Blumiges im Übermaß: Die New Yorker Philharmoniker spielen Werke von Béla Bartók und Gustav Mahler in Essen

Alan Gilbert, Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker, beim Konzert in der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz).

Die Qual der Wahl ist zuweilen nicht gering für Musikfreunde im Revier. Zu berichten ist von einem Sonntag, an dem die Wiener Philharmoniker im Konzerthaus Dortmund gastierten, während das New York Philharmonic Orchestra in Essen spielte. Zugleich brachte das Theater Dortmund eine  Neu-Inszenierung von Giuseppe Verdis „Otello“ heraus. Und das Essener Aalto-Theater zeigte Richard Wagners „Lohengrin“.

Die New Yorker, zuletzt im Mai 2013 in der Philharmonie Essen zu Gast, eröffneten den Abend mit einem der bedeutendsten Werke des Ungarn Béla Bartók. Die „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ aus dem Jahr 1936 erreicht eine hohe psychologische Dichte, bleibt aber zugleich abgründig und rätselhaft. Die Instrumentengruppen samt Klavier, Celesta und Schlagwerk musizieren auf ausgesprochen kammermusikalische Weise miteinander. Das ist kein Zufall, entstand das Werk doch im Auftrag des Schweizer Mäzens Paul Sacher, dessen Basler Kammerorchester das Stück auch zur Uraufführung brachte.

Unter der Leitung von Chefdirigent Alan Gilbert, dem ersten gebürtigen New Yorker auf dieser Position, entfalten die Musiker das eröffnende Andante tranquillo wie ein feines Gespinst. Im leisen Pianissimo-Gemurmel der Streicher tauchen verblüffende Farbmischungen auf, die uns den Einsatz einer Flöte oder einer Oboe vorgaukeln, obschon kein einziger Bläser auf dem Podium sitzt.

Die New Yorker glänzen auch in den folgenden drei Sätzen durch Fingerspitzengefühl: Sei es im rhythmisch durchpulsten Allegro, das Momente brodelnder Intensität erreicht, oder im ausgelassenen Finalsatz mit seinen bulgarischen Tanz-Rhythmen, durch den die Streicher so famos surren wie ein Schwarm zorniger Hornissen. Zum exquisiten Hör-Erlebnis gerät das Adagio, das mit seinen Paukenglissandi und Celesta-Klängen eine sonderbar verschwommene Atmosphäre schafft. Hin und wieder tropft ein Xylophon-Ton in diese traumgleiche Wolkigkeit hinein, prallt hart an unser Ohr, ohne die Nebel zu zerreißen.

Alan Gilbert, die Sopranistin Christina Landshamer und die New Yorker Philharmoniker. (Foto: Sven Lorenz)

Wie zwiespältig die „himmlischen Freuden“ sind, von denen Gustav Mahler in seiner vierten und vermeintlich lyrischsten Sinfonie kündet, erfassen Alan Gilbert und die New Yorker Philharmoniker indes nicht. Sie zeichnen ein nahezu ungebrochenes Idyll, das zwar feine kammermusikalische Differenzierung und scharfe Akzente kennt, aber wenig von den schwarzen Abgründen erzählt, an denen diese Musik auf gefährlich schmalem Grat entlang wandert. Stattdessen jede Menge Blumenwiese, oft mit so unbefangener Direktheit ausgemalt wie ein klangprächtiger Walzer von Tschaikowsky.

So ländlert und walzert Mahlers Vierte wunderbar schön, aber recht harmlos vor sich hin. Gilberts Entscheidung, den Bläsern keine Podeste zu geben, hatte zudem unglückliche Folgen für die Klangbalance. In dem Bemühen, gegen den Streicherapparat anzukommen, übertrieben die Hörner, bis ihre Soli überpräsent tönten. Trompeten und Posaunen wirkten hingegen wie entfernt. Der Sopran von Christina Landshamer gefiel durch mädchenhaft leuchtende Farben, war aber auch leise und wenig textverständlich.

Gustav Mahler persönlich stand diesem Orchester von 1909 bis 1911 als Chefdirigent vor. Unvergessen auch, mit welcher Emphase sich Leonard Bernstein an der Spitze der New Yorker Philharmoniker für Mahlers Sinfonien einsetzte. Der jüngste Abend in Essen wirft die Frage auf, was aus diesem Erbe geworden ist.

(Der Bericht ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen).

Informationen zum Spielplan der Philharmonie Essen: http://www.philharmonie-essen.de/konzerte/2017-4.htm)




„Gaffer“ gibt es doch schon lange – ein Beispiel von 1967

Über sogenannte Gaffer an Unfallstellen wird immer wieder empört berichtet, aber ist das ein neues Phänomen? An einem Beispiel aus dem Jahre 1967 soll das an dieser Stelle einmal genauer beleuchtet werden: Eine Lokomotive stürzte damals in Ennepetal aus den Gleisen und rollte den Bahndamm hinunter.

Die abgestürzte Lok liegt am Straßenrand, der Lokführer ist umgekommen. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Gegen 3 Uhr in der Nacht zum 21. Juni 1967 war eine E-Lok der Baureihe E 41 auf einem Nebengleis der Bergisch-Märkischen Strecke zwischen Schwelm und Hagen beim Rangieren gegen einen Prellbock geprallt. Die Lok sprang aus den Schienen und stürzte den Abhang hinunter. Der 41-jährige Lokführer versuchte sich durch einen Sprung aus dem Führerhaus zu retten, wurde jedoch durch die Lok erdrückt und getötet. Das tonnenschwere Fahrzeug blieb auf der Seite neben der Bundesstraße 7 liegen.

Noch in der Nacht verbreitete sich die Nachricht von dem spektakulären Unfall in der Stadt, und schon am Morgen waren Hunderte von Menschen zu der Unglückstelle gerannt oder mit ihren Autos dorthin gefahren, verfolgten die schwierigen Bergungsarbeiten und machten Fotos. Auf der Bundesstraße 7 bildeten sich in beiden Richtungen kilometerlange Staus, die auch in den folgenden Tagen anhielten, und die Polizei musste Verstärkung anfordern und regelnd eingreifen, damit überhaupt die Kräne der Spezialfirma an die zu bergende Lok herankamen.

Menschen scheinen in ihrer Psyche darauf trainiert zu sein, bei Ereignissen mit Blut und Horror fasziniert zuzuschauen. Das trifft nicht nur für Unglücke im Straßenverkehr zu. Auch öffentliche Hinrichtungen waren bis in die Neuzeit hinein ein ganz besonderer Anziehungspunkt für Menschen, die den Schauder erleben wollten und die für sich das Glück fühlten, nicht selbst betroffen zu sein.

Heute kommt noch hinzu, dass mit Kameras in Smartphones und Tablets das Geschehen sofort dokumentiert wird. Journalisten erheben dann oft empört und belehrend den Zeigefinger, dabei dient ihre eigene Arbeit kaum einem anderen Zweck, als ihren Kunden die Katastrophe ins Haus zu liefern. Besonders heuchlerisch wirken dann Aufrufe, doch bitte zur Identifizierung der möglichen Täter und zur Rekonstruktion des Tathergangs private Fotos und Videos zur Verfügung zu stellen. Und das hört man ausgerechnet von einer Behörde, die sonst das Filmen am Unglücksort verteufelt – irgendwie etwas weltfremd.