Silvester-Predigt handelte vor 70 Jahren auch vom Kohlenklau: Wie im Winter 1946/47 das Wort „fringsen“ entstand

Joseph Kardinal Frings. Foto: Historisches Archiv des Erzbistums Köln AEK, Bildsammlung

Joseph Kardinal Frings. Foto: Historisches Archiv des Erzbistums Köln AEK, Bildsammlung

Winter 1946/47: Die deutschen Städte sind zerstört, die Menschen hausen in Baracken und Ruinen. Ein stabiles russisches Hoch sorgt für eisige Kälte, Tiefdruckgebiete bringen meterhohen Schnee. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Brennmaterial ist schlecht, bricht vor allem in den großen Städten des Ruhrgebiets und des Rheinlands zeitweise zusammen. In dieser Situation spricht der Kölner Kardinal Joseph Frings ein wegweisendes Wort. Es sollte in die Geschichte eingehen. Das „Fringsen“ wurde in der Nachkriegs-Not zum geflügelten Begriff.

Auch Köln lag in Schutt: Vier Fünftel der Gewerbebauten, so eine zeitgenössische Statistik, waren total verwüstet oder stark zerstört. So predigte der Kölner Erzbischof an Silvester 1946 in der modernen, 1930 von dem bekannten Architekten Dominikus Böhm entworfenen Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl. Sein Thema: die zehn Gebote. Da ging es auch um „Du sollst nicht stehlen“. Frings, ein sozialpolitisch fortschrittlicher Kopf, kannte die Not der Zeit, die katholische Moraltheologie und die Soziallehre der Kirche. Sein Predigtmanuskript, erhalten im Archiv des Erzbistums Köln, zeigt, wie er um die richtige Formulierung rang. Was er dann sagte, machte ihn populär:

„Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder Bitten, nicht erlangen kann“.

"Klüttenklau" in der Nachkriegszeit in der Britischen Zone. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R70463 / CC-BY-SA 3.0

„Klüttenklau“ in der Nachkriegszeit in der Britischen Zone. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R70463 / Link zur Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Für die Menschen, die damals um ihr Überleben kämpften, war dieser Satz eine moralische Entlastung. Vor allem in den schwer zerstörten Städten hatten sie oft keine andere Wahl, als sich die Kohle zum Heizen zu stehlen.

Der „Klüttenklau“ war verbreitet: Um Klütten (Briketts) zu besorgen, sprangen Jugendliche oder Männer auf haltende Kohlenzüge, füllten Säcke mit Brennstoff und warfen sie an vorher vereinbarten Punkten ab. Andere bestiegen Lastwagen und warfen Kohlen ab. Ein gefährliches Treiben; Verletzungen oder sogar Todesfälle konnten die Folge sein. Berichtet wird von Kindern, die nicht mehr aus den Güterwagen klettern konnten und während der eisigen nächtlichen Fahrt erfroren.

Keine Rechtfertigung für Diebstahl

Sehr schnell bürgerte sich im Volksmund für diese Art von Mundraub der Begriff „fringsen“ ein. Das Wort schaffte es bis hinein ins „Lexikon der Umgangssprache“. Dem Erzbischof ging es freilich nicht darum, Diebstahl zu rechtfertigen, im Gegenteil. Die mahnenden Worte nach dem berühmten Satz wurden überhört oder verdrängt. Denn Frings legte seinen Zuhörern auch ans Herz:

„Aber ich glaube, dass in vielen Fällen weit darüber hinausgegangen worden ist. Und da gibt es nur einen Weg: unverzüglich unrechtes Gut zurückgeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott.“

Kardinal Frings hat damit eine präzise Auslegung der katholischen Lehre gegeben: Er war sich bewusst, dass Eigentum sozialpflichtig sei. Was der Mensch braucht, um sein Leben und seine Gesundheit zu erhalten, darf er sich unter Umständen größter Not auch nehmen. Aber der Erzbischof wandte sich zugleich scharf dagegen, die Notlage auszunutzen. Zu plündern, um sich zu bereichern, war schon in den zerbombten Städten während des Krieges, aber auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit, nicht selten. Dazu zählte auch der Kohlenklau über den eigenen Bedarf hinaus. Ein Verhalten, das Frings in seiner Predigt verurteilte.

Der „Weiße Tod“ forderte hunderttausende Opfer

Eine Seite des Manuskripts der Predigt. Foto: Archiv des Erzbistums Köln.

Eine Seite des Manuskripts der Predigt. Foto: Archiv des Erzbistums Köln.

Dass der Erzbischof die Lage richtig eingeschätzt hatte, erweist der Rückblick auf diesen Winter 46/47. Er ist als der kälteste Winter des 20. Jahrhunderts im Nordseeraum in die Wetterkunde eingegangen. Die Temperatur-Mittelwerte lagen im Januar 1947 bei minus 4,7 Grad, im Februar bei minus 6,6 Grad. Heute schätzt man, dass allein in Deutschland Hunderttausende an den Folgen von Hunger und Kälte und an Krankheiten wie Lungenentzündung und Typhus gestorben sind.

Der „weiße Tod“ grassierte unter Menschen, denen im britischen Teil von „Trizonesien“ – so die geflügelte Bezeichnung für die drei Besatzungszonen der Westmächte – gerade einmal 900 Kilokalorien pro Tag zustanden. Zum Vergleich: Ein Erwachsener mit durchschnittlichem Gewicht braucht am Tag – je nach Tätigkeit – zwischen 2.000 und 3.500 Kilokalorien.

Frings machte sich damals zum Fürsprecher der Notleidenden und entlastete ihr Gewissen. Bei der britischen Besatzungsmacht kam das nicht gut an: Der Kardinal wurde vorgeladen, aber weil der alliierte Gouverneur, William Ashbury, unpünktlich war, fuhr Frings wieder ab. In seinen Memoiren erinnert sich Frings: „Es gab eine höchstnotpeinliche Untersuchung.“ Er habe den Text seiner Silvesterpredigt sogar bei den Briten einreichen müssen. „Alles war aufs höchste gespannt, und es schwebte wirklich Unheil über mir“.

Frings veröffentlichte am 14. Januar 1947 – nach Zeitungsberichten über seine Predigt – eine Erklärung über die „Grenzen der Selbsthilfe“. Die Alliierten erwogen sogar eine polizeiliche Vorführung, ließen Frings aber dann in Ruhe, wohl weil sie den Unmut der Bevölkerung fürchteten. Es ist also, wie der Kölner sagt, „noch immer jot jejange“.




Was ich eigentlich gerne schreiben wollte, dann aber doch nicht geschrieben habe…

Das Nicht-Getane, hier wird’s Ereignis. Wenn ich mir so überlege, worüber ich in den letzten Tagen habe schreiben wollen! Ui-ui-ui. Doch wo anfangs ein Wille gewesen sein mag, ist er dann doch nicht auf den Weg geraten.

Beispielsweise hätte ich ausführlichst von jenem misslichen kleinen Vorfall berichten können: Vergoss ich doch tatsächlich eine Tasse (schwarzen) Kaffee in meine vormalige Mac-Tastatur. Sie hat’s nicht überlebt. „R.I.P.“, wie es bei betroffenen Facebookianern öfter mal heißt.

Hätte, hätte, Fahrradkette... (@ Lupo / www.pixelio.de)

Hätte, hätte, Fahrradkette… (© Lupo / www.pixelio.de)

Anschließend habe ich mich mit einem so genannten „Migrations-Assistenten“ geplagt, der einem hilft, Programme, Dateien und Einstellungen von einem Computer auf den anderen zu schaufeln. Man lasse sich das Wort auf der Zunge zergehen: „Migrations-Assistent“.

Nebenbei gesagt: Ich mag’s ja sehr, wenn Technik funktioniert. Was ich aber überhaupt nicht mag, ist das forciert witzigseinwollende Wort „funktionuckelt“.

Zwischendurch habe ich noch eine allerletzte Buchbesprechung mit der Jahressignatur 2016 ins System hacken und ins Blog heben wollen, aber auch dafür war ich zu faul. Der Autor des betreffenden Bandes wird’s mir vielleicht danken. Doch es ist nur ein Aufschub. Und vielleicht habe ich dann schlechtere Laune.

Vorher wäre auch noch eine Zwischenbilanz zur winterpausierenden Bundesliga denkbar gewesen. Schließlich fühlen wir uns hier auch der Fußball-Kultur verpflichtet. Doch ach! Plötzlich gab es Ereignisse, neben denen jedes Gekicke verblasste.

Überhaupt: Jahresbilanzen, rauf und runter. Schwerstens kritisch und politisch. Hätte man schreiben können. Macht ja sonst keiner. Aber man kann nicht überall sein.

Persönliche Bekenntnisse? Gewiss. Auch das wäre möglich gewesen. Aber so weit möchte man dann doch nicht ausholen.

Irgendwer fühlt sich eh immer beleidigt.

Und was sagt man in derlei Möchtegern-Fällen?

Jede Wette, jede Wette:
„Hätte, hätte, Fahrradkette.“

Oder auch, ungleich avancierter mit Karl Valentin: „Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut!“

Auf einer Glatze Locken zu drehen, sei das Geschäft der Feuilletonisten, hieß es einst. Und siehe da, schon hat der gewiefte Zeilenschinder wieder ein paar Zeilen geschunden; allemal genug für einen kurzen, so richtig nichtigen Beitrag. Nichtig ist allerdings auch mal wichtig.

In diesem oder einem völlig anderen Sinne: Prosit Neujahr!




In Essen beispielhaft privat gefördert – das Balthasar-Neumann-Ensemble

Felix Mendelssohn-Bartholdy in einer Lithografie von Friedrich Jentzen aus dem Jahr 1837.

Felix Mendelssohn-Bartholdy in einer Lithografie von Friedrich Jentzen aus dem Jahr 1837.

Das mit den Sponsoren ist immer so eine Sache: Ohne die privaten Geldgeber wäre so manches Kulturprojekt chancenlos. Sie springen vielfach ein, wo sich die öffentliche Hand versagt. Deren Aufgabe, Kultur so zu fördern, dass Qualität erhalten, Vielfalt und Innovation ermöglicht, Erschwinglichkeit für jedermann garantiert bleibt, wird seit dem Vormarsch neoliberaler Konzepte und dem Zerbröckeln der bürgerlich geprägten Gesellschaft immer prekärer finanziert und immer grundsätzlicher in Frage gestellt. Sponsoren erschienen als ideale Lösung. Pointiert gesagt: Privates Geld fürs Privatvergnügen Kultur.

Im Endeffekt ist diese Art von Finanzierung ambivalent, denn ein Sponsor ist kein Mäzen, der uneigennützig der Kunst dienen will. So hilfreich ein Geldgeber in vielen Fällen ist, so problematisch ist es, wenn zum Beispiel vornehmlich Events finanziert werden, damit deren Glanz auch auf den Sponsor fällt, wenn statt künstlerischem Wagemut nur große Namen und Mainstream-Programme vergoldet werden. Von Hamburg bis Baden-Baden sind solche Entwicklungen zu registrieren.

Warum die Vorrede? Weil es bei Evonik offenbar anders funktioniert: Beim Weihnachtskonzert des Unternehmens in der Essener Philharmonie fiel jedenfalls das Wort „Sponsoring“ nicht. Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble unter Thomas Hengelbrock, mittlerweile zum vierten Mal auf Einladung von Evonik zu Gast, werden seit Anfang des Jahres in einer Partnerschaft unterstützt und gefördert. Dass dies offenbar nicht nur eine Formulierung in einem verschleiernden „Wording“ ist, legt die Aussage nahe, Evonik begleite die Forschungen der Ensembles, ermögliche musikwissenschaftliche Recherchen und unterstütze, wenn „Quellen erkundet und musikalische Schätze gehoben werden“.

Das klingt nicht nach Glimmer und Glitter, sondern nach nachhaltigem Einsatz dort, wo das Spektakuläre nicht auf den ersten Blick erkennbar ist: neue und alte Musik systematisch erschließen, wissenschaftlich aufarbeiten und dann sinnlich in hoher Qualität präsentieren. „Kraft für Neues“ heißt es unter dem Logo von Evonik – voilà, hier ist der Transfer in die Musik.

Das Konzert gab schon einmal einen Vorgeschmack, wie so ein Konzept aussehen kann. Hengelbrock widmete es ausschließlich dem immer noch unterschätzten Felix Mendelssohn-Bartholdy – und zwar seiner geistlichen Musik. Von einem „Magnificat“ des Dreizehnjährigen bis zum ersten Teil des Fragment gebliebenen Oratoriums „Christus“ reichte der Bogen. Das fast halbstündige Magnificat, der Lobgesang Mariens aus dem Lukas-Evangelium, eigentlich ein vor allem in der katholischen Tradition stark verankerter Text, ist für den Protestanten jüdischer Herkunft Mendelssohn-Bartholdy eine inspirierende Vorlage: Der kunstfertige Satz mit seiner souveränen Kontrapunktik verleugnet die Vorbilder der älteren Kirchenmusik nicht, schlägt aber bemerkenswert persönliche Töne an.

Die Violinen züngeln, wenn den Mächtigen ihr Sturz angekündigt wird

Mendelssohn hebt die Barmherzigkeit („misericordia“) Gottes hervor, wenn er den Männerchor im Piano einsetzen und das Wort mehrfach wiederholen lässt. Er verwendet die traditionellen Pauken und Trompeten, um die herrscherliche Majestät Gottes zu kennzeichnen. Und wenn Maria ankündigt, Gott stoße die Mächtigen vom Thron und erhöhe die Niedrigen, züngeln in der Musik die Violinen. Der Balthasar-Neumann-Chor artikuliert mit fabelhafter Präzision, zeichnet die Koloraturen auf den Punkt genau nach, hat aber auch den pastosen Klang für die Momente lyrischen Ausgreifens der Melodie. Den Solisten aus dem Chor macht es Mendelssohn nicht leicht, aber Marek Rzepka lässt sich von den Koloraturen der Arie „Fecit potentiam“ nicht schrecken.

In den Choralkantaten „Verleih uns Frieden gnädiglich“ und „Vom Himmel hoch“, beide von 1831, ist der Komponist längst bei sich selbst angekommen. Die „alten Meister“, Johann Sebastian Bach eingeschlossen, sind auf eine sehr persönliche Weise in seinen Stil eingearbeitet. Mendelssohn arbeitet mit raffinierten Harmonisierungen, hält den Klang leicht und weich. Die Streicher des Balthasar-Neumann-Ensembles haben mit den feinsinnigen Nuancen kein Problem, die Bläser realisieren Glanz und Pracht, als habe Händel Pate gestanden, ohne den inneren Zusammenhang der Musik einer äußerlichen Überwältigung zu opfern. Das „Ave Maria“ in schwärmerisch fließendem Ton und fülliger Harmonik entspricht gar nicht dem Klischee protestantischer Strenge; nur schade, dass in der eröffnenden Arie der kantabel-belcantistische Ton nicht erfüllt wird. Dafür zeigt das Blech in der „Geburt Christi“, dem ersten Teil des geplanten Oratoriums, an dem Mendelssohn bis zu seinem frühen Tod 1847 arbeitete, wie sensibel es sich auf die Pianissimo-Stellen des Chores und auf die sanfte Verklärung des „neugeborenen Königs“ einstellen kann.

Das begeisterte Publikum feierte Thomas Hengelbrock und seine Ensembles und entließ sie erst nach mehreren Zugaben in den adventlichen Abend.




Trotz alledem: Wir wünschen friedliche Weihnachten und ein besseres neues Jahr

(Foto: BB)

(Foto: BB)




„Wir müssen uns wehren“: Autoren weltweit vor Verfolgung schützen – eine Rede über die Schriftstellervereinigung PEN

Vom 27. bis zum 30. April 2017 wird die deutsche Sektion der internationalen Autorenvereinigung PEN ihre Jahrestagung in Dortmund abhalten. Gleichsam zur Vorbereitung und Einstimmung auf das Ereignis hat unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Bergkamen), an verschiedenen Orten die folgende Rede gehalten, in der er darlegt, was der PEN eigentlich ist und will. Peuckmann ist selbst Mitglied des PEN. Wir drucken seine Rede mit geringfügigen Kürzungen ab:

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Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Um die Frage zu beantworten, wer oder was der PEN ist, fange ich nicht mit allgemeinen Erklärungen an, sondern wähle einen anderen, anschaulichen Einstieg. Wie wird eigentlich umgegangen mit dem freien Wort in unserer Welt, frage ich mich und damit auch Sie.

Derzeit sind etwa 800 Dichter, Journalisten und zunehmend Blogger in aller Welt mit Verfolgung, Gefängnisstrafe oder Tod bedroht. Und wer jetzt gleich an China denkt und dort den Haupttäter vermutet, denkt zwar an einen Großtäter, das stimmt, aber die Liste wird nicht von China angeführt, sondern von der Türkei.

Selbst in absoluten Zahlen liegt das Land des Herrn Erdogan an der Spitze der Schreckensliste und es gibt doch deutlich weniger Türken als beispielsweise Chinesen auf der Welt. Womit ich für China, ein Land, das ich durch mehrere Lehraufträge an dortigen Unis gut kenne, keine Unschuldserklärung abgeben möchte. Natürlich nicht. Auch Krisenländer in Afrika, Mittelamerika und Asien sind auf dieser Schreckensliste vertreten.

2013 wurden 15 Schriftsteller ihrer Texte wegen getötet, 19 weitere wurden umgebracht, vermutlich ebenfalls, weil sie unbequeme Meinungen vertraten, aber in ihren Fällen lässt sich das Tötungsmotiv nicht eindeutig nachweisen.

Beispiele aus Syrien, Katar, Mexiko und Bangladesch

Wie sieht denn nun Verfolgung von Autoren konkret aus?

Da ist zum Beispiel der syrische Romanautor Fouad Yazij, ein Gegner des Assad-Regimes und ein Christ, der auf diese Weise zwischen alle Fronten geriet. Hier Assads Soldaten, dort der fanatisch islamistische IS. 2014 musste dieses literarische Aushängeschild seines Landes überstürzt aus Syrien fliehen und gelangte nach Kairo, wo er zuerst einmal in einer Garage Unterschlupf fand.

Durch Vermittlung des Goethe-Instituts bekam Fouad Yazij schließlich eine bescheidene Wohnung. Aber er war noch immer völlig mittellos, noch dazu hatte er seine alte Mutter völlig verarmt in Homs zurücklassen müssen. Wenn er Spenden bekam, vom PEN vermittelt oder von der Gießener Gruppe „Gefangenes Wort“, schickte er einen Teil davon an seine Mutter. Über Monate hinweg wurde Fouad mehr schlecht als recht durch Hilfe von außen über Wasser gehalten, zwischendurch war er derart verzweifelt, dass seine Helfer Angst hatten, er könne sich das Leben nehmen.

Schließlich gelang es dem PEN, Fouad in sein „Writers-in-Exile-Programm“ aufzunehmen. Acht Wohnungen hat der PEN in Deutschland in verschiedenen Städten für dieses Programm, dank der Hilfe des Kulturministeriums, zur Verfügung, um dort für ein oder zwei Jahre verfolgte Schriftsteller unterzubringen. Wenigstens für einen kurzen Zeitraum sollen diese Autoren wieder Ruhe haben, um angstfrei zu leben und vor allem um zu arbeiten, also schreiben zu können. Acht von achthundert. Im November 2015 wurde Fouad in dieses Programm aufgenommen, inzwischen ist er sicher in Deutschland angekommen.

Da ist Mohammed al-Adschami aus Katar, dem Land, das im Jahr 2022 eine Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten soll. Er hat ein Gedicht geschrieben, das der Emir als Aufruf zum Umsturz wertete. Zu lebenslanger Haft wurde er dafür verurteilt, seit 2012 saß Adschami für vier Jahre im Gefängnis, bis er nach vielen internationalen Protesten, hauptsächlich vom PEN, in diesem Jahr vom Emir begnadigt wurde. Mit den Zeilen „Sie importiert all ihre Sachen aus dem Westen/warum importiert sie nicht Gesetze und Freiheit“ endet sein Gedicht, das ihm diese Strafe einbrachte, denn jeder in Katar wusste, wer mit dem „Sie“ gemeint war. Die Zweitfrau des Emirs nämlich, die sich auf Auslandsfahrten mit ihrem Mann stets luxuriös einzukleiden weiß, die also die Waren des Westens schätzt, aber nicht seine moralischen Werte.

Gefängnis für eineinhalb Gedichtzeilen

Ein Aufruf zum Umsturz soll es also gewesen sein, den Emir auf diesen Widerspruch hinzuweisen und auf diese Anklage steht in Katar eigentlich die Todesstrafe. Lange drohte sie vermutlich, dann wurde Mohammed zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt. Und lebenslänglich ist in Katar wortwörtlich zu verstehen. Sein ganzes Leben lang sollte Mohammed für dieses eine Gedicht im Gefängnis schmoren, dann wurde er „begnadigt“, zu fünfzehn Jahren Haft. Das bedeutete bei einem Gedicht von 23 Versen ein Jahr Haft für eineinhalb Zeilen. Bis dann die endgültige Begnadigung kam. Gnade wofür? Dafür, dass jemand in einem Gedicht seine Meinung gesagt hat, die noch dazu schwer zu widerlegen ist?

Die mexikanische Journalistin Ana Lilia Pérez hat sich mit der Verstrickung von Mafia und Politik in ihrem Land beschäftigt und ein Buch darüber geschrieben: „Das schwarze Kartell“ heißt es. Unerschrocken hat sie darin aufgezeigt, wie die Korruption vor allem im staatlichen Ölkonzern funktioniert. Danach wurde sie von allen Seiten bedroht, von der Politik und von der Mafia, was in Mexiko mindestens teilweise ein und dasselbe ist.

„Plata o Plomo“ heißt es für die Journalisten in Mexiko, Silber oder Blei. Zu Deutsch: Entweder du lässt dich bestechen oder es fliegen die Kugeln. Ana Lilia ging zum Schluss nur noch mit schusssicherer Weste auf die Straße, mit dem Rücken stets zur Wand, um rechtzeitig sehen zu können, ob sie jemand in sein Blickfeld nahm, bis sie es nicht mehr aushielt und abhaute. Ein Jahr hat sie in Hamburg im „Writers-in-Exile“-Programm des PEN Unterkunft gefunden, eine Frau, deren Mut allen imponierte, die ihr begegneten. Dann entschied sie sich, zurückzukehren nach Mexiko. Was solle sie in Deutschland, sagte sie, sie werde in Mexiko gebraucht, dort sei ihr Engagement wichtig. Es war ein berührender Abschied bei der letzten Begegnung zwischen ihr und den deutschen Schriftstellern, denn niemand sprach aus, was doch alle dachten: Wer weiß, ob wir uns wiedersehen.

„Sie sind gekommen, um dich zu holen“

Der Blogger Ahmed Nadir aus Bangladesch, den ich eine Zeitlang im Auftrage des PEN betreut habe, war dagegen froh, dass er in Deutschland bleiben durfte. Nadir ist Computerspezialist, er hatte eine kleine Firma in Bangladesch und war gerade auf der Cebit in Hannover, als ihn sein Vater anrief und dringend vor einer Rückkehr warnte. „Bleib, wo du bist, Junge, sie sind gekommen, um dich zu holen. Die einen wollen dich einsperren, die anderen umbringen.“

Bei der Suchaktion nach Nadir, um diesen Störenfried endlich zur Strecke zu bringen, haben die Fanatiker dem Vater ein Auge ausgeschlagen. Nadirs Schuld bestand darin, zu Demonstrationen für demokratische Rechte aufgerufen zu haben. Seit ich Nadir betreut habe, kenne ich das deutsche Asylverfahren aus eigener Anschauung. Ich kenne auch seitdem Asylbewerberheime und verschweige den Namen der abgelegenen Stadt, in der Nadir untergekommen ist und sich monatelang gelangweilt hat, denn sie hat sich bemüht, diese Stadt, sie konnte wohl nicht anders. Es war ein uraltes Bürogebäude mit nackten Betonwänden, Eisenbetten darin, immerhin auch mit einem Fernseher.

Die Idee, Nadir mit einem zweiten Asylbewerber aus Bangladesch auf ein Zimmer zu legen, liegt nahe, sie war aber völlig falsch. Nadir ist nämlich Atheist, der andere aber war ein frommer Moslem, der jeden Tag fünfmal in Richtung Mekka betete, und Nadir wusste, wenn der andere von seiner Einstellung erfährt, ist sein Leben in Gefahr, vor allem nachts, wenn er schläft und damit wehrlos ist. Der andere hat es natürlich doch gemerkt, er hat aber nicht Nadir angefallen, sondern das Mobiliar im Zimmer in seiner Panik und Hilflosigkeit kurz und klein geschlagen. Nach monatelangem Warten, nach mehrfachem Drängen des PEN und zweier Bundestagsabgeordneter kam es schließlich zur Verhandlung und Nadir wurde Asyl gewährt. Er hat seither im Rheinland Kontakte gefunden, aber all das ist nichts im Vergleich zum Verlust von Familie, Freunden und Heimat eben.

Inzwischen sind zwei andere Blogger, Freunde oder Bekannte von Nadir, in Bangladesh brutal mit Macheten ermordet worden, weil sie atheistisch dachten.

In diese Reihe passt das Schicksal des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, inzwischen Ehrenmitglied des deutschen PEN, der für seinen liberalen, antifundamentalistischen Blog zu tausend Stockschlägen verurteilt wurde, die in 20 Wochen, jeweils an einem Freitag, verabreicht werden sollen. Jeden Freitag fünfzig Schläge, eine Strafe, die mittelalterlich zu nennen ich mich scheue. Das Mittelalter hatte freiere Phasen. Der Aufschrei der Empörung in der Welt war groß, beeindruckte die dortige Regierung aber nicht. Nach Saudi-Arabien geht übrigens ein Großteil deutscher Rüstungsexporte, aber das ist dann wohl eine andere Sache, oder?

Diktatoren fürchten das freie Wort

Das freie Wort, wie wird es doch misshandelt in der Welt! Von allen Künstlern, so unsere Erfahrung, sind es zuerst die Schriftsteller, die verfolgt werden, weil ihr Arbeitsmaterial, das Wort nämlich, untrennbar mit Inhalten verbunden ist. Und Inhalte können, wenn sie die Realität schildern, störend sein, für manche Machthaber auch gefährlich.

Dazu fällt mir ein Bezug zur Bibel ein. Gott spricht im Schöpfungsbericht ein Wort nach dem anderen aus und eine ganze Welt entsteht. Auch durch Schriftsteller können, wenn wir Worte schreiben, Welten entstehen, Gedankenwelten nämlich, die aber nicht Gedanken bleiben müssen, sondern zu neuen Realitäten führen können. In Diktaturen sind das oft genug Gegenwelten, die die Unterdrücker um ihre Macht fürchten lassen und zur Verfolgung jener anstacheln, die doch nur von dem Gebrauch machen, was ihnen zusteht: von dem Menschenrecht auf freie Meinung. In Deutschland, das sei hinzufügt, wird das freie Wort nicht unterdrückt. Hier wird es abgehört.

Und frei macht das Wort auch nach der Bibel, zweiter Bezug zu unserem Glauben, denn die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel ist doch, wenn man es genau liest, keine Bestrafung, sondern sie befreit. Befreit von Hybris, von dem Wahnsinn, einen Turm hoch bis zum Himmel zu bauen. Durch Sprache wird der Mensch davon befreit und vielfältig soll sie auch sein, sagt die Bibel.

Wenn nun Schriftsteller so zahlreich verfolgt werden, ist es gut, dass sie eine Organisation haben, die ein Anwalt an ihrer Seite ist. Die ihnen direkt helfen kann, mindestens so, dass die Verfolgung öffentlich wird. Das ist schon einiges, denn wie alle Verbrecher scheuen auch Diktatoren das Licht der Öffentlichkeit. Hier liegt nun eine der wichtigen Aufgaben des PEN, ein Großteil unserer Arbeit beschäftigt sich damit.

Was bedeutet nun das Wort „PEN“? Es ist, wie leicht zu vermuten, eine Abkürzung aus dem Englischen und steht für Poet, Essayist und Novelist. Der Poet ist der Lyriker, der Essayist der Journalist oder Sachbuchautor, heute zunehmend auch der Blogger, der Novelist der Romanautor. Zusammen ergibt es das Wort PEN, das für Feder steht, obwohl wir alle nicht mehr mit der Gänsefeder schreiben wie unsere berühmten Vorgänger, sondern mit dem Computer.

140 PEN-Zentren in 101 Ländern

140 PEN-Zentren gibt es in 101 Ländern. Der deutsche PEN-Club, wie man das früher nannte, hat etwa 800 Mitglieder. Man kann in den PEN nicht eintreten, sondern man wird hineingewählt, was immer auch für den jeweiligen Autor eine Auszeichnung ist. Zwei Bürgen müssen bei der Jahrestagung einen schriftlichen Antrag einreichen, warum sie diesen oder jenen Autor (oder Autorin) als Mitglied vorschlagen, sie müssen diese Begründung vor den Tagungsteilnehmern vorlesen und dann kommt alles darauf an, ob dies Mehrheit der Teilnehmer überzeugt oder nicht.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Das ist ein wichtiger Unterschied zum Verband deutscher Schriftsteller (VS), der sich mehr um Tariffragen kümmert, um Musterverträge zwischen Verlag und Autor zum Beispiel. Beim Schriftstellerverband kann man selber beantragen, aufgenommen zu werden. In der Regel reicht es, wenn man ein Buch veröffentlicht hat. Die meisten PEN-Autoren sind, genau wie ich, auch Mitglied im Schriftstellerverband, beide Verbände arbeiten gut zusammen.

Es ist kein Zufall, dass der Name aus einer englischen Abkürzung besteht, denn gegründet wurde der PEN 1921 in England, und zwar auf typisch englische Weise, nämlich bei einem Dinner. Am 5. Oktober 1921 lud die Schriftstellerin Catherine Amy Dawson-Scott ihre Schriftstellerfreunde zu sich ein (darunter die späteren Literatur-Nobelpreisträger George Bernhard Shaw und John Galsworthy) und wollte den „To-Morrow-Club“ gründen, den Vorläufer des PEN.

Hintergrund war das schreckliche Erlebnis des Ersten Weltkriegs, Dawson-Scott wollte, dass sich solch ein Verein auch in anderen Ländern gründete, um auf diese Weise beizutragen zur Völkerverständigung, damit es nie wieder Krieg gibt. Warum sollten bei diesem großen Unternehmen nicht die Schriftsteller vorangehen, hat sie gedacht. Tatsächlich gab es beim ersten internationalen PEN-Kongress 1923 schon 11 PEN-Zentren in verschiedenen Ländern.

John Galsworthy als erster Präsident

Erster Präsident des nun internationalen PEN wurde John Galsworthy, auch ein Nobelpreisträger, der berühmt geworden ist für seine Romanreihe „Die Forsyte Saga“. Ich selbst habe in meiner Schulzeit die längere Erzählung „The man, who kept his form“ gelesen, frei übersetzt: Der Mann, der sich selbst treu blieb. Es ist die Geschichte eines Unangepassten, der seinen – freilich etwas konservativen – moralischen Grundsätzen folgt, selbst wenn er dafür Nachteile in Kauf nehmen muss. Sie hat mir gefallen, diese Geschichte und ist mir als ein Hinweis für das eigene Leben im Gedächtnis geblieben: Versuche auch du, deinen Grundsätzen treu zu bleiben! Insofern, denke ich, ist Galsworthy ein guter erster PEN-Präsident gewesen.

Trotz der schnellen Gründungen von Zentren in aller Welt ist der PEN am Anfang doch ein wenig dem Charakter eines Dinnertreffens oder einer Teestunde treu geblieben, denn nach dem Willen von Dawson-Scott sollte es keine politische Autorenvereinigung sein. Völkerverständigung, Freundschaften über die Grenzen hinaus, das ja, aber politisch sollte der PEN sich nicht äußern. Dies ist eine Einstellung zur Literatur, die einem immer wieder begegnet, bis heute. Wie kann man so etwas Schönes wie die Poesie mit der schnöden, hässlichen Politik vermengen? Ich höre das immer wieder, wenn ich einen zeitkritischen Roman veröffentlicht habe, denn ich bin in diesem Punkt ganz anderer Meinung.

Der PEN war in seiner Anfangszeit in diesem Punkt ja auch widersprüchlich. Was ist denn Völkerverständigung anderes als gelungene, geradezu wünschenswerte Politik? Auch ein Satz in der Charta, dem Grundgesetz des PEN, ist hochpolitisch: „Sie (die PEN-Mitglieder) verpflichten sich, für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhass und für die Hochhaltung des Ideals einer in Frieden lebenden Menschheit mit äußerster Kraft zu wirken.“

Das soll unpolitisch sein? Hochpolitisch ist das, geradezu brisant angesichts der Zustände in unserer Welt.

Als Ernst Toller 1933 das Wort ergriff

Spätestens ab 1933 ließ sich die feine, etwas vornehme Zurückhaltung in Sachen Politik für den PEN nicht mehr durchhalten. Da hatten in Deutschland die Nazis die Macht übernommen und hatten alle ihre Kritiker – Sozialdemokraten, Kommunisten, kritische Christen und nicht zuletzt unbequeme Schriftsteller – ins KZ geworfen, gefoltert, manche auch getötet oder ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen und sie so ins Exil gezwungen, u.a. den damaligen deutschen PEN-Präsidenten Alfred Kerr, der bekannteste Literaturkritiker seiner Zeit, der jüdischer Abstammung war.

1933 veranstalteten die Nazis einen Tiefpunkt an Kulturlosigkeit, die Bücherverbrennung. Auf dem Berliner Opernplatz ließen sie all jene Bücher verbrennen, die sie für undeutsch hielten. Es waren die Werke fast aller bekannten deutschen Autoren, so dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass das deutsche Geistesleben verbrannt werden sollte. Heute findet man an der Stelle, wo der Scheiterhaufen stand, ein ebenso einfaches wie überzeugendes Denkmal. Eine Glasplatte ist dort in den Boden eingelassen worden und wenn man hindurchschaut, sieht man unten einen völlig sterilen Raum mit weißen, leeren Bücherregalen.

Was bleibt also übrig, wenn die Kultur vernichtet ist? Leere bleibt übrig, Sterilität und geistige Ödnis. Es erfüllte sich in der Folgezeit, was der großartige Dichter Heinrich Heine knapp hundert Jahre vorher prognostiziert hatte: Wer Bücher verbrennt, der verbrennt auch Menschen. Weiß Gott, das haben sie getan, die Nazis. Millionenfach.

Die Bücher des sozialistischen Schriftstellers Oskar Maria Graf wurden nicht verbrannt, einige wurden von den Nazis sogar empfohlen. Graf floh aus diesem Nazi-Kerker und schrieb einen bewegenden Aufruf, in dem er sich über diese Behandlung durch die Nazis beklagte:

„Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbande gelangen.“ Was für eine großartige Haltung eines Schriftstellers!

Und der PEN? Den hatten sich Nazi-Schriftsteller unter den Nagel gerissen. Ja, das gab es leider auch, Schriftsteller, die ihr Wirken in den Dienst einer Verbrecherideologie gestellt haben. Klar, wenn die Großen vertrieben werden, können sich die Mickerlinge aus dem vierten oder fünften Glied ins Licht drängen. Ich habe die Namen mal nachgeschlagen, die nach Hitlers Machtergreifung das Präsidium des PEN bildeten, sie sind, bis auf Hanns Johst, der Romane und Theaterstücke schrieb, völlig unbekannt. Unbedeutend sowieso.

Bei der Tagung des internationalen PEN in Dubrovnik im Mai 1933 tauchte diese Delegation dann auf und wollte nicht, dass über Politik geredet wurde, natürlich nicht, weil sie ja Angst haben musste, dann wegen der Verfolgung und Folterung von Schriftstellern am Pranger zu stehen. Das aber verhinderte der damalige PEN-Präsident H.G Wells („Krieg der Welten“), der Ernst Toller das Wort erteilte, einem bekannten deutschen Schriftsteller, dem die Nazis die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt hatten und der nun im Exil lebte.

Toller klagte in einer flammenden Rede nicht das deutsche Volk an, sondern diejenigen, die es in eine Diktatur gezwungen hatten und die nun alle Andersdenkenden verfolgten, folterten und töteten. Und dann nannte er all die Namen der Schriftsteller und Maler, die die Nazis eingesperrt oder getötet hatten. Er bekam viel Applaus für diese mutige Rede, der Nazivorstand des PEN verließ empört die Tagung und isolierte sich damit selbst.

Nach 1945 spaltete sich der deutsche PEN

Fortan gab es kein PEN-Zentrum mehr in Deutschland, aber einen Exil-PEN mit Sitz in London, in dem die meisten Schriftsteller von Rang und Namen Mitglied waren, denn sie alle mussten ja aus Nazideutschland fliehen. Einer gehörte aber nicht dazu, der bekannte Autor Erich Kästner („Emil und die Detektive“, „Das doppelte Lottchen“), der das Kunststück fertig brachte, die Nazizeit in Deutschland zu verbringen, in innerer Emigration, ohne sich den Nazis anzudienen. Er hatte sogar der Bücherverbrennung in Berlin als Zuschauer beigewohnt und erleben müssen, wie auch seine Bücher verbrannt wurden. Eine Frau hat ihn dabei sogar entdeckt und erschreckt gerufen: „Aber da ist ja der Kästner!“ Zum Glück hat es keiner von den Nazis gehört. Kästner wurde nach dem Krieg einer der prägenden PEN-Präsidenten.

Den Exil-PEN, dies nebenbei, gibt es bis heute, obwohl eigentlich keine Veranlassung mehr dafür besteht. Wir arbeiten gut mit ihm zusammen, aber warum er nicht zu uns übertritt, weiß ich nicht.

Nach dem Krieg machte der PEN die deutsche Spaltung mit. Trotz anfänglicher Bemühungen, sich nicht zu trennen, entstand ein DDR-PEN, genannt PEN Ost, und ein West-PEN. Intensive Kontakte zwischen beiden Verbänden gab es nicht. Also war Deutschland auch im Literaturbetrieb gespalten. Und wer nun glaubt, dass sich nach der Wende die beiden Verbände schnell und vor allem erfreut zusammengefunden haben, der täuscht sich gewaltig.

Die Vereinigung der beiden Länder verlief durch den „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik, denn das war es ja, vergleichsweise schnell: Die Schriftsteller aber wollten erst mal, wie das ihre Eigenschaft ist, diskutieren. Wie habt ihr euch in der Zeit der Trennung verhalten, welches Erbe bringt ihr ein in unseren Verband und vor allem: Ich will nicht neben einem Stasispitzel bei den Jahrestagungen unseres PEN sitzen! Und Stasispitzel, meinten viele Westler, waren die anderen doch meistens.

Doch Vorsicht! Fritz Rudolf Fries zum Beispiel, ein guter DDR-Autor, war IM bei der Stasi, aber warum? Hauptsächlich, weil ihn die Stasi in der Hand hatte. Seine Tochter war nämlich krank. Medizin, die ihr half, gab es nur im Westen. Die Stasi besorgte ihm die Medizin und half damit seiner Tochter, aber dafür wollte sie eben Informationen haben… Fritz Rudolf Fries hat übrigens hauptsächlich Allgemeinplätze ausgeplaudert, nichts, das anderen hätte Schaden zufügen können. Trotzdem, er hat unter dieser Last, als alles rauskam, schwer gelitten und ist aus allen Autorenverbänden, auch aus dem PEN, in dessen Präsidium Ost er mal gewählt worden war, ausgetreten.

„Wessi“ oder „Ossi“ – heute ist es egal

Es gab Kämpfe, die den PEN fast zerrissen hätten und es dauerte Jahre, bis der PEN unter der behutsamen Führung des damaligen PEN-Präsidenten Christoph Hein, ein „DDR-Autor“, der heute Ehrenpräsident ist, doch zusammengeführt wurde.

Heute spielen die alten Kämpfe keine Rolle mehr und nach der letzten Wahl ins Präsidium, die in Magdeburg, also einer Stadt im Osten stattfand, haben wir im Nachhinein erschreckt festgestellt, dass gar kein „Ossi“ mehr im Präsidium ist, bis sich der Kassierer, mein Freund Matthias Biskupek meldete und sagte: Ich bin doch ein Ossi. Und der Ehrenpräsident Christoph Hein ist es auch.

Eigentlich ist es nicht schlecht, dass der Gedanke Ost – West bei der Wahl überhaupt keine Rolle gespielt hatte, denn das ist ein Zeichen von Normalisierung. Und wenn bei der nächsten Wahl fünf „Ossis“ gewählt werden und uns das auch erst lange nach der Wahl auffällt, ist das ein ebenso gutes Zeichen.

Die Vereinigung war also ein schwieriger Prozess und es ist gut, dass sie geklappt hat, denn nun folgt der PEN wieder mit Macht seinen Zielen aus der Charta und er ist dabei im kulturellen und gesellschaftlichen Leben, wie ich das liebe und wie sich das für Schriftsteller meiner Meinung nach gehört, ein Störfaktor. Denn jene, die gegen die wichtigsten Ziele des PEN, nämlich den Kampf gegen Völker- und Rassenhass, verstoßen, die also Hass verbreiten und damit Kriege rechtfertigen, und die das freie Wort unterdrücken wollen, sollen uns als ihre Gegner verstehen. Als ihre erbitterten Gegner!

Was macht nun der deutsche PEN?

Viermal im Jahr kommt das Präsidium in verschiedenen Städten zusammen und plant die Aktionen. Einmal im Jahr treffen wir uns zu einer großen Jahrestagung, dann können alle kommen, die PEN-Mitglieder sind. In der Regel sind das 150 Schriftsteller, was bei diesen ausgeprägten Einzelgängern schon eine stattliche Anzahl ist.

Zuflucht in acht deutschen Wohnungen

Acht Wohnungen, in Berlin, Darmstadt, München und Hamburg hat der deutsche PEN zur Verfügung, um dort verfolgte Schriftsteller unterzubringen, das ist einmalig innerhalb des internationalen PEN. Wir entscheiden darüber, wen wir für ein oder zwei Jahre aufnehmen und wer hier bei uns wieder unbedroht wohnen und schreiben darf. Natürlich bekommen diese Autoren auch monatlich Geld zum Überleben.

Das Geld für Stipendien und Wohnung bekommt der PEN vor allem vom Ministerium für Kultur, also von der Bundesregierung, dazu gibt es die Städte, die Wohnungen zur Verfügung stellen. Es löst nicht das Problem der Verfolgung von Schriftstellern, aber es lindert sie wenigstens für ein paar von ihnen. Trotzdem, einfach ist das Leben auch für diese acht Autoren nicht bei uns. Sie kommen doch nach jahrelanger Verfolgung oder Haft traumatisiert zu uns, einige sind krank. Sie alle müssen erst mal Schritt für Schritt ins Leben zurückfinden, noch dazu in einem fremden Land. Wie mache ich das mit dem Arztbesuch, wo muss ich Anträge für dieses oder jenes stellen? Einige müssen fast wortwörtlich an die Hand genommen und ins Leben geführt werden.

Dauernd veröffentlichen wir, in welchen Ländern wieder welche Schriftsteller eingesperrt werden oder mit dem Tode bedroht sind. Manchmal hilft es etwas, manchmal erst einmal nicht, dann aber plötzlich doch nach ein paar Jahren. Nach quälenden Jahren in schrecklichen Gefängnissen.

Wir sind aber auch hier im Lande aktiv. Die schrecklichen Todesfälle im Mittelmeer haben den deutschen PEN zu einem Aufruf veranlasst, der eine menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen verlangt. „Schutz in Europa“ heißt der Aufruf, den über tausend Schriftsteller unterzeichnet haben, und den wir in Berlin dem Staatssekretär im Innenministerium übergeben haben, der sich dadurch angegriffen fühlte und nicht besonders freundlich benahm. Wir haben ihn auch in Brüssel an den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz überreicht, der sehr froh über diese Initiative war und den PEN-Präsidenten, im Moment ist das Josef Haslinger, erfreut empfing. Schulz ist ein Freund der Bücher und damit der Schriftsteller. Er war früher Buchhändler.

Wo immer es Ansätze von Zensur, aber auch Einschnitte in Kulturprogramme gibt, erhebt der PEN seine Stimme. Das Wort muss frei bleiben und es darf auch nicht durch finanzielle Einschränkungen beschnitten werden.

Gegen die Gratismentalität

Im Moment haben wir viel mit Abwehrkämpfen zu tun und kämpfen zum Beispiel gegen die Gratismentalität im Internet, die vor allem durch eine Partei propagiert wird, die für dieses Programm den richtigen Namen trägt und die nun, dazu muss man kein Wahrsager sein, wieder verschwinden wird. Piraten heißt sie und was Piraten tun, wissen wir ja alle. Vielleicht haben sie auch hier ein paar Sympathisanten, denen ich eines zu bedenken geben möchte. Das Internet ist nichts anderes als eine technische Möglichkeit, die erst einmal leer ist. Gefüllt wird sie durch die Geistesleistung von Menschen, durch Musiker, Schriftsteller, Journalisten, die von ihrer Arbeit leben müssen. Deren Produkte kostenlos anzubieten, heißt, sie zu enteignen.

Das sollte man mal mit materiellen Werten tun wollen. Zehn Jahre nach Tod des Firmenchefs geht seine Firma in Gemeineigentum über, das wäre eine vergleichbare Forderung. Den Aufschrei möchte ich mal hören. Aber mit Geistesarbeitern glaubt man, es machen zu können. Nein, alles was in Online-Zeitungen, in kopierten Internetbüchern, an Musik erscheint, muss bezahlt werden, sonst können viele Journalisten, Schriftsteller oder Musiker nicht mehr arbeiten und wir würden geistig ausdünnen.

Kürzlich wollte jemand E-Books, nachdem er sie gelesen hatte, in einem Internet-Antiquariat verkaufen. E-Books veralten aber nicht in ihrem Material, sie bleiben, was sie schon beim Kauf sind. Ein Gericht hat diesen Versuch untersagt. Andernfalls könnten meine Verlage gar keine Bücher mehr produzieren. Es reicht ja, wenn sie ein E-Book herstellen, das dann, was ja auch geschieht, zig mal kopiert wird und dann auch noch im Antiquariat verkauft wird. Wie soll ein Verlag davon leben? Das geht nicht, also würde es ihn nicht mehr geben, also würde er meine Bücher nicht mehr drucken und auch nicht die meiner Autorenkollegen. Also könnten wir nichts mehr veröffentlichen. Eine geistig-literarische Verarmung wäre die Folge.

Wir kämpfen gegen TTIP, das große Handelsabkommen zwischen Europa und Nordamerika, dessen Vertragstext so geheim ist, das ihn nicht mal Politiker lesen dürfen. Wer hat in dieser Welt eigentlich das Sagen? Die gewählten Politiker oder die Großkapitalisten?

Buchpreisbindung beibehalten

Schriftsteller sind vor allem dagegen, weil dann die Buchpreisbindung aufgehoben würde. Anbieter wie Amazon würden Bücher zu Billigpreisen verkaufen, kaum jemand ginge noch in die Buchhandlungen, von denen wir in Deutschland noch etwa 5000 haben, eine gut geordnete Szene also, die dann zu wenig zum Überleben verdienen und folglich verschwinden würde. Und mit ihnen unsere Bücher, vor allem jene, die nicht in den Bestsellerlisten stehen, die aber informierte Buchhändler trotzdem auf Vorrat halten und empfehlen.

Über 500 Schriftsteller haben einen Protestaufruf unterschrieben und sich darin verbeten, dass die NSA in Deutschland alles und jeden abhört. Der PEN war maßgeblich daran beteiligt. 500 Schriftsteller, darunter alle bekannten, Juli Zeh hat diesen Aufruf im Bundeskanzleramt übergeben. Geschehen ist daraufhin…nichts. Die Bundeskanzlerin hat den Schriftstellern nicht einmal geantwortet.

Natürlich organisiert der PEN auch literarische Veranstaltungen, denn wir sind ja dem Wort ganz allgemein verpflichtet, nicht nur dem verfolgten, sondern auch der Schönheit der Sprache. Sich mit Literatur zu beschäftigen, mit wichtigen, auch unbequemen Inhalten, mit schön gebauten Sätzen, mit anregenden Sprachbildern und Metaphern, das ist doch etwas gerade in einer Zeit des Überschwalls von Wörtern und Sätzen, oft ohne oder mit wenig Inhalt. Auch darauf möchte der PEN hinweisen.

Lesungen und Diskussionen

Lesungen mit unseren Stipendiaten finden in Literaturhäusern statt, große Diskussionsveranstaltungen zu wichtigen literarischen Themen werden durchgeführt, bei der letzten Jahrestagung zum Beispiel zu der Frage, ob der Blasphemieparagraph aus dem Gesetzbuch gestrichen werden soll. Jener Paragraph also, der angebliche oder wirkliche Gotteslästerung unter Strafe stellt. Es ist eine Diskussion in der Folge des schrecklichen Attentats auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Bei der nächsten Jahrestagung in Dortmund wird eine Lesung „Der Klang der Sprache“ heißen. Drei Autoren sollen lesen, es soll einfach um die Schönheit von Sprache gehen.

Einmal im Jahr verleiht der PEN den Hermann-Kesten-Preis an eine Person oder Organisation, die sich gegen Menschenrechtsverletzungen engagiert. Zur Hälfte gibt der PEN das Preisgeld, zur anderen Hälfte das Land Hessen. In diesem Jahr werden diesen Preis Can Dündar und Erdem Gül bekommen, zwei mutige türkische Journalisten, die aufgedeckt haben, dass die türkische Armee Waffen an den IS liefert, an den IS, der damit die kurdische PKK bekämpfen kann. Die Kurden sind für Erdogan wohl der schlimmere Feind als der IS. Natürlich wurden die beiden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt, Dündar konnte aber, bevor eine Revisionsverhandlung vor Gericht stattfand, ausreisen und befindet sich in Deutschland. Dafür hat die Türkei seiner Frau den Pass entzogen und die Ausreise verweigert. Sippenhaft, um ein Faustpfand gegen Dündar in der Hand zu haben!

Es sind also viele Initiativen, die der PEN rund um das geschriebene, das literarische Wort ergreift, denn ja, wir müssen uns wehren. Dauernd gilt es, Gefahren abzuwehren, denn was macht die Welt für die Herrschenden bequemer als das freie Wort mundtot zu machen?

Nachts um 1 Uhr im Ratskeller

Aber all dies macht immer noch nicht den PEN aus, denn es gibt noch ein kleines, schönes Nebenergebnis. Wir sind doch alle, ich sagte es schon, Einzelgänger, die ihre Zeit allein für sich im Zimmer vor dem Computer verbringen, um den neuen Roman, den nächsten Gedichtband fertig zu stellen. Aber wir haben auch gerne Kontakt zu Menschen, weil wir gerne lachen, gerne Anekdoten erzählen. Wir suchen den Meinungsaustausch, der auch ein paar Tipps und Ideen für Projekte mit sich bringt. Und dazu taugen unsere Jahrestreffs.

Die Sitzungen, die heftigen Diskussionen im Plenum, die Veranstaltungen an den Abenden, das alles ist nur der eine Teil. Der andere besteht darin, dass wir uns zu kleinen, oft zufälligen Gruppen zusammenfinden, dass wir ein Bier miteinander trinken, über Gott und die Welt reden, uns dabei kennenlernen und – das nächste Nebenprodukt – so manches Projekt aushecken. Ja, das haben wir auch nötig.

Bei der letzten Jahrestagung in Magdeburg, als wir uns in einer großen Runde im Ratskeller zusammengefunden hatten, fragte ich den Wirt: Warum machen Sie denn plötzlich überall das Licht aus? Er antwortete: Wir schließen immer um ein Uhr nachts.

Da haben wir alle auf die Uhr geschaut und tatsächlich, es war Viertel nach eins. Wir hatten uns wunderbar festgequatscht und jeder von uns hatte einen oder zwei Kollegen neu kennengelernt. Irgendwo, bei einer Gelegenheit, an die wir jetzt noch nicht denken, wird das eine Rolle spielen.

Auch deshalb bin ich gerne im PEN. Wir sind Störenfriede, wir sind unbequem, wir sind politisch, wir lieben schöne Literatur. Das ist gut so. Aber daneben lerne ich immer auch ein paar Schriftsteller kennen, deren Bücher ich mag und mit denen ich nach einer langen Nacht plötzlich befreundet bin. Das ist nicht nur einfach gut so, das ist bestens.




„Die Natur ist unsere Lehrerin“: Hamm zeigt Gemälde aus Künstlerkolonien um 1900

Lichtflirrende Birkenalleen, liebliche Gewässer, weite Felder, zauberhafte Seeblicke, düstere Moore. Diese Ausstellung führt uns hauptsächlich auf Schauplätze in der freien Natur. Im Hammer Gustav-Lübcke-Museum geht es jetzt um „Lieblingsorte – Künstlerkolonien“ von Worpswede bis Hiddensee. Man darf sich auf etliche schöne Ansichten gefasst machen.

Museumsleiterin Friederike Daugelat, die sich mit dieser Schau von Hamm verabschiedet, hat sich, der besseren Vergleichbarkeit wegen, auf den deutschen Norden konzentriert. Motive und Stimmungen, Licht und Schatten sind dort eben anders beschaffen als in südlicheren Gefilden.

Fritz Overbeck: "Birken vor Kornfeld" (um 1892) (Gustav-Lübcke-Museum)

Fritz Overbeck: „Birken vor Kornfeld“ (um 1892) (Gustav-Lübcke-Museum)

Bilder aus insgesamt sieben Künstlerkolonien sind zu sehen. Worpswede ist die bei weitem bekannteste, auf der imaginären Reiseroute folgen: Schwaan (Mecklenburg), Hiddensee, Heikendorf (bei Kiel), Ahrenshoop (Fischland-Darß), Ferch (bei Potsdam) und das am weitesten östlich gelegene Nidden (seinerzeit Ostpreußen, heute Litauen). Nicht von all diesen Orten hat man schon gehört.

Jede Kolonie hat ihre Eigenheiten, manche entstanden z. B. rund um Gasthöfe, in anderen Orten ließen sich die Maler dauerhaft nieder. Doch der Impuls ist derselbe: Um 1900 und vornehmlich bis zum Ersten Weltkrieg suchten viele Künstler, die der Verstädterung, der Industrialisierung und der gesellschaftlichen Zwänge überdrüssig waren, solche Refugien in der (damals schon bedrohten) Natur. In ganz Deutschland hat es rund 30 Künstlerkolonien gegeben. Heutige Trendfolger hätten sich wohl schier überschlagen vor lauter Zeitgeist-Anhimmelung.

Manche Idylle beruhte freilich bereits eher auf künstlerischem Wollen und nicht so sehr auf wirklicher Unberührtheit. Sehnsüchte nach „paradiesischen“ Zeiten waren im Spiel – und auch schon Mahnungen, den Raubbau an der Natur betreffend. Stilistische Feinheiten zwischen Jugendstil, Impressionismus und expressionistischen Ansätzen treten demgegenüber fast in den Hintergrund.

Die Parole hieß also: Hinaus aus den Ateliers und Akademien! Otto Modersohn formulierte es für Worpswede so pointiert: „Fort mit den Akademien, nieder mit den Professoren (…), die Natur ist unsere Lehrerin…“

Begonnen hatte die europaweite Bewegung zur Freilichtmalerei um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Barbizon (Frankreich), eine profane Voraussetzung war die Erfindung der Farbtube gewesen, die den Künstlern entschieden mehr Bewegungsfreiheit gab. Nun wurde die Landschaftsmalerei als Genre enorm aufgewertet, vordem hatte sie eher als Staffage gedient. Natur war zumeist nicht unmittelbar studiert und angeschaut worden. Fast schon groteskes Beispiel: Wer Schnee malen wollte, nahm oft genug weiße Watte als Vorlage.

Um anhand der Auswahl ein pauschales Urteil zu wagen: Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass den Künstlern, die sich in Worpswede zusammengefunden haben, insgesamt der größte und dauerhafteste Ruhm beschieden war. Tatsächlich beeindrucken hier Themenfindung und malerische Umsetzung ganz besonders.

Rudolf Bartels: "Obstbaumblüte" (Kunstmuseum Schwaan)

Rudolf Bartels: „Obstbaumblüte“ (Kunstmuseum Schwaan)

Die Ausstellung ist nicht auf allmähliche Steigerung angelegt, sondern beginnt gleich mit einigen der schönsten Werke, die just aus Worpswede stammen. Zu nennen wären beispielsweise Fritz Overbecks „Im Mai“ (1908), Heinrich Vogelers „Herbstgarten“ (1903), Hans am Endes „Frühling in Worpswede“ (1900) und Otto Modersohns „Moordamm“ (um 1900). Bemerkenswert übrigens, dass fast alle Worpsweder Leitfiguren zuvor an der Düsseldorfer Akademie studiert hatten.

Ähnlich starke „Akkorde“ wie zum Auftakt gibt es wieder am Schluss des Rundgangs, wenn quer durch die Kolonien spezielle Lieblingsorte einiger Künstler Auge und Herz erfreuen. Das dazwischen Eingefasste ist mitunter von schwankender Qualität.

Zum Worpsweder Kreis gehört natürlich zeitweise auch Paula Modersohn-Becker, die hier mit dem famosen Bild „Sitzende Bäuerin mit Kind vor Birken“ (1903) vertreten ist. Schöner Zufall übrigens, dass an diesem Donnerstag Christian Schwochows neuer Kinofilm „Paula“ (Titelrolle Carla Juri – hier ein Trailer) gestartet ist, der Episoden aus ihrem Leben aufgreift.

Apropos: Zu jenen Zeiten war Frauen der Zugang zu den Akademien noch verwehrt, es gab in ganz Deutschland nur drei (teure und ziemlich schlechte) „Damenakademien“. Die Künstlerkolonien boten seltene Chancen für damals so genannte „Malweiber“, von renommierten Kollegen zu lernen und sich zu entfalten wie zu jener Zeit nirgendwo sonst. Auf Hiddensee gründete sich gar ein veritabler Künstlerinnenbund.

Hermine Overbeck-Rohte: "Sonnenbeschienener Weg" (Overbeck-Museum, Bremen)

Hermine Overbeck-Rohte: „Sonnenbeschienener Weg“ (Overbeck-Museum, Bremen)

Warum eigentlich Hiddensee und nicht die Nachbarinsel Rügen? Dort war es den Freilichtmalern zu mondän und zu touristisch. Dort tauchte auch schon mal der Kaiser auf, der die Kunst der Kolonisten gar nicht schätzte. Drum suchten sie lieber Hiddensee als „Insel der Aussteiger“ auf.

Rund 80 Gemälde von etwa 40 Künstlern versammelt die Hammer Schau, die unversehens derart die Reiselust weckt, dass man – scherzhaft gesagt – an der Museumskasse die Möglichkeit vermisst, sogleich eine Tour gen Norden zu buchen.

Schade auch, dass es zwar umfangreiche Audioguide-Führungen gibt, aber keinen Katalog, sondern nur ein schmales Begleitheft. Da die Ausstellung auch keine zweite Station haben wird, ist sie hernach also unwiederbringlich dahin und wirkt hauptsächlich in der Erinnerung des Publikums nach.

Das soll allerdings nicht heißen, dass wir es durchweg mit großer Kunst zu tun hätten. Etliche Maler(innen)namen werden allenfalls Fachleuten vertraut sein, eine längliche Aufzählung wollen wir uns an dieser Stelle ersparen. Manchmal hat verblasste Erinnerung auch mit begrenzten malerischen Mitteln zu tun und nicht nur mit der bösen, ungerechten Nachwelt.

Die betrüblichste Entwicklung hat allerdings ein anfänglicher Anreger und Spiritus rector von Worpswede genommen, nämlich Fritz Mackensen. Idyllen bergen eben auch Gefahren und vermeintlich wertfreie Naturbetrachtung schützt vor Torheit nicht. Ist nicht schon Mackensens Bild „Trinkender Bauer“ (1909) etwas unangenehm Volkstümelndes anzumerken? Er zeigt den Landmann nicht realistisch als Schwerarbeiter, sondern idealisiert: statuarisch, bodenständig, wie später auch in der „völkischen“ Kunst ein gängiger Typus aussah. Tatsächlich hat Mackensen im Kunstbetrieb der Nazizeit an vorderster Front mitgemischt.

Stadtflucht, Emanzipation, Lebensreform-Bewegung im Sinnes eines „Zurück zur Natur“: Solche Stichworte legen den Gedanken nahe, dass gesellschaftliche Fragen an diese Ausstellung mindestens so ergiebig sein könnten wie rein künstlerische.

„Lieblingsorte – Künstlerkolonien“. Von Worpswede bis Hiddensee. 18. Dezember 2016 (adventliche Eröffnung 11.30 Uhr) bis 21. Mai 2017. Öffnungszeiten: Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. www.museum-hamm.de




Unprätentiös und zupackend – Neues Buch würdigt „Starke Frauen im Revier“

„Wenn man einmal Feminismus hatte, dann geht das nie wieder ganz wech. Aber ich komm prima damit zurecht.“ – Nie wird Gerburg Jahnke müde, das zu betonen. Ganz prima kommt Frau Jahnke daher sicher auch mit einer Kurz-Biographien-Sammlung zurecht, die „Starke Frauen im Revier“ porträtiert, darunter selbstredend auch Gerburg Jahnke.

starkefrauen Doch um ein feministisches Manifest in diesem Sinne geht es den Autorinnen des Bandes nicht. Mit Kategorisierungen und Schubladendenken haben sich die Frauen im Ruhrgebiet noch nie lange aufgehalten. Sie sind eben – wie schon der Untertitel des Buches besagt – alles, nur nicht zimperlich. Sie machen einfach. Genau wie Sabine Durdel-Hoffmann und Antia Brockmann, die Initiatorinnen und Autorinnen des Buches. Ihnen geht es darum, das Bild der vielen starken Frauen im Ruhrgebiet ins rechte Licht zu rücken.

Als Mythos hat sich im und über das Ruhrgebiet das Bild des hart malochenden Kumpels verankert. Die Würdigung der Rolle, die viele Frauen im Ruhrgebiet gespielt haben und noch spielen, kam dabei oftmals zu kurz. Es ist die erklärte Intention des Buches, den in der öffentlichen Wahrnehmung vernachlässigten Frauen eine Plattform zu geben.

Der Band würdigt Lebensleistungen ganz unterschiedlicher Frauen aus den verschiedensten Bereichen. Als Vorbilder taugen sie alle, denn eines eint sie: Sie sind unprätentiös, unsentimental, zupackend, aber dennoch gefühlig. Womit doch wenigstens ein Klischee bestätigt wäre. Sind ja auch nicht alle Klischees schlecht. Und gerade dieses sieht man als Ruhrgebietsfrau doch gerne bestätigt. Zumal die Autorinnen im Vorwort auch explizit betonen, dass die Auswahl für alle Frauen des Ruhrgebiets steht „auch für die, die nicht berücksichtigt wurden. Für Prominente ebenso wie für Heldinnen des Alltags“.

Vorgestellt werden die Frauen nach Themenbereichen. Angefangen mit den Großmüttern der Industrialisierung über die Sportverrückten und die Frauen des Glaubens bis zu den Theken-Regentinnen wird ein breites Spektrum abgedeckt. Manche Frauen sind einem schon ganz gut bekannt, die Frauen der Krupp-Dynastie etwa oder eben die Schauspielerinnen und Kabarettistinnen wie die eingangs erwähnte Frau Jahnke, der wir ja nicht nur Ladies Night oder die Missfits verdanken, sondern auch einen beherzten Einsatz für den Erhalt ruhrgebietstypischer Kleinkunsttheater.

Am spannendsten sind die Abschnitte über die Frauen, die sich um Kunst und Museen verdient gemacht haben und die Abschnitte über die Frauen des Glaubens im Kapitel „Die Kirche ist eine Frau“. Gerade hier habe zumindest ich einiges zum allerersten Mal gelesen und fand es hochinteressant und anregend. Da hätte man gerne noch mehr erfahren, aber das hätte vermutlich den Rahmen gesprengt. Aber immerhin – man hat erste Informationen. Richtig interessant sind auch viele der eingefügten Fotos, die auch abseits der Texte neue Einsichten vermitteln.

Die beiden Autorinnen kommen aus der Verlagswelt (Lektorin, Übersetzerin), beide sind gebürtig im Ruhrgebiet und leben auch heute noch hauptsächlich im Revier.

Anita Brockmann/Sabine Durdel Hoffmann: „Starke Frauen im Revier“. Elisabeth Sandmann Verlag, München, 151 Seiten, € 19,95.

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Anm. d. Red.: Der Band „Starke Frauen im Revier“ hat – außer thematischen Anklängen – nichts zu tun mit dem gleichnamigen Schwerpunkt in der Dauerausstellung des Ruhrmuseums auf der Essener Zeche Zollverein. Die Themenführung im Museum heißt nur zufällig genauso.




Kino-Ödnis in einer Großstadt: Wenn auch noch die Dortmunder „Schauburg“ schließen würde…

Dortmund ist eh schon alles andere als eine Kinostadt, und nun schließt auch noch – nach 104 Jahren – mit der „Schauburg“ das älteste Lichtspielhaus am Platze. 1912 war das Vorläuferkino eröffnet worden, also bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Wenn das keine Tradition ist!

Wie die Nordstadtblogger und die Ruhrnachrichten übereinstimmend berichten, gibt’s in der Brückstraße schon am 26. Dezember die allerletzte Vorstellung; ein Rückschlag auch für alle städtischen Bemühungen, das Problemviertel ein wenig aufzuwerten.

Immerhin halten Konzerthaus, Chorakademie (Europas größte Singschule) und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte im näheren Umkreis die kulturelle Stellung, wie denn überhaupt (vom Theater mal abgesehen) das Dortmunder Musikleben wohl noch die lebendigste Sparte in der Stadt ist.

Es liegt übrigens nicht einmal an mangelndem Publikumszuspruch, sondern offenbar allein daran, dass der Mietvertrag nicht verlängert wird. Was aber wird der Eigentümer an dieser Stelle statt dessen vorhaben? Noch eine drittklassige Boutique, noch einen Sexshop? Nun, wir wollen nicht polemisch spekulieren. Aber schlecht wird einem doch.

Es ist zum Heulen. Und es bleiben (beide ebenfalls in der Nordstadt) einstweilen eigentlich nur noch „Roxy“ und „Camera“ als ernsthafte, gelegentlich filmkunstgeneigte Kinos in einer Großstadt, die gerade erst wieder die magische Marke von 600.000 Bewohnern überschritten hat. Traurig, traurig. Wir reden von der einwohnerstärksten Kommune des Ruhrgebiets, die zu den zehn größten der Republik gehört. Man vergleiche einmal die Kinodichte in ähnlich (und weniger) bevölkerten Kommunen…

Immerhin: Edith Pioch-Vogt, seit einigen Jahren Betreiberin der „Schauburg“, will nicht völlig aufgeben, sondern an anderer (zentraler) Stelle ein neues Kino eröffnen, entsprechende Verhandlungen laufen bereits. Sie wird doch nicht etwa das „Film Casino“ am Ostenhellweg wiederbeleben wollen? Das wäre eine mittlere Sensation. Man gäbe was drum. Bisher sind alle Anstrengungen gescheitert, dem im Inneren stilecht nostalgisch ausgestatteten Haus neues cineastisches Leben einzuhauchen. Auch dort hat sich bislang eine Eigentümerin gegen alle kreativen Nutzungen gesträubt. Manchmal ist es schon ein Kreuz mit dem Eigentum.




WDR-Film „Wildes Ruhrgebiet“: Wie Pflanzen und Tiere frühere Industrieflächen erobern

Die bundesweit größte Wanderfalken-Kolonie hat sich im Ruhrgebiet angesiedelt. Diese Raubvögel, die auch auf Tauben aus sind, mögen halt hohe Schlote, aus denen kein Rauch mehr kommt.

Derlei erstaunliche Eroberung aufgegebener Industrie-Areale ist beileibe kein Einzelfall. Etliche Tierarten haben – um nicht einmal zu kalauern – ihr Revier im Revier gefunden; zumindest für eine gewisse Zeit, häufig auch dauerhaft. Das Ruhrgebiet als „Platz für Tiere“ – wenn Bernhard Grzimek das geahnt hätte…

Zwischen rostendem Stahl: Rotfüchse haben sich mitten im früheren Hüttenwerk (Landschaftspark Duisburg Nord) angesiedelt. Hier finden sie bessere  Schlupfwinkel als im Wald. (Foto: © WDR/Light & Shadow GmbH)

Zwischen rostendem Stahl: Rotfüchse haben sich mitten im früheren Hüttenwerk (Landschaftspark Duisburg Nord) angesiedelt. Hier finden sie bessere Schlupfwinkel als im Wald. (Foto: © WDR/Light & Shadow GmbH)

Da sind beispielsweise die Füchse, die sich im stillgelegten Duisburger Stahlwerk sicherer fühlen können als in vermeintlich „freier Natur“. Unterdessen haben Steinmarder – sonst Felsenbewohner – eine aufgelassene Gießereihalle für sich entdeckt. Da ist der Flussregenpfeifer, der riesige Brachflächen zu erobern weiß, die durch den Abriss von Industriebauten entstanden sind. Anders, als es sein Name vermuten lässt, braucht er nicht zwingend ein Gewässer.

Findig waren auch die Kreuzkröten, die vor der Industrialisierung in den Auenlandschaften der Ruhr gelebt haben und sich nun auf Kohlehalden verlegt haben. Wenn diese in absehbarer Zeit vollends begrünt sein werden, müssen sich die Tiere allerdings wieder auf Wanderschaft begeben.

Der (hauptsächlich von einem NDR-Team um den Regisseur Christian Baumeister erstellte) WDR-Fernsehfilm „Wildes Ruhrgebiet“ (morgen, 13. Dezember, 20.15 Uhr; bis zum 20. Dezember außerdem in der Mediathek) zeigt in teilweise hinreißenden Bildern frappierende Kontraste zwischen rostenden Industriekolossen, öden Brachlandschaften und einer quasi unverwüstlichen Natur, die sich Räume in dieser geschundenen Landschaft zurückerobert. Das hat schon seinen ganz eigenen Reiz, den man in anderen Gegenden nicht kennt.

Pflanzliche Pioniere wie Birken und tierische Neuland-Eroberer wie eben Füchse und Marder machen den Anfang, alsbald folgen andere Arten und es entstehen ungeahnte Biotope. Das geht dann etwa nach und nach so vor sich: Pflanzen überwuchern alte Gleisanlagen, es folgen Insekten, die sich an den Pflanzen gütlich tun, sodann wollen Igel die Insekten vertilgen und locken schließlich Tiere an, die ihrerseits Igel fressen.

Sprachlich ist der 45 Minuten lange TV-Beitrag zuweilen redundant, hin und wieder auch etwas volltönend geraten („Das Comeback der charismatischen Vögel“). Doch der in Dortmund geborene Sprecher Dietmar Bär, der schon bessere Texte hatte, verhütet immerhin Schlimmeres.

Auch wenn man von der einen oder anderen Wiederkehr bzw. Neuansiedlung schon gehört hat, bleibt der Film lehrreich. Er kündet von den nie versiegenden Selbstheilungskräften der Natur, die sich sogar noch auf vergifteten Böden festkrallt, und sei’s in Gestalt der Ödlandschrecke. Mit grausig gestimmter Phantasie vermag man sich demnach vorzustellen, wie es nach einer Katastrophe oder Apokalypse aussehen könnte.

Doch denken wir lieber ans Positive. Selbst Bergsenkungsseen, die ja eigentlich aus Schädigungen der Natur hervorgegangen sind, haben sich (etwa in der Dortmunder Hallerey) zu beschaulichen kleinen Paradiesen entwickelt, in denen nicht nur Lachmöwen ein ideales Brutgebiet vorfinden.

Ganz zu schweigen vom grandiosen Projekt einer Renaturierung der einstigen Fluss-Kloake Emscher, die sich über weite Strecken schon wieder als lieblicher Bach durch diese Region schlängelt und eine entsprechende Flora und Fauna nach sich zieht. Nicht oft können Filme mit so vielen sinnfälligen Hoffnungszeichen aufwarten.




Von bedrückender Aktualität – Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ in Dortmund

Fiederike Tiefenbacher Bettina Lieder Frank Genser

Eine einsame Frau (Friederike Tiefenbacher) packt die Koffer für Amsterdam. Im Hintergrund, heftig verliebt und sportlich: SS-Mann Theo (Frank Genser) und seine Anna (Bettina Lieder). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Gerade ist jemand abgeholt worden, und das Ehepaar in der Nachbarwohnung hat es mitgekriegt. Das Treppengeländer hätten sie nicht kaputtmachen sollen, befinden sie, der Mann war ja schon bewußtlos. Und seine Jacke hätten sie nicht zerreißen sollen, „so dicke hat’s unsereiner nämlich auch nicht“.

Die gruselige Szene aus Bertolt Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, ist jetzt im Dortmunder Theater zu sehen, in der Ausweichspielstätte „Megastore“, wo Sascha Hawemann die Alltagsbilder aus Nazi-Deutschland in lockerer Reihung inszeniert hat. Die 24 Szenen, von denen 11 in Dortmund zur Aufführung gelangen, schrieb Brecht zwischen 1935 und 1938, im selben Jahr wurden sie in Paris uraufgeführt.

Episches Theater

Seinen Brecht hat der Regisseur, Jahrgang 1967 und in der DDR aufgewachsen, fleißig studiert, weiß um episches Theater und V-Effekt: Verfremdung schafft Verständnis, und ein besonderer Kunstgriff von Sascha Hawemann besteht darin, Bert Brecht als den Inszenierer seiner Szenen auf der Bühne selbst auftreten zu lassen.

Uwe Schmieder, ein zierlicher Mensch mit Hornbrille und staubgrauer Jacke, gibt dem klarsichtigen Dichter Gestalt, doch wenn er manche Szenen wiederholen läßt, wenn er sein Schauspielpersonal zu höchster Perfektion antreibt und erst nach dem dritten, wütenden Durchgang halbwegs zufrieden ist, dann ähnelt er mehr als Brecht fast Woody Allen, einem ganz anderen und doch erstaunlich ähnlichen großen Dramatiker.

Carlos Lobo Frank Genser Bettina Lieder Uwe Schmieder Alexander Xell Dafov

Man übt sich im Schlange stehen. Von links: Carlos Lobo, Frank Genser, Bettina Lieder, Uwe Schmieder und Alexander Xell Dafov (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Moralverlust

Ein an Aktualität kaum zu überbietender Stoff: Was für die einen Furcht und Elend bedeutet, ist für die anderen nationalistische Verheißung, Genugtuung nach historischer Schmach, allfälliges Herrenmenschentum.

SS-Mann Theo mit seinen blitzblank polierten Stiefeln ist so ein Verblendeter, ihm ähnlich seine Verlobte Anna, hörig aus Liebe und blind für alles andere. Vielleicht kann man jungen Menschen wie ihnen noch ihre intellektuelle Unbedarftheit zugutehalten. Bei anderen, Älteren jedoch erodieren Werte, Recht, Haltungen ins Bodenlose, sie sind es schon längst.

Auf gespenstische Weise gemahnt dieser kollektive Moralverlust an heutige Zeiten mit erfolgreichen „Populisten“, mit Pegida, Doppelpaßverbot und „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“.

Uwe Schmieder

Uwe Schmieder, Bert Brecht (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wortloser Abschied

Mutige Helden gibt es bei Brecht nicht, eher durchschnittliche Menschen, die glauben, mit etwas Wegducken und Weggucken durchzukommen. Die Jüdin Judith Gold, die die Flucht nach Amsterdam vorbereitet und sich telefonisch von einigen Freunden verabschiedet, ahnt, daß sie keinem dieser „arischen“ Deutschen fehlen wird. Ist sie auch ihrem Mann nur Last? Ihrer beider Abschied jedoch, wortlos, schmerzlich, wissend, gehört zu den stärksten Momenten dieses Theaterabends. Andreas Beck und Friederike Tiefenbacher geben das bürgerliche Ehepaar, dessen letzte 60 Trennungssekunden von „Brecht“ Uwe Schmieder qualvoll langsam abgezählt werden.

Merle Wasmuth Andreas Beck Uwe Schmieder

Szene im Amtsgericht mit Merle Wasmuth und Andreas Beck (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hilfloser Richter

Beck brilliert auch in der Rolle des Amtsrichters, der über drei Nazis urteilen soll, die ein jüdisches Schmuckgeschäft verwüstet haben. Skrupel oder gar Handlungsethik sind diesem mißratenen Nachfahren des Richters Adam fremd, fachlich angezeigtes Ermitteln und Bewerten sowieso. Und trotzdem reitet er sich in die Grütze, weil er seinen Opportunismus nicht zu kanalisieren weiß.

Hat der Jude die Nazis vielleicht provoziert, oder ist es besser für dessen „arischen“ Kompagnon, wenn es anders war? Welche Rolle spielt der mächtige Hausbesitzer, und wie soll man das Abhandenkommen von Schmuck erklären? Wenn er was falsch macht, wird er nach Hinterpommern strafversetzt, aber nichts falsch zu machen scheint unmöglich, trotz aller charakterlichen Geschmeidigkeit. Uwe Schmieder macht sich als Zuträger von verstörenden Gerüchten aller Art wiederum verdient, eine herrliche Posse, bestens gegeben – und erschütternd wegen ihres vermutlich nicht geringen Wahrheitsgehalts.

Angst vor den eigenen Kindern

Carlos Lobo und Merle Wasmuth sind – unter anderem – das ängstliche Elternpaar eines in der Hitlerjugend radikalisierten Sohnes (Raafat Daboul), dem sie zutrauen, daß er sie wegen unvorsichtiger Äußerungen denunziert. Es sei „nicht ganz sauber im braunen Haus“ hat der Vater unvorsichtigerweise gesagt, so oder ähnlich, und nun wissen sie nicht, wohin sich der Sohn im Regen wortlos verabschiedet hat. Schließlich Erleichterung, er hat nur etwas eingekauft.

Fiederike Tiefenbacher Uwe Schmieder Bettina Lieder Frank Genser

„Brecht“ (Uwe Schmieder) legt Judith Gold Friederike Tiefenbacher) einen Mantel um. Im Hintergrund Bettina Lieder und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Frank Genser und Bettina Lieder schließlich, der SS-Mann Theo und das Dienstmädchen Anna, heiraten gegen Ende des Theaterabends. Was dann kommt, ist nicht mehr von Brecht: Ein Bericht über Massenermordungen von Juden in der Schlucht von Babyn Jar in der Ukraine im Jahr 1941. 33.000 Menschen wurden hier erschossen. Theo und Anna erinnern sich (angeregt durch eine Schmalfilmvorführung am Tag der Hochzeit?) im heiter palavernden Dialog, und was sie da ohne jegliches Bewußtsein für die Ungeheuerlichkeit des Geschehens erzählen, ist schrecklich und bedrückend.

Bettina Lieder Frank Genser

Heitere Erinnerungen an den Massenmord: Szene mit Bettina Lieder und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kroetz folgt Brecht

Ob dieser Theaterabend indes die Abrundung mit Geschehnissen jenseits der Brechtschen Vorlage braucht – auch die Andeutung eines nahöstlichen Luftangriffs gelangt audiovisuell noch zur Vorführung, bevor das Stück zu Ende ist – sei dahingestellt.

Als Nächstes folgt in einer Woche im Megastore sinnfälligerweise „Furcht und Hoffnung der BRD“ von Franz-Xaver Kroetz, das 1984 seine Uraufführung im Bochumer Schauspielhaus erlebte und die Methode der Szenencollage aufgreift. Fast muß man befürchten, daß Bert Brechts düster-klarsichtige Vorahnungen der 30er Jahre aktueller sein könnten als Kroetz’ bundesrepublikanische Bestandsaufnahme.

  • Termine: 16.21.12.2016, 14., 19.1., 5., 19., 24.2., 4., 15.3., 2.4.2017
  • Karten Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de



Moden und Marotten im Journalismus (4): Von Selbstversuchen und Katalog-Rezensionen

Kennt ihr die vor einigen Jahren verstärkt aufgekommene Reporter-Marotte, alles an sich selbst auszuprobieren?

Ich möchte nicht wissen, wie viele Journalistinnen (oder auch Journalisten) sich im Lauf der Jahre unter einer Burka (wahlweise Niqab) verborgen und die Reaktionen der Mitwelt aufgezeichnet haben.

Alle Uhrzeiger auf dieselbe Zeit getrimmt: Ausriss aus dem erwähnten Prospekt der Galeria Kaufhof.

Alle Uhrzeiger auf dieselbe Zeit getrimmt: Ausriss aus dem erwähnten Prospekt der Galeria Kaufhof.

Erst jüngst fingierte eine Kollegin, sie müsse davon leben, in Mülltonnen nach dem Nötigsten zu suchen – und schrieb ausführlich darüber…

Einmal in Rechnung gestellt, dass manche junge Journalistin tatsächlich nicht ihr hinreichendes Auskommen hat, durchwehte jenen Beitrag trotzdem mehr als ein Hauch von Zynismus. „Elend“ mit eingebauter Rückkehr-Garantie. Hach, wie wärmt das ein herzensgutes Mittelschichts-Seelchen. Und das nicht nur zur Weihnachtszeit.

Einige mögen es auch hart. Ich kann mich an den Selbstversuch eines Reporters erinnern, der sich probehalber als Preisboxer verdingte.

Auch im Kulturteil hat man die eine oder andere Mode mitgemacht, freilich auf die sanftere Tour. Und dabei rede ich nicht einmal vom so genannten „Debattenfeuilleton“, das besonders in den überregionalen Blättern alle gewichtigen Weltfragen um und um wälzte. Der Zenit dieser Gattung liegt auch schon wieder einige Zeit zurück.

Manchmal ließ man’s hingegen gerade lässig angehen. Vor ungefähr zehn, fünzehn Jahren wurde es Mode, das Feuilleton flockig aufzulockern, indem man etwa das Telefonbuch oder den Ikea-Katalog besprach und überhaupt manchen Jokus mit dem Rezensions-Instrumentarium oder sonstigem Besteck des Kulturberichterstatters betrieb. Zuweilen war’s amüsant, doch nicht immer konnte es gelingen.

Anhang

Stichpunkt Ikea-Katalog besprechen. Play it again, Sam. Aber ich greife nur einen einzigen, freilich wundersamen Aspekt heraus. Und es handelt sich diesmal nicht um die Elche.

Vor ein paar Tagen fielen mir aus der Tageszeitung zwei Prospekte der Warenhauskette Galeria Kaufhof entgegen. Diesmal war ausnahmsweise nicht Spielzeug an der Reihe, das wäre ein Thema für sich. Wie aber ebenfalls in dieser Jahreszeit üblich, wurden in beiden Beilagen vor allem Düfte, Schmuck und Uhren angepriesen.

In dem einen Werbeblättchen habe ich 85 Uhrenmodelle gezählt, im anderen noch einmal über 60. Du meine Güte, welche Vielfalt! Mal schlicht, mal überladen, mal technoid, mal nahezu Fantasy, mal knatschbunt, mal einfarbig. Reichlich Auswahl für jeden Geschmack, wenn man denn in allen Fällen von Geschmack sprechen will.

Doch etwas war bei all diesen Uhren gleich, und zwar – die Uhrzeit. Die Zeiger sämtlicher Chronometer waren auf neun oder zehn Minuten nach zehn (10.10 Uhr) eingestellt.

Was sagt uns das?

Bevor wir uns irrwitzige Verschwörungstheorien basteln, deuten wir es lieber pragmatisch: Beim Kaufhof ist offenbar „Zug“ drin, zumindest wird uns dies signalisiert. Ein lenkender Wille bringt alle Uhren gleichermaßen „auf Vordermann“. Selbiges sollte dann wohl auch fürs Geschäftsgebaren der Kette gelten, die bekanntlich einer kanadischen Holding gehört. Es wäre sicherlich irritierend, wenn jedes Uhrwerk anders ginge. Pure Anarchie…

Zudem ließe sich über die konkrete Uhrzeit sinnieren, die sie da ausgewählt haben. Natürlich stehen nicht alle Uhren auf fünf vor zwölf, sondern zeigen eine hoffnungsvollere Zeit an: Um 10:10 Uhr ist der Tag leidlich in Gang gekommen, die meisten Leute sind einigermaßen wach und bei vollem Bewusstsein, außerdem hat der Kaufhof jetzt seit über einer Stunde geöffnet. Da weiß man doch, was die Stunde geschlagen hat. Konsumiere, du Wicht! Und zwar richtig. Wie hieß es früher so schön: „Kaufhof bietet tausendfach / alles unter einem Dach“.

Nur ein Rätsel bleibt noch übrig. Gerade mal fünf Uhren mit Digitalanzeige werden in den Prospekten feilgeboten. Sie aber – und nur sie – zeigen eine andere Zeit, nämlich allesamt exakt und sekundengenau 10:58:50 Uhr. Was hat das nun wieder zu bedeuten?

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Anno 2012 hatte hier eine kleine Serie unter dem Titel „Moden und Marotten im Journalismus“ begonnen – und alsbald wieder aufgehört. Damals sind erschienen:
„Kunterbunte Spielzeugwelt“
„Stocksteife Scheinobjektivität“
„Die Welt als Quiz, das Leben als Liste“

Jüngst hat noch eine (ebenso lose) Reihe unter dem Titel „Geheimnisse des Journalismus“ angefangen – ohne jede Garantie auf Fortsetzung.

So viel zur chaotischen Systematik der „Revierpassagen“.




Bremer Schiri pfeift Bremen in der Bundesliga

Harm Osmers ist ja nun mal so ein richtig norddeutsch klingender Name, so könnte eine Figur bei Theodor Storm heißen. Doch der Mann ist Bundesliga-Schiedsrichter, sein Wohnort wird mit Hannover angegeben. So weit, so gut.

Um es mal biblisch auszudrücken: Nun begab es sich aber zu der Zeit, dass Harm Osmers in der schönen Hansestadt Bremen geboren ward und aufgewachsen ist.

Warum ich das eigens erwähne? Nun, Herr Osmers pfeift an diesem Samstag in Berlin die Partie Hertha BSC gegen Werder Bremen. Für beide Vereine geht es um einiges. Die Hertha will weiter ganz oben mitmischen, Bremen endlich die abstiegsgefährdete Zone verlassen.

Nur noch mal ausdrücklich feststellt: Es ist lang geübte und gar zu nachvollziehbare Praxis, dass ein Schiri kein Spiel eines Teams aus seiner Heimatstadt pfeift. Dass man das überhaupt noch erwähnen muss!

Wir setzen mal voraus, dass Harm Osmers sich in irgend einer Weise für Fußball interessiert. Und man weiß ja aus eigener Erfahrung, wie das ist: Der Verein, der einen als Kind quasi umgibt, prägt sich dann mit allem Drum und Dran zutiefst und dauerhaft ein. Man darf also vermuten, dass Harm Osmers gewisse Sympathien für die Grün-Weißen hegt. Zumindest kann man es überhaupt nicht ausschließen.

Psssst: Kein Berliner, sondern ausgerechnet ein bekennender Fan von Werder Bremen hat mich auf diesen misslichen Umstand aufmerksam gemacht, den bislang weder „Bild“ noch „Kicker“ oder andere einschlägige Medien bemerkt haben. Auch die Berliner Fans („Hertha-Frösche“) sind in dieser Hinsicht offenbar arglos. Ha-ho-he…

Auf so etwas muss man ja auch erst einmal kommen.

Und jetzt? Jetzt bin ich mal doppelt gespannt auf Verlauf und Resultat der Begegnung. Nicht auszudenken, wenn Bremen durch strittige Entscheidungen gewinnen sollte. Wobei ich übrigens zu Bremen halte. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.




Der Schmerz und die Wut hinter den fröhlichen „Nanas“ – Frauenbilder von Niki de Saint Phalle in Dortmund

Ihre kunterbunten, drallen und prallen „Nana“-Figuren haben die Franko-Amerikanerin Niki de Saint Phalle (1930-2002) weltberühmt gemacht. Auf den ersten Blick vermitteln die monumentalen Skulpturen ungebrochene, beinahe kindliche Fröhlichkeit und betont weibliche Lebenslust. Doch ganz so simpel verhält es sich nicht.

Selbst solche Werke sind letztlich dem Leiden und dem Schmerz abgerungen, abgetrotzt. Das verdeutlicht jetzt eine Ausstellung im Dortmunder Museum Ostwall. Es ist die erste nennenswerte Präsentation dieser Künstlerin im Ruhrgebiet. Da merkt man mal wieder, dass beileibe nicht alles in dieser Region rechtzeitig ankommt, zumal auf dem Feld der schönen Künste. Aber besser spät als nie…

Moment der Befreiung: "Pink Nude in Landscape" (Rosa Akt in Landschaft), 1959. (© Niki Charitable Art Foundation / Foto Laurent Condominas)

Moment der Befreiung: „Pink Nude in Landscape“ (Rosa Akt in Landschaft), 1959. (© Niki Charitable Art Foundation / Foto Laurent Condominas)

Rund 120 Arbeiten sind in Dortmund versammelt, es handelt sich also um eine recht ansehnliche Auswahl, die den Blick auch in die Zeiten vor und nach den „Nanas“ schweifen lässt und somit die Perspektive gehörig weitet.

Viele Leihgaben aus Hannover

Zu verdanken ist die Fülle vor allem einer Kooperation mit dem Sprengel Museum in Hannover, das eine international bedeutsame Sammlung zum Werk von Niki de Saint Phalle besitzt. Als sie dem Haus im Jahr 2000 insgesamt 363 Arbeiten schenkte (und zur Ehrenbürgerin Hannovers wurde), war Ulrich Krempel Direktor des Museums – und blieb es bis 2014. Jetzt fungiert der in Bochum aufgewachsene Krempel just als Gastkurator in Dortmund. Ihm zur Seite standen Regina Selter (kommissarische Leiterin des MO) und Karoline Sieg.

Zielscheibe für die Wut auf den Geliebten: "Martyr nécessaire" (Notwendiger Märtyrer), 1961. (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto André Morin)

Zielscheibe für die Wut auf den Geliebten: „Martyr nécessaire“ (Notwendiger Märtyrer), 1961. (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto André Morin)

Die Schau gliedert sich weitgehend chronologisch und erstreckt sich über zehn Räume. Geradezu als Ikone erweist sich das einzige erklärte Selbstporträt, das Niki de Saint Phalle jemals geschaffen hat; wobei gerade sie sich natürlich in zahllosen anderen Werkstücken mehr oder weniger direkt selbst dargestellt hat.

Schreckliches Kindheitstrauma

Das teilweise mosaikartig gefügte Selbstbildnis (1958/59) besteht u.a. aus Keramikscherben und Kaffeebohnen, letztere als brünetter Haarkranz dieser schönen Frau, die sich in jüngeren Jahren auch als Mannequin (Model) für Magazine wie Vogue und Harper’s Bazaar verdingt hatte. Doch was hilft Schönheit allein? Brüchigkeit und Zerbrechlichkeit sprechen ziemlich buchstäblich aus dieser Arbeit.

Was man wissen muss, um die überaus starken, vielfach heftig aggressiven Impulse in ihrem Lebenswerk zu verstehen: Mit 12 Jahren ist Niki de Saint Phalle von ihrem Vater missbraucht worden, die Mutter hat zu all dem geschwiegen. Hinzu kam eine rigide katholische Erziehung. Aus solchen Verhältnissen sich herauszuwinden, erfordert beinahe übermenschliche Kräfte. Wohl auch deshalb gewinnt das künstlerische Schaffen zuweilen eine menschliche Dringlichkeit, die gar an eine Louise Bourgeois gemahnt.

Zukunftshoffung

Nach Schüssen auf kirchliche und andere Symbole: "Autel noir et blanc" (Schwarzweißer Altar), Assemblage, 1962 (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto: André Morin)

Nach Schüssen auf kirchliche und andere Symbole: „Autel noir et blanc“ (Schwarzweißer Altar), Assemblage, 1962 (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto: André Morin)

Seelische Drangsal ahnt man schon in jenem familiären, noch gegenständlichen Gemälde „Das Fest“ (um 1953), welches sie und ihren damaligen Mann Harry Mathews bei einer feuchtfröhlichen Feier auf einem Kölner Rheindampfer zeigt – freilich zweisam und ängstlich-traurig in eine Bildecke gezwängt, während ihre kleine Tochter die Mitte des Bildes einnimmt und tanzend „erobert“; ganz so, als wäre sie eine frühe Vorläuferin der „Nanas“, die erst Mitte der 60er aufkommen und vordem männlich beherrschte Räume ebenso beherzt wie voluminös übernommen haben.

Da kündigt sich also, aller momentanen Verzagtheit zum Trotz, die Morgenröte einer weiblichen Zukunftshoffnung an – zu einer Zeit, in der zwar Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ (1949) schon erschienen war, man aber gemeinhin noch nicht von Feminismus gesprochen hat; geschweige denn, dass er lebensweltlich wirksam geworden wäre.

Tatsächlich hat Niki de Saint Phalle zwischenzeitlich einen Nervenzusammenbruch erlitten und musste ihr eingeengtes Leben dringend ändern. Wie sehr hat ihr dabei geholfen, sich künstlerisch ausdrücken und befreien zu können!

Einen Auf- und Ausbruch markiert das Bild „Rosa Akt in Landschaft“ (1959), das eine durchaus selbstbewusste, kreative Schöpferin mit traditionellem Musikinstrument (Lyra) inmitten einer geradezu universalen, sternenweiten Explosion zeigt. Zuvor hat die Künstlerin mit der Assemblage „Zerbrochene Teller“ (um 1958) die den Frauen damals zugedachte Häuslichkeit entschieden zertrümmert.

Auf die Bilder schießen

Zu Beginn der 60er Jahre entstehen dann jene Schießbilder („Tirs“), bei denen sie mit Gewehren auf Leinwände angelegt und diese gleichsam zum farblichen „Bluten“ gebracht hat. Mit Dart-Pfeilen wirft sie auf eine Zielscheibe, kopfartig über dem Herrenhemd ihres damaligen Liebhabers platziert. Die Wut auf ihn musste einfach `raus. Damals durften Ausstellungsbesucher mitwerfen. In Dortmund ist das nicht vorgesehen.

Frauen in verschiedenen Rollen, bedroht von männlicher Kriegsmaschinerie: "Autel des femmes" (Altar der Frauen), 1964. (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Frauen in verschiedenen Rollen, bedroht von männlicher Kriegsmaschinerie: „Autel des femmes“ (Altar der Frauen), 1964. (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Alsbald zielt die junge Frau generell und speziell auf bildliche Symbole der Männerwelt und der Kirche. Auch ein veritabler Anti-Altar ist aus solchem Zerstörungswerk entstanden. Dahinter mag schon die nachmalige, rabiate „68er“-Aufforderung lauern: „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Nur dass hierbei ästhetische Gebilde entstehen und niemand körperlichen Schaden nimmt. Aber sage jetzt keiner, es sei eben doch weiblich-sanftmütige Kunst. Die Dortmunder Ausstellung trägt nicht von ungefähr den Titel „Ich bin eine Kämpferin“.

Positive Energie

Doch selbst Kurator Ulrich Krempel, wahrlich ein profunder Kenner ihres Werkzusammenhangs, kann an manchen Stellen nur über Beweggründe spekulieren – wie er denn auch dem Publikum nicht allzu viele deuterische Vorgaben andienen möchte. So wird auch er wohl nur mutmaßen können, wie und wann es letztlich zur „Wende“ im Werk gekommen sein mag, auf welch wundersame Weise Niki de Saint Phalle im Laufe der Jahre dermaßen viel positive Energie hat freisetzen können, welche ihre Visionen eines ersehnten Matriarchats befeuert hat.

Beherzt springende "Nana" aus bemaltem Polyesterharz, Stoff, Maschendraht und Papier: "Lily ou Tony" (Lili oder Tony), 1965 (© NIki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris, Foto Aurélien Mole)

Beherzt springende „Nana“ aus bemaltem Polyesterharz, Stoff, Maschendraht und Papier: „Lily ou Tony“ (Lili oder Tony), 1965 (© NIki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris, Foto Aurélien Mole)

Gewiss hatte es auch mit ihrer ungemein inspirierenden, wenn auch immer wieder schwankenden Beziehung zum gleichermaßen grandiosen Künstler-Kollegen und Maschinen-Poeten Jean Tinguely zu tun. Am Schluss der Dortmunder Auswahl sieht man eine Arbeit, die beide gemeinsam gefertigt haben – welch inniger Ausdruck zweier ganz verschiedener Sicht- und Schaffensweisen, die sich dennoch zu ergänzen vermochten!

Bis dahin kann man etliche Beispiele für die wechselvollen weiblichen Welten der Niki de Saint Phalle betrachten. Selbst bei einer Blitzführung ruft Kurator Krempel bereits so vielfältige Assoziationsmöglichketen auf, dass man vor manchem Bild staunend verharren möchte.

Kannibalische Mutter

Da sehen wir etwa die Frau als Gebärende, als Prostituierte, als Jungfrau oder als monströs „verschlingende Mutter“, die sich am Tisch im Café nicht nur Kuchen, sondern auch Kinder einverleibt. Das Kannibalische aber bemerkt man erst beim Näheren Hinsehen, zunächst ist einem die Figur trügerisch bunt erschienen. Überhaupt ist ja auch das Frauen- und Mutterbild bei dieser Künstlerin keineswegs ungebrochen. Wir erinnern uns ans Schweigen ihrer Mutter angesichts des ungeheuerlichen familiären Dramas.

Verschlingende Mutter: "Bon appétit" (robe mauve) (Guten Appetit, malvenfarbiges Kleid), 1980 (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Verschlingende Mutter: „Bon appétit“ (robe mauve) (Guten Appetit, malvenfarbiges Kleid), 1980 (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Und ja: Natürlich prangen auch ein paar „Nanas“ in Dortmund. Die größte misst immerhin über 5 Meter, eine andere scheint fröhlich von der Wand herab zu springen, mitten ins neue Leben hinein.

Bemerkenswert ist auch eine der allerersten, noch vergleichsweise unscheinbaren „Nanas“ von 1965: „Louise“ heißt sie, sie besteht auch aus Wollresten und ist in offenbar aus einem Taumeln heraus in tänzerische Bewegung geraten – immerzu vorwärts, wenn auch stets sturzgefährdet…

„Ich bin eine Kämpferin“. Frauenbilder der Niki de Saint Phalle. Museum Ostwall im Dortmunder „U“ (6. Etage). 10. Dezember 2016 bis 23. April 2017. Geöffnet Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 11-18 Uhr, montags geschlossen. 24., 25. und 31. Dez sowie 1. Jan. geschlossen. Eintritt 9 (ermäßigt 5) Euro, Katalog 19,90 Euro. Extra-Museumsshop und reichhaltiges Begleitprogramm. Internet: www.museumostwall.dortmund.de




Wir Angsthasen und Zimperliesen: Die neue Empfindlichkeit

Sicher liegt es an dieser ordinären Currywurst in scharfer Soße, die ich gestern hemmungslos aus einer Pappschale gepickt und, jawohl, genossen habe. Ethisch nicht zu vertretende Schlachtprodukte, weiß der inzwischen omnipräsente Veganer, blockieren das Gutsein und fördern fiese Überlegungen.

Freunde, das mag sein. Jemand wie ich, der Fleisch, Fisch und tierische Segnungen wie Milch, Eier, Honig ohne Zögern zu sich nimmt, der frisst auch eure Bedenken. Mit Mayo. Es tut mir leid. Aber wann sind wir eigentlich alle so extrem empfindlich geworden? Je besser es uns geht, desto weniger können wir vertragen. Das gilt nicht nur fürs Essen, sondern auch für stickige Luft, Lärm und alles, was gegen unsere zimperlichen Gewohnheiten geht.

Illustration zu Andersens Märchen "Die Prinzessin auf der Erbse". (© Fotolia)

Illustration zu Andersens Märchen „Die Prinzessin auf der Erbse“. (© Fotolia)

„Stell dich nicht so an!“ Dieser barsche Satz gehörte in der Aufbauzeit des 20. Jahrhunderts zur Kindererziehung. Das war kein Spaß, kann ich jüngeren Lesern versichern. Wir mussten den Teller mit dem muffigen Kochfisch leeressen, bei Tisch die Klappe halten, im Stockdunklen einschlafen („Die Tür bleibt zu!“), sonntags ohne Widerspruch wandern und gruseligen alten Tanten ein Küsschen geben.

Verfeinerte Lebensart

All das wollten wir unseren eigenen Kindern nicht antun. Meine Tochter durfte sich Pommes bestellen, mit Erwachsenen plappern, nachts ihre Gänselampe anlassen und stets mit unserer Aufmerksamkeit rechnen. Auch wurde sie nie eiskalt abgeduscht, obwohl das sicher gesund ist. Keiner von uns wollte die Härte der von traumatisierenden Erlebnissen geprägten Kriegsgeneration an die Gesellschaft der Zukunft weitergeben.

Wir waren sensibel, wir wollten es sein. Für eine bessere Gesellschaft. Leider haben wir Gewalt und üble Absichten nicht aus der Welt schaffen können. Verrückte Diktatoren und hasserfüllte Fanatiker tummeln sich auch in der Gegenwart. Und was tun wir? Wir feilen wir an der eigenen Lebensart und haben sie so stark verfeinert, dass wir uns gegenseitig damit erheblich auf die Nerven gehen. Wir sind die Memmen des Alltags. Jeder Hauch von Zigarettenrauch widert uns an. Raus mit euch, ihr Qualmer!

Essen als Herausforderung

Ein gemeinsames Essen wird zu einer Herausforderung. Man muss so viel bedenken. „Kannst du eigentlich Brokkoli vertragen“, fragt mich meine Freundin Uschi, eine kreative Köchin. Nein, Süße, kann ich nicht. Auch andere gesunde Sachen wie Zwiebeln, Nüsse, Kohl und Linsen, sogar Salat sind schlecht für meine Art der Darmbeschaffenheit, um es mal vorsichtig auszudrücken. Ich hätte gern Maispoularde mit Kartoffelpüree. Und Suppe ohne Schnittlauch. Und bloß kein Körnerbrot. Lieber Baguette. Und zum Nachtisch keine Beeren. Aber gerne eine Schokoladen-Mousse.

Gut, dass meine Freundin nicht zugleich eine jener Frauen eingeladen hat, die abends keine Kohlenhydrate wollen und Zucker für pures Gift halten. Den größten Küchenstress hat Uschi, selbst eine erklärte Freundin von Gulasch und Leberkäs, in ihrem vegetarisch-kalorienarm orientierten Damenkränzchen, zu dem ich zum Glück nicht auch noch gehöre. Allerdings ist eine Allergikerin dabei, die weder Eier und Milchprodukte noch Schalentiere und Zitrusfrüchte vertragen kann – von Nüssen ganz zu schweigen.

Um es klar zu sagen: Einige Unverträglichkeiten können lebensgefährlich sein. Wer davon betroffen ist, hat keine Wahl, als auf die bedrohliche Eigenart seines Immunsystems Rücksicht zu nehmen. Aber niemand weiß genau, wie viele Menschen tatsächlich unter ernsthaften Allergien leiden. Nach Auskunft der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft zeigen etwa 27 Prozent aller deutschen Männer und 39 Prozent der Frauen in unserer (zu) gründlich geputzten Zivilisation allergische Reaktionen. Die meisten davon reagieren verschnupft auf Pollenflug, einige bekommen Bauchweh von Mehl oder Milch. Andere klagen über die Tücke der Hausstaubmilbe und lassen den Teppichboden entfernen. Nur ein glatter Boden ist ein guter Boden. Der lässt sich leicht wischen. Aber nicht mit scharfen Substanzen, davon brennen uns die Augen. Am besten nur mit Wasser.

Selbst Wasser wird zum Problem

Apropos Wasser. Selbst das harmlose Element ist ein heikles Thema für uns Empfindsame. Während in Dürre-Regionen jedes Schlammloch genutzt wird, müssen wir, was da klar aus der Leitung fließt, erst mit Magneten und Heilsteinen „lebendig“ machen, um es trinken zu können. Manche glauben, jeder Schluck Sprudel könnte ihren Bauch aufblähen und die Gesundheit ruinieren. „Mit oder ohne Kohlensäure“ ist in Lokalen inzwischen eine gängige Frage, genau wie „mit oder ohne Koffein“. Ein Luxusproblem, wie mir scheint.

So, wie wir nicht mehr einfach zu uns nehmen, was auf den Tisch kommt, kontrollieren wir stets die gewöhnlichen Bedingungen unserer Umgebung. Allem wird misstrauisch nachgefühlt. Ist es hier drin zu kalt oder zu warm? Zieht es von der Tür her? Reden die Leute zu laut? Muss ich mich umsetzen? Aber nicht an den Tisch zwischen Fenster und Spiegel! Da geht nach Feng Shui die Energie verloren.

Kein Filter für die Umweltreize

Hilfe, wir sind so empfindlich, es ist nicht auszuhalten mit uns! Tatsächlich erforscht die amerikanische Psychologin Elaine Aron (72) schon seit den 1990er-Jahren ein anschwellendes Phänomen, das sie „high sensitivity“ nennt, Hochsensibilität (HS). Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung, sind nach Ansicht der Bestseller-Autorin („Sind Sie hochsensibel?“) von dieser Besonderheit betroffen. Das heißt, sie nehmen die Reize ihrer Umwelt intensiver wahr als der Rest der Menschheit. Geräusche, Gerüche, Farben, zufällige Berührungen können für hochsensible Naturen schier unerträglich sein. Ihnen fehlt gewissermaßen der innere Filter, mit dem robustere Naturen ihre Wahrnehmungen dämmen.

Wenn es eng wird bei der Vernissage, flieht der hochsensible Typ nach Hause. Wenn das Ferienhotel neben der Durchgangsstraße liegt, muss er sofort abreisen. Er kann das weniger Angenehme einfach nicht ausblenden – und will es auch nicht. Wie der Antiheld aus Wilhelm Genazinos Roman „Mittelmäßiges Heimweh“. Zitat: „Ich muss überlaute Menschen rechtzeitig erkennen und ihnen schnell aus dem Weg gehen. Seit Wochen schon will ich private Lärmerwartungsstudien anstellen, damit ich im Straßenverkehr nicht mehr so oft erschreckt werden kann.“ Angst und das Bedürfnis nach Kontrolle gehören auch im wirklichen Leben zusammen.

Wie die Prinzessin auf der Erbse

„So ein Quatsch“, hätte meine Mutter dazu gesagt. Wie viele Zeitgenossen hatte sie früh gelernt, die eigenen Befindlichkeiten zu ignorieren, um Nazi-Terror, Kriegsnächte, mörderische Fluchten und Hunger zu überleben. Bis zuletzt mangelte es ihr an Zartheit. Wir behüteten Nachgeborenen hingegen scheinen geradezu stolz auf unsere Empfindlichkeit zu sein. Ja, vielleicht wollen wir sogar gern die Hochsensiblen sein. Und fein wie die „Prinzessin auf der Erbse“ aus Hans-Christian Andersens kleinem Märchen. Sie erinnern sich?

Es war einmal ein Prinz, der wollte partout eine Prinzessin heiraten. Doch er traf auf seinen Reisen nur Betrügerinnen. Da ersann die alte Königin zu Hause einen unfehlbaren Test. Sie ließ die nächste Kandidatin, die ganz durchnässt am Stadttor erschienen war, in der Schlafkammer übernachten. Ganz unten auf die Bettstelle hatte sie eine Erbse gelegt und darauf zwanzig Matratzen sowie zwanzig Eiderdaunendecken gestapelt. Als die Unbekannte am nächsten Morgen klagte, dass sie überhaupt nicht schlafen konnte, weil sie auf etwas Hartem gelegen habe, da wussten alle, dass dies die richtige Braut war. Denn: „So empfindlich konnte niemand sein außer einer echten Prinzessin.“

Und? Wie zickig ist das denn? Wir sind keine Märchenprinzessinnen und sollten unsere Empfindlichkeiten auf ein angemessenes Maß reduzieren. Wie wäre es mit einer Currywurst draußen an der Ecke, wo es zieht und der Verkehr vorüberrauscht? Nur so als Übung. Na bitte: Geht doch!




Noble Gemessenheit: Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra in Dortmund

Ein Leben lang mit Mozart vertraut: Mitsuko Uchida. Foto: Richard Avedon

Ein Leben lang mit Mozart vertraut: Mitsuko Uchida. Foto: Richard Avedon

Mitsuko Uchida in Deutschland zu erleben, ist ein exklusives Vergnügen: Eben von einer Tournee aus Japan zurück, konzertierte die Wiener Pianistin mit japanischer Herkunft und Londoner Wohnsitz mit dem Mahler Chamber Orchestra zwei Mal – in Berlin und im Konzerthaus Dortmund.

Im Januar 2017 gibt es Auftritte in Hamburg, München, Frankfurt, im Februar in der neuen Elbphilharmonie – und im Frühsommer im Ruhrgebiet, wenn Mitsuko Uchida ihr Versprechen einlöst, das wegen Krankheit ausgefallene Konzert beim Klavier-Festival Ruhr 2016 im kommenden Jahr nachzuholen.

In Dortmund präsentierte sich die Pianistin mit einem Komponisten, der wie kaum ein anderer die 35 Jahre ihrer internationalen Karriere prägt: Sie dirigierte und spielte die beiden Klavierkonzerte KV 453 und KV 503 von Wolfgang Amadeus Mozart, die sie jüngst mit dem Cleveland Orchestra auch für die CD aufgenommen hat. Ein Programm, das zeigt, wie intensiv sich die Künstlerin ein Leben lang mit Mozart auseinandergesetzt hat – nicht nur mit dem Werk für Klavier, sondern zum Beispiel auch mit den Opern, die sie sich studierend angeeignet hat. So ist ihr das „Sprechende“ in Mozarts absoluter Musik ebenso vertraut, wie sie das „Absolute“ in seiner Bühnenmusik wiedergefunden haben dürfte.

In ihrem aktuellen Mozart-Spiel bleibt Mitsuko Uchida, betrachtet man es im Spannungsfeld zwischen diesen Polen, eher auf der Seite des „Absoluten“. Rhetorische Überraschungsmomente, humorvolle Zuspitzungen, der Aufbau drängender Spannung sind ihre Sache nicht. Auch flottes Tempo und energischer Drive, mit denen ein Modedirigent wie Teodor Currentzis gerade seine Gemeinde entzückt, fallen bei ihr nicht ins Gewicht. Uchidas Mozart ist einer der noblen Gemessenheit, der lichtvollen Balance, der Vertiefung ins Detail wie in den großen Atem.

Der Weg zur Verinnerlichung öffnet sich

Dabei gäbe ein Konzert wie das in G-Dur die Gelegenheit, opernhafte Rhetorik auszuspielen, mit Chromatik, Moll-Trübungen, arios ausschweifenden und rhythmisch strikten Momenten zu jonglieren. Im ersten Satz lässt Uchida das Orchester den starren Marschrhythmus betonen, dem sich das Soloinstrument erst einmal unterwirft, bis es sich in aparten Verzierungen und melodischer Selbständigkeit emanzipiert. Frisch und offen bleibt der Ton, kein Grübeln verschattet diesen Einstieg.

Erst das ausdrucksvolle Andante öffnet den Weg zur Verinnerlichung: Sehr weit geatmet, elegisch in der Haltung, von ätherischen Holzbläsern flankiert, vertieft sich Mitsuko Uchida in die Kantilenen, spielt so selbstvergessen, als stünde ein Romantiker wie John Field neben ihr. Das Mahler Chamber Orchestra wirkt hin und wieder unentschieden, als seien sich die Musiker über das Tempo nicht sicher; entsprechend vorsichtig klingt die Phrasierung. Hat sich die Pianistin da in Träumerei verloren? Der Finalsatz baut zunächst keinen Kontrast auf, wirkt wie ein gemüthaftes Tänzchen für ältere Herrschaften, ohne das „Feuer“ des dreißigjährigen Mozart. Uchida scheint Empfindung zu fordern, erreicht erst im Presto eine durch Noblesse gedämpfte Energie.

Der Weg zur Beethoven zeichnet sich ab

Auch das C-Dur Konzert (KV 503) kommt in der Haltung eher bedächtig daher. Unverkennbar soll die pompöse Eröffnung auf Beethoven vorausweisen; Die Pianistin bildet mit ihrem gebremsten, fast schon trocken-brillantem Spiel einen reizvollen Kontrast zu dem ausdrucksgeladenen, symphonisch gedachten Orchester. Aber Mitsuko Uchida wäre nicht die intime Kennerin Mozarts, verfolgte sie nicht einen subtilen Plan. Der offenbart sich spätestens im Andante, wenn sie die expressive Orchestersprache auf den Flügel überträgt, in einer atemberaubend vielschichtigen Phrasierung und mit der Nuancierung einzelner Töne jeden Takt mit Ausdruck gewichtet. Das Finale ist mit vollsaftigen Bläserfarben und dem auftrumpfenden Solopart wieder ein deutlicher Fingerzeig auf den Bonner, der zehn Jahre nach Mozarts Tod zu seiner einzigartigen Wiener Karriere durchbricht.

Was für ein vorzügliches Ensemble das Mahler Chamber Orchestra ist, war in der Region schon häufig zu erfahren. Mit Béla Bartóks Divertimento für Streichorchester bestätigen die Musiker ihren Ruf voll und ganz. Eine innere Übereinstimmung, eine auserlesene Spielkultur, ein souveräner Wille zum Ausdruck – hörbar in jedem Moment einer fabelhaft konzentrierten Interpretation, die das untergründig Lauernde, die verstörenden Verschattungen in dieser scheinbar so unbeschwerten Musik ebenso freilegt wie ihre kraftvolle Dynamik, ihre rhythmische Lebenslust und ihre spritzige Freude an der Farbe. Grandios!




Wenn Bin Laden noch leben würde – Leon de Winters Roman „Geronimo“

Dieser Roman könnte Stoff für Verschwörungstheorien liefern: Demnach ist Osama bin Laden nicht am 2. Mai 2011 von Eliteeinheiten der CIA in seinem Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad umgebracht worden, sondern bei dieser Geheimdienstoperation ist ein Doppelgänger gestorben.

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In Leon de Winters Roman „Geronimo“ (Codename für die Ergreifung von Bin Laden) lebt der Chef der Terrororganisation Al Kaida weiter, allerdings an einem von Militärs streng abgeschirmten Ort. Die USA und ihre Verbündeten möchten doch noch mehr über den Mann selbst, islamistische Gruppierungen sowie ihre Hintermänner in Erfahrung bringen. Es geht auch um einen geheimnisvollen USB-Stick. Der wiederum soll Informationen enthalten, dass der (scheidende) Präsident Obama in Wirklichkeit Muslim ist und nicht dem Christentum angehört.

Mal abgesehen von der Frage, wie geschickt es sich anlässt, gerade die religiöse Identität Obamas, die Rechtspopulisten immer wieder gern als Zielscheibe nutzen, in den Handlungsverlauf einzubeziehen, wirkt diese Episode auch sehr aufgesetzt und fügt den ohnehin schon zahlreichen und teils auch verwirrenden Handlungssträngen noch einen weiteren hinzu. Zudem lässt Leon de Winter auch vollkommen offen (wenn er denn schon bin Laden überleben lässt), wie es denn dann mit dem einst meistgesuchten Mann der Welt weitergegangen ist.

Der Autor bevorzugt es stattdessen, eine Geschichte zu erzählen, die den Terroristenchef als Menschenfreund erscheinen lässt. Durch Zufall trifft Osama eines Nachts, als er sein Versteckt verlässt und im Schutz der Dunkelheit Eis für seine Geliebten besorgen will, ein Mädchen namens Adana. Ihr haben Taliban (!) Ohren und Hände abgehackt, weil sie westliche Musik gehört hat, genauer gesagt Glenn Goulds Goldberg-Variationen. Die Kompositionen hat die aus Afghanistan stammende Jugendliche kennen und lieben gelernt, nachdem sie der US-Soldat Tom Johnson bei sich aufgenommen hatte. Ihre Eltern waren bei einem Angriff der islamistischen Milizen getötet worden. In die Hände der Terroristen gerät sie, weil die Taliban den US-Stützpunkt von Tom überfallen und sie mitnehmen. Adana schafft es aber, sich zu befreien und gelangt – wie es der Zufall will – nach Abbottabad. Die erste Begegnung mit Osama ist sehr spannungsgeladen, fragt er sich doch, ob er das Mädchen, das ihn trotz Verkleidung zweifellos erkannt hat, töten soll um seiner Sicherheit willen. Aber sie kann seine Sympathie gewinnen und er versteckt sie schließlich in einer Garage, versorgt sie mit Lebensmitteln.

Nachdem nun Bin Laden den Amerikanern ins Netz gegangen ist, beginnt für die junge Afghanin ein neuer und nicht weniger komplizierter Lebensabschnitt, mit dem der Autor die komplexen politischen und religiösen Gegebenheiten im mittleren Asien in den Blickpunkt rückt und zugleich auch auf internationale Verflechtungen eingeht.

Eine christliche Familie würde zwar gern Adana aufnehmen, fürchtet sich aber vor den Reaktionen einer überwiegend muslimischen Gesellschaft. Toms Bemühen, Adana außer Landes zu bringen, ist mit unüberwindbar scheinenden bürokratischen Hürden verbunden. Als er schließlich erfährt, dass sie nochmal Opfer eines Attentates geworden sein könnte, geraten alle Versuche, sein eigenes Lebensschicksal aufzuarbeiten, ins Wanken. Tom hat in Folge des Attentats von Madrid 2004 seine Tochter verloren. Und ihn plagen gegenüber Adana große Schuldgefühle, da er sie nicht ausreichend vor den Taliban hat schützen können.

Leon de Winters Buch lebt von Dynamik und Dramatik. Manchmal scheinen auch die Grenzen von Realität und Fiktion zu verschwimmen. Der Leser steht vor der Herausforderung, die Orientierung nicht zu verlieren.

Leon de Winter: „Geronimo“. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich. 442 Seiten, 24 Euro.




Geheimnisse des Journalismus – Heute: Der „schöne Artikel“ auf der Kulturseite

In dieser neuen Reihe weihen wir euch in mehr oder weniger geheimnisvolle Hinter- und Abgründe, um nicht zu sagen Verstiegenheiten des journalistischen Gewerbes ein. Natürlich unernst und halbseiden wie immer.

Nehmt dies zum Sinnbild dafür, dass die Revierpassagen mal wieder die Fragen der Zeit beleuchten. (Foto: Bernd Berke)

Nehmt dies zum Sinnbild dafür, dass die Revierpassagen mal wieder die Fragen der Zeit beleuchten. (Foto: Bernd Berke)

Wir beginnen mit der Kultur, speziell mit jenen lieb- und gnadenlos schlecht geschriebenen, hilflos formulierten Rezensionen, die ihr alle kennt. Ja, es gibt diesen Pfusch zuhauf, wie es in jedem Metier schlechtes Handwerk gibt, zuweilen selbst in den Qualitätszeitungen.

Solche Texte sind mit Klischees und unfreiwillig komisch verkorksten Sprachbildern gespickt, sie sind von wenig Fachkenntnis getrübt, ohne die Spur eines geistigen Mehrwerts, in jedem erdenklichen Sinne zweifelhaft und „unterkomplex“, wie man so unschön sagt. Wenn man bei Trost ist, erlischt spätestens nach zwei Absätzen die Lust zum Lesen.

Macht aber alles nichts. Sofern sie sich lobend über ihre Gegenstände äußern, sind derlei Besprechungen (nicht nur im Lokalteil, nicht nur in der Regionalpresse) höchst willkommen. Kulturschaffende aller Sparten scheren sich – zumindest öffentlich – nicht um die Qualität des Geschriebenen, wenn es ihren Schöpfungen nur huldigt.

Das Phänomen hat also nichts, aber auch gar nichts mit dem Niveau des Dargebotenen oder Geschriebenen zu tun, sondern just mit der menschlichen Eitelkeit. Wer sich geschmeichelt fühlt, sieht über manches Detail hinweg, nimmt es vielleicht gar nicht mehr wahr. Gar zu gern werden solche lobhudelnden Machwerke dann der Mitwelt als „Schöne Artikel“ anempfohlen und im Netz wie von Sinnen verlinkt und geliked. Es ist zum Piepen. (Wobei die Eitelkeit der Journalisten ein Thema für sich wäre).

So souverän, auch mal einen brillant geschriebenen „Verriss“ über ihre eigenen Hervorbringungen zu goutieren, sind indes die wenigsten Kreativen. Krasser noch: Ich möchte nicht wissen, wie viele Theatermacher einen gefürchteten Kritiker wie etwa Gerhard Stadelmaier (FAZ) haben umbringen wollen. Jedenfalls in der Phantasie.

P.S.: Ob diese Reihe fortgesetzt werde, fragt ihr? Weiß ich doch nicht.