein Millionenpublikum auf hochbeachtlichem Niveau zu unterhalten vermögen: Die ersten drei Staffeln schrieb Jurek Becker, dann übernahm Ulrich Plenzdorf. Ach, das waren noch Zeiten, als solche Leute TV-Serien verfassten.

Dreitagebart und Schlapphut

Ich habe mir jetzt die allererste Folge vom 17. Februar 1986 noch einmal angesehen und mich dabei keine Sekunde gelangweilt. Der Folgentitel „Der neue Mann“ bezog sich nicht einmal in erster Linie auf Robert Liebling, obwohl der damals als Figur ja auch völlig neu war. Nein, um endlich seiner natürlichen Faulheit frönen zu können und mehr Zeit für die holde Damenwelt zu haben, sucht der Dreitagebartträger mit dem Schlapphut einen fleißigen Sozius für die Kanzlei – eben den „neuen Mann“ mit dem etwas seltsam klingenden Namen Dr. Giselmund Arnold (Michael Kausch). Der kommt – gleichsam ein Vorbote der Schwabenschwemme in Berlin – übrigens ausgerechnet aus Stuttgart.

Wie Berlin sich veränderte

Ein sinnreicher Kunstgriff. Durch den Kontrast zum neuen, überaus eifrigen Kollegen wird Liebling gleich so charakterisiert, wie es ein Soloauftritt schwerlich bewirkt hätte. Man bekommt nebenher nette Kostproben über den flapsigen Umgangston in der Kreuzberger Kanzlei und erste kleine Lektionen über den „Kiez“ an sich. Überhaupt ist es ja ein Glückfall und eine Gunst der historischen Stunde, dass „Liebling Kreuzberg“ noch im alten West-Berlin beginnt und dann die Zeit vor und nach dem Mauerfall begleitet.

Gleich mittendrin im prallen Leben

Nach der ersten Folge, die sofort mit einigen lebensprallen Fällen aufwartet, ist man jedenfalls gleich mittendrin im Geschehen. Schon sehr bald hat man die Figuren und das ganze Drumherum ins Herz geschlossen. Und man will unbedingt wissen, wie sich das alles weiter entwickelt.

Manfred Krug geht jedenfalls zumeist wunderbar tiefenentspannt durch all die kommenden Folgen. Ähnlich glaubhaft wie Helmut Fischer alias Monaco Franze, wenn auch persönlich und landsmannschaftlich anders getönt, verkörpert er das Glück des Müßiggangs und des erotischen Tändelns.

Bestimmt kein Zufall, dass solche Serien vor der exzessiven Handy- und Computer-Nutzung erfunden worden sind. Und auch von manchen Niederungen des Privatfernsehens wusste man damals noch wenig.




So viel Komödie wie nur möglich – Molières „Tartuffe“ im Bochumer Schauspielhaus

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Orgon (Michael Schütz, links) und Tartuffe (Jürgen Hartmann) (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Gegen solche Verblendung ist kein Kraut gewachsen. Nur für das Wohlbefinden seines bewunderten Gastes Tartuffe interessiert sich der Hausherr, die lebensbedrohlichen Fieberschübe seiner Gattin aber sind ihm egal.

Gleich in der ersten Szene führt Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer in unüberbietbarer Deutlichkeit vor, wie es zugeht im Hause Orgon. Das kann ja heiter werden. Bochums Schauspielhaus zeigt Molières „Tartuffe“, ein großes Vergnügen und nicht gänzlich frei von Hintersinn.

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Töchterlein Marina (Kristina Peters, vorn) ist in Ohnmacht gefallen, Zofe Dorine (Xenia Snagowski) herzt Hausherrn Orgon (Michael Schütz). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Damals skandalös

Wenngleich: In unserer Gegenwart, in der gröbste Beleidigungen im Internet und „Shitstorms“ das gesellschaftliche Erregungsniveau bestimmen, wirkt eine Figur wie Tartuffe auf den ersten Blick vergleichsweise unauffällig. Ein Schleimer ist er, ein Verführer und Betrüger, und Heiratsschwindler könnte er wohl auch, na und?

Zu Molières Zeiten jedoch, im absolutistischen regierten Frankreich mit seiner ausgeprägten Günstlingswirtschaft, wirkte die ausführliche Zeichnung seiner Untugenden wegen ihres ausgeprägten Wiedererkennungswertes offenbar skandalös. Nach einer „Privatvorführung“ am Hof von Versailles, 1664, verbot der König die öffentliche Aufführung. Erst 1667 durfte das Volks eine entschärfte Fassung sehen, und das Aufregungspotential soll immer noch erheblich gewesen sein.

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Tartuffe (Jürgen Hartmann, links), Elmire (Raphaela Möst) (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Ein Finsterling eben

Glücklicherweise macht Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer nicht den Versuch, Tartuffe zu einer Gegenwartsperson mit aktuellen, schändlichen Verhaltensweisen umzuformen. Tartuffe (Jürgen Hartmann), der ja erst spät die Bühne betritt, ist ein ebenso verlotterter wie gescheiter Finsterling und bleibt es auch. Natürlich ist seine kriminelle Energie erheblich, er bringt Orgon (Michael Schütz) und die Seinen um Hab’ und Gut, baggert Orgons Gattin Elmire (Raphaela Möst) an und würde auch das Töchterlein Mariane (Kristina Peters) nicht verschmähen, wenn dieses sich mit tatkräftiger Hilfe des Zimmermädchens Dorine (Xenia Snagowski) nicht zur Wehr setzte.

Das passt alles ins Bild eines schlechten Menschen und bedarf hier deshalb keiner weiteren Klärung. Das Bühnenbild versucht sie dennoch, Worte wie Ordnung, Anstand, Moral, Jungfräulichkeit oder Pünktlichkeit hängen in Großbuchstaben von der Decke (Bühnenbild: Thilo Reuther) und bemühen sich um eine Bezüglichkeit, die der Inszenierung ansonsten abgeht. Auch Orgons Motive und Gefühle stehen nicht eben im Mittelpunkt des Spiels. Hier reicht es, dass der Verführte seinen Fehler, wenn auch spät, erkennt.

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Herren in wechselnden Gewändern, von links: Orgon (Michael Schütz), Cléante (Daniel Christensen), Tartuffe (Jürgen Hartmann). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Schenkelklopfer

Statt also in den Charakteren zu gründeln, testet diese Inszenierung lustvoll aus, was in einer gut geölten, burlesk überzeichnenden, nie um einen Gag verlegenen Komödie möglich ist. Grotesk und übertrieben bewegen sich die Personen, sprechen in getragenen Versen (deutsche Fassung von Wolfgang Wiens), um im nächsten Augenblick den Handlungsgang mit banaler Umgangssprache zu unterbrechen oder das Publikum direkt anzusprechen. Schnell wird es laut in den hitzigen Dialogen; wenn Worte fehlen, wird grimassiert und gestikuliert, und all das mit hohem Tempo. Screwball, Sitcom, Comedy: Alles drin, ein großes, schenkelklopfendes Amüsement.

Babydolls und klotzige Pumps

Michael Sieberock-Serafimowitsch, den man auch als Bühnenbildner kennt, der hier jedoch „nur“ für die Kostüme verantwortlich zeichnet, hat die Personen in hinreißend überdrehte grellbunte, die barocke Mode parodierende Kostüme gesteckt, einige Damen überdies in unförmige „Babydolls“ und klotzige hohe Pumps. Später jedoch, wenn die Wahrheit und der materielle Totalverlust ihr grausiges Haupt erheben und der Gerichtsvollzieher (Bernd Rademacher) in putzig durchgereimter Amtsspache den Pfändungsbeschluss verkündet, kauern sie sinnfällig entblößt am Bühnenrand.

An zwei Stöcken, doch überaus selbstbewusst stakt Anke Zillich als des Hausherrn verständnisvolle Mutter Madame Pernelle durch das Geschehen, Daniel Christensen gibt als Cléante einen erfrischend respektlosen Schwager, Matthias Eberle den Sohn, Roland Riebeling den Verlobten. Und wenn dieser Theaterabend so glänzend funktioniert, ist das natürlich nicht zuletzt das Verdienst dieses trefflich zusammenarbeitenden Ensembles.

Frenetischer, lang anhaltender Schlussapplaus.




Superbes Duett: Degas und Rodin im Wuppertaler Museum

Edgar Degas: "Drei Tänzerinnen" (blaue Röcke, rote Mieder), um 1903. Pastell auf Papier und Karton (Fondation Beyeler, Riehen/Basel - Sammlung Beyeler, Foto Peter Schibli, Basel)

Edgar Degas: „Drei Tänzerinnen“ (blaue Röcke, rote Mieder), um 1903. Pastell auf Papier und Karton (Fondation Beyeler, Riehen/Basel – Sammlung Beyeler, Foto Peter Schibli, Basel)


Nun, beste Freunde waren diese Herren nicht. Aber man kannte sich natürlich in Pariser Künstlerkreisen. Edgar Degas und Auguste Rodin, haben mindestens einmal, das ist erwiesen, bei Monet zusammen diniert. Und es wurde ein undatiertes Briefchen gefunden, das Edgar Degas an „mon cher Rodin“, seinen lieben Rodin, schickte, um ihn um eine Empfehlung zu bitten („Das wäre nett von Ihnen“). Kein Museum der Welt kam bisher auf die Idee, ausgerechnet „Degas & Rodin“, den Maler duftiger Tänzerinnen und den Schöpfer markanter Mannsbilder, in einem superben Duett zu präsentieren. Das Wuppertaler Von der Heydt-Museum verschafft uns jetzt das Vergnügen.

Gerhard Finckh, der gewandte Direktor des Museums, weiß, dass er große Namen braucht, um das Publikum von nah und fern in seine Stadt zu locken. Und es gelingt ihm immer wieder. Noch bevor Degas und Rodin, die zufällig beide 1917 starben, nächstes Jahr zu ihren 100. Todestagen ganz groß in Paris und den USA abgefeiert werden, lenkt Finckh die Aufmerksamkeit schon mal nach – Wuppertal.

Edgar Degas: "Kleine Tänzerin", 1888, Bronze (Städel Museum, Frankfurt/Main, Artothek)

Edgar Degas: „Kleine Tänzerin“, 1888, Bronze (Städel Museum, Frankfurt/Main, Artothek)

100 Rodin-Werke und 80 von Degas, darunter elf aus der eigenen Sammlung, kann Finckh zeigen, dazu leicht lesbare Texte und opulent inszenierte Fotografien. Ein Coup, ohne Zweifel. Finckh macht den Anfang, sein imponierender Katalog liegt zuerst vor. Und sein Konzept ist überaus originell. Denn er hat, ohne die Sache zu forcieren, tatsächlich erstaunliche Parallelen im Oeuvre der beiden Großmeister der Moderne herausgearbeitet.

Beide schweiften nicht, wie die lichtvernarrten Kollegen der Impressionisten-Liga, durch Wiesen und Felder, um die Sonne zu suchen. Landschaft interessierte sie nur am Rande. Beide waren interessiert an der Figur und ihrer natürlichen Bewegung. Sie zeichneten sehr genau und schätzten, wie zarte Studien zeigen, die Vorbilder der Antike und Renaissance. Gleichzeitig nutzten sie das moderne Medium der Fotografie als Vorlage, um noch wahrhaftiger zu arbeiten. Beide waren bemüht, die Delikatesse der Malerei in die Skulptur umzusetzen – wobei nur Rodin als Bildhauer reüssierte. Damit wären wir schon bei den Unterschieden.

Rodin, ein imponierender Kerl und Frauenheld, 1840 als Sohn eines Polizeibeamten geboren, wurde dreimal von der Pariser Akademie abgelehnt und arbeitete sich über das Stukkateurhandwerk hinauf in den Olymp der Kunst. Rückschläge ließen ihn nur schlauer vorgehen. Als die lebensgroße Statue eines verwundeten Soldaten („Der Besiegte“) 1877 nichts als Genörgel auslöste, präsentierte er die nackte Figur eines stehenden jungen Mannes, der sich an den Kopf fasst, noch einmal ohne Lanze und mit dem allegorischem Titel „Das eherne Zeitalter“. Und siehe da: Das lebensgroße Bildnis wurde 1880 vom Staat gekauft, und Rodin hatte gleich den nächsten Auftrag in der Tasche – ein „Höllentor“ für das Kunstgewerbemuseum. Er avancierte zum Superstar der Bildhauerei, porträtierte Balzac, setzte ein Denkmal für „Die Bürger von Calais“, machte einen Boxer zum Modell für seinen „Denker“ und rückte auf in der Ehrenlegion. Die Kunden standen Schlange.

Auguste Rodin: "Das eherne Zeitalter", 1877. Bronze, Sandguss. (Musée Rodin, Paris)

Auguste Rodin: „Das eherne Zeitalter“, 1877. Bronze, Sandguss. (Musée Rodin, Paris)

Degas hingegen, eigentlich de Gas, 1834 geborener und exzellent ausgebildeter Spross einer Bankiersfamilie, endete als grämlicher Hagestolz. Er reagierte stets beleidigt auf Enttäuschungen. Nachdem die Kritik 1881 die Wachsfigur einer „Kleinen vierzehnjährigen Tänzerin“ mit echtem Tüllrock gehässig kommentiert und deren Physiognomie als verdorben bezeichnet hatte, zeigte er nie mehr wieder eine Skulptur öffentlich vor und handelte nur noch mit Malerei. Alle existierenden Bronzefiguren wurden posthum aus Wachs- und Tonmodellen gegossen. Umso berührender ist es, ihre gerettete Qualität zu sehen.

Finckh kann von der weltberühmten „Kleinen Tänzerin“ aus dem Musée d’Orsay zwar nur eine Leuchtfotografie zeigen, aber er hat eine ganze Compagnie kleinformatiger Degas-Ballerinnen zusammengestellt, die nackt und stolz posieren: Arabèsque und Attitude – das wirkt erstaunlich kraftvoll und wesentlich erotischer als die pastellfarbenen Bilder von Ballettmädchen in Tüllkostümen, die man sonst von Degas kennt und liebt. Und tatsächlich ergänzen die Bronzeabgüsse von Rodins kühnen Studien des modernen Ausdruckstanzes ganz ausgezeichnet dieses stumme Degas-Theater.

Auguste Rodin: "Tanzstudien F", um 1911 (Bronze, Guss 1952). (Musée Rodin, Paris, Foto Christian Baraja)

Auguste Rodin: „Tanzstudien F“, um 1911 (Bronze, Guss 1952). (Musée Rodin, Paris, Foto Christian Baraja)

Zugleich sieht man an der ungleichmäßigen Oberfläche der Skulpturen, dass hier wie dort ein malerischer Sinn am Werke war. Weder Degas noch Rodin mochten das Glatte, sie drückten ihre Figuren aus dem Ton oder Wachs mit Gesten, die differenziert waren wie Pinselstriche. Hier wurde zur festen Form, was Rodin in seinen Aktzeichnungen und Degas in seinen intimen Bildern von Frauen bei der Toilette festgehalten hatten. Das Museum zeigt etliche exquisite Beispiele dafür.

Rodins aquarellierte Zeichnungen sind auch für heutige Augen noch freizügig. Der Künstler lebte zwar bis ans Ende mit seiner Rose zusammen, malte und liebte aber auch andere Frauen ungeniert. Nicht nur seine hochbegabte Schülerin und Kollegin Camille Claudel machte er mit Treulosigkeit unglücklich. Degas hingegen mied persönliche Ausschweifungen. Er geisterte als korrekt gekleideter Gast durch die Hinterzimmer der Theater und Bordelle. Dort durfte er die Frauen bei ihrer Körperpflege beobachten und zeichnen, so lange es sein schwindendes Augenlicht erlaubte. Es ist nicht bekannt, ob er je ein Verhältnis zu ihnen hatte.

Auguste Rodin: "Tänzerin aus Kambodscha", Juli 1906. (Musée Rodin, Paris, Foto Jean de Calan)

Auguste Rodin: „Tänzerin aus Kambodscha“, Juli 1906. (Musée Rodin, Paris, Foto Jean de Calan)

Edgar Degas hütete seine Geheimnisse. Er wahrte die Fassade. Und auch in der Kunst war er mehr an der flirrenden Oberfläche, am Zauber der flüchtigen Geste interessiert. Auguste Rodin hingegen wollte das Verborgene offenbaren. Er erforschte den individuellen Ausdruck des Menschen in Schmerz, Sehnsucht, Liebe. Von ihm stammt der Satz: „Die Kunst beginnt erst bei der inneren Wahrheit.“ Insofern sind die Pariser Zeitgenossen Degas & Renoir keineswegs als Brüder im Geiste zu betrachten. Aber das macht die Ausstellung eher noch reizvoller.

„Degas & Rodin – Giganten der Moderne“: 25. Oktober 2016 bis 26. Februar 2017. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8 (Fußgängerzone). Di./Mi. 11 bis 18 Uhr, Do./Fr. 11 bis 20 Uhr, Sa./So. 10 bis 18 Uhr. Katalog (432 Seiten, Verlag Kettler) 25 Euro. DVD „Giganten der Moderne“ 17,50 Euro.
www.degas-rodin-ausstellung.de




Eindrücke aus der Budapester Musikszene zum 60. Jahrestag des Ungarn-Aufstands

Das Müpa-Kulturzentrum in Budapest. Foto: Werner Häußner

Das Müpa-Kulturzentrum in Budapest. Foto: Werner Häußner

Vor 60 Jahren gingen in Budapest Studentinnen und Studenten der Technischen Universität auf die Straße. Sie forderten demokratische Veränderungen. Der Studentenprotest weitete sich in Windeseile aus: Am 23. Oktober 1956 versammelten sich rund 200.000 Ungarn vor dem Parlament. Die Menschen forderten Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen und Unabhängigkeit vom stalinistisch geprägten Sowjetsystem.

Die Regierung ließ in die Menge der versammelten Bürger schießen. Noch in der Nacht weitet sich die Demonstration zum Volksaufstand auf. Zehn Tage später bereitet die Sowjetarmee dem ungarischen Volksaufstand ein blutiges und brutales Ende. 2600 Ungarn kommen ums Leben, 200.000 verlassen das Land, allein gut 15.000 gehen nach Deutschland, 8000 nach Österreich. Seit 1989 ist der 23. Oktober ungarischer Nationalfeiertag.

Das ist der Hintergrund für ein musikalisches Gedenken an die Erhebung und ihre Opfer. Vor zehn Jahren, zum 50. Gedenktag, wurde die Kantate uraufgeführt. Jetzt, zum 60. Jahrestag, erklang sie wieder im Rahmen des Contemporary Arts Festivals – abgekürzt CAFe – im beeindruckenden, akustisch ausgezeichneten Großen Saal des Müpa Budapest, des 2005 eröffneten Kulturzentrums an der Donau, gegenüber des neuen Nationaltheaters. Zwei Konzert- und Theatersäle, ein Konferenzzentrum und das Museum Ludwig für zeitgenössische Kunst sind in dem imposanten Komplex vereint.

„Istenkép“ (Gottesbild) nennt sich die Kantate für großes Orchester, Chor und zwei Solisten, komponiert von Levente Gyöngyösi. Der 1975 in Cluj in Rumänien geborene Komponist kam 1989 nach Ungarn, studierte am Bartók-Konservatorium Komposition und Klavier, und hatte seinen ersten großen Erfolg mit der 2000 uraufgeführten Oper „Kalif Storch“, die seit 2005 im Repertoire der Ungarischen Nationaloper geführt wird. Gyöngyösi schrieb außerdem zwei Sinfonien, eine Sinfonia concertante, das Oratorium „Missa Vanitas Vanitatum“ und eine große Anzahl geistlicher Werke für Chöre. Zur Zeit, so ist auf seiner Homepage zu lesen, arbeitet Gyöngyösi an einem Musical nach Bulgakows „Der Meister und Margarita“.

Die fünfteilige Kantate, beginnend mit einem unbegleiteten Flötensolo, zeigt sich als ein Werk voll Pathos und Melancholie, abwechslungsreich gegliedert, gekonnt instrumentiert und in einer die Möglichkeiten und Grenzen der Tonalität ausschreitenden Schreibweise. Zu hören sind hektisch-dramatische Repetitionen im Orchester, Bläserattacken, komplexe Akkorde, die an Mussorgsky und Schostakowitsch erinnern. Aber auch ein bassloser, verklärter Frauenchor nach dem von Polina Pasztircsák mit klarer, unangestrengter Stimme vorgetragenen „Gebet für die Gefallenen“, dem Mittelteil des Werks. Im spröden, expressiven Solo des Bassbaritons Géza Gábor geht es um János Kádár, den Chef der prosowjetischen Regierung nach der Niederschlagung der Freiheitsbewegung.

Solche Musik des Gedenkens wird es schwer haben, nationale Grenzen zu überwinden, weil sie (zu) stark an ein konkretes historisches Ereignis gebunden ist. Aber die Musik spricht für den Komponisten Gyöngyösi – und vielleicht gelingt es, auf sein Schaffen aufmerksam zu machen: In einem hoffentlich weiter zusammenwachsenden Europa sollte die Musik der Nachbarn nicht unbeachtet bleiben. Das Budapester Festival ist dafür ein Anlass. Der Besucher, der nicht vertraut ist mit dem ungarischen Kulturleben, wünscht sich allerdings mehr Information, als dem knappen Programm-Faltblatt zu entnehmen ist: Will das Festival internationales Publikum anziehen, bräuchte es – gerade bei dieser Kantate – einen Text mit einer Übersetzung.

Das Konzert, das die Kantate „Istenkép“ abgeschlossen hat, stand unter dem Titel „Zeitgenössische Romantiker“. Die Ungarn haben offenbar keine Probleme mit einer Stilrichtung, die so vielfältig wie rückwärtsgewandt, so ungenau zu definieren wie unter Umständen ideologisch belastet ist. Im Programm des Festivals stehen die „Romantiker“ von heute neben Uraufführungen junger Komponisten und den inzwischen zu „Klassikern“ der (Post-)Moderne gewordenen Tonschöpfern Krzysztof Penderecki und Steve Reich – letzterer gewürdigt in einem Konzert zum 80. Geburtstag in der Liszt-Akademie.

Was diese neuen „Romantiker“ ausmacht, ist kaum zu beschreiben. Der Begriff ist wohl weder an der literarischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts festzumachen, noch bezieht er sich auf „romantische“ philosophische Begriffe. Der Rückgriff auf spätromantische musikalische Elemente oder der neue Stellenwert der Melodie sind ebenfalls keine verlässlichen Kriterien: Solches findet sich bei modernen amerikanischen Komponisten ebenso wie bei einem traditionsbewussten Zeitgenossen und Klangsucher wie Wolfgang Rihm.

Am einfachsten noch lässt sich klären, was „Romantiker“ bedeuten soll, wenn man László Dubrovay zu Wort kommen lässt. Der 1943 geborene Komponist hat sich früher mit experimenteller und elektronischer Musik beschäftigt und war von 1972 bis 1975 als Austauschstudent des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes bei Karlheinz Stockhausen und Hans-Ulrich Rumpert. Von 1976 bis 2008 lehrte er an der Musikakademie Budapest Musiktheorie. Seit den 1990er Jahren wandte sich Dubrovay der Tonalität und der Melodie zu. Mit einem neuen harmonischen System will er nach eigenen Worten melodisches Denken und Singen wieder ermöglichen. Nach den „Abweichungen“ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so seine Überzeugung, könne die Musik nun wieder zum vollständigen Reichtum menschlichen Denkens und Fühlens zurückkehren.

Hört man sein Zweites Klavierkonzert, betitelt „Concerto romantico“, identifiziert sich diese musikalische „Romantik“ als historistisch und rückwärtgewandt. Drei Sätze in der üblichen Folge Schnell-Langsam-Schnell, überkommene Formschablonen. Das Konzert ist eine nostalgische Beschwörung: Fortschrittsgedanke, hebe dich hinweg! Materialidee, entfleuche! Stattdessen wird dem Solisten gehuldigt, als hätte es Johannes Brahms nie gegeben: János Balázs spielt wie ein auferstandener Liszt Ferenc. Hier perlende Läufe, dort rauschende Arpeggien und donnernde Parallelen, ein „träumerisches“ Seitenthema im ersten, grummelnde Bass-Bedeutung im zweiten Satz. Alles ist wie früher – nur Dubrovays melodische Erfindung kann leider weder mit Schubert noch mit Grieg mithalten. Der zweite Satz mag die Aufmerksamkeit länger fesseln: Da hat Dubrovay mit Bläsersoli und Streicherglissandi das „romantische“ Klangklischee ein bisschen verfremdet. Und das Eingangsthema des dritten Satzes ist so gestrickt, dass ein Komponist des 19. Jahrhunderts etwas daraus hätte machen können.

Die postmoderne Egalität, die Gleichstellung aller Ästhetiken, die Unfähigkeit, Kriterien zu benennen, kommt solchen Entwicklungen durchaus entgegen. Vielfalt wird ermöglicht, Qualitätsurteile geraten ins Zwielicht. In der Bildenden Kunst ist dieser Prozess schon lange im Gang; was Scharlatanerie ist und was Genie, entscheiden meist Museumsdirektoren, renommierte Galerien und ein kaufkräftig-exquisites Sammlerpublikum. In der Musik ist das Ziel der Reise noch nicht absehbar. Es gibt ja sogar Stimmen, die vom Ende der (klassischen) Musik sprechen. Ein Mann wie László Dubrovay dürfte trotzdem – auch wenn etwa in der Malerei das „Altmeisterliche“ eine gewisse Nische besetzt – mit seiner Imitation der Vergangenheit keine Chance haben. Vorbei ist eben vorbei, die Zeit lässt sich weder ignorieren noch zurückdrehen.

Dann geht man schon eher mit György Orbán mit: 1947 in Siebenbürgen geboren und als Kompositionsprofessor an der Liszt-Akademie eine der einflussreichen Personen in der ungarischen Musikszene, hat in seiner „Serenade Nr. 4“ eine üppig instrumentiertes Capriccio geschaffen, melodisch attraktiv, rhythmisch zupackend, mit Elementen aus Ragtime und Jazz, äußerst virtuosen Hornstellen und neckisch gestopfter Trompete. Das fähige Dohnányi Orchester Budafok unter Gábor Hollerung hat in diesem – wie in der anderen Werken des Abends – dankbare Aufgaben und sorgt für den glatten, widerstandslosen Klang. Béla Bartók jedenfalls, wie nachdrücklich er auch beschworen werden mag, ist weit entfernt.

Hinweis: Die Deutsch-Ungarische Gesellschaft in der Auslandsgesellschaft NRW e. V. in Dortmund lädt aus Anlass des Gedenkens an den 60. Jahrestag der Revolution von 1956 zu einem Filmabend ein: Am Dienstag, 25. Oktober, 19 Uhr, wird in der Steinstraße 48, (44147 Dortmund) der Film „Liebe“ von Károly Makk gezeigt. Eintritt frei.




Wunderbare Vielfalt in Frankfurt: Aspekte der Romantik bei Scartazzini, Britten und Flotow

Vor der Bücherwand: Nathanael (Daniel Schmutzhard) und seine unheimlichen Gäste, der Vater (Thomas Piffka) und sein Kumpel Coppelius (Hans Jürgen Schöpflin). Foto: Monika Rittershaus

Vor der Bücherwand: Nathanael (Daniel Schmutzhard) und seine unheimlichen Gäste, der Vater (Thomas Piffka) und sein Kumpel Coppelius (Hans Jürgen Schöpflin). Foto: Monika Rittershaus

Was für eine Vielfalt! An der Oper Frankfurt lässt sich in den ersten Wochen der neuen Spielzeit nicht nur die ungewöhnliche „Carmen“ Barrie Koskys und demnächst die Verdi-Rarität „Stiffelio“ besichtigen. Im Bockenheimer Depot, einer gründerzeit-lichen Straßenbahn-Remise, wurde Benjamin Brittens selten aufgeführte amerikanische Operette „Paul Bunyan“ neu inszeniert. Und das Große Haus eröffnete den Premierenreigen mit einer Deutschen Erstaufführung, Andrea Lorenzo Scartazzinis „Der Sandmann“ – vor vier Jahren in Basel uraufgeführt.

Dazu kommt noch Friedrich von Flotows „Martha“, nicht als verlegener Tribut ans naiv-komische Genre, sondern als Chefstück prominent gewürdigt: GMD Sebastian Weigle selbst dirigiert und fügt damit seiner Beschäftigung mit der deutschen romantischen Oper einen weiteren wichtigen Aspekt hinzu.

Wenn man so will, lassen sich aus den drei Frankfurter Inszenierungen unterschiedliche Aspekte der Romantik herauslesen: Flotows unterhaltsames Werk steht für die Verniedlichung des Romantischen, wie es sich bis heute in Herzchenkitsch und Liebesschnulzen gehalten hat – ungeachtet der stillen Ironie, die man in „Martha“ hinter biedermeierlicher Camouflage entdecken kann.

Brittens „Paul Bunyan“ thematisiert einen spezifischen Aspekt eines „american dream“, einen riesenhaften Holzfäller, zu Beginn des 20. Jahrhunderts popularisiert durch einen Journalisten und eine Werbekampagne. Scartazzinis „Der Sandmann“ dagegen baut auf E.T.A. Hoffmanns vor 200 Jahren erschienener Erzählung, kreist um krankhafte wie metaphysische Aspekte der deutschen Romantik und stellt letztlich die Frage, wie zuverlässig unsere Erkenntnis von Wirklichkeit ist.

Christof Loys Inszenierung – die Übernahme der Uraufführungsproduktion aus Basel – hält den Sandmann-Stoff in der Schwebe: Der Lichtrahmen der Bühne von Barbara Pral lässt das Innere des Raum-Kastens von Anfang an diffus erscheinen; das Licht von Stefan Bolliger changiert zwischen den unheimlichen Lichteffekten des film noir, schemenhaft ausgeleuchteten Stimmungsbildern und hartkantiger Helle.

Scartazzinis Librettist Thomas Jonigk kombiniert einige Motive aus Hoffmanns „Sandmann“, um zu schildern, wie der Schriftsteller Nathanael jegliche Gewissheit von „Realität“ verliert. Tote erscheinen, Getötete stehen wieder auf. Ob Nathanael sein Werk je vollendet hat oder nicht über ein paar Zeilen hinausgekommen ist, bleibt unklar. Er ist jedenfalls von gestapelten Büchern umgeben.

Barbara Prals Bühne für Scartazzinis "Der Sandmann" gibt dem Unheimlichen und Uneindeutigen Raum. Foto: Monika Rittershaus

Barbara Prals Bühne für Scartazzinis „Der Sandmann“ gibt dem Unheimlichen und Uneindeutigen Raum. Foto: Monika Rittershaus

Ob seine hellsichtig argumentierende Partnerin Clara real ist oder sein gespaltenes Bewusstsein repräsentiert, bleibt ebenso ungreifbar wie die Existenz der automatenhaften Clarissa, die am Ende mit Claras Erscheinung verschmilzt und sich vervielfältigt. Der Begriff des „Realen“ verschwimmt auch bei den beiden sinistren Gespenstern, dem Vater (Thomas Piffka) und seinem Kumpel Coppelius (Hans Jürgen Schöpflin), die es in Nathanaels Kindheit bei alchemistischen Experimenten in einer Explosion zerrissen hat. Sind die halb komödiantischen, halb unheimlichen Figuren materialisierte Traumata, sind sie Boten aus einer dunklen Anderswelt?

Agneta Eichenholz (Clara) und Daniel Schmutzhard (Nathanael) in der E.T.A.-Hoffmann-Oper "Der Sandmann" von Andrea Lorenzo Scartazzini an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Agneta Eichenholz (Clara) und Daniel Schmutzhard (Nathanael) in der E.T.A.-Hoffmann-Oper „Der Sandmann“ von Andrea Lorenzo Scartazzini an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Der Zuschauer kann sich genauso wenig wie Nathanael selbst orientieren, die Ebenen überlagern sich, der Spuk mag eine transzendente Wirklichkeit haben oder sich aus einem wahnbefallenen Geist gebären. Loys Regiekunst transzendiert den scheinbaren Realismus in eine albtraumhafte Sphäre, in der das Groteske selbstverständlich und das Alltägliche absurd wirkt. Er hat mit Daniel Schmutzhard einen ausdrucksstark singenden und überzeugend agierenden Darsteller des Nathanael; Agneta Eichenholz wandelt als Clara und Clarissa virtuos auf der Trennlinie zwischen der besorgten, bestürzten Frau und der automatenhaften Kunstfigur.

Hartmut Keil und das Orchester leuchten die Facetten von Scartazzinis vielgestaltiger Musik mit der in Frankfurt üblichen Sorgfalt aus. Die Modernität der Romantik – hier wird sie nachvollziehbar. Das ist Oper von heute, packend, überzeugend, relevant. Zum Nachspielen empfohlen!

Im Falle von Benjamin Brittens „Paul Bunyan“ dürfte es schwieriger sein, die „Operette“ ohne Weiteres fürs Repertoire zu empfehlen. Das liegt nicht so sehr an dem 1941 uraufgeführten und von Britten erst 1975 in einer überarbeiteten Version wieder aus der Schublade geholten Stück. Sondern eher an den Bedingungen der Rezeption: Der Zuschauer muss schon sehr vertraut sein mit der säkularen amerikanische Mythologie des Super-Helden, mit dem Kolonisten-Optimismus der Gesellschaft und mit Klischees amerikanischer Populärerzählungen, um die Geschichte um den gigantischen Holzfäller – und die leise Ironie des Librettos von Wystan Hugh Auden – attraktiv zu finden.

Brigitte Fassbaender hat in ihrer Regie kluge Brücken gebaut und das Stück damit kurzweilig und vielschichtig erzählt. Ein riesiger, schrundiger Baum verdeckt zunächst die Bühne, bis das Licht die Spielfläche von Johannes Leiacker freigibt: ein Haufen löcheriger, zerbeulter Campbell’s Konservendosen (ein amerikanischer Konsum- und seit Andy Warhol auch ein Kunst-Mythos).

Paul Bunyan selbst bleibt körperlos; er manifestiert sich wie eine quasi-göttliche Stimme aus dem Irgendwo, mit wissender Ironie gesprochen von Nathaniel Webster. Zu sehen ist nur ein Mund, auf den Riesenstamm projiziert, mit blendend weißem Trump-Gebiss.

In den Kostümen Bettina Münzers wird das amerikanische Cowboy-Klischee ebenso zitiert wie Bunnies aus der Show oder Tiere aus dem Comic. Zwei unverfrorene Katzen – Julia Dawson und Cecelia Hall – tragen Mäusebälger als Handtaschen und singen lapidar-frivole Duette, aber ihre Kleidchen erinnern an Hausfrauen-Kittelschürzen. Sebastian Geyer verkörpert mit der Figur des Hel Henson den wortkargen Macho, dem man gerne abnimmt, dass er erst schießt und dann denkt.

Tiere auf der Bühne kommen immer gut: Julia Dawson (Moppet), Sydney Mancasola (Fido) und Cecelia Hall (Poppet) in Brittens "Paul Bunyan". Foto: Barbara Aumüller

Tiere auf der Bühne kommen immer gut: Julia Dawson (Moppet), Sydney Mancasola (Fido) und Cecelia Hall (Poppet) in Brittens „Paul Bunyan“. Foto: Barbara Aumüller

Die vielleicht spannendste Person aus Brittens groß besetztem Werk ist Johnny Inkslinger: ein Intellektueller, der sich zunächst um Geld und materielle Absicherung nicht schert. Doch auch er muss essen, und die pure Notwendigkeit macht ihn von Paul Bunyan abhängig: Er muss sich als Buchhalter verdingen und wird schließlich, als er den geisttötenden Job hinter sich lassen will, nach „Hollywood“ gelockt. Michael McCown macht deutlich, wie ein unabhängiger Geist seine Autonomie verliert. In der Unterhaltungsindustrie wirkt der frei sich wähnende Geist effektiv im Dienst kapitalistischer Verwertung. Brittens Blick auf das Amerika der Weltkriegszeit dürfte nicht zuletzt seinem eigenen und dem Schicksal anderer europäischer Komponistenkollegen geschuldet sein.

Einer dieser Kollege war Kurt Weill – und Brittens „Paul Bunyan“ erinnert streckenweise an die lehrstückhaften Werke aus Weills amerikanischer Zeit, etwa den „braven Soldaten“ Johnny Johnson. Britten setzt als Zwischenspiele Balladen im Country-Stil ein, in Frankfurt stilsicher vorgetragen und selbst auf der Gitarre begleitet von Biber Herrmann, einem Folk- und Blues-Sänger und Songwriter aus dem Rhein-Main-Gebiet.Tanz

Tanz auf der Dose: Johannes Leiackers attraktive Bühne für Brigitte Fassbaenders kluge Regie, hier eine Szene mit Michael McCown (Inkslinger) und Ensemble. Foto: Barbara Aumüller

Tanz auf der Dose: Johannes Leiackers attraktive Bühne für Brigitte Fassbaenders kluge Regie, hier eine Szene mit Michael McCown (Inkslinger) und Ensemble. Foto: Barbara Aumüller

Brittens Musik, vom Orchester beweglich, rhythmisch sensibel und mit Sinn für die leuchtkräftigen Farben und subtilen Zwischentöne gespielt, hat in Dirigent Nikolai Petersen einen aufmerksamen Anwalt gefunden. Sie erinnert an Weill, Gershwin und Cole Porter, an anglikanische Kirchenhymnen und Gilbert-and-Sullivan-Couplets, an melancholische Blues-Balladen und kernigen Folk. Vor allem aber behält sie in ihrer ironischen Zuspitzung und ihrem humorvoll gebrochenen Blick auf die Vorbilder ihren unverwechselbaren Britten-Charakter. „Getriebe, die knirschen“, nannte Leonard Bernstein diesen vertraut-verfremdeten Stil – und „Paul Bunyan“ ist reich an gekonnten Beispielen dafür.

Von daher gehörte diese amerikanische Operette dann doch hin und wieder in die Spielpläne, vor allem dann, wenn sich das eine oder andere Haus auf seine Britten-„Zyklen“ oder die „Pflege“ seines Werkes etwas einbildet.

Abgelegene Opern wie „Gloriana“ (vor Jahren in Gelsenkirchen), „Owen Wingrave“ (eindrucksvoll in Frankfurt und höchst gelungen am Theater Osnabrück) oder eben „Paul Bunyan“ eröffnen aufschlussreiche Blicke auf Brittens musikalische Kosmos und lassen sich, werden sie so wissend und bildmächtig inszeniert wie durch Brigitte Fassbaender in Frankfurt, auch dann verstehen, wenn der historische oder gesellschaftliche Background nicht mehr so unmittelbar einleuchtet wie etwa in „Peter Grimes“. Frankfurt erweitert damit seine Befassung mit Brittens Werk um eine faszinierende Facette.

Information und Aufführungstermine: www.oper-frankfurt.de




Familienfreuden XXII: Die Auswegloslösungsmaschine

Seit ich Ma bin, wünsche ich mir manchmal eine kleine Maschine: Sie wäre so groß wie ein Smartphone, hätte ein Mikrofon und an einer Seite einen Schlitz, aus dem kleine Druckwerke kommen können.

Heiß ersehnt: Die Lösungsmaschine für Situation, in denen Eltern Ratlosigkeit packt. (Bild: Albach)

Heiß ersehnt: die Lösungsmaschine für Situationen, in denen Eltern Ratlosigkeit packt. (Bild: Albach)

Immer dann, wenn ich mal wieder in eine Situation mit Fiona geriete, bei der ich nicht weiter weiß, würde ich das Maschinchen anwerfen, es ein paar Minuten mithören lassen und schwups – käme ein feiner, kleiner Zettel heraus mit dem ultimativen Ratschlag zur Lösung des Problems. Bis dieser Wunderapparat erfunden ist, müssen Normen und ich leider weiter improvisieren.

Die armen Nackten

Das Fiese ist ja, dass solche Situationen oft ohne große Ankündigung kommen. Ok, man merkt natürlich schon, wenn Fionas Stimmung fragil ist. Was aber zum tatsächlichen Ausbruch führt, ist unkalkulierbar, völlig unlogisch.

Es war im Urlaub. Wir hatten gerade gemütlich gefrühstückt, es ruhig angehen lassen und waren nun (zu bester Mittagssonne) am Strand angekommen. Der schönste Abschnitt wurde vorrangig von FKKlern besucht und obwohl wir selbst keine Freikörperkultur-Anhänger waren, fühlten wir uns dort wohl. Fi hatte die nackten Menschen beim ersten Mal lange beobachtet und schließlich gefragt: „Mama, sind die arm?“ „Nein, wieso?“ „Weil die nichts anhaben!“ „Das finden die Menschen schön.“ „Ach so…“ Diese Irritation war also längst ausgeräumt.

Flucht bei Ankunft

Diesmal aber sah uns eine ältere Dame ankommen und stand, kaum dass wir fünf Meter von ihr entfernt unsere Strandmuschel aufgebaut hatten, auf, um sich einen Platz weit von uns entfernt auszusuchen. Möglicherweise hätte ich das als Omen begreifen sollen.

Fi verlangte einen Keks. Ich: „Wir haben gerade gefrühstückt, Du bekommst jetzt nichts Süßes.“ „Aber ich habe Hunger!“ „Dann hättest Du beim Frühstück mehr essen sollen. Ich habe Dich fünf Mal gefragt, ob Du Deinen Fruchtjoghurt aufessen willst. Hier kannst Du ein Stück Brot haben.“ „Ich will JETZT meinen Joghurt!“ „Der steht zu Hause!“ „Ich will nach Hause!“ „Wir sind gerade erst angekommen, wir fahren jetzt nicht wieder.“

Vulkanausbruch

Zack – da war es geschehen! Vulkanausbruch. Fi brüllte. Weinte. Warf sich hin. Trat um sich. Die Sandmuschel schluckte zumindest ein bisschen von dem Geschrei, so dass nicht auch alle anderen Strandbesucher aufstanden und umzogen.

Ich durchlaufe in diesen Momenten immer ein Standardprogramm, das sich in drei Phasen gliedert:

1. pädagogisch wertvolles Auftreten (Erklärungsversuche und wohlformulierte Appelle, die keiner hört außer mir).

2. Wut („Jetzt HÖR BITTE AUF!!!“ – komplett wirkungslos).

3. Mitleid. Schweigend sahen Normen und ich einige Zeit zu, wie sich unsere Tochter im Sand lautstark und erfolgreich selbst panierte. Dann sah man langsam die Rage aus ihr weichen und ein Häufchen Elend überbleiben.

Vergessen

Ich nahm sie in den Arm und fragte, ob sie vielleicht mit ins Meer wolle. Schniefend nickte sie. Wir gingen schwimmen, sie warf sich jauchzend in die Wellen. Das Unglück war vergessen.

Drei Stunden später fuhren wir zurück zu unserem Ferienhaus. Fi schlief vor Erschöpfung ein.

Als wir angekommen waren, wachte sie auf. Sie blinzelte – und sagte bestimmt: „Ich will jetzt meinen Joghurt essen!“




„Theater hassen“ – eine ziemlich ziellose Reise in die Zukunft der Bühnenkunst

Dieser Autor bemüht sich emsig um Zeitgeist-Sprech. Jan Küveler (Jahrgang 1979), seines Zeichens Feuilletonist und Theaterkritiker der „Welt“, beliebt über Shakespeare und dessen Zeit so zu extemporieren: „Draußen auf den Weltmeeren wurde die Globalisierung erfunden, das ´Globe Theatre‘ war ihr Social-Media-Hub.“ Ahoi!

Doch wir wollen nicht schon gleich zu Beginn polemisch werden und nur noch schnell erwähnen, dass Jan Küveler laut Klappentext mit einer Arbeit über jugendliche Romanhelden promovierte, die sich der Reife verweigern.

9783608501605-cover-lKüveler also umkreist in seinem Buch mit dem finster entschlossenen Titel „Theater hassen“ den nach seiner Ansicht vielfach beklagenswerten Zustand der Bühnenkunst; ein Thema also, über das sich im Prinzip schon die antiken Griechen echauffiert haben.

Im Geisterhaus toter Avantgarden

Der Verfasser wähnt sich in einem Geisterhaus toter Avantgarden, auf nachrichtlicher Ebene sei allein schon das ewige Intendanten-Karussell furchtbar öde. Beim Berliner Theatertreffen kreise alles um immer ähnlich gelagerte Positionen, Projekte und Performer.

So manchen Unmut kann man nur zu gut nachvollziehen. Der Mann schreibt sich in einen solchen Zorn hinein, dass ihm auch die hoch gehandelte, sorgsam an den Texten arbeitende Regisseurin Andrea Breth nur mehr als einfältig arrogant gilt. Gleichzeitig preist er die Verrisse seines (heute arg vermissten) Ex-Kollegen Gerhard Stadelmaier von der FAZ, der freilich den hier leichthin abgetanen Luc Bondy und just Andrea Breth am allerhöchsten geschätzt hat.

Vorbild „Monaco Franze“

Als man sich schon bang fragt, ob Küveler irgendwann einmal halbwegs abgekühlt argumentieren wird, empfiehlt er eine distanzierte, unprätentiöse und uneitle Haltung zum Theater, wie sie einst der legendäre „Monaco Franze“ vorgemacht hat, als der in Helmut Dietls famoser Fernsehreihe die versammelten Opern-Schnösel von München düpierte.

Nun, das mag erst einmal angehen, doch wird es gewiss nicht alle Gebrechen des Theaters kurieren, von dem Küveler (immer noch) meint, es sei zu feierlich und werde oft für Träger von Zylinderhüten gemacht. Nanu? Das mag gelegentlich noch im Wiener Burgtheater der Fall (gewesen) sein, aber sonst doch wohl gar nicht mehr.

Dabei kennt Küveler doch seine brachialen Pappenheimer, jene Regisseure, die stets auf schrankenlose Selbstverwirklichung und „Skandale“ aus sind, welche sich aber längst erledigt haben.

Die Freuden der Langeweile

Er erregt sich noch königlich über Elfriede Jelineks unaufhörliches Besserwisserinnen-Theater (bis hin zu „Die Schutzbefohlenen“), das keinerlei Überraschungen mehr bereithalte, sowie über Elaborate der „Gießener Schule“ um Michael Thalheimer und René Pollesch, die auch nur noch nerve.

Aufgeregten Projekten, die nur zum Schein die Zuschauer einbezögen, in Wahrheit aber auf deren Passivität setzten, sei allemal Langeweile vorzuziehen, die wenigstens stille Kontemplation ermögliche. Also, Leute, beschwert euch bloß  nicht mehr über endlos erscheinende Theaterabende, sondern sitzt eure Kultur gefälligst ab und nutzt die unverhoffte Chance zur Trance.

Damit hätten wir also schon einige, in sehr verschiedene Richtungen zielende  Ablehnungen beisammen. Ja, was aber dann? Was dürfen wir hoffen? Was sollen wir ersehnen? Selbstverständlich läuft auch dieses Buch in seinem vermeintlichen Theaterhass darauf hinaus, dass es letztlich nur auf ein anderes Theater erpicht ist. Dieser Topos einer fortwährenden Hassliebe ist gleichfalls altbekannt. Doch wohin geht die Reise?

Kronzeuge Ersan Mondtag

Zum Kronzeugen bestellt Küveler den Theatermacher Ersan Mondtag, der ausgiebig als Prophet einer Art Meta-Theater – gern mit Laiendarstellern und zeichenhaften Masken – zu Wort kommt und sich dabei reichlich autoritär gebärdet. Da erklingt so manche Hohlformel (Dekonstruktion war gestern, jetzt muss wieder konstruiert werden), wobei am Horizont ein Theater aufscheinen möge, in dem wieder „alles möglich“ sein solle. Schauspielkunst herkömmlicher Prägung ist dabei übrigens überhaupt nicht gefragt, sie stört eher.

Sodann benennt Küveler drei angeblich allesamt erhellende Provokationen der neueren Theatergeschichte – ins Werk gesetzt von Hans Neuenfels (1966 in Trier, ach Gottchen!), von Rainer Werner Fassbinder („Der Müll, die Stadt und der Tod“) und vom fast nur dadurch bekannt gewordenen Schauspieler Thomas Lawinky, der den schon erwähnten Rezensenten Stadelmaier auf offener Szene verhöhnte und ihm den Notizblock entriss. Wer hätte gedacht, dass eine solche Handlungsweise noch einmal als vorbildlich durchgeht?

Bloß nicht feige sein…

Das ist also mal eine hübsche Ahnengalerie fürs kommende Theater. Küvelers Zwischenfazit lautet, Theater dürfe nicht feige sein und solle Tabus brechen. Moment mal. Hatten wir das nicht schon seit ein paar Jahrzehnten? Immer mal wieder, immer wüster und verzweifelter?

Vermeintlich rasant und doch nur halbstark geht’s in die Schlusskurven. Gepriesen werden die „Akzelerationisten“ der Bühne, die quasi gehörig aufdrehen und es den „Spaßbremsen“ im Gefolge der Frankfurter Schule mal so richtig zeigen. Wow, dann müssten die Bühnen wohl schleunigst tiefergelegt werden. Angewidert von den gängigen Moden, wendet sich Küveler nunmehr dem nächsten Hype zu.

Die Heilsbringer kommen

Der gute alte Textzerbröseler Frank Castorf darf dabei gleichfalls Pate stehen, außerdem vor allem Leute wie der Norweger Vegard Vinge und Ina Müller, die an Castorfs Volksbühne derart hirnmarternd, radikal und monströs zugange sind, dass es selbst dem von Chaos gestählten Chef manchmal zu viel wird.

Die Zumutung ist dabei offenbar zentrales Programm. Hört sich nicht so an, als könnte dies dem deutschen Stadttheater aufhelfen. Im Gegenteil: Endlose Proben, oft ohne bühnenreifes Resultat, sind dort nicht so gern gesehen. Derlei Kleinigkeiten erwähnt Küveler in seinem Buch kaum, er beschwört nur raunend die Namen der Heilsbringer Vinge oder Antú Romero Nunes, ohne die Verheißungen zu konkretisieren. Und ums gewöhnliche Stadttheater ist es Küveler wohl gar nicht zu tun.

Natürlich gibt es, zumal in der Hauptstadt, eine eventgeile Theater-Schickeria, die auch Hervorbringungen à la Vinge noch kritiklos goutiert. Mal abgesehen von diversen Fäkal-Aktionen, ließen Vinge und Müller einst vor Publikum ungerührt bis 5000 zählen und haben damit laut Küveler (produktive?) Wut erzeugt. Die Zukunft des Theaters käme somit aus der Weißglut, womit Theaterhass endlich, endlich sinnerfüllt wäre. Ja, Donnerschlag und Sakrament…!

Jan Küveler: „Theater hassen. Eine dramatische Beziehung“. Tropen Verlag (Klett-Cotta). 160 Seiten. 12 €.

 




,,Meine Zeit mit Cézanne“ – ein berührender Film über Freundschaft und Egozentrik

Noch läuft er in ausgewählten Programmkinos der Republik: „Meine Zeit mit Cézanne“, dieser berührende Film über eine Männerfreundschaft und über die zerstörerische Egozentrik eines Malergenies.

Paul Cézanne, Kind aus reichem Hause, und der später berühmte Schriftsteller Emile Zola lernten sich als Schuljungen in Aix en Provence kennen und behielten ihre Freundschaft bis ins Alter, allerdings nicht bis zum Schluss, denn an der fast pathologischen Egozentrik Paul Cézannes zerbrach die Verbindung.

Der französische Film wurde an den Originalschauplätzen der beiden Künstler-Biographien gedreht. Emile und Paul mussten sich jeweils auf ihrem Gebiet – in der Literatur und der Malerei – als Neuerer gegen massive Widerstände durchsetzen. Zudem kämpften sie zeitweise in der Liebe um dieselbe Frau.

Scheitern musste die Freundschaft schließlich an Cézannes totaler Ichbezogenheit. Allerdings lässt der Film von Danièle Thompson an dieser Stelle eine etwas andere Wendung zu als das damalige wahre Leben. Immerhin soll Cézanne nach Zolas Tod trotz des Zerwürfnisses mehrere Tage geweint haben.

Die Faszination im Kino geht natürlich nicht nur von dieser Geschichte aus, sondern mehr noch von der schauspielerischen Leistung der beiden Hauptdarsteller: Guilllaume Canet als Emile Zola und Guillaume Gallienne als Paul Cézanne spielen sehr facettenreich – nicht umsonst gehören sie zur ersten Reihe der französische Film- und Theaterschauspieler.

Für die Kulturgeschichte unseres Nachbarlandes haben die beiden dargestellten Künstler eine herausragende Bedeutung. Und obwohl sie bei uns nicht diese Bekanntheit erreichen, war der Kinosaal an einem normalen Wochentags-Nachmittag ausverkauft. Das lässt hoffen.

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Der Film ist derzeit (bis mindestens Mittwoch, 19. Oktober) in folgenden Ruhrgebiets-Kinos zu sehen:
„Camera“ (Dortmund): 16:30 Uhr
„Casablanca“ (Bochum): 15:00 und 18:30 Uhr
„Filmstudio Glückauf“ (Essen): 14:45 und 20:00 Uhr.




Geheimnis des Dampfers: „Passagier 23“ im Westfälischen Landestheater

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Unter Druck: Kriminalist Martin Schwartz  (Guido Thurk) (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Martin Schwartz ist ein tragischer Held. Frau und Kind hat er auf einer Kreuzfahrt verloren und voll der Seelenpein beschlossen, nie wieder ein Kreuzfahrtschiff zu betreten. Vor allem nicht die „Sultan of the Seas“, denn auf ihr spielte sich das schreckliche Geschehen ab, dessen genauer Hergang indes im Dunklen liegt. Doch dann erreicht den verbitterten Polizeipsychologen ein Hilferuf, dem er sich nicht verweigern kann. Und bald schon spürt er auf tiefen Decks und in dunklen Winkeln dem bösen Geheimnis des Dampfers nach. Denn weitere Kinder und Mütter sind verschwunden. Mehr oder weniger jedenfalls.

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Detektiv Martin Schwartz mit Teddybär und neugierige Rentnerin mit Rollator (Vesna Buljevic) bringen die Handlung voran. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

„Passagier 23“ heißt das Krimistück, das das Westfälische Landestheater nun in sparsam-stimmiger Kulisse (Anna Kirschstein) und in der Regie von Lothar Maninger zur Aufführung bringt. Vorlage ist der Kriminalroman „Passagier 23“ von Sebastian Fitzek, aus dem Christian Scholze die Bühnenfassung machte.

Ihren Titel verdanken Buch und Stück dem denkwürdigen Umstand, dass in der weltweiten Kreuzschifffahrt jährlich 23 Menschen mehr oder minder spurlos verschwinden. „Passagier 23“, verrät uns das Stück, ist deshalb ein stehender Begriff für die Schiffsbesatzungen geworden, der stets auch Stress und Ärger bedeutet. Außerdem kostet es viel Geld, einen Dampfer für Stunden anzuhalten und den Passagier zu suchen, der möglicherweise über Bord gegangen ist.

Skrupellose Reedereien

Noch größer aber wird der Ärger, wenn so ein verlorengegangener Passagier plötzlich wieder auftaucht. Da weiß man nicht, wie lange die Polizei das Schiff im nächsten Hafen festhalten wird, und der Papierkram ist lästig. Am besten lässt man so einen Widergänger wieder verschwinden. Die Story von „Passagier 23“, die natürlich, wie sich das für einen Krimi gehört, vieles lange im Dunklen oder Halbdunklen belässt, lenkt des Publikums Vermutungen zunächst in diese Richtung: Lassen skrupellose Kreuzfahrtreedereien und ihre Kapitäne Passagiere verschwinden, um sich Ärger vom Hals zu halten?

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Szene mit Kapitän Bonhoeffer, den Bülent Özdil gibt (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Schlüsselbegriffe wie Schiff, Schiffbrüchige, Meer und so weiter hatten in der Ankündigung des Westfälischen Landestheaters natürlich sofort auch an Bootsflüchtlinge, Migration „Massengrab Mittelmeer“ und so weiter denken lassen. Doch erstaunlicherweise kommt das alles hier nicht vor. „Passagier 23“ ist tatsächlich ein von vorn bis hinten durcherzählter Kriminalstoff, mit Tätern, Opfern, Geretteten und Überlebenden. Man kann sich ganz entspannt zurücklehnen und auf gute Unterhaltung hoffen.

Racheengel

Ein bisschen Problemstoff wurde allerdings schon verwoben, und die Lösung der Geschichte ist schließlich auf dem großen Themenfeld „sexueller Missbrauch“ zu finden. Doch sind hier ausnahmsweise nicht vergewaltigende Männer die Bösen, sondern…

Die Geschichte, die man uns hier erzählt, hat jedenfalls reiches Trash-Potential und bittet geradezu um ein wenig parodistische Überhöhung.

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Verdammt, ein Elektroschocker! Detektiv Schwartz muß in seinem Beruf schwer leiden. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Doch nichts davon in Castrop-Rauxel, in einer knapp zweistündigen Produktion samt Pause. Das dramatische Konzept, wenn man es so nennen will, ist einem Kinofilm nachempfunden. Besondere inszenatorische Möglichkeiten des Theaters, das ja immerhin eine Live-Veranstaltung ist, werden praktisch nicht genutzt.

Trotz intensiven Gebrauchs von Notebooks und Mobiltelefonen wirkt das ganze wie ein Relikt aus Opas Krimi-Boulevard, einem „Whodunnit“ Agatha Christies nicht gänzlich unähnlich und ganz kräftig aus der Zeit gefallen.

Von vorne bis hinten spannend

Wer andererseits konzentriertes, kammerspielhaftes Theater mag, das vor allem von den Dialogen lebt, kommt hier durchaus auf seine Kosten. Der Gang der Handlung gliedert sich schlüssig in viele kleine Szenen, die durch kurze Dunkelphasen voneinander getrennt werden, was der filmischen Erzählweise mit wechselnden Spielorten recht nahe kommt.

Wohltuend ist zudem der Verzicht auf Videoeinsatz sowie eine sparsame, effektive Lichtersetzung. Durchaus bemerkenswert schließlich die wenigen, aber treffsicheren Kunstgriffe, mit denen durch wechselnde Hintergrundprojektionen und sparsame Requisiten unterschiedliche Handlungsorte (Schiffsinneres, Kapitänskajüte, Reling usw.) entstehen. Und im wesentlichsten Punkt funktioniert Sebastian Fitzeks „Passagier 23“ ganz tadellos: Die Geschichte ist von vorne bis hinten spannend, man langweilt sich keine Minute.

Als unerschrockene Amateurdetektivin mit rotem Rollator hinterlässt Vesna Buljevic einen starken Eindruck. Mayke Dähn und Pia Seiferth als Mutter und Tochter Lamar sind Fleisch gewordenes Zerwürfnis. Neben den Gästen Mike Kühne und Franziska Ferrari sorgen Bülent Özdil, Samira Hempel und Maximilian von Ulardt aus dem WLT-Ensemble für einen alles in allem doch sehr erfrischenden Theaterabend. Das Publikum in der Stadthalle applaudierte frenetisch.

  • Termine 2016:
  • 24.10. Bottrop, Josef-Albers-Gymnasium
  •  3.11. Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
  •  4.11. Witten, Saalbau
  •  8.11. Heinsberg, Stadthalle
  • 12.11. Hamm, Kurhaus
  • 16.11. Solingen, Theater
  • 24.11. Lünen, Heinz-Hilpert-Theater
  • 20.12. Castrop-Rauxel, Studio
  • www.westfaelisches-landestheater.de



Nobelpreis für Bob Dylan – nun gut!

Nun hat er ihn also: Bob Dylan ist der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2016. Endlich, endlich. Hosianna! Doch obwohl ich ihn seit Jahrzehnten verehre, ist mir diese Ehrung letztlich gleichgültig.

Ein paar Sachen aus dem Plattenregal. (Foto: BB)

Beispielsweise: ein paar Dylan-Sachen aus dem heimischen Plattenfundus. (Foto: BB)

Wenn es ihm denn Freude und Genugtuung bereitet, so ist es gut. Nur, ganz ehrlich: Hat er und haben „wir“ (sprich: unsere Generation(en)) es denn wirklich noch nötig, dass eine bisweilen arg verschnarchte Jury ihn mitsamt seiner Musik auf diese Weise – viel zu spät – in seinem einzigartigen Rang bestätigt? Fürwahr nicht.

Viele von den Allerbesten haben den Preis nie erhalten. Nüchtern besehen, ist es eigentlich keine besondere Zierde, dass sie ihn jetzt doch noch erkoren haben. Wahrscheinlich wird das nun alles wieder ungemein politisch gedeutet, womöglich als machtvolles Zeichen gegen den tumben Trump, als Signal des wahrhaftigen amerikanischen Geistes…

Wie gut, dass wir im nächsten Jahr nicht mehr spekulieren müssen, ob Dylan ihn kriegt.

Ich mache es mir hinfort leicht und komme auf meine Zeilen zu Bob Dylans 75. Geburtstag zurück, die am 23. Mai in den „Revierpassagen“ erschienen sind und von denen ich auch jetzt nicht abrücken möchte:

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Der Blick ins Rocklexikon bestätigt es: Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 geboren, er wird also jetzt 75 Jahre alt. Geburtsort war Duluth/Minnesota, danach wuchs Dylan – bürgerlich bekanntlich Robert Zimmerman(n) – in der Grubenstadt Hibbing auf. Er hat, wenn man so will, Wurzeln in einem Bergbau-„Revier“. Auch darüber hat er ja den einen oder anderen Song gemacht.

Doch wir wollen etwaige Analogien zum Ruhrgebiet nicht weiter treiben, es wäre lächerlich. Jedenfalls war Dylan durch solcherlei Herkunft wohl „geerdet“, er hat gewusst, wie gewisse Härten des Lebens sich anfühlen. Dass er hernach für die Schwachen und Erniedrigten Partei ergriffen hat, war nur folgerichtig.

Der Blick ins Plattenregal zeigt: Von keinem Künstler (ausgenommen Neil Young) habe ich so viele Platten und CDs wie von Bob Dylan. Warum wohl? Die Antwort drängt sich wiederum beim Blick ins eigene Innenleben auf. Seine Musik und seine Wesensart haben mich, wie so viele aus meiner Generation, durch all die Jahre und Jahrzehnte begleitet, mal inniglich, mal auf Hörweite, mal etwas entfernt. Manche seiner Songs waren und sind immer da. Und das wird so bleiben, selbst wenn eines Tages… Nein, ich mag nicht daran denken.

Dabei habe ich seine Anfänge damals gar nicht wahrgenommen, sondern ihn erst auf dem Umweg über die Beatles (mein musikalisches „Erweckungs“-Erlebnis schlechthin), Stones, Small Faces usw. kennen gelernt, als auch er (1965 beim Newport Folk Festival) die elektrischen Verstärker einstöpselte. Was immer er getan hat, hat die Fans – so oder so – gleichermaßen bewegt und oft erregt, wie die Musikerkollegen. Er ist wahrscheinlich der einflussreichste Protagonist der populären Musik überhaupt.

Man hat dann halt mehr oder weniger andächtig nachgeholt, was Dylan vorher so fabriziert hatte. Es war eine vielfältige Welt für sich, mit weit gespanntem Horizont: Da waren die so genannten Protestsongs, authentischer Blues, die allerschönsten Liebeslieder und zwischendurch mal etwas religiöser Kitsch. Auch das war verzeihlich. Kein Künstler ist immerzu auf gleicher Höhe. Nicht einmal diese mythische Gestalt.

Literaturnobelpreis – was soll’s?

Schon seit einigen Jahren ertönt die Forderung immer lauter, man möge ihm doch endlich den Literaturnobelpreis zuerkennen. Dann würde eine ganze Generation nicht nur ihn, sondern sich selbst feiern und abermals in „Forever Young“-Seligkeit schwelgen. Mit literarischen Legenden wie Rimbaud, Villon und William Blake hat man ihn vergleichen wollen, mit den Surrealisten, natürlich auch mit Dylan Thomas, von dem sich Dylans Künstlername herleitet. Und und und. Ganz ehrlich: Mir ist es einerlei, ob er den Nobelpreis erhält. Die meisten genialen Autoren haben ihn nicht bekommen.

Ist er nun in erster Linie Dichter oder Musiker? Auch das ist eine müßige Frage. All seine Antikriegs-, Liebes-, Freiheits- und auch Glaubensbotschaften sind zutiefst in seine Musik eingesenkt, diese hat ihren eigenen Goldstandard. Weil dann noch sinnstiftende (und kunstvoll sinnverweigernde) Poesie hinzu kommt und mit der Musik untrennbar verwoben ist, wird spätestens klar, dass Popmusik auf hochkulturelle Pfade führen kann. Doch wer wollte das noch bezweifeln? Derlei Debatten sind ja längst ausgestanden, nicht zuletzt dank Dylan.

Die endlose Tournee

Der nun doch schon etwas ältere Mann befindet sich weiterhin auf seiner „Never Ending Tour“, die er nur kurz unterbricht, um seinen Geburtstag zu feiern. Anschließend geht es wieder und wieder auf die Bühnen, derzeit kreuz und quer durch die USA. Wahrscheinlich hört er mit solchen Rundreisen erst auf, wenn sich eines seiner berühmtesten Lieder für ihn erfüllt: „Knockin’ on Heaven’s Door“.

Wer ihn je im Konzert erlebt hat, weiß, dass Dylan zwischen den Songs wahrlich nicht lange schwafelt, sondern nur die allernötigsten Ansagen macht. Wie seine Klassiker, die das Publikum immer und immer wieder hören will (am liebsten mit Mundharmonika), dann tatsächlich live klingen, das weiß man vorher nie.

Er richtet seine Kreationen stets wieder anders zu, zuweilen hat er sie den Zuhörern auch lustlos hingeworfen, als wären es wertlose Bruchstücke. Erwartungen zu bedienen, ist seine Sache noch nie gewesen. Ich hatte das Glück, bei seinen Auftritten auch erhabene, strahlende Momente wie für die Ewigkeit zu erleben. Naja, für die Lebzeiten-Ewigkeit. Und ein bisschen darüber hinaus.

Und er kann doch singen

Immer wieder haben Leute spöttisch behauptet, Bob Dylan könne nicht singen, sondern nur nuscheln und näseln. Das ist natürlich Quatsch. Er singt wie kein anderer, auf ureigene Art perfekt phrasiert und mit untrüglichem Gespür fürs richtige Wort im richtigen Augenblick. Er singt eben so, wie seine Songs gesungen werden müssen; auch dann, wenn er sie mal mit Ingrimm selbst verhunzt. Millionen haben es probiert, doch es ist blanker Unsinn, einen solchen Sound nachzuahmen. Es kann nie und nimmer gelingen. Und es geht bei all dem nicht um stimmliche Glockenreinheit.

Es gibt einen Film, der ein lang zurückliegendes Treffen zwischen Donovan (kürzlich 70 geworden) und Dylan zeigt. Irgendwo backstage spielen die beiden einander etwas vor. Zuerst Donovan. Sehr schön, fürwahr. Er war ja auch kein Stümper. Dylan selbst soll einmal gesagt haben, Donovan sei der bessere Gitarrist. Doch dann greift Dylan ungemein lässig zum Instrument – und vom ersten Ton an ist klar, dass seine Schöpferkraft, seine Präsenz und sein Charisma Donovans Habitus bei weitem übersteigen.

Welches sein allerbester Song sei? Darüber könnte man ebenfalls lange palavern. Ich halte es vor allem mit einigen früheren Titeln, darunter „Love minus Zero (No Limit)“, „All Along the Watchtower“, „Just Like a Woman“, „Shelter From the Storm“ oder „Lay Lady Lay“. Ach, jetzt könnte ich doch noch Dutzende nennen, nahezu unaufhörlich, aber ich lasse es bleiben. Wer will schon einzelne Sterne vom Firmament zupfen?




Ohne Profil: Essener „Norma“-Inszenierung erstickt in Belanglosigkeit

Große Gesten, wenig Inhalt: Katia Pellegrino als Norma in Vincenzo Bellinis Oper am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Große Gesten, wenig Inhalt: Katia Pellegrino als Norma in Vincenzo Bellinis Oper am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Norma ist sauer. Bisher war es gelungen, ihre gallischen Landsleute ruhig zu stellen. Jetzt regt sich der Widerstand gegen die römischen Besatzer. Die Geduld ist am Ende. Norma hat ein vitales Interesse, den Konflikt zu dämpfen: Die zur Keuschheit verpflichtete Priesterin pflegt seit Jahren eine verborgene Beziehung, noch dazu zu einem Römer, dem kommandierenden Prokonsul der Besatzungstruppen.

Noch einmal will sie die Lage unter Kontrolle halten: „Sediziose voci“, ihr Auftritt in Bellinis wohl berühmtester Oper, weist die aufrührerischen, kriegerischen Stimmen in die Schranken. Doch in der neuen „Norma“ am Aalto-Theater Essen, der ersten von nur fünf Neuinszenierungen der Saison, wendet sich Katia Pellegrino, ganz in Weiß, ans Publikum. So als ob der Unmut aus dem Essener Publikum und nicht aus den Reihen der brav angetretenen, ordentlich gereihten Gallier käme.

Was Tobias Hoheisel und Imogen Kogge in ihrer Regiearbeit präsentieren, mag Anhängern von „Werktreue“ angemessen vorkommen, ist aber tatsächlich weit von dem entfernt, was Vincenzo Bellini seinem Genius und Felice Romanis gekonnten Versen abgewonnen hat. Norma wird noch öfter das Parkett ansingen; auch der Römer Pollione und seine neue heimliche Geliebte Adalgisa werden in Hoheisels kalt glänzendem Bühnenbeton – oder sind es metallisch angestrahlte Bretter? – ihre Kantilenen brav aufgereiht von sich geben.

Zwischen zwei drehbaren Halbkreisen, die sich problemlos für die nächsten Premieren von „Lohengrin“, „Le Prophète“ oder  „Rigoletto“ wiederverwenden ließen, wird viel gestanden und würdig dahergeschritten. Der Chor bewegt sich nach den Mustern der italienischen Provinz der siebziger Jahre; ringende Hände und schräg gelegte Köpfchen wollen ein Drama szenisch vergegenwärtigen, in dem jede der flammenden Emotionen ins Extrem gesteigert wird. Denn die Schönheit der Melodien Bellinis darf nicht mit klassizistischer Gemessenheit verwechselt werden.

Für die Qualität einer Inszenierung – das muss gelegentlich betont werden – ist nicht entscheidend, ob sie sich aktueller politischer Chiffren oder der inzwischen auch zur Konvention erstarrter Versatzstücke des Regietheaters bedient. Man braucht Pollione nicht als Donald Trump oder Norma im billigen Top, um aus Bellinis Oper herauszudestillieren, was gerade als aktuell empfunden werden könnte. Man muss sich nicht den Konzepten anschließen, die in den letzten Jahren etwa in Bonn oder jüngst in Gelsenkirchen und Mainz zu packend zugespitzten, sicher auch anfechtbaren Deutungen geführt haben. Aber diese Inszenierungen hatten, was der Essener Premiere abgeht: Profil und Mut zur inhaltlichen Positionierung.

Norma (Katia Pellegrino) und Adalgisa (Bettina Ranch). Foto: Matthias Jung.

Norma (Katia Pellegrino) und Adalgisa (Bettina Ranch). Foto: Matthias Jung.

Hoheisel und Kogge packen ein Gesten- und Bewegungsrepertoire aus, das spätestens seit den neunziger Jahren ins Museumsdepot gehört. Wie die italienische Primadonna den Busen hebt und die Fäuste von sich streckt, erreicht nicht einmal minimale psychologische Glaubwürdigkeit. Als sich die beiden Damen, Norma und Adalgisa, in ihrem Duett im zweiten Akt am Souffleurkasten lagern wie Goethe in der Campagna, scheint der Gipfel dekorativer Belanglosigkeit erreicht. Doch weit gefehlt: Diese zweifelhafte Ehre gebührt dem orangeroten Licht, das Wolfgang Göbbel nach drei Stunden inspirationsloser Ausleuchtung zum Finale von hinten aufglühen lässt: der Scheiterhaufen! Der Abend der „großen Gefühle“, den Intendant Hein Mulders bei der Premierenfeier hervorgehoben hat, findet jedenfalls auf der Szene nicht statt.

Das war zum Glück musikalisch anders: Nicht so sehr bei Dirigent Giacomo Sagripanti, der das Orchester mit viel Liebe zur Melodie, aber oft nur beiläufigem Blick auf instrumentale Details und begrenzter Finesse der metrischen Flexibilität führt. Aber Jens Bingerts Choreinstudierung überzeugt nicht nur im martialischen Vorzeigestück des „Guerra! Guerra!, sondern auch im emotionalen Ausnahmezustand im Finale.

Unter den Solisten gelingt dem neuen Ensemblemitglied Bettina Ranch als Adalgisa die Balance zwischen technisch superbem, von feinem Glanz geadeltem Gesang und emotionaler Hingabe. Schöne Stimmen aus dem Ensemble hört man auch in den Nebenrollen: Albrecht Kludszuweits Tenor kann als Flavio unangespannt leuchten, Liliana de Sousa zeigt als Clotilda eine samtene Noblesse, die man in einer größeren Rolle gerne genauer studieren würde. Insung Sim kann als Oroveso nur wenige Kostproben eines klangvollen, abgerundeten Basses geben.

Die Rache findet nicht statt. Gianluca Terranova (Pollione) und Katia Pellegrino (Norma) am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Die Rache findet nicht statt. Gianluca Terranova (Pollione) und Katia Pellegrino (Norma) am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Katia Pellegrino hat 2012 in der legendären „Norma“-Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito in Stuttgart die Titelpartie gegeben. Dort waren die seelischen Kämpfe und Verwundungen der zweifachen Mutter, die ihr öffentliches Amt beschädigt, und der Priesterin, die ihre menschlichen Regungen verbergen muss, psychologisch detailliert ausinszeniert.

Pellegrino hat davon nichts mitbringen können, sie ist in Essen wieder auf das antiquierte Rollenbild mit seinen Primadonna-Zügen und seinem hohlen Heroismus festgelegt. Zunächst sieht es so aus, als trete sie in die Spur veristisch geprägter Norma-Darstellerinnen mit wuchtigem Timbre und von stilistischer Finesse nicht angekränkelten Tönen. Doch in der Belcanto-Probe von „Casta diva“ lässt sie mit einem gestützten, weich geformten Piano-Beginn aufhorchen und entwickelt einen schwellenden, satten, aber kaum einmal übertrieben üppigen Klang.

Auch die Duette mit Adalgisa und der große Monolog zu Beginn des zweiten Akts sind bei Pellegrino ausdrucksstarkes, mit technischer Präzision und expressivem Instinkt gestaltetes Singen. Das würde man gerne auch über den Pollione Gianluca Terranovas sagen, der ihm weit besser gelingt als sein Don Carlo an der Düsseldorfer Rheinoper. Aber in seinem Auftritt („Meco all’altar di Venere“) stellt er doch eher die Stimme aus, als an den Schattierungen zu feilen, mit denen er die unheimliche Traumvision einer gespenstisch gestörten Hochzeit hätte ausdrücken können. Und Terranovas Piani – die für seinen Gestaltungswillen zeugen – scheitern dann an mangelnder Formung und Stütze.

Am Ende wurde das Regieteam buhlos gefeiert; der Beifall zögerte nur kaum merklich und schwoll gleich wieder an, als sei es gleichgültig, wie diese Inszenierung Bellinis Oper an die Bedeutungslosigkeit verraten hat.

Aufführungsdaten und Karten: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/norma.htm




Innenleben einer Bibliothek: Frans Kellendonks „Buchstabe und Geist“ erstmals auf Deutsch

Eine Bibliothek als Schauplatz eines Romans, kann das spannend sein? Auch wenn hinter den Regalen kein Mord geschieht, kein mittelalterlicher Mönch die Bücher vergiftet, keine Kinder gezeugt werden – die ganz alltäglichen Benutzer einer Universitätsbibliothek und das dort beschäftigte Personal reichen zur Ausstattung eines guten Romans völlig aus.

Schreiben und Übersetzen sind einsame Tätigkeiten. Mancher der so Arbeitenden kann auf Dauer der Versuchung nicht widerstehen, seinen Lebensunterhalt in einem geselligeren Arbeitsumfeld zu verdienen. Der niederländische Autor und Übersetzer Frans Kellendonk nahm, wie wir aus dem Nachwort erfahren, von Januar bis April 1979 eine Stelle in der altehrwürdigen Universitätsbibliothek Leiden an. Wenn auch der Name der Stadt im Roman ungenannt bleibt, wenn auch der Protagonist Felix Mandaat zuvor seine freiberufliche Tätigkeit nicht mit literarischen Erzeugnissen, sondern mit der Organisation von Kongressen bestritten hatte, dürfte Kellendonk die Erfahrungen als Bibliothekar für seinen Roman „Buchstabe und Geist“ verwertet haben.

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Das Aufgehen in einer Gemeinschaft – kann ein solcher Wunsch nach Zugehörigkeit nicht eher im Kreis selbstgewählter Freundinnen und Freunde, beim regelmäßigen Stammtisch oder im Verein erfüllt werden? Ist die Hoffnung, sich über eine Institution zu definieren, auf deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter man als Neuling keinen Einfluss hat, nicht zum Scheitern verurteilt und der Ausgang von Mandaats Selbstversuch voraussehbar? Möglich. Jedoch sind die in einer Bibliothek beheimateten Charaktere – ihre Benutzer gleichermaßen wie die Angestellten – durchaus literaturwürdige Geschöpfe.

In der Universitätsbibliothek trifft man natürlich Studierende, daneben Privatgelehrte, komische Käuze und auch Menschen, die sich aufwärmen möchten und am liebsten über einem Buch einschlafen.

Da ist der Übersetzer, der mit dem Bibliotheksangestellten alle möglichen Synonyme diskutieren will. Unter den Kollegen ist manch einer ein verhinderter Wissenschaftler, dessen sporadische Veröffentlichungen, die gleichwohl seine Eitelkeit nähren, für eine Universitätskarriere nicht ausreichten. Vom Bibliotheksdirektor heißt es, er beherrsche fast fünfzig Sprachen, darunter die in unseren Breiten seltener gehörten wie Oriya, Cebuano, Hiligaynon, aber auch frei erfundene wie Telalog. Kollegen helfen sich gegenseitig mit passenden Ausdrücken aus, wenn einer mal vergessen hat, wie er den Satz beenden wollte.

Bedeutender noch als die Angestellten, mit denen Mandaat tatsächlich zusammenarbeitet, ist für ihn ein dauerhaft Abwesender: Meneer Brugman, der sich auf unbestimmte Zeit hat beurlauben lassen und dessen Lücke Mandaat ausfüllen soll. Gleich bei der Arbeitsaufnahme wird Felix Mandaat als „der Vertreter für unseren Meneer Brugman“ begrüßt, und ein Kurier, der nur Kriegsbücher liest, spricht ihn unumwunden an: „Du bist doch der neue Meneer Brugman?“

Frans Kellendonk (© Stichting Frans Kellendonkfonds)

Frans Kellendonk (© Stichting Frans Kellendonkfonds)

Einmal nimmt sich Mandaat ein Herz und wählt Brugmans Telefonnummer, erreicht aber nur dessen ahnungslose Vermieterin, die ihm rät, es auf der Arbeitsstelle zu versuchen. Mandaats schwangere Assistentin, Mevrouw Qualing, weist ihn immerzu darauf hin, wie Meneer Brugman bestimmte Arbeitsabläufe ausgeführt hat. Gerüchte kursieren, Brugman und nicht etwa ihr Ehemann könnte der Vater des in ihr heranreifenden Kindes sein, aber für den Fortgang der Handlung ist die Antwort (wie so manches) unerheblich.

In seiner Abwesenheit bleibt der Vorgänger zugleich geisterhaft präsent, was den Untertitel „Eine Spukgeschichte“ aber nur vordergründig erklärt. Mag es in dem Magazin der Bibliothek ein bisschen spuken oder auch nicht, unheimlich wird es erst, als ein Kollege dem Protagonisten helfen will, die Geistererscheinung aufzuklären, und sich dabei zu beschämenden Bekenntnissen hinreißen lässt. Doch auch wenn uns der Autor tief in seelische Abgründe blicken lässt, denunziert er seine Figuren nie. Ob er sie mag? Das steht auf einem anderen Blatt.

Beim munteren Fabulieren wird das Erzählen selbst zu einem Thema. In einer der Kaffeepausen erzählt Mandaat die Geschichte seines Großvaters, der auf dem Motorrad, stocksteif vor Kälte und ohne jegliches Gefühl in Armen und Beinen, im Panzer der durch gefrorenen Schweiß starren Kleidung die Maschine weder lenken noch abbremsen kann und an der üblichen Ausfahrt vorbei auf ein ungewisses Ziel zusteuert (Kapitel „Phaeton“). Dabei überlegt der Erzählende unausgesetzt, wie er dem von ihm geschaffenen Erwartungsdruck seiner Zuhörerinnen und Zuhörer am Ende gerecht werden könnte.

Als nach gut drei Monaten klar ist, dass Brugman nicht mehr zurückkommen wird, und Mandaat von seinem Vorgesetzten eine Festanstellung angeboten bekommt, weiß er nichts zu sagen. Im nächsten und zugleich letzten Kapitel befinden wir uns auf Mandaats unspektakulärer Abschiedsfeier in einer gemütlichen holländischen Kneipe. Ein bisher wenig in Erscheinung getretener, ihm nicht unsympathischer Kollege begleitet Mandaat zum letzten Mal zum Bahnhof. Es stellt sich der Eindruck ein, in diesem nicht geradlinig erzählten Roman hätten ebenso gut andere Figuren in den Fokus rücken können.

1982, als der Roman des damals einunddreißigjährigen Autors in den Niederlanden erschien, war viel von postmodernen Erzählkonzepten die Rede. Bei aller Kühnheit der Konstruktion, allen Formexperimenten, Elementen eines Ideenromans und Auflösung des Plots erfüllt „Buchstabe und Geist“ dennoch in hohem Maße Kellendonks Anspruch, unterhaltsam zu sein. Der Erfolg des früh zu einem Kultautor aufgestiegenen Frans Kellendonk, der mit neununddreißig Jahren an AIDS starb, zeugt – trotz aller Fremdheit gegenüber dem Bibliothekspersonal – eindeutig von einer Verbundenheit mit einer größeren Gemeinschaft.

In der gelungenen Übersetzung durch Rainer Kersten ist der Roman jetzt als Band 21 in der schönen Reihe der „Lilienfeldiana“ veröffentlicht worden. Für die Einbandgestaltung hat der Verlag ein Gemälde des in Düsseldorf lebenden Malers Peter Rusam verwendet. In seinem klugen und kenntnisreichen Nachwort erwähnt der Übersetzer einige weitere, noch nicht ins Deutsche übertragene Werke Frans Kellendonks. Bleibt zu hoffen, dass wir – sofern wir des Niederländischen nicht mächtig sind – von diesem stilsicheren Ausnahmeautor demnächst noch mehr auf Deutsch werden lesen können.

Frans Kellendonk: „Buchstabe und Geist. Eine Spukgeschichte.“ Aus dem Niederländischen und mit einem Nachwort von Rainer Kersten. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. 170 Seiten, 19,90 Euro.




Ein Finanzjongleur auf der Flucht – Martin Mosebachs eleganter Roman „Mogador“

978-3-498-04290-5Er ist offensichtlich ganz tief in schmutzige Finanzgeschäfte verstrickt und wurde gerade von der Polizei verhört. Da entscheidet sich der Düsseldorfer Banker Patrick Elff von einem Moment auf den anderen zu einer durchaus filmreifen Flucht.

Der junge Mann, einer der Hauptfiguren in Martin Mosebachs neuem Roman „Mogador“, springt direkt nach seinem Termin auf dem Polizeipräsidium aus dem Fenster, macht sich auf dem Weg zum Flughafen und steigt in einen Flieger mit dem Ziel Marokko. In Mogador (portugiesischer Name der Hafenstadt Essaouira) hofft er, vor den Fahndern in Sicherheit zu sein.

Dass sich der Finanzjongleur ausgerechnet nach Marokko begibt, hat mit seinen weit verzweigten Kontakten zu tun, die angesichts solch heikler Situationen schon mal ganz hilfreich sein können. Die Ungewissheit soll ihn aber noch länger begleiten.

In der Geschichte, die der Autor nun entwickelt, spielen die schmutzigen Bankgeschäfte eher eine Nebenrolle. Spannender sind die Verhältnisse, in denen der getürmte Spitzenbanker nun Unterschlupf findet. Auch seine „Gastgeberin“ Khadija bessert unter anderem mit Geldverleih ihr Einkommen auf und nimmt es bei ihren Geschäften nicht immer ganz so genau. Doch sie allein auf das Finanzgebaren zu reduzieren, würde der Figur nicht gerecht.

Mosebach zeichnet das Bild einer Frau, die lange Jahre ein biederes Leben geführt hat, bis ihr schwere Schicksalsschläge widerfuhren. Zwei Ehemänner starben bei Unfällen, ihr Sohn ist geistig behindert. Doch von wirklichen Zweifeln an sich oder an ihrem Dasein scheint sie nicht geplagt zu sein. Ganz allmählich lässt sie ihr altes Leben hinter sich und ist vor allem darauf bedacht, die Kontrolle über sich und ihre Umgebung, Freunde, Bekannte, Geschäftspartner eingeschlossen, nicht zu verlieren.

Es ist beeindruckend, wie es dem Autor gelingt, den allmählichen Wandel dieser Khadija anschaulich und nachvollziehbar zu beschreiben. Ist sie anfangs noch ein Mensch, dem das Leben zu entgleiten droht, hat sie bald alles im Griff. Sie verdient zunächst ihr Geld als Hure, wird später zur Kupplerin und kümmert sich schließlich sogar um einen sehr eigentümlichen Imam, dem magische Kräfte nachgesagt werden. Sie ist von Eigeninteressen geleitet, denn sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass ihr Sohn – durch welche Methoden auch immer – geheilt werden könnte.

Patrick Elff tritt in ihr Leben, weil sie ihm eine Wohnung zur Verfügung stellen kann. Dort hofft er, vor seinen Häschern in Sicherheit zu sein. Doch Mosebach charakterisiert den Banker keineswegs als einen Mann, der ständig in Angst lebt oder mit dem Leben hadert. Vielmehr malt sich der Geflüchtete aus, wie Kollegen in der Bank und vor allem seine Lebensgefährtin Pinar wohl versuchen, ihn irgendwie zu erreichen. Dass man in Sorge um ihn sein könnte, scheint Patrick Elff eher unbedeutend zu sein. Dieser Finanzmensch ist wohl jemand, der – ähnlich wie Khadija – sehr rational den Fährnissen des Lebens begegnet. Doch manche seiner Gedanken an Pinar legen aber die Vermutung nahe, dass es ihm nicht immer gelingt, Herr über seine Emotionen zu sein.

Das Ende der Geschichte ist schließlich sehr überraschend und lässt auch durchaus manche Fragen offen. Lesenswert ist das Buch insbesondere auch deshalb, weil hier spannende Biografien auf sehr ungewöhnliche Art miteinander verwoben werden. Mosebachs Sprache kommt dabei äußerst elegant daher, wirkt allerdings stellenweise auch schon mal antiquiert oder verschnörkelt.

Und übrigens: Dass in diesen Zeiten eine Flucht von Deutschland nach Afrika führt, das hat schon eine besondere Note.

Martin Mosebach: „Mogador“. Roman. Rowohlt Verlag, 367 Seiten, 22,95 Euro.




Kunst ist verbindlich – Emilio Vedova und Georg Baselitz in der Duisburger Küppersmühle

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Emilio Vedova und Georg Baselitz auf der Documenta in Kassel, 1982. (Foto: Benjamin Katz/MKM)

„Männerfreundschaft“ wäre vielleicht ein zu starkes Wort. Aber Georg Baselitz, der damit berühmt wurde, dass er seine geschundenen Helden gerne kopfüber auf die Leinwand setzte, und Emilio Vedova, der wohl bedeutendste Vertreter eines italienischen abstrakten Expressionismus, kannten und schätzten sich. Mehrfach auch waren Arbeiten von beiden in den selben Ausstellungen zu sehen, etwa auf der Biennale in Venedig 2007. Nie aber gerieten diese Doppelpräsentationen so üppig wie jetzt die in der Duisburger Küppersmühle.

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Emilio Vedovas „Compresenze ’82 – 2“ von 1982, 300 x 190 cm groß, Dispersion, Pastellfarbe, Kohle, Nitrolack und Sand auf Leinwand (Foto: Fondazione Emilio e Annabianca Vedova/Vittorio Pavan/MKM)

Politisches Verständnis

Warum Georg Baselitz, Jahrgang 1938 und der figürlichen Darstellung doch lebenslang verbunden, gerade am Schaffen Vedovas so viel Interesse entwickelte, erschließt sich nicht automatisch. Denn Vedova, 19 Jahre älter als Baselitz und 2006 verstorben, war ein recht typischer Vertreter des Nachkriegs-Informel, gehörte zur Generation von Emil Schumacher, K.O. Goetz oder Fred Thieler auf deutscher Seite.

Doch in der Tat kaufte Baselitz im Jahre 1957, da war er gerade 19 Jahre alt, sich seinen ersten Vedova, das Gemälde „Manifesto Universale“. Woher kam das Interesse? Vielleicht aus einem entschieden politischen Verständnis von Kunst bei beiden, aus einem obsessiven Verhältnis zu Politik und Geschichte, Mythischem und Menschlichem. Beide, ein Indiz vielleicht, ließen sie ihre Arbeiten selten ohne präzise Titel, mochte sich die Bezüglichkeit in den Werken auch auf den ersten Blick nicht darstellen.

Petersburger Hängung

Recht zentral und in gemäßigt ungleichmäßiger „Petersburger Hängung“ begrüßt in Duisburg eine neue Werkreihe von Baselitz das Publikum: „Ma grigio“ (wörtlich „mein Graues“), überwiegend dunkle bis sehr dunkle, farbarme Bilder, die ein Andreaskreuz aus Unterschenkeln zeigen, deren Füße in hochhackigen Schuhen stecken. Das Motiv ist, sieht man von der Dunkelheit der Bilder ab, fast ein wenig neckisch und hat mit einem Hakenkreuz wohl eher nichts zu tun. Wären die Beinchen kreuzförmig angeordnet, sähe das anders aus, so aber herrscht doch die Assoziation „laufen“ vor.

Der Künstler hat den Bildern goldene Rahmen verpasst, und er hat ihnen auch Titel gegeben, die manchmal recht ausführlich und leider auf Italienisch sind: „Oggi è una giornata molto grigia“ („Heute ist ein sehr grauer Tag“) zum Beispiel. Manchmal aber auch geht es um direkte Begegnungen mit Künstlerkollegen, „Lucio getroffen“ zum Beispiel bezieht sich, so Walter Smerling, Chef des Duisburger Hauses, auf den minimalistischen Leinwandschlitzer Lucio Fontana. Auch Vedova sei latent präsent, und die Choreographie der Hängung von „Ma grigio“ folge der Idee eines Besuches in einer Vedova-Ausstellung.

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Georg Baselitz: Kleines Straßenbild 19 (von 28), 1979, aus der 28teiligen Serie, je 70 x 50 cm groß, Tempera und Öl auf Leinwand. (Foto: Sammlung Ströher/Georg Baselitz/Kunstmuseum Bonn/MKM)

Der Künstler kopfüber

Man liegt aber sicherlich auch nicht falsch mit der Annahme, dass das Museum Küppersmühle, das Georg Baselitz seit langen schon intensiv verbunden ist, eine besonders originelle Form für die Präsentation von dessen später, neuer Arbeit suchte und fand. Weitere ausgestellte Baselitz-Zyklen sind unter anderem in 12 Bildern „Ciao America“ von 1988 – große Blätter, denen eigen ist, dass sie sich mit zunehmender Ordnungszahl immer mehr mit Vögeln füllen, sowie die 28-teilige, angenehm informell wirkende, den Pinselduktus des Künstlers eindrucksvoll hervorhebende Reihe „Kleines Straßenbild“ (1979).

Eine Serie von Zeichnungen zu „Straßenbild“ bezieht den kopfstehenden Künstler mit ein. Auch ein „Adler“ (1972) ist zugegen, jener nämlich, der stets dem Absturz nah lange im Bundeskanzleramt hing. Festredner Gerhard Schröder, einst Bundeskanzler, wird sich gefreut haben, den Vogel einmal wiederzusehen.

Homogenes Oeuvre

Und Vedova? Seine Bilder stammen aus den 50er, 80er und 90er Jahren, sie zeigen eine frappierende Homogenität. Die formelle Befreiung der späten Jahre, die Fabrizio Gazzari von der Fondazione Vedova in Venedig beschwört, soll nicht bestritten sein, offenbart sich aber auf den ersten Blick nur dem geschulten Auge. Im Gegenteil ist man erstaunt, dass Schwarzweiß-Arbeiten, die man wegen des angegilbt wirkenden Untergrundes für besonders alt halten könnte, aus der Mitte der 90er Jahre stammen. Sie sind, so die Erklärung, „Pastell auf Schaumplatte“; das Trägermaterial dieser Platten ist von vornherein beige-gelblich und an einigen Stellen auch, schaut man genauer hin, so eingerissen, dass Montageschaum hervorquillt.

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Bild aus dem Zyklus „Ma grigio“ von Georg Baselitz: „Mehr oder weniger leise gesungen“ (2015), 203 x 125 cm groß, Öl auf Leinwand. (Foto: Galerie Thaddaeus Ropac/Georg Baselitz 2016/Jochen Littkemann/MKM)

Die Fondazione Vedova und die Küppersmühle, das ist schon beschlossene Sache, wollen weitere Gemeinschaftsprojekte anstoßen, in sinnhafter Bezüglichkeit weitere Künstler präsentieren. Fast so etwas wie der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, wie Walter Smerling im Termin nicht gänzlich humorfrei anmerkte. Gerhard Schröder, der Männerfreundschaften bekanntlich schätzt, hat sicher seine Freude daran.

  • „Baselitz – Vedova“
  • MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Philosophenweg 55
  • Bis 29. Jan. 2017
  • Geöffnet Mi 14-18 Uhr, Do-So 11-18 Uhr, Feiertage 11-18 Uhr
  • Eintritt Wechselausstellung 6,00 €, ganzes Haus 9,00 €
  • Katalog dt.-engl. 160 Seiten, 158 Abb., 34,00 €
  • www.museum-kueppersmuehle.de

 




Prächtige Schau im Kunstpalast: Hinter dem Vorhang offenbart sich das Geheimnis

Er hat’s. Dieses Gespür für das Publikum. Beat Wismer, der im nächsten Jahr – leider, leider – scheidende Generaldirektor des Düsseldorfer Museums Kunstpalast, möchte nicht nur in der Fachwelt reüssieren. Der gewitzte Schweizer will, dass alle hinsehen.

Das wird ihm, nach dem grandiosen Tschingderassabum der Tinguely-Maschinen, mit seiner letzten selbst kuratierten Schau wieder gelingen. „Hinter dem Vorhang“ präsentieren Wismer und seine Kollegin Claudia Blümle rund 200 Werke, die mit Verhüllung und Enthüllung zu tun haben – von der Renaissance bis heute. Um es unverhüllt zu sagen: Diese Ausstellung ist eine Pracht, und sie inspiriert den Betrachter auch ohne große Erklärungen.

Tizian: "Bildnis des Filippo Archinto" (© Philadelphia Museum of Art: John G. Johnson Collection - Foto: Philadelphia Museum of Art)

Tizian: „Bildnis des Filippo Archinto“ (© Philadelphia Museum of Art: John G. Johnson Collection – Foto: Philadelphia Museum of Art)

Dabei gibt es genug der Worte. Der raffiniert gestaltete Katalog vereint gelehrte Texte von zehn international renommierten Kunsthistorikern, aber – pardon! – die muss man nicht lesen, um gebannt zu sein von der Idee dieses Projekts. „Wir wollen alle hinter den Vorhang gucken“, bemerkt Direktor Wismer zu Recht. Und in der Tat geht es ja beim Verhängen von Räumen, Menschen und Dingen einerseits um das Kaschieren, andererseits aber auch um die Möglichkeit der Offenbarung. Vorhänge sind keine Mauern. Sie lassen sich durch einen Handgriff beiseite schieben und steigern von jeher die Spannung auf den Bühnen der Welt.

Verschleierter Erzbischof

Manchmal sind sie auch durchsichtig wie die unglaublich zart gemalte Gardine, womit Tiziano Vecellio, genannt Tizian, anno 1558 das Porträt des Kardinals Filippo Archinto zur Hälfte verdeckte. Mit Delikatesse machte der venezianische Meister das weißbärtige Antlitz des Kirchenfürsten hinter dem schleierartigen Stoff sichtbar. Der Vorhang hatte eine symbolische Bedeutung, weil der Kardinal zwar zum Erzbischof von Mailand ernannt wurde, aber das Amt wegen politischer Querelen nie ausüben konnte. Beat Wismer entdeckte das geheimnisvolle Bildnis vor Jahren im Philadelphia Museum of Art. Inzwischen hat es sicher jeder Düsseldorfer gesehen – auf den Plakaten zur Ausstellung. Auf ebenso subtile wie zielsichere Art wird da die Neugier geweckt.

Arnold Böcklin: "Trauer der Maria Magdalena an der Leiche Christi", 1867 (© Kunstmuseum Basel / Martin P. Bühler)

Arnold Böcklin: „Trauer der Maria Magdalena an der Leiche Christi“, 1867 (© Kunstmuseum Basel / Martin P. Bühler)

Der Vorhang als malerisches Sujet war keineswegs neu in Tizians Zeit. Schon im Hochmittelalter wiesen die Maler der Christenheit damit auf das göttliche Geheimnis hin, auf die Trennung zwischen Himmel und Erde, die letztendlich überwunden werden kann. Die Renaissance war ganz verliebt in diesen Gedanken. Sowohl Hans Holbein als auch Lucas Cranach der Ältere ließen um 1520 hinter ihren Madonnen die Englein schweben und einen grünen Vorhang halten, der die Mutter Gottes würdevoll umrahmt.

Göttliche Schöne beim Bade

Ein Jahrhundert später, im Barock, war es nicht nur der Glauben, sondern auch die Erotik, die mit drapierten Stoffen in Szene gesetzt wurde. Bei Anthonis van Dyck greift „Jupiter als Satyr bei Antiope“ lüstern nach der roten Decke, die den Schoß der Schlafenden verhüllt. Rubens betont die schwellenden Formen seiner Diana beim Bade um 1635-40 mit Tüchern, die von Dienerinnen gereicht werden. Der Blick der Göttin trifft den Betrachter, als habe sie ihn ertappt: ein delikater Moment.

Das 17. und 18. Jahrhundert, langes Zeitalter der Sinnenfreude, kokettierte auf vielfache Weise mit dem Vorhang. Etliche Barockmeister werteten ihre Selbstbildnisse mit Vorhängen auf und zeigten dabei nebenher ihre Fähigkeiten, einen perfekten Faltenwurf zu schaffen. Man perfektionierte das Spiel mit dem Vorhang – nicht nur malerisch. Kunstsammler pflegten ihre besten Bilder hinter echten Stoffen zu verstecken, um sie im gegebenen Augenblick effektvoll zu enthüllen.

Eine ungeheure Bilderfülle aus der Geschichte der Kunst hat die Ausstellung zu bieten. So manche Schönheit kommt da zum Vorschein wie Franz von Stucks „Susanna im Bade“ (1904), die dem Betrachter ihren herrlichen Leib von hinten zeigt, während sie sich mit einem hochgehaltenen Tuch vor den Blicken der Ältesten schützt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschwinden derlei Kompositionen. Die Tabus fallen, das Verborgene verliert seinen Reiz. „In der Moderne wird die Verhüllung selbst zum Thema“, sagt Co-Kuratorin Claudia Blümle.

Gerhard Richter: "Schwestern", 1967 (© Kunstmuseum Bonn, Dauerleihgabe Jürgen Hall)

Gerhard Richter: „Schwestern“, 1967 (© Kunstmuseum Bonn, Dauerleihgabe Jürgen Hall)

Das kann man wörtlich nehmen wie bei dem Düsseldorfer Kunstphilosophen Hans-Peter Feldmann, der einen „Vorhang Rot“ an einer Messingstange aufhängt – und das zum Objekt erklärt. Evelina Cajacob platziert einen weißen Vorhang aus gewachsten Papierstreifen mitten in den Saal. Wolfgang Kliege ließ aus rotweißen Stoffen die leere „Skulptur eines Zimmers“ nähen. Wie bitte? Verbirgt sich etwa das blanke Nichts hinter der Fassade der Gegenwart, die doch so stolz ist auf ihre brisanten Enthüllungen?

Rätsel für die Gegenwart

Ehe wir darüber in Verunsicherung geraten, tröstet uns eine monumentale „Vorhang“-Szene des neuen deutschen Romantikers unter der Surrealisten, Neo Rauch. In einem traumverlorenen Theater, das auch ein Museum ist, treiben da einige Krieger und Könige, Soldaten und Denker, was wir nicht verstehen müssen. Aber wir dürfen uns nach Herzenslust in das Bild hinein fantasieren. Denn es werden auch in der modernen Malerei durchaus Geschichten erzählt und Rätsel aufgegeben.

Christo: "Wrapped Beetle", 1963 (Objekt 2014). (© Christo 2014 - Im Besitz des Künstlers, Foto Wolfgang Volz)

Christo: „Wrapped Beetle“, 1963 (Objekt 2014). (© Christo 2014 – Objekt im Besitz des Künstlers, Foto Wolfgang Volz)

Und wir haben natürlich Christo, den großen Zauberer der Verhüllungskunst. 1963, als er noch nicht ganze Landschaften und Seen mit seinen Stoffen markierte, packte er vor der Düsseldorfer Galerie Schmela einen VW Käfer in gelben Stoff ein.

Der „Wrapped Beetle“ wurde, im Gegensatz zum Reichstag 1995, nie wieder ausgepackt und befindet sich noch heute, gut verschnürt, im Besitz des Künstlers. Christo wurde jetzt nicht nur zum Leihgeber der Ausstellung, er kommt auch wieder höchstpersönlich nach Düsseldorf und hält am Abend des 3. November einen enthüllenden Vortrag, der leider bereits ausverkauft ist. Aber auch ohne den Auftritt des Meisters sind die Verhüllungen im Kunstpalast eine Offenbarung. Vorhang auf!

„Hinter dem Vorhang: Verhüllung und Enthüllung seit der Renaissance – von Tizian bis Christo“. Bis 22. Januar 2017 im Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Ehrenhof 4-5. Di.-So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr. Katalog (Hirmer Verlag) 39,90 Euro.




Das Geld ist knapp, die Chefin kündigt: Wie sehr kriselt es im Hammer Museum?

Keine sonderlich guten Nachrichten kommen derzeit aus dem Gustav-Lübcke-Museum: Von Verlusten und mangelndem Besucheraufkommen ist in Hamm die Rede. Inzwischen hat Museumsleiterin Dr. Friederike Daugelat (40) gekündigt. Doch was verbirgt sich dahinter? Und hat beides miteinander zu tun?

Einen solch krisenhaften Zusammenhang bestreitet die bis Jahresende amtierende Museumschefin entschieden. Den Revierpassagen sagte sie heute: „Meine Kündigung hat ausschließlich persönliche Gründe.“ Tatsächlich wechselt sie in einen neuen Job, in dem ihre Verantwortung eher noch wächst: Friederike Daugelat, die Anfang 2013 nach Hamm gekommen war, wird ab Januar 2017 Referatsleiterin beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und ist dort für mehrere LWL-Museen zuständig, vor allem auf dem Feld der Beratung und strategischen Planung.

Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Hamms Oberbürgermeister Thomas Hunsteger-Petermann forderte unterdessen im WDR-Hörfunk (Landesstudio Dortmund), was der OB einer finanziell klammen Kommune von der lokalen Kultur halt so verlangt: „Wir müssen die Besucherakzeptanz, die Bevölkerungsakzeptanz noch einmal deutlich verstärken.“ Er und andere Kommunalpolitiker wollen bewirken, dass das Museum kein Eigenbetrieb mehr ist, sondern wieder in städtische Regie überführt wird.

Gespräche über eine solche Neuorganisation laufen laut Friederike Daugelat schon seit längerer Zeit. Die Führung als Eigenbetrieb habe bislang abrechnungstechnische Gründe gehabt, die wegen geänderter Bestimmungen künftig entfallen. Somit sei es wohl vernünftig, das Museum wieder an die Stadt anzugliedern. Auf diese Weise ließen sich einige Kostenblöcke (z. B. für Wirtschaftsprüfer) einsparen.

Unterdessen war in einem Bericht des „Westfälischen Anzeigers“ (Presse-Platzhirsch in Hamm) von 156.000 Euro Verlusten die Rede, die das Museum 2015 angehäuft habe. Auch dies erklärt Daugelat mit Besonderheiten der Buchhaltung. 2014, gegen Ende der zweijährigen Umbauzeit des Museums, seien Kosten angefallen, die erst 2015 belastend zu Buche gestanden hätten. Dem stünden positive Abschlüsse aus anderen Jahren gegenüber, so dass die Bilanz auch politisch abgesegnet worden sei.

Und wie verhält es sich mit dem Zuspruch des Publikums? Eine Ausstellung mit finnischer Malerei zog 12.000 Besucher ins abseits der großen Kulturströme gelegene Hamm. Eine speziell für Kinder konzipierte Mitmach-Schau über die technischen Fähigkeiten der Alten Römer hat vor wenigen Tagen die Besuchermarke von 10.000 überschritten und dauert noch – über die Herbstferien hinweg – bis Ende Oktober. Für ein Museum in der kulturellen und touristischen Diaspora sind das keine schlechten Zahlen.

Zudem war das (tendenziell unterfinanzierte) Haus erst ab März 2015 nach langer Umbaupause wieder eröffnet worden, und zwar sukzessive, eine Abteilung nach der anderen, mit deutlichen Zeitabständen. Also haben sich auch die Besucherzahlen nur zögerlich entwickeln können.

Nach städtischen Vorgaben, so Friederike Daugelat, soll das Museum jährlich mindestens 36.000 Besucher anziehen. Diese Zahl werde 2016 auf jeden Fall erreicht und überschritten. Es sei realistisch, die Marke von 40.000 Besuchern anzupeilen.

Ach so, ja, Kunst wird es im Gustav-Lübcke-Museum auch noch geben: Die nächste, noch von Daugelat kuratierte Sonderausstellung beginnt am 18. Dezember und heißt „Lieblingsorte – Künstlerkolonien. Von Worpswede bis Hiddensee“.




Dschungel der Freien Szene – Entdeckungen beim Dortmunder Festival „Favoriten“

Festivalzentrum

Autoscooter-Fahrgeschäft als Festivalzentrum

Gestern ging es zu Ende: „Favoriten“, das nach eigenen Angaben „beste Theaterfestival der Welt“. Eine starke Behauptung der Festival-Organisatoren, ein klares Zeichen für wunderbare Übertreibung und der positive Slogan fürs erhellende Lügen im Bereich der Kunst.

War das Publikum bei den letzten Ausgaben überwiegend eher mit Experimenten und post-dramatischen Theatererscheinungen konfrontiert, so hatte man dieses Mal – rund ums Unionviertel mit der Dependance „Depot“ im Dortmunder Norden – die Vielfalt heutiger Formen und Inhalte ins Programm gerückt. Das war erkenntnisgewinnend und vom künstlerischen Leiter Holger Bergmann klug zusammengestellt, der sich nun ganz seiner neuen Aufgabe als Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste in Berlin widmen wird.

Die Kreativität der Produzenten ist schier grenzenlos. Auch, wenn nicht jedem alles gefällt, was mindestens zu kreativen Diskussionen veranlasst, so waren süße und bittere Pillen zu schlucken zwischen kleinstem Angebot (eine Dance-Box für je eine Person) und großer Geste (Ben J. Riepe).

Das Festivalzentrum, ein historisches Autoscooter-Fahrgeschäft, verlockte Junge und Alte zu einer engen Rumsfahrt auf der Fläche, auf der z.B. auch ein Klavierkonzert (Kai Schumacher) stattfand. Die Zuhörer lauschten in ihren Autoscootern, ein wahrlich ungewöhnliches Bild.

Das Publikum hatte die Wahl aus über 50 Angeboten. Manches war eng getaktet und man hastete von einem Bilderwerk zum anderen. Eine Stadt wie Dortmund – so ein Besucher – müsste solch ein Programm das ganze Jahr über anbieten. Das sei Lebensqualität.

Die Veranstalter, das Kulturbüro der Stadt Dortmund und der Landesverband Freie Darstellende Künste NRW, seit Jahrzehnten enge Partner bei der Ausrichtung des Festivals, das früher „Theaterzwang“ hieß, können zufrieden sein, blicken aber schon bald auf die Planung für 2018. Das Festival bleibt in Bewegung und man kann gespannt sein, wie und wo sich die nordrheinwestfälische freie Theaterszene dann positioniert. Man sollte den Gedanken eines freien Produktionshauses wieder aufnehmen, der in den 1990ern viel diskutiert wurde.

dorisdean

„Hochzeit mit Hindernissen“ – Szenenbild der Theatergruppe dorisdean (© dorisdean)

Am Sonntagabend fand innerhalb des Projektes „COOP3000“ von „matthaei und konsorten“ die Preisverleihung statt. Es wurde ein Kindergeburtstag für Große mit Tanzanimationen, einer „utopischen Konzerngründung“, einer grenzwertigen Tanz-Mucke und viel Beteiligung von allerlei Initiativen und Gruppen – volle Kanne Partizipation.

Die Preise erhielten Johannes Müller und Philine Rinnert für „Reading Salomé“, die Compagnie Ben J. Riepe für „Livebox: Persona“, dorisdean mit „Hypergamie – Hochzeit mit Hindernissen“ und „Made for love“, eine Performance von Monster Truck.

Der Publikumspreis ging kurioserweise an die kleine Festivalküche „Refugees‘ kitchen“. Juryentscheidungen sind immer umstritten, so auch hier, aber damit muss man gelassen leben.




Ohne Zauberhand: Gabriel Feltz und die Dortmunder Philharmoniker eröffnen die Reihe der Sinfoniekonzerte

Gabriel Feltz  


Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures

Claude Debussy war sein Leben lang verliebt in Spanien. Betreten hat er das Land allerdings nur ein einziges Mal. Seine Musik spiegelt also eher eine Vorstellung wieder, einen Traum des idealen Spanien. Zu hören schon in seinen frühen Liedern, vor allem aber in „Ibéria“ aus den „Images“ für Orchester. Debussy verwendet für die drei Impressionen keine Folklore, sondern er erfindet das Charakteristische neu – und so gut, dass kein Geringerer als Manuel de Falla das spanische Idiom geradezu beispielhaft getroffen sah.

In Dortmund heißt das erste der Philharmonischen Konzerte der neuen Spielzeit – anbiedernd an modisches Neuschreib – „zauber_bilder“. Dem „Zaubrischen“ nähern sich die Philharmoniker und ihr Chef Gabriel Feltz auf drei unterschiedlichen Wegen. Debussy steht in der Mitte, flankiert von Paul Dukas‘ „Zauberlehrling“, der wörtlichsten Konkretion des Themas, und Peter Tschaikowskys Fünfter Symphonie, in der Verzauberung in Verzweiflung mündet, wenn man denn ein verborgenes, möglicherweise sogar biografisches Programm annehmen will.

Der Zauber Spaniens, seiner Straßen und Wege, des Parfums seiner Nacht und der Stimmung des Morgens eines Festtages erforderte für Debussy, eine neue Musik zu entwickeln, die weder Volkstümliches kopiert noch den Merkmalen des  damals in Frankreich beliebten Exotismus huldigt. Natürlich kannte er die melodischen Muster der spanischen Musik, ihr rhythmisches Profil, ihre harmonischen Entwicklungen und ihre typischen Instrumente. Aber er gießt dieses Wissen in einem langen, mühevollen Kompositionsprozess in etwas Neues. Pierre Boulez nannte „Les parfums de la nuit“ eines der einfallsreichsten Stücke Debussys, nicht so sehr wegen seines thematischen Gehalts, sondern wegen der innovativen Art, wie er Entwicklungen aufbaut, wie er den Orchesterklang ausbildet und Übergänge subtil gestaltet.

Von dieser Raffinesse ist bei den Dortmunder Philharmonikern nicht viel zu hören. Feltz legt Debussys drei Bilder unter das harte Licht einer mühevollen Analyse, als liege die Landschaft Spaniens stets nur unter gleißend unbarmherziger Sonne. Der milde Mond der Nacht, der Konturen verschwimmen lässt, Formen ins Ungefähre auflöst, Farben sanft verzeichnet, die materiellen Grenzen zwischen den Dingen weich verlöschen lässt, ist Feltz‘ Lichtquelle nicht. An spieltechnischen Grenzen der Musiker hat es nicht gelegen. Die Holzbläser lassen sich nicht unterkriegen, auch von langsamen Tempi nicht; die Streicher, vor allem die Bratschen und Celli, haben immer wieder magische Pianissimo-Momente.

Das Dortmunder Konzerthaus: Hier spielen die Philharmoniker. Foto: Häußner

Das Dortmunder Konzerthaus: Hier spielen die Philharmoniker. Foto: Häußner

Aber wenn Feltz Oboe oder Klarinette herausfordert, kommt der Ton zu direkt. Wenn Tamburin oder Celesta sich einmischen, ein Xylophon fern verwehende Töne spielt, ein Rhythmus aufkeimt und wieder verwischt, zeigt Feltz all diese Vorgänge in so deutlichen Konturen, dass die Mischung kaum mehr gelingt. Farben reiben sich, Klänge prallen aufeinander, Harmonien – zumal, wenn die Präzision der Töne nicht minutiös getroffen wird – wirken eher wie Streulicht als wie magische Reflektionen. So macht man, um die Malerei zu bemühen, aus einem Claude Monet einen Karl Schmidt-Rottluff.

Paul Dukas‘ malend erzählende Musik gelingt an diesem Abend am besten: Vom filigranen Beginn an bis hin zum quarzend ersterbenden Fagott am Ende schwelgt das Orchester in Farben und Gesten, und Gabriel Feltz sorgt für die Dynamik, die dem Zauberlehrling erst unheimlich Spaß, bald aber absolut keine spaßige Panik bereitet. Das hat Schwung und lebt vom sinnigen Aufbau der Dynamik.

Um Tempo- und Lautstärke-Dramaturgie geht es auch in Tschaikowskys Fünfter. Das vergebliche Anrennen der symphonischen Motive gegen die wuchtigen Abbruchkanten der Form, die depressiven Irrläufe, die lastende Schwere wollen vor allem dynamisch gestaltet werden, brauchen auch eine überlegte Disposition der Tempo-Entwicklungen.

Bei Feltz hat man eher den Eindruck von expressiven Inseln, deren innerer Zusammenhang nicht deutlich wird. Der Andante-Beginn ist verhalten und ausdrucksstark, die Innenspannung lässt ahnen, was sich zusammenbraut. Auch das „con anima“ hat in der belebten Bewegung des Allegro seinen Platz. Aber der erste Höhepunkt in Blech und Pauke bereitet sich nicht vor. Feltz gestaltet das Wechselspiel von Ladung und Entladung, von sich Anspannen und sich Lösen nicht. Und immer wieder schleudern die Philharmoniker eruptive Entladungen als brachialen Lärm von sich. Da wäre die dämpfende, nicht die fordernde Hand des Dirigenten gefragt.

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Es gibt also noch Luft nach oben in dieser Spielzeit, für die noch zwei Mal Debussy im Konzert angekündigt ist: am 8. und 9. November im Dritten Philharmonischen Konzert „Prélude à l´après-midi d´un faune“, am 4. und 5. April 2017 im Siebten Konzert „La Mer“ – in Kombination mit Antonín Dvořáks Sinfonischer Dichtung „Der Wassermann“ und dem nicht eben häufig gespielten Cellokonzert des vor 100 Jahren geborenen Henri Dutilleux. Im Achten Philharmonischen Konzert am 9. und 10. Mai 2017 spielt Mirijam Contzen das Violinkonzert Tschaikowskys; dazu gibt es Sergej Rachmaninows Dritte Sinfonie.

Im nächsten Konzert am 18. und 19. Oktober eröffnet Wagners „Holländer“-Ouvertüre den Abend, gefolgt von fünf orchestrierten Liedern Franz Schuberts mit Bo Skovhus als Solist und Dvořáks Siebter.




Als man in Unna um die Kirchenkanzel kämpfte: Philipp Nicolai – Dichter, Pfarrer, Lutheraner

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den streitbaren Theologen und Dichter Philipp Nicolai (1556-1608), der zur frühen Literaturgeschichte Westfalens gehört:

Die Unnaer Stadtkirche kenne ich aus meiner Schulzeit. Am dortigen Ernst-Barlach-Gymnasium (damals Aufbaugymnasium) habe ich Abitur gemacht. Jeden Mittwoch morgen fand in der Stadtkirche ein Schülergottesdienst statt.

Natürlich sind wir, als wir älter wurden, oft nicht hingegangen, haben uns am Bahnhof getroffen, Cola getrunken und geredet, aber kurz vor Schluss des Gottesdienstes haben wir uns doch in die Stadtkirche geschlichen, haben oben auf der Empore gesessen und das Schlusslied laut mit geschmettert, so dass sich unsere Lehrer, die natürlich vorne, in der Nähe des Altars saßen, zufrieden umblickten. Ja, es war schön für sie, fromme Schüler zu haben.

Vertont von Bach und Händel

Dass es in dieser Kirche mal eine folgenschwere Schlägerei zwischen zwei Pfarrern gegeben hatte, die noch dazu literarische Folgen hatte, habe ich damals nicht gewusst. Wer weiß, vielleicht hätte ich die Gottesdienste sonst aufmerksamer verfolgt.

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain - Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum) Porträt-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain – Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum). Digitaler Portrait-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Es gibt zwei Kirchenlieder, die nahezu jeder kennt. „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ lautet das eine und das andere beginnt: „Wachet auf, ruft uns die Stimme.“ Gedichtet wurden sie um 1598 von dem damaligen Pfarrer der Unnaer Stadtkirche, Philipp Nicolai.

Kein Geringerer als Johann Sebastian Bach hat diesen beiden Texten Kantaten gewidmet, und Georg Friedrich Händel hat ein Motiv des so genannten „Wächterliedes“ in den Halleluja-Chor seines „Messias“ übernommen. Größere Anerkennung konnten die Lieder wohl kaum finden – und das, obwohl man sie eher als Gelegenheitsschriften ihres Verfassers ansehen könnte. Er hat sie nämlich 1599 erstmals im Anhang seines Buches „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ veröffentlicht, und durch sie ist er zu Lebzeiten auch nicht bekannt geworden.

Zu einem der berühmtesten Pfarrer seiner Zeit haben ihn vielmehr religiöse Streitschriften gemacht, in denen der glühende Lutheraner vehement den Calvinismus bekämpfte. Heute sind diese Streitschriften nur noch von religionsgeschichtlichem Interesse. Umso einziger ragen aus seinem umfangreichen literarischen Werk die beiden Kirchenlieder heraus.

Eltern stammten aus Hagen und Herdecke

Was hat diesen streitbaren und umstrittenen Theologen nach Unna geführt? Da ist einmal seine westfälische Herkunft zu nennen. Geboren wurde er zwar am 10. August 1556 in Mengeringhausen in der Grafschaft Waldeck, aber beide Eltern stammten aus Westfalen: Vater Dietrich Rafflenboel aus Hagen und Mutter Katharina Meyhan aus Herdecke.

Die Rafflenboels waren eigentlich Bauern, aber Dietrich brach mit der Tradition, begann ein Theologiestudium und wurde zuerst, wie später auch sein berühmter Sohn Philipp, Pfarrer in Herdecke. Einer damaligen Mode folgend übertrug er den Vornamen seines Vaters Klaus ins Lateinische und nannte sich mit Nachnamen Nicolai.

1552 musste er wegen der Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten aus Herdecke fortziehen – sein Sohn sollte ihm drei Jahrzehnte später auch darin folgen – und übernahm eine Pfarrstelle in Mengeringhausen, das einige Kilometer entfernt von Kassel liegt, wo Philipp als eines von acht Kindern geboren wurde. Philipp Nicolai hatte also eine enge Beziehung zu Westfalen, als er 1596 ein Angebot aus Unna erhielt.

Wichtiger für dieses Angebot aber war seine strenge lutherische und anticalvinistische Grundhaltung. In einem Streitgespräch 1590 hatte er zwar noch Mohammed und den Papst als schlimmste Helfershelfer des Teufels ausgemacht und das als strenger Lutheraner womöglich sogar von der Bibel her begründet. Später aber hat er in hitzig-polemischen Schriften nur noch den Reformator Calvin und seine Anhänger bekämpft.

Gegen den Calvinismus

Hitzige Kämpfe zwischen Lutheranern und Calvinisten gab es kurz vor seiner Berufung auch in Unna. Einige Kaufleute und ein Teil des Rates um die Altbürgermeister Winold von Büren, Ernst Brabender und Hinrich zum Broch wünschten 1592 eine enge Anlehnung an die Niederlande, die damals – nach der Vernichtung der spanischen Armada – den Welthandel kontrollierten und wirtschaftlich in Blüte standen. Man wollte deshalb die Stelle des Vizepastors mit dem Rotterdamer Pfarrer Hermann Grevinckhoff besetzen, der jedoch, durchaus passend für das aufstrebende Bürgertum, ein Calvinist war.

Vordergründig ging es im Streit zwischen Calvinisten und Lutheranern um die Abendmahlsfrage. Luther, in dieser Frage durchaus in katholischer Tradition, wollte der Abendsmahlsfeier weiter Heilscharakter zubilligen. Er vertrat zwar nicht mehr die so genannte Transsubstantiationslehre, nach der sich Wein und Brot direkt in Blut und Leib Christi verwandeln, lehrte jedoch, dass sich Wein und Brot bei der Abendmahlsfeier durch die Einsetzungsworte auf geheimnisvolle Weise damit verbinden. Für Calvin (und auch für Zwingli) war sie dagegen eine reine Symbolhandlung.

Wichtiger für das aufstrebende Bürgertum war allerdings Calvins Lehre von der doppelten Prädestination. Ob ein Mensch reich oder arm war, ob er der Seligkeit teilhaftig würde oder nicht, das alles hatte Gott vorherbestimmt. Deshalb brauchten reiche Kaufleute wegen der Armut der anderen Menschen auch kein schlechtes Gewissen zu haben, während sie selbst in ihrem Reichtum eine Bestätigung für Gottes Auserwähltheit sehen konnten. Sozialpolitisch war damit die Nächstenliebe ausgehebelt, ein glänzendes Ruhekissen für die Besitzenden.

Wüste Rauferei im Gotteshaus

Die Abt von Deutz lehnte jedoch Grevinckhoffs Berufung wegen dessen calvinistischer Einstellung ab und berief statt dessen den jungen Lutheraner Joachim Kersting. Der aber wollte zuerst seine theologischen Studien in Jena fortsetzen und schickte als Vertreter den lutherischen Kaplan Uphoff, eine Schwäche, die die calvinistische Fraktion sofort ausnutzte. Sie berief den aus Essen stammenden Magister Berger, der sofort, in strenger calvinistischer Tradition, die Bilder aus der Stadtkirche entfernen ließ. Kersting, alarmiert, eilte von Jena nach Unna und dort soll es in der Stadtkirche zu einem tollen Zweikampf gekommen sein.

Altbürgermeister Brabender gab Berger vor einem Gottesdienst die Anweisung, Kersting auf jeden Fall von der Kanzel fern zu halten und befahl dem Küster, die Kirchentüren zu schließen. Während draußen die herbeigerufenen Lutheraner gegen die verschlossenen Kirchentüren trommelten, kämpfte Kersting drinnen einen heroischen Kampf. Es war ihm gelungen, sich am Aufgang zur Kanzel festzuklammern, und so sehr Berger auch zerrte, riss und schimpfte, Kersting ließ nicht los. Der Mantel wurde ihm dabei zerrissen, aber was ist schon Kleidung im Kampf um den richtigen Glauben?

Kersting jedenfalls verteidigte die Kanzel, die auch sein Gegner nicht besteigen konnte, bis die Lutheraner sich über eine kleine Seitentür Zutritt verschaffen konnten und Berger mitsamt seinen Helfern vertrieben. Ein feste Burg ist unser Gott…

Über Schimpfwörter und handfeste Auseinandersetzungen in Glaubensfragen zu dieser Zeit darf man sich nicht wundern. Es war das Zeitalter der Orthodoxie, da galt: Es gibt nur einen richtigen Glauben. Und da es natürlich der jeweils eigene war, mussten die Anhänger des anderen, falschen Glaubens überzeugt werden. Zur Not mit Gewalt.

„Freudenspiegel des ewigen Lebens“

In Unna wollten die Lutheraner ihren Sieg festigen. Unnas neuer Bürgermeister, ein aus Köln zugezogener Patrizier namens von Westfalen, hatte gehört, dass Philipp Nicolai in der waldeckschen Landessynode calvinistische Irrlehrer exkommunizieren ließ, er hatte wohl auch dessen bekannteste Schrift „Nothwendiger und gantz vollkommener Bericht von der gantzen calvinistischen Religion“ gelesen. Wenn d a s nicht der richtige Mann für Unnas Lutheraner ist, muss er wohl gedacht haben.

Zwei Angebote aus Unna lehnt Nicolai noch ab, dann fuhr Bürgermeister von Westfalen selbst ins Waldecksche und überredete ihn. Sein Verdienst war ansehnlich: 50 Mütte reinen Korns, dazu 60 Reichstaler, sechs Fuder Holz sowie freie Wohnung mit großem Garten (eine Mütte Korn hatte den Wert von 4 Talern).

Man scheint in der ganzen Grafschaft Mark an Nicolais Kommen interessiert gewesen zu sein, denn einen Teil der Kosten für seinen Umzug übernahm die Stadt Soest, der Nicolai dann auch sein schönstes Buch, eben den „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ widmete.

In den furchtbaren Zeiten der Pest

In Unna aber traten kurz nach seinem Amtsantritt die religiösen Streitfragen in den Hintergrund. 1597 brach über Nacht die Pest aus. Nicolai stellte den Kirchenkampf hintan und beschränkte sich auf die Seelsorge. Er ging zu den Sterbenden, sprach ihnen Trost zu, hatte bis zu 30 Beerdigungen am Tag und musste miterleben, wie auch der tapfere Kanzelverteidiger Kersting der Seuche erlag.

Nicolai selbst fürchtete die Pest nicht. Er vertraute seinem Gott und fuhr – zur medizinischen Unterstützung dieses Vertrauens – zu einer Apotheke nach Dortmund, um sich Medizin zu besorgen.

Wie kann man die allgegenwärtige Todesgefahr, den vergeblichen Kampf gegen den Tod, den Zuspruch des Trostes für Hunderte von Sterbenden psychisch durchstehen? Nicolai schaffte es, indem er am Tage unbeirrt und unermüdlich seine Pflicht tat und sich abends in den erlösenden Trost der himmlischen Herrlichkeit flüchtete, in der es keinen Tod, keine Seelennot mehr gab. Während immer mehr Menschen der Pest erlagen, schrieb er seinen „Freudenspiegel“ als Trost für die Sterbenden und Hinterbliebenen, als Stärkung aber auch für sich selbst. Und im Anhang des Buches, das viele Auflagen erlebte, veröffentlichte er – wie erwähnt – seine berühmt gewordenen Lieder.

Auf dem Friedhof in der Nähe seines Gartens wurden die Leichen aufgeschichtet, Pest- und Verwesungsgeruch lag über der Stadt, Philipp Nicolai aber konnte in der Gewissheit seines Glaubens singen: „Wie schön leuchtet der Morgenstern.“ Die Musik zu seinen Liedern hat er übernommen und nicht selbst geschrieben, obwohl er das vermutlich auch gekonnt hätte. Er hat nämlich eine sehr gute Schulbildung genossen, die ihn u.a. nach Mühlhausen in Thüringen führte, wo später Bach Organist gewesen war. Dort hat Nicolai im Gymnasialkirchenchor mitgesungen und ist von dem fähigen Musiklehrer Joachim Müller a Burck unterrichtet worden, der selbst auch komponieren konnte.

Gottesreich für 1670 vorhergesagt

„Wie schön leuchtet der Morgenstern“ ist ebenso wie „Wachet auf“ ein Zeugnis barocker Brautmystik, in der, im Bild des Bräutigams, vom Kommen Christi und damit vom Jüngsten Tag die Rede ist. Der 45. Psalm, das Hohe Lied der Liebe und das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen im Matthäusevangelium haben mit ihrer Hochzeitsmetaphorik den biblischen Anstoß zu beiden Liedtexten gegeben.

Nicolai stand übrigens wirklich unter dem Eindruck der Naherwartung. In einer anderen Schrift, der „Historie des Reiches Christi“, hat er das Kommen des Gottesreiches sogar genau vorausberechnet und auf das Jahr 1670 datiert. Vorsichtig hat er allerdings hinzugefügt, dass es „wegen des Elends und der Bedrängnis der auserwählten Kinder Gottes“ auch früher kommen könne.

Dieses Denken ist spätestens seit der Aufklärung überwunden. Wenn Nicolais Lieder trotzdem bekannt blieben, das „Wächterlied“ sogar stetig populärer wurde, dann müssen Text und Musik wohl viel ausdrücken. Glaubensstärke und Zuversicht, Optimismus angesichts von Tod und Krankheit (in den Liedern metaphorisch ausgedrückt durch die Überwindung von Nacht und Schlaf) sprechen die Menschen auch heute an. Als König und Königin des Gesangbuchs wurden beide Lieder gelegentlich bezeichnet. Regelmäßig werden sie im Gottesdienst gesungen und Bachs Kantaten sprechen auch Nichtchristen an. In Unna sind also die Texte entstanden, in der Not einer bedrängenden Pestzeit.

Dem Ruf nach Hamburg gefolgt

Philipp Nicolai ist aber nicht in Unna geblieben. 1600 heiratete er noch in Unna die Witwe eines Dortmunder Pfarrerkollegen, eine Katharina von der Recke. Doch schon 1601 folgte er einem Ruf als Hauptpastor in der Katharinengemeinde in Hamburg. Dort wurde sein einziger Sohn Theodor geboren, dort schrieb er noch weitere 17 theologische Abhandlungen, aber schon 1608, im Alter von gerade 52 Jahren, ist er gestorben.

Vor dem Altar der Katharinenkirche hat man ihm ein Ehrengrab gegeben. Als die Kirche 1856 jedoch umgebaut wurde, hat man seine Gebeine aufgenommen und auf dem Katharinenfriedhof vor dem Dammtor beigesetzt. In Hamburg also liegt Philipp Nicolai begraben, in Unna aber hat er seine beiden schönen Kirchenlieder geschrieben.

Und wenn wir Schüler schon damals von dem tollen Zweikampf zweier Pfarrer in der Stadtkirche gewusst hätten, die Voraussetzung für seine Berufung nach Unna waren, wären wir bestimmt pünktlich zum Schulgottesdienst erschienen. Glaube ich jedenfalls.