In den Abgründen romantischer Existenz: Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ gelingt in Gelsenkirchen großartig

Gelb und Blau, die Farben Werthers, in den Kostümen Jula Reindells für „Hoffmanns Erzählungen“ in Gelsenkirchen. Über verschmähte Liebe und Existenzangst hinaus lassen sich wohl noch andere Berührungspunkte in der Psyche der literarischen Figuren finden. Joachim Bäckström (Hoffmann) im leuchtenden Gelb des Außenseiters inmitten des Chores. Foto: Pedro Malinkowski

Gelb und Blau, die Farben Werthers, in den Kostümen Jula Reindells für „Hoffmanns Erzählungen“ in Gelsenkirchen. Über verschmähte Liebe und Existenzangst hinaus lassen sich wohl noch andere Berührungspunkte in der Psyche der literarischen Figuren finden. Joachim Bäckström (Hoffmann) im leuchtenden Gelb des Außenseiters inmitten des Chores. Foto: Pedro Malinkowski

Das Lied von Kleinzack ist eines jener spöttisch-frivolen Studentenlieder, wie sie heute noch in Verbindungen gesungen werden: einfacher strophischer Aufbau, ein Chor, der den Vorsänger wiederholt. Aber in der dritten Strophe entgleitet dem Sänger die Form. Ein Stichwort genügt und er verliert sich in einer schwärmerischen lyrischen Vision, aus der er nur mit Mühe in die Realität von Lutters Wein- und Bierschänke zurückfindet.

Mit dieser relativ einfachen, aber höchst wirkungsvollen Operation exponiert Jacques Offenbach im ersten Akt von „Les Contes d’Hoffmann“ musikalisch, mit welchem Begriff von Romantik er in seiner ehrgeizigen Oper zu arbeiten gedenkt.

Offenbach erweist sich, je weiter die Forschung zu den Fragmenten des unvollendeten Werks fortschreitet, desto mehr als feinsinniger Kenner romantischer Ideen: Welt- und Selbstverlust des Individuums, gleichzeitig Eindringen in verborgene Schichten der menschlichen Existenz, die Ambivalenz romantischer „Geisterreiche“ im Sinne E.T.A. Hoffmanns zwischen Entsetzen und Erleuchtung, das Bewusstsein von rational nicht steuerbaren Kräften zwischen dem Wunderbaren und dem Dämonischen, die Grenzbereiche von Psychologie und religiösem Glauben, aber auch die Abscheu vor der geistlosen Ordnung eines bürgerlichen Daseins mit seinem materialistischen Pragmatismus und seinem perspektivlosen Aktionismus.

„Hoffmann“-Inszenierungen sind wegen des komplexen gedanklich-geistesgeschichtlichen Überbaus, wegen der stets offenen Frage einer aktuellen Deutung des „Romantischen“, aber auch wegen der unabgeschlossenen Werkgestalt stets heikel und vom Scheitern bedroht. In Wuppertal etwa betonte zu Beginn der Spielzeit ein Experiment den disparaten Charakter des Werks: Die Inszenierung war drei Regisseur(inn)en anvertraut, die ihren Blick unabhängig voneinander auf je einen Akt richteten. Das unterstrich, wie zerrissen diese romantische Welt ist, machte es aber schwer, einen Zusammenhang zu konstruieren. In Essen zeigte – in dieser Spielzeit als Wiederaufnahme – die Inszenierung von Dietrich Hilsdorf, wie man sich „Hoffmanns Erzählungen“ als Drama eines Künstlers, der mit gesellschaftlichen Erwartungen und Konventionen nicht kompatibel ist, vorstellen muss.

E.T.A. Hoffmanns Romantik nahegekommen

Nun hat Michiel Dijkema in Gelsenkirchen als Regisseur und Ausstatter eine Lösung gefunden, die dem Romantik-Begriff Hoffmanns am nächsten kommt. Die Bühne ist zunächst weiß verschlossen, dann zeigt sich der Vorhang als Projektionsfläche. In Schwarz und Weiß erscheinen Szenen, die man wähnt, auf der Bühne gesehen zu haben, oder die geheimnisvoll vorausweisen auf das Kommende. Nüchtern exponiert Dijkema den Schauplatz, der für alle Bilder die Basis ist: Schlichte Tische und Stühle auf einer runden Scheibe, eingeschlossen von einer nach hinten spitz zulaufenden Wand.

Der hoffmanneske Riesenzylinder - hier das Denkmal für den Dichter und Komponisten in Bamberg - kehr auch in den Kostümen von Jula Reindell wieder. Foto: Werner Häußner

Der hoffmanneske Riesenzylinder – hier das Denkmal für den Dichter und Komponisten in Bamberg – kehrt auch in den Kostümen von Jula Reindell wieder. Foto: Werner Häußner

Die Schänke wird nicht verlassen; die Schauplätze der drei Akte sind innere Bilder Hoffmanns. Darauf deuten auch die Studenten hin, die zuerst als schwarze Menge mit riesigen Zylindern à la E.T.A. Hoffmann in den Raum strömen und sich dann als einmal leblos stumme, ein andermal als lebhaft applaudierende oder kommentierende Zuschauer auf oder um die Scheibe gruppieren. Teils Puppen, teils Statisten, sind sie Teil einer uneindeutigen Welt, weder wirklich noch imaginiert, changierend zwischen scheinbar prallem Realismus und sich real gebärdender Phantastik.

Kennzeichen der drei Akte sind Bühnen-Chiffren, die in ihrer surrealen Machart an die Gelsenkirchener Steampunk-Oper „Klein Zaches, genannt Zinnober“ nach E.T.A. Hoffmann erinnern: Zwei riesige Augäpfel mit mechanisch schlagenden Wimpern für Olympia, ein abgebrochener Geigenhals für Antonia, eine (später brennende) schwebende Gondel für Giulietta. Dijkema bricht in diesen Bildern den Realismus immer wieder, ohne den Erzählstrang zu verlassen, bedient sich – wie in den wunderbaren Kostümen von Jula Reindell – einiger Bildsignale aus dem frühen 19. Jahrhundert, so in den Frisuren der Damen im Olympia-Akt.

Widersacher aus unheimlicher Sphäre

Wie Hoffmann literarisch, so führt Dijkema szenisch das Verstörende, das die Fugen der Alltagsrealität sprengt, immer wieder allmählich schleichend ein, manchmal aber auch mit theatralischem Getöse, etwa, wenn sich die Muse aus zischendem Bühnendampf schält – in grünem Tanzröckchen und roter Perücke wie eine Elfe. Lindorf und seine drei Verkörperungen tragen imposante Roben, die den unheimlichen Charakter betonen. Ob Mann, ob Weib, ist bei dem kahlköpfigen Dämon in gewaltigem glitzerndem Schwarz im Vorspiel, in klinischem Weiß im Antonia-Akt und in opulentem Purpur im Venedig-Bild, nicht definierbar. Ein Widersacher aus einer anderen Sphäre, die sich jenseits menschlicher Zuordnungen manifestiert.

Durch die Magie des Singens stirbt Antonia der geordneten bürgerlichen Welt ihres Vaters Crespel (Dong-Won Seo). Der Doktor Miracle (Urban Malmberg) fördert den exaltierten Ausbruch Antonias (Solen Mainguené) in die tödlichen Abgründe romantischer Existenz. Foto: Pedro Malinkowski

Durch die Magie des Singens stirbt Antonia der geordneten bürgerlichen Welt ihres Vaters Crespel (Dong-Won Seo). Der Doktor Miracle (Urban Malmberg) fördert den exaltierten Ausbruch Antonias (Solen Mainguené) in die tödlichen Abgründe romantischer Existenz. Foto: Pedro Malinkowski

Hoffmann selbst erinnert im langen Mantel und später in gelbem Frack – seit dem Mittelalter die Farbe der Außenseiter – an den Dichter. Antonia erduldet die Qualen des Singverbots und die Bedrängnis durch den zwielichtigen Doktor Mirakel als bleiches, hohläugiges Wesen in weißem Gewand wie eine Lucia di Lammermoor am Rande des Wahnsinns – die Ikone von Kunst und Krankheit des 19. Jahrhunderts schlechthin.

Dass Dijkema in diesen Akt ein Spiel mit Cello und Kontrabass einführt – man hat in Gelsenkirchen sogar eine Cello spielende Sopranistin –, hat einen distanzierenden, aber auch symbolischen Sinn: Das Cello erinnert an den Frauenkörper, sein Klang liegt der menschlichen Stimme nahe. Und Giulietta verkörpert mit prallen, gleichwohl künstlichen Brüsten den Heilswahn sexueller Leidenschaft, für den Hoffmann sein Spiegelbild opfert: Schatten, Gesang, Augen – diese Seelensymbole spielen in Dijkemas Inszenierung eine entscheidende Rolle und erschaffen eine Bildwelt, in der folgerichtig wie selten die Ambivalenz der Romantik erschlossen und verdeutlicht wird.

Reaktionsschnell und hochmusikalisch

Die musikalische Seite der Aufführung bleibt hinter dem ambitionierten Rang des Szenischen nicht zurück – vor allem ein Verdienst des leider in Richtung Staatsoper Hannover scheidenden Kapellmeisters Valtteri Rauhalammi. Der Finne hat sich in seinen Dirigaten der letzten Zeit als sensibler Gestalter ohne Allüren erwiesen und findet zu Offenbachs musikalischer Sprache einen sinnigen Zugang. Das ist alles andere als selbstverständlich, denn Offenbach setzt sein Ausdrucksrepertoire beinahe schon polystilistisch ein. Die leichten Schraffuren und rhythmischen Petitessen seiner Buffo-Öperchen sind kombiniert mit der klanglich-melodischen Intensität Gounod’scher Lyrik, dunkel-untergründige Bläserakkorde korrespondieren mit der banalen Hymnik etwa des Choraufzugs des Olympia-Akts, melodisches Schwärmen und mechanische Rhythmik kontrastieren miteinander.

Rauhalammi arbeitet diese Gegensätze heraus, ohne sie zu hart gegeneinander zu setzen, hat Gespür für die weltvergessen sich fortspinnende Melodik des „Kleinzack“-Einschubs oder der glühenden Antonia-Kantilenen, kann die Puppe Olympia wie eine Spieluhr tanzen lassen und hält die Barcarole kitschfrei. Die reaktionsschnelle Neue Philharmonie Westfalen schaltet von einem Moment zum anderen um, strichelt hier leicht dahin und lässt dort ahnungsvolle Bläserakkorde weich und dunkel schimmern. Ein idiomatisch selten gut getroffener Offenbach, gerade weil er sich der Mode des durchgeschlagenen Maschinen-Rhythmus‘ und dem Missverständnis einer ausschließlich „leichten“ Tongebung entzieht.

Tenor-Entdeckung aus Skandinavien

Hoffmann (Joachim Bäckström) in den verführerischen Armen von Giulietta (Petra Schmidt). Foto: Pedro Malinkowski

Hoffmann (Joachim Bäckström) in den verführerischen Armen von Giulietta (Petra Schmidt). Foto: Pedro Malinkowski

Mit Joachim Bäckström hat sich Gelsenkirchen aus Schweden einen wunderbar hellstimmigen, höhensicheren Hoffmann geholt. Der Tenor hat bisher vor allem im skandinavischen Raum gesungen – Malmö, Göteborg, Kopenhagen. Sein Deutschland-Debüt macht mit einer solide fundierten, gut fokussierten, manchmal noch dynamisch etwas unflexiblen, aber leuchtkräftigen und schlank-beweglichen Stimme bekannt. Bäckström dürfte, so mal jemand in die „Provinz“ hineinhört, bald von größeren Bühnen umworben werden.

Dem Gegenspieler Lindorf und seinen Erscheinungsformen haucht Urban Malmberg mit faszinierender Präsenz Bühnenleben ein. Malmberg hatte im Vorfeld der Produktion mit Krankheit zu kämpfen, singt aber fast unbeeinträchtigt sogar seine – nicht von Offenbach geschriebene, aber Musik von ihm verwendende – „Diamanten-Arie“. Dennoch ist zu fragen, ob Malmberg eine vokal passende Besetzung ist: Statt des dramatisch-italienisch orientierten Heldenbaritons wäre eine agile, leichter timbrierte französische Stimme adäquater. Unter den zahlreichen kleineren Partien verdienen die Mitglieder des Jungen Ensembles hervorgehoben zu werden: Marvin Zobel singt als Nathanaël locker, sicher und mit freiem Timbre; auch Tobias Glagau zeigt in den paar Einwürfen des Wilhelm einen schön entwickelten Ton.

Faszination und Dämonie künstlicher Welten: Dongmin Lee als Automat Olympia. Foto: Pedro Malinkowski

Faszination und Dämonie künstlicher Welten: Dongmin Lee als Automat Olympia. Foto: Pedro Malinkowski

Unter den Damen hat es Dongmin Lee am leichtesten, als Olympia mit ihren Acuti und Koloraturen „abzuräumen“ – was ihr mit Charme und darstellerischem Geschick auch gelingt. Am schwersten tut sich Giulietta, aber Petra Schmidt schlägt sich mit der ähnlich wie Mozarts Donna Elvira alles fordernden Partie, ohne sich eine Blöße zu geben. Solen Mainguené geht die Antonia eher hart und grell als weich und schmiegsam an: Das Timbre passt zur Rollenauffassung einer gespenstisch enthobenen, in tödliche Regionen der Existenz abdriftenden Frau. Almuth Herbst ist eine wendig singende, verschmitzte Muse. Chor und Extrachor des Musiktheaters im Revier hat Alexander Eberle – auch im melancholischen a cappella Chor des fünften Akts – auf Präzision und Klangbalance eingeschworen.

„Les Contes d’Hoffmann“ in Gelsenkirchen ist bildmächtiges, beziehungsreiches, tiefsinniges Musiktheater, wie man es sich schlüssiger, schöner kaum wünschen kann. Damit positioniert sich das Musiktheater im Revier erneut mit einem starken Akzent in der Theaterlandschaft Nordrhein-Westfalens, der über die Landesgrenzen hinaus Beachtung verdient.

Vorstellungen am 18., 22., 24., 30. Juni, 9. Juli. Wiederaufnahme am 3. September. Karten: Tel. (0209) 4097 200, www.musiktheater-im-revier.de




Das Flimmern der Gefühle in der Videokunst: Zehn Jahre Düsseldorfer Stoschek Collection

Wer in der Kunst nach Seelenruhe sucht, der sollte vielleicht lieber seinen Zier-Buddha im Garten betrachten. In der Düsseldorfer Stoschek Collection braucht der Mensch eine Bereitschaft, die Aufmerksamkeit strapazieren zu lassen. Videokunst, diese subjektive Verwendung der Filmtechnik ohne cineastische Absicht, ist nichts für schwache Nerven.

Installationsansicht - Links: Charles Atlas "Hail the New Puritan" (1985/86), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Wolfgang Tillmanns "Heartbeat / Armpit" (2003), Video 2'27. (Foto: Simon Vogel, Köln - © Julia Stoschek Foundation e. V.)

Installationsansicht – Vorn links: Charles Atlas „Hail the New Puritan“ (1985/86), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Vorn rechts: Wolfgang Tillmanns „Heartbeat / Armpit“ (2003), Video 2’27. (Foto: Simon Vogel, Köln – © Julia Stoschek Foundation e. V.)

Besonders herausfordernd wirkt eine Ansammlung von Videokunst ohne den üblichen Ausgleich durch Bilder oder Skulpturen. Für Julia Stoschek, die Sammlerin, Sponsorin und Stifterin eines europaweit einmaligen Ausstellungshauses für nichts als flimmernde, immaterielle Werke, gibt es nichts Spannenderes.

Pressekonferenz an der Düsseldorfer Schanzenstraße 54, dem kühlen Tempel der unfassbaren Kunstform, wo zum zehnjährigen Bestehen eine Schau unter dem „Generation Loss“ (Generationsverlust) arrangiert wurde. „Wir warten noch auf Frau Stoschek“, heißt es. Und dann schwebt sie die graue, raue Treppe herab zu uns – das mondäne Schneewittchen unter den Big Spendern: eine bleiche, perfekt geschminkte Schönheit mit pechschwarzem langem Haar, elfenhaft schlank auf atemberaubenden rosa Stöckelstiefeln: „Guten Morgen“, lächelt sie.

Die Schöne und ihre Geheimnisse

Dass man Julia Stoscheks Erscheinung nicht beachtet, ist unmöglich, auch wenn sie sich mit betont intellektueller Attitüde von der Welt des Luxus und der Modegeschöpfe distanziert. Sie spricht viel und unbeirrt über die Relevanz von „time-based media“, die zeitbezogene Medienkunst. Über ihr Leben und ihre lang geheime Liebe zu Springer-Chef Mathias Döpfner äußert sich die Mutter eines 2016 geborenen Sohnes nicht. Das überlässt sie dem Klatsch der Magazine.

Aber gerade das Geheimnis, das sie umgibt, macht die 42-jährige Milliardärin und Gesellschafterin der Brose Fahrzeugteile GmbH zu einer der viel beachteten Figuren in der internationalen Kunstszene. Sie ist unsere Peggy Guggenheim der Gegenwart und bringt Glamour ins bürgerliche Einerlei. Zu ihren Vernissagen treffen internationale Künstler und Galeristen auf geschmeichelte Vertreter der regionalen Society.

Die Unterstützung durch die eher biedere Düsseldorfer Kulturpolitik lässt hingegen zu wünschen übrig. Die Sammlung Stoschek profitiert nicht von vorhandenen musealen Strukturen, und es dauerte zehn Jahre, bis auch nur ein Wegweiserschild aufgestellt wurde. Dass Stoschek im letzten Jahr eine Filiale ihrer Collection in der offenherzigen Hauptstadt Berlin eröffnete, scheint hier niemanden zu beunruhigen.

Die Ausstellung ist selbst eine Kunst

Immerhin steht fest, dass Julia Stoschek ihre Düsseldorfer Zentrale, eine von den Berliner Architekten Kuehn Malvezzi umgebaute Rahmenfabrik am Rand von Oberkassel, mehr schätzt als die weniger idealen Berliner Räumlichkeiten: „Ich liebe das Haus!“ Ohne Zögern hat sie für die Jubiläumsausstellung gläserne Lärmschutzwände einbauen lassen. Was die Zukunft bringt, weiß niemand, aber in den nächsten zwölf Monaten kann man hier in Düsseldorf eine faszinierende Ausstellung zur Geschichte der Videokunst sehen: 48 Werke, die keineswegs alle erst gestern, sondern in den letzten 50 Jahren entstanden sind.

Und das Besondere: Die Präsentation ist eine Art übergeordneter Rauminstallation. Denn da war kein Kurator am Werke, sondern ein junger Videokünstler ohne falsche Scheu. Ed Atkins, 1982 in Oxford geborener Wahl-Berliner, nutzt digitale Kopien älterer Schmalfilme und Videos, um sie gleichrangig und gleichformatig mit neueren Arbeiten zu konfrontieren. Der „Generation Loss“ aus dem Titel bezieht sich auf den Verlust des Originals ebenso wie auf die Ablösung der Künstlergeneration und überhaupt auf das Entschwinden aller Dinge und Gewissheiten. Der Gedanke der Vergänglichkeit treibt die heutigen Technik-Freaks genauso um wie einst die Maler des Barock.

Was entsteht und verschwindet

Mit einer stummen Live-Projektion der aktuellen Sky-News zeigt Atkins, was er meint. Kaum gesehen, schon zerronnen sind die Bilder der Stunde, die Aufregung über Anschläge, Katastrophen, Wetterberichte. Der Amerikaner Ian Cheng bezieht sich nicht auf die Realität. Er entwickelt kunstvoll stilisierte Figuren, die nach Art eines Videospiels in Echtzeit agieren, wobei immer neue Szenarien entstehen.

Im nächsten Raum, abgetrennt durch eine gläserne Wand, hat Atkins wild geschnittene Punkclub-Szenen aus den 1980er-Jahren von Charles Atlas mit einem kurzen Video-Loop von Wolfgang Tillmanns kombiniert, der 2003 nichts als die Achselhöhle eines jungen Mannes zeigt, in der man den Herzschlag pochen sieht.

Installationsansicht - Links: Bruce Nauman "Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square" (1967/68), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Klara Lidén "Paralyzed" (2003, Video 3' (Foto: Simon Vodel, Köln / © Julia Stoschek Foundatiob e. V.)

Installationsansicht – Links: Bruce Nauman „Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square“ (1967/68), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Klara Lidén „Paralyzed“ (2003, Video 3′ (Foto: Simon Vogel, Köln / © Julia Stoschek Foundation e. V.)

So kommt es zu den seltsamsten Begegnungen. Während Paul McCarthy 1974 auf die Kameralinse spuckt („Spitting on Camera Lens“), lässt Douglas Gordon 2003 eine Männer- und eine Frauenhand miteinander kämpfen. Das berühmte Performance-Paar Ulay und Marina Abramovic knallt 1976 im Laufen mit den nackten Körpern gegeneinander, bis es auch dem Betrachter weh tut. Dann bemerkt man auf der linken Seite, wie Konzept-Altmeister Bruce Nauman als junger Mann in einem Schwarzweiß-Film der 1960er-Jahre um die auf den Boden gezeichneten Umrisse eines Quadrats spaziert („Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square“), und rechts verausgabt sich Patty Chang 2003 beim „Fan Dance“ in einem Strudel aus Dreck und Farbe.

Das Innere nach außen gekehrt

Immer wieder geht es in der Videokunst um die Enthüllung neurotischer Strukturen und Zwangshandlungen, das Innere wird nach außen gekehrt. Ein bisschen Witz kann auch mal dabei sein, zum Beispiel, wenn die Abramovic sich mit einem Vollbart in einen Mann verwandelt. Schwindelerregende Effekte kann es geben wie in Dara Friedmans „Revolution“, wo ein Mann wie eine Fliege an der Wand und der Decke läuft, weil sich die Perspektive dreht. Und manchmal wird man ganz andächtig wie vor dem „Sanctus“ von Barbara Hammer, die 1990 zu Bachmusik eine Art Totentanz aus experimentellen Röntgenfilmen der 1950er-Jahre schuf.

Atkins zeigt diese beeindruckende Arbeit in einem Einzelraum. Wenn er Filme kombiniert, so achtet er auf die Abstimmung von Bild und Ton. Um mit Shakespeare zu sprechen: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Und eine strenge Ordnung. Durch die gläsernen Akustikwände vermeidet Atkins die sinnlose Kakofonie, die so oft durch die räumliche Nähe verschiedener Videos entsteht. Die allzeit sich verändernden Bilder aber und ihre Spiegelungen sind weithin zu sehen – und vom Künstler bewusst arrangiert.

Der Besucher begegnet sich selbst als Spiegelbild oder Schattenriss inmitten der Gesamtkonstellation. Da flimmern die Gefühle wie die Projektionen. Ja, Videokunst ist nicht nett wie die Katzenfilmchen auf Facebook. Sie ist manchmal sogar eine Qual. Aber man kann sich ihr nicht entziehen. Ihre nervöse Flüchtigkeit ist nur eine treffliche Metapher für die Vanitas, in der wir alle leben. Daran ändert auch der Buddha im Garten nichts.

„Generation Loss: 10 Years of the Julia Stoschek Collection“: Bis 10. Juni 2018 an der Schanzenstraße 54 in Düsseldorf-Oberkassel. Geöffnet bei freiem Eintritt jeweils Samstag und Sonntag, 11 bis 18 Uhr. Öffentliche Führungen (Gebühr 10 Euro) gibt es seit dem 11. Juni alle 14 Tage sonntags, jeweils 12 und 15 Uhr. Anmeldung unter www.julia-stoschek-collection.net