Beunruhigend kontemplativ: „Kleine Seelen“ nach Louis Couperus bei der Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale 2017 ist zu Ende, wieder mal erfolgreich, wieder mit guten Auslastungszahlen und viel Lob von allen Seiten. Der turnusgemäß scheidende Intendant Johan Simons, künftiger Schauspielchef in Bochum, hat die menschliche, emotionale Dimension der Werke in den Vordergrund geschoben.

Szenenbild aus "Kleine Seelen" (Foto: Jan Versweyfeld / Ruhrtriennale)

Szenenbild aus „Kleine Seelen“ (Foto: Jan Versweyfeld / Ruhrtriennale)

Die Industriekulissen sind nach wie vor Anziehungspunkt fürs Publikum, nicht nur für das auswärtige. Es entsteht bei den meisten Inszenierungen eine andere Nähe, eine andere Realität. Es muss kein Tempel betreten werden, eher ein Raum des Erkenntnisgewinns. So war es auch bei der Schauspiel-Inszenierung „Kleine Seelen“ in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck.

Die Unzulänglichkeiten des Lebens

Zum dritten Mal wählt einer der bekanntesten Regisseure Der Niederlande, Ivo van Hove, einen Roman des Schriftstellers Louis Couperus als Vorlage für eine Inszenierung. „Die Bücher der kleinen Seelen“ schrieb Couperus zwischen 1901 und 1903, in der unruhigen Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es geht um eine Familie, die sich in einem Haus außerhalb der Stadt eingerichtet hat und daran verzweifelt.

Ihre Lebenslinien sind anders verlaufen als erhofft. Sie befinden sich alle in einem Dilemma mit sich selbst. Nun ist dies keine muffige Replik auf die Zeit der Jahrhundertwende, sondern eine immerzu aktuelle Auseinandersetzung mit dem Leben, mit den Unzulänglichkeiten, den unerfüllten Wünschen. In einem großen, fast leeren Raum auf einem riesigen grünen Teppich spielen die Monologe und Dialoge zwischen Mann und Frau, Vater und Sohn, Mutter und Anverwandten. Die Oma gehört zum Mobiliar und fabuliert übers Wetter, den Wind.

Verloren in der großen Welt

In den zwei Stunden geschieht nicht viel. Es ist eher beunruhigend kontemplativ. Man beobachtet missvergnüglich die kaputten Seelen dieser „sozialen Gemeinschaft“. Dann und wann scheinen Perspektiven auf, die das Leben doch noch zu einem lebenswerten machen könnten, aber am Ende wird es nicht funktionieren. Man ist gefangen. Die „kleinen Seelen“ sind scheinbar in der großen Welt verloren.

Nur die Innenleben spielen eine Rolle, selbstbezogene Menschenkinder sind zur Beobachtung freigegeben. Die niederländischen Darsteller von der Toneelgroep Amsterdam haben den starken Applaus verdient. Gut gelaunt geht niemand nach Hause, aber nachdenklich.




Trash-Komödie um Nazis und Völkermord – Mario Salazars wüste Mixtur „Schimmelmanns“ im Theater Oberhausen

Den Anfang macht Toni Schimmelmann. Er ist Clown im Zirkus von Nazi-Krüger, rote Perücke, rote Schuhe, lappiges Tutu. Eigentlich will er weg von hier, weil er Nazi-Krüger hasst. Und weil er im Zirkus so unerfreuliche Rollen spielen muss wie die eines jüdischen KZ-Gefangenen, der nicht weiß, ob er heute noch vergast wird oder nicht.

"Schimmelmanns"-Szene mit (von links): Mervan Ürkmez, Jürgen Sarkiss, Ingrid Sanne, Clemens Dönicke, Ayana Goldstein. (Foto: © Katrin Ribbe)

„Schimmelmanns“-Szene mit (von links): Mervan Ürkmez, Jürgen Sarkiss, Ingrid Sanne, Clemens Dönicke, Ayana Goldstein. (Foto: © Katrin Ribbe)

Ist das witzig? Was kommt als nächstes? „Schimmelmanns“ heißt das Stück, das von der ersten Minute an mit Provokationen und Zumutungen auf sein erschrockenes Publikum feuert. Geschrieben hat es Mario Salazar, Kind chilenischer Eltern und 1980 in Ostberlin geboren. Im Theater Oberhausen war nun die Uraufführung.

Mit Anklängen an die Titelmelodie der „Schwarzwaldklinik“ (Live-Musiker mit Keyboards und Schlagzeug auf der Bühne: Martin Engelbach) nimmt das Geschehen seinen Lauf. Es kreist um die Beerdigung des Großvaters, das die Familienmitglieder, die einander nur sehr begrenzt leiden können, zusammenbringt. Auch Toni, der einst vor seiner grauenvollen Familie nach Amerika geflohen war, reist schließlich an.

Nazis sind sie mehr oder weniger alle

Nazis und Altnazis sind sie mehr oder weniger alle, und die Konzentrationslager waren ja wohl eine einmalige historische Leistung. Doch die Syrer sollte man nicht vergasen, billigere Arbeitskräfte gibt es schließlich nicht – auch nicht für das profitable Freizeitpark-Projekt Ossiland in Bottrop, wo der geschäftstüchtige Felix Schimmelmann (Clemens Dönicke) als Hauptattraktion stündlich eine scheiternde Republikflucht nachspielen lassen will.

Witwe Rosi Schimmelmann (Ingrid Sanne), familiäres Epizentrum und angeblich erblindet, will nicht von ihrer Bibel lassen, und sie hasst alle, denen das Neue Testament nichts gilt, Juden, Araber, ganz egal. Früher war sie mal in der SPD. Und seit Beginn ihrer Ehe sei sie permanent vergewaltigt worden. Sagt sie.

Und weiter dreht sich das Kaleidoskop der braunen Unappetitlichkeiten. Doch was sich als Handlung ankündigte, ist eher eine Aneinanderreihung von Meinungen, Positionen, Haltungen, es passiert eigentlich nichts. Auch die demente Großmutter mit ihrer panischen Russenangst (Anna Polke) ist kaum mehr als ein grotesker Sidekick.

Schenkelklopfer zum apokalyptischen Gang der Dinge

Nur eine uneheliche Tochter (Ayana Goldstein), Tati Asensio Rodriguez mit Namen und vorgeblich dunkelhäutig, fällt etwas aus der Art. Sie hat sich der linken „Antinationalarmee“ angeschlossen, was vielleicht ehrenhaft, aber nicht plausibel ist und überdies im rassistischen Schimmelmann-Kosmos keine Rolle spielt. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das Thema Raubkunst und in Gestalt von Videoeinspielungen auch die Nürnberger Prozesse vorkommen.

Von links: Jürgen Sarkiss (hinter der Zeitung), Ingrid Sanne, Lise Wolle. (Foto: © Katrin Ribbe)

Von links: Jürgen Sarkiss (hinter der Zeitung), Ingrid Sanne, Lise Wolle. (Foto: © Katrin Ribbe)

Ach ja: Draußen haben die Nazis (oder war es die AfD?) die Macht übernommen oder stehen kurz davor, und alles wird vermutlich jetzt ganz schrecklich. Drinnen aber, im Hause Schimmelmann, gibt man den apokalyptischen Gang der Dinge als schenkelklopfendes Boulevardtheater, als definitiv kurzweilige Tür-auf-Tür-zu-Komödie auf zwei Etagen (Bühne: Maria-Alice Bahra), die ihren Abschluss mit der Wiederkehr des alten Patriarchen Arius Schimmelmann (Klaus Zwick) findet, SS-Hauptsturmbannführer a.D., ausstaffiert wie Uncle Sam. Oder ist das jetzt doch wieder Nazi-Krüger aus Miami, der im ähnlichen Outfit auftrat? Ist auch irgendwie egal.

Regie führt der neue Intendant Florian Fiedler

Was ist die Botschaft dieser wüsten Mixtur aus Nazi-Denken, aktuellem Rechtsextremismus, hartnäckigem Rassismus, Flüchtlingsthematik und so fort? Alles schlimm, gewiss. Doch die unbedarfte Verarbeitung des millionenfachen, industriell durchgeführten deutschen Völkermords im Nationalsozialismus zu Unterhaltungsstoff in einer Trash-Komödie befremdet denn doch. Der Holocaust als Menschheitskatastrophe bis dahin ungeahnten Ausmaßes war eben nicht „Hololo“, wie Arius Schimmelmann, Lacher sind ihm da gewiss, bei seiner Wiederauferstehung memoriert.

Offenbar wurde der Autor von der wirren Internet-Kommunikation am rechten Rand inspiriert. Claus Leggewie kommt im Programmblatt zu Wort, linksliberaler Politologe und Professor in Gießen, der von einem befremdlichen Internet-Dialog mit dem rechten Publizisten und Verleger Götz Kubitschek berichtet.

Es ist ein fiebrig-delirantes Spiel, das sich Mario Salazar ausgedacht hat und das Florian Fiedler, der neue Intendant des Theaters Oberhausen, nun als sein Regiedebut in einer Stunde 45 Minuten auf die Bühne stellt. Der Unterhaltungswert dieser Produktion ist unbestreitbar, auf die nächste Regiearbeit Fiedlers darf man gespannt sein. Anerkennung ist dem engagiert aufspielende Ensemble zu zollen. Das Publikum spendete langen, freundlichen Applaus.




Fotokunst von Axel Hütte: Die Welt als geistiger Raum

Hey, Sie da mit dem hochgereckten Smartphone! Ist die Fotografie überhaupt noch eine Kunst? Eine heikle Frage. Die allgegenwärtige Technik, diese Domina des 21. Jahrhunderts, ermöglicht jedem Laien gelungene Bilder. Es wird gepostet, bis es uns vor den Augen flimmert.

Axel Hütte Lemaire Channel-1, Antarctic, 2017 C-Print, 135 x 165 cm © Axel Hütte

Axel Hütte
Lemaire Channel-1, Antarctic, 2017
C-Print, 135 x 165 cm
© Axel Hütte

Und doch behauptet sich das besondere Werk – durch Konzept, Konsequenz, Reduktion und das gute alte Gespür für Motiv und Augenblick. Fotografie kann immer noch eine hohe Kunst sein, der Malerei ebenbürtig. Das beweist Axel Hütte in der wunderbaren Ausstellung „Night and Day“ im Düsseldorfer Museum am Ehrenhof.

Der 1951 in Essen geborene Künstler missachtet alles Spektakuläre. Er missachtet das sich anbietende Motiv. Mit einer altmodischen, bleischweren Plattenkamera reist er durch die Welt und lässt die Attraktionen und Panoramen links liegen.

In den kanadischen Bergen wartet er im Mondschein, bis der Nebel aufsteigt über den Wäldern, nur ein paar Konturen preisgebend. Das, wagt man zu bemerken, könnte auch der Schwarzwald sein, wozu die weiten Reisen? „Es geht hier nicht um ein paar Tannenbäume“, murrt der Künstler – er mag die blöden Fragen von Journalisten nicht.

Das Geheimnis bleibt unantastbar

Immer wollen sie das Geheimnis mit Fakten und Erklärungen durchbohren. Axel Hütte hingegen zelebriert das Verschleierte. Nicht ohne Grund hing sein Schweizer Bild vom total vernebelten „Furkablick“ in Beat Wismers großer Verhüllungs-Ausstellung „Hinter dem Vorhang“. An der rechten Seite des Bildes erscheint gestochen scharf die Fassade des historischen Pass-Hotels mit seinen Schnörkelbalkonen, die der Aussicht dienen. Doch nur die Vorstellungskraft vermag in die Ferne vorzudringen. Ein Bild wie aus einem sonderbaren Traum.

„Ich suche den Ort nicht, ich finde ihn“, bemerkt Axel Hütte. Das kann in Griethausen sein, wo ihn 1999 das gekreuzte Eisengitter einer Brücke faszinierte, oder in der Antarktis, wohin er erst in diesem Jahr reiste, um den graublauen Himmel über im Meer treibenden Eisstücken aufzunehmen.

Zwischen weißen und dunkelblauen Wänden geht es in dieser Ausstellung um etwas, was Kurator Ralph Goertz „geistigen Raum“ nennt. Der Blick darf endlich einmal ruhen – sogar auf Bildern, die sich sanft bewegen wie Axel Hüttes Video der Lichter von Detroit. Tatsächlich hatte der junge Mann in den 1970er-Jahren zwei Semester in der Filmklasse der Düsseldorfer Akademie studiert, bevor er zur Fotografie wechselte und einer der frühen Schüler der berühmten Düsseldorfer Becher-Klasse wurde.

Die Kunst in der Natur entdecken

Aber bei einem reifen Künstler ist der obligatorische Rückblick auf die Ausbildung eigentlich absurd. Als ob das eine Rolle spielte. Was zählt, ist das Werk in seiner Stille und Schönheit.

Wir sehen, wie wuchernde Zweige sich spiegeln in den dunklen Wassern des Rio Negro, während der Dschungel im Hintergrund undurchdringlich bleibt. Wir sehen, wie blaue Fensterlichter funkeln an einem Hochhaus in Kuala Lumpur. Wir erkennen die konstruktivistischen Strukturen von ganz gewöhnlichen Brücken-Stahlträgern in Japan oder Australien. Wir wandern in den Dunst eines italienischen Waldes mit kahlen und abgebrochenen Bäumen.

In schwarzer Nacht liegt der Hügel von Bourg St. Maurice in Frankreich, nur ein Schimmer deutet auf menschliche Behausungen. Irgendwo bei Ingelheim scheinen Büsche zwischen Fluss und weißem Himmel zu schweben, und ein wirres „Geäst“ erinnert an die Strukturen des Abstrakten Expressionismus.

Axel Hütte ist auch ein Entdecker der Kunst in der Natur und im profanen Bauwerk. Seine Bilder zeigen Phänomene, verbreiten Atmosphäre, sie erzählen keine Geschichten. Man müsste gar nicht wissen, wo er sie aufgespürt hat. Aber die Namen der Orte, die uns bereitwillig genannt werden, setzen bei jedem Betrachter eine eigene Fantasie frei. Und auch das ist ein Teil von Kunst.

Information:

„Axel Hütte: Night and Day“: bis 14. Januar 2018 im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Ehrenhof. Di.-So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog 39,90 Euro. www.smkp.de

Parallel wird in Bottrop das Frühwerk (1978-95) von Axel Hütte gezeigt. Neben Porträts von Kollegen interessierten Hütte damals insbesondere architektonische Formationen, wie Treppenhäuser und Flure in Mietshäusern der Nachkriegszeit, U-Bahnhöfe in Berlin, Gebäude und Plätze in London, Venedig und Paris. Di-Sa. 11 bis 17 Uhr, So. 10 bis 17 Uhr. Eintritt: 6 Euro. Katalog: 38 Euro. www.bottrop.de/mq




Jagdszenen in Deutschland? Zum Abend der Bundestagswahl

Schon kurz nach 18 Uhr, die erste Prognose war gerade öffentlich geworden, fiel bereits ein erschreckender, entscheidender Satz dieses Wahlabends. Wie immer die neue Bundesregierung sich zusammensetzen werde, verkündete AfD-Spitzenkandidat Gauland, man werde sie „jagen“. Und nochmals: „jagen“. Man werde sich, so Gauland weiter, „unser Land und unser Volk zurückholen“.

Prost Mahlzeit! Nicht nur ziehen erstmals Rechtsaußen dieser Sorte in Fraktionsstärke in den Bundestags ein, sondern es dröhnt auch ein neuer Ton. Die Rede von der Jagd auf die künftige Regierung kündet von einer Aggression, die Andersdenkenden offensichtlich an den Kragen will. Jagdszenen in Berlin und anderswo?

Es steht also zu befürchten, dass wir in der nächsten Legislaturperiode Parlamentsdebatten von bislang ungeahnter Schärfe und Infamie erleben werden. Es ist eine Zäsur. Und es ist eine gefährliche Zäsur. Da darf man sich nichts vormachen. Wachsam sein. Dagegen halten, wo es nötig ist. Na klar. Und was noch? Bloß nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren… Übrigens: Die Erfahrung, dass es im Gefolge einer Großen Koalition zur Radikalisierung kommt, ist ja nicht ganz neu.

Mit über 13 Prozent der Wählerstimmen ziehen die „Rechtspopulisten“ in den Reichstag ein – mit deutlich mehr als 80 Abgeordneten, die vermutlich alle parlamentarischen Vergünstigungen ausnutzen und zugleich aushöhlen werden.

Zur rechten Kohorte werden sicherlich einige höchst zweifelhafte Gestalten gehören. Zwischenzeitlich war von Protagonisten der Partei schon die kaum verhohlene Drohung zu vernehmen, man werde im Parlament „ausmisten“. Es verdiente historisch näher untersucht zu werden, woher solche Wendungen wohl kommen.

Was das jetzt alles mit „Kultur“ zu tun hat? Nun ja, erst einmal nur indirekt, den gesellschaftlichen Umgang betreffend. Doch wir werden außerdem hören, wie sich die AfD auch zu kulturpolitischen Fragen positioniert; sicherlich auch gemäß ihrer Ideologie, dass alles Deutsche Vorrang haben müsse. Da gruselt’s einen schon jetzt.

Union und SPD haben heftig verloren, die SPD zieht die wahrscheinlich richtige Konsequenz, den Weg in die Opposition zu gehen. Diskussionswürdiger schon die Entscheidung, den deutlich an seinen Ansprüchen gescheiterten 20-Prozent-Kandidaten Martin Schulz im Amt als Parteichef zu belassen. Kann er’s denn noch richten?

Immerhin: Ganz anders als jüngst noch beim „TV-Duell“ mit Merkel, klang Schulz mal wieder oppositionell, wenn auch noch ziemlich kraus. Es ist, als sei in dieser Hinsicht eine Last von ihm abgefallen. Jedenfalls gibt er Merkel und ihrer „Politik-Verweigerung“ die Schuld fürs Erstarken der AfD.

„Jamaika“, also eine schwarz-gelb-grüne Koalition, dürfte es werden, wobei die beiden kleineren Parten (FDP / Grüne) sich erst einmal zusammenraufen müssen. In den nächsten Tagen werden sie gewiss versuchen, den Preis für ihre Teilnehme hochzuschrauben. Das gehört zum politischen Geschäft. Und wenn die Posten locken, wird’s schon klappen.

Wie unbedarft waren jene CDU-Anhänger, die zum besinnungslosen Wahljubel (übers zweitschlechteste Ergebnis aller Zeiten) schwarzrotgoldene Schildchen mit dem Sprüchlein „Voll muttiviert“ schwenkten. Es wollte so gar nicht zum Kerngeschehen dieses Wahltags passen.

„Ein tiefer Schnitt ins Fleisch der CDU“, „tektonische Verschiebungen“ und „politisches Erdbeben“ waren die häufigsten medialen Formeln des Wahlabends. Im Fernsehen, das wurde auch diesmal wieder deutlich, kann man sich über derlei Ereignisse nur ad hoc und en passant informieren. Die Vertiefung muss auf anderem Wege erfolgen.

Vom Internet wollen wir einstweilen schweigen. Wir wissen nicht, wie sich die „sozialen Netzwerke“ auf diese Wahl ausgewirkt haben. Es kann nicht nur wohltuend gewesen sein.




Radikal und doch gefällig – Werkschauen der Informel-Künstler Karl Fred Dahmen und Peter Brüning in Duisburg und Hagen

Karl Fred Dahmen: „Terrestrische Intention II“ (1958), Mischtechnik auf Leinwand 176,5 x 216,5 cm.  Sammlung Ströher, Darmstadt (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

In den letzten Jahren werden seine Bilder karg. Wolkige Hellgründigkeit dominiert, sparsame Schraffuren und Texturen ordnen die Flächen. Die allerletzte Arbeit von Karl Fred Dahmen, „Ohne Titel (Letztes Bild)“ von 1980/81 gar könnte man, läßt man den rotbraunen Balken am unteren Bildrand außer Betracht, „leer“ nennen, was natürlich nicht stimmt, aber der Dominanz der Flächigkeit Rechnung trägt.

Er hatte nicht immer so gemalt. Das Museum Küppersmühle präsentiert in seinen wunderbaren, lichten, großzügigen Räumen nun gut 110 Werke dieses Großmeisters des Informel aus rund drei Schaffensjahrzehnten.

Karl Fred Dahmen: „Komposition III“ (1952),  Öl auf Rupfen/Papier 60,5 x 80 cm.  Karl Fred Dahmen, Nachlassverwaltung, Van Ham Art Estate, Köln (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: Saša Fuis Photographie, Köln)

Tod mit 41 Jahren

Auch das Hagener Emil Schumacher-Museum widmet sich mit einer Sonderausstellung einem Großen des deutschen Informel. Dort sind auf einer ganzen Etage Werke von Peter Brüning zu sehen, der in etwa zur selben Zeit lebte und arbeitete wie Dahmen, jedoch schon 1970 mit gerade einmal 41 Jahren einem Herzinfarkt zum Opfer fiel.

Dahmen war 12 Jahre älter als Brüning, doch künstlerisch standen sie sich nahe. 1953, es war die Zeit der Künstlervereinigungen, gründeten sie zusammen mit Gerhard Hoehme die „Gruppe 53“, ein rheinisches, wenn man so will, Pendant zum „Jungen Westen“. Vorher, 1951, werden sie sich vermutlich auch bei ihren Paris-Reisen begegnet sein. Sechs Jahre nach Ende des Krieges waren deutsche Jungtouristen, Künstler zumal, an der Seine wohl noch eine Seltenheit. Also auf in die Museen, erst nach Duisburg, dann nach Hagen.

Zum 100. Geburtstag

Karl Fred Dahmen, nun gut, ist einer jener Namen, die ganz sicher fallen, wenn vom frühen deutschen Nachkriegs-Informel die Rede ist – neben Karl Otto Goetz zum Beispiel, Fred Thieler, Bernard Schultze, Emil Schumacher und natürlich den Zero-Leuten Otto Piene, Heinz Mack und Günther Uecker. Doch den Prominentheitsgrad der Letztgenannten hat er nie erreicht. Man kennt ihn am ehesten noch aus den Katalogen der Kölner Auktionshäuser, wo regelmäßig Arbeiten angeboten werden, eher im fünf- als im sechsstelligen Bereich, was ja nicht wenig Geld ist. Aber Spitzenlose sind es eben auch nicht.

So muß man es durchaus verdienstvoll nennen, wenn das Stifterehepaar Ströher, das die Küppersmühle finanziert, zusammen mit dem Versteigerungshaus van Ham und etlichen prominenten Leihgebern nun, zum 100. Geburtstag des Künstlers, diese große Retrospektive auf die Beine gestellt hat. Van Ham, zur Erläuterung, hütet treuhänderisch einen Großteil des Dahmen-Nachlasses.

Karl Fred Dahmen: „Ein Tag“ (1964), Mischtechnik auf Leinwand 165 x 145 cm,  Privatsammlung Köln (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: Robert Häusser, Mannheim)

Von Landschaften inspiriert

In Karl Fred Dahmen nur den abstrakten Künstler zu sehen, den die sichtbare Welt nicht interessiert und der mit Verve sein Inneres auf die Leinwand wirft – nun, das würde es nicht ganz treffen. Dahmens Bilder sind Kompositionen, die von den Landschaften seiner Umgebung inspiriert sind. Die aufgelassenen Braunkohletagebaue seiner Heimatstadt Stolberg nahe Aachen sind da eine starke, oft verwendete Bildwelt, ebenso Schrottplätze und rottende Industrieruinen.

Es ist dies eine Form der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Veränderungen, die in Hinterlassenschaften wie, eben, Schrottplätzen und Müllhalden ihren vielleicht authentischsten Ausdruck finden. Letztlich geht es ihm, wie Kuratorin Ina Hesselmann unterstreicht, immer um die „Aufsicht auf die Städte“ – seien die Früchte der künstlerischen Produktion nun Strukturbilder, Mauerbilder, Montagebilder oder Objektkästen.

Karl Fred Dahmen in Stolberg (1958) (Foto: Ann Bredol-Lepper, Aachen)

Schaffenskrise in Bayern

Wie nahe Dahmen mit seinen vermeintlich abstrakten Arbeiten an der visuellen Wirklichkeit ist, wird besonders deutlich, als er 1967 als Dozent für Malerei nach Bayern übersiedelt. Dort übernimmt er die vorher von Georg Meistermann geleitete Klasse, wird im Folgejahr zum Professor ernannt. Das Ehepaar Dahmen kauft sich in Niederham im Chiemgau, nahe München, einen verwunschenen, alten Bauernhof, und die neue Wohnung stürzt den Künstler in die Krise. Statt kaputter Industrielandschaften nur noch Lieblichkeit, wohin das Auge fällt.

Geschundene Kreatur

Doch Dahmen arrangiert sich. Zukünftig herrscht in seinen Arbeiten die Farbe Grün vor, und bald schon fällt sein Augenmerk auf das Leiden der Tiere im ländlichen Raum, das er in der Folge ausgiebig thematisiert. In seinen dreidimensionalen Objektkästen, die er seit den 60er Jahren mit Trouvaillen füllt und anschließend bearbeitet, landen nun auch Tierhaare vom Bauernhof, Stricke oder auch üble Instrumente, die das Vieh gefügig machen. Bemerkenswerteste Arbeit in diesem Kontext ist sicherlich das archaisch-schroffe „Ambienteobjekt“ mit dem Titel „An die geschundene Kreatur“ von 1972/74, eine von Stricken umschlungene Achse mit eisernen Rädern, gemacht, um von Tieren gezogen zu werden doch auch fixiert an einem grünen Objekt im Hintergrund. Eigentlich ist das eine Rauminstallation, und dankenswerterweise ist sie in Duisburg zu sehen.

Weiß ist der Winter

Übrigens gibt es neben grünen Arbeiten auch etliche mit ausgeprägter Weiß-Dominanz. Sie reflektieren den Winter, und wenn Stricke heraushängen, handelt es sich um „Galgenbilder“. Erfreut nimmt man wahr, daß es auch dem älter werdenden Künstler nicht an Obsession fehlte.

Karl Fred Dahmen: „Maskuline Legende“ (1972), Objektkasten 133 x 56 x 11 cm Frankfurter Privatbesitz (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017  Foto: Saša Fuis Photographie, Köln)

Ein bißchen Kunstgewerbe

Allerdings sind die meisten Bilder, fast oder vollständig quadratisch und mit geschätzt zwei bis drei Quadratmetern Gesamtfläche auch noch recht gut aufhängbar, von oft geradezu unerträglicher Wohlproportioniertheit. Alles ist aufs Wunderschönste komponiert, lieblich möchte man fast sagen. Spannungen zwischen Bildelementen oder, in den Kästen, dem Gemalten und den Fundstücken, fehlen. Man weiß um des Meisters Ringen, doch das böse Wort „Kunstgewerbe“ bricht sich in den Gedanken des Betrachters Mal um Mal Bahn. Und man ahnt, warum damals so plötzlich Schluß war mit dem ganzen Nachkriegs-Informel, damals, als die Pop-Art über den Atlantik schwappte und uns mit ihrem provokanten Auftritt sprachlos machte. Doch wäre dies das Thema einer anderen Geschichte.

Peter Brünings Muster

So wenden wir uns nach Hagen, wo Karl Fred Dahmen übrigens 1966 den Karl Ernst Osthaus-Preis erhielt und sich dem Westdeutschen Künstlerbundes anschloß. Jetzt aber sind hier Bilder von Peter Brüning zu sehen. Einige „gegenständliche“ Baumbilder von 1954 lassen mit ihren prallen Stämmen das Vorbild Fernand Léger erahnen, doch schon wenige Jahre später ist der junge Künstler – 1956 war er gerade einmal 27 Jahre alt – in der Abstraktion unterwegs, wälzt flächige, düstere Kompositionen mit Ölfarbe auf Hartfaserplatten, erschafft eher Muster als Strukturen.

Bildhafter wird es Ende der 50er Jahre, wenn glühendes Rot und tiefes Schwarz das Bildgeschehen dominieren. Den „Kompositionen“ gesellen sich als Bildtitel nun die (Plural?) „Ohne Titel“ hinzu, wilder wird das Ganze, und wenn die beherrschende Farbe Blau ist, dann denkt man nun auch an Emil Schumacher. Oder wenigstens an Yves Klein.

Ein Bild, das jetzt in Hagen hängt: „Komposition 91/62“ (1962) von Peter Brüning, Öl und farbige Kreide auf Leinwand, 170 x 200 cm groß, Düsseldorfer Privatbesitz (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen/Katalog)

Landschaftswahrnehmungen

In den 60er Jahren wiederum entstehen äußerst luzide, durchsichtige, weißgründige Arbeiten, die der Künstler mittlerweile durchnumeriert. Pflanzen? Menschen? Man weiß es nicht. Landschaften sind dies sicher nicht, Landschaftswahrnehmungen indes gewiß.

Welt der Zeichen

Richtig landschaftlich wird es erst in Peter Brünings letzten Schaffensjahren. Mitte der 60er Jahre klopft die Pop-Art an die Tür, und voller Humor übernimmt der Künstler in erstaunlicher Gegenständlichkeit und Schärfe kartographische Symbole und Linienführungen, etwa für sein „Blow-up“-Bild einer imaginären Landkarte mit dem Titel „Légende 9/66“ von 1966.

1968/69 schließlich hat Brüning das Offset-Plakat eines Industriegebiets um utopische Regenwolken (oder sind es Ufos?) ergänzt und das Ganze „Super-Rhein-Land“ genannt. Nun ja: Wenn er auch bisher schon vor allem Landschaft gemalt haben sollte, wie der Katalog nahelegt, ist dies ja kaum mehr als die konsequente Fortsetzung einer alten Idee. Doch wüßte man gerne, wohin sich Peter Brüning weiterentwickelt hätte, wenn er nicht ein Jahr später schon gestorben wäre.

„In den aus heutiger Sicht in Hinblick auf Natur und Gesellschaft visionär wirkenden Darstellungen einer von den Erscheinungsformen der modernen Industrie veränderten, geprägten und gleichzeitig gefährdeten Landschaft, in denen – wie Brüning es ausdrückte – ,die Zeichen unsere zweite Natur werden‘, ist er ein klar vorausschauender Seismograph seiner Zeit“, schreibt Rouven Lotz, wissenschaftlicher Leiter des Emil Schumacher-Museums, zutreffend zu dieser Ausstellung.

Artige Tapetenmuster

Gewiß, auch Brünings Bilder sind für uns Heutige sehr artig, sehr wohlkomponiert, in keiner Weise übertrieben. „Tapetenmuster“, wie böse Menschen sagen. Passiert man auf dem Rückweg einige späte große Arbeiten Emil Schumachers in der ersten Etage, so wird einem dieser Mangel an Dramatik und Unbedingtheit geradezu schmerzlich bewußt. Doch der große Hagener hatte auch mehr Zeit, sich zu vervollkommnen.

Baustelle Küppersmühle

Zweimal sehenswertes Informel, ganz ohne Frage. Und es ist auch wohltuend, wenn Kunst einmal nur aus „richtigen“ Bildern besteht – wiewohl Weitungen des Kunstbegriffs auf gesellschaftliche Prozesse und ihre möglichst unorthodoxe Vermittlung sicherlich auch ihren Reiz haben (können). Am besten fährt man selber hin und schaut, ob es gefällt. In Duisburg kann man dann übrigens noch einen Blick auf die Baustelle werfen, wo der Anbau der Küppersmühle munter an Gestalt gewinnt.

Infos:




„Mit jedem Jahr“ – Simon Van Booy erzählt die Geschichte einer unwahrscheinlichen Adoption

Das Mädchen Harvey lebt das typische unbeschwerte Leben eines amerikanischen Mittelstandskindes. Doch im zarten Alter von sechs Jahren wird ihre Welt plötzlich auf den Kopf gestellt. Ihre Eltern kommen bei einem Autounfall ums Leben und sie bleibt nicht nur mittellos, sondern auch ohne nähere Angehörige zurück.

Sie kommt in verschiedene Heime und Pflegeheime, ihre einzige richtige Bezugsperson ist die einfühlsame, unkonventionell agierende Sozialarbeiterin Wanda. Ihr vertraut sie das Geheimnis des verstorbenen Vaters an: Irgendwo lebt noch ein Onkel Harveys, der ältere Bruder des Vaters. Ihre Familie sprach nie offen über ihn, weil ihre Mutter ihn als Bedrohung empfand. Aber ihr Vater hat ihr erzählt, wie gut dieser Onkel Jason ihn und seinen kleinen Hund vor den gewalttätigen Großeltern beschützt hat.

Wanda folgt einer Ahnung und macht diesen Onkel ausfindig. Jason lebt nach einer Knast-Vergangenheit ein einsames Leben und ist zudem körperlich eingeschränkt nach einer harten Schlägerei. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit einer kleinen Rente und dem Verkauf von Trödel übers Internet. Seine schwelende Wut auf die Ungerechtigkeit des Lebens hält er nur sehr mühsam unter Kontrolle.

Auf ein Leben mit einem traumatisierten Kind ist Jason so unvorbereitet, wie man nur sein kann. Doch Wanda vertraut auf seine weichere Seite, seinen Beschützerinstinkt und setzt durch, dass Jason Harveys gesetzlicher Vormund wird. Sie ist sich sicher, dass jeder die letzte Chance des anderen sein kann. Und „mit jedem Jahr“, das ins Land geht, wird sie mehr recht behalten.

Simon Van Booys bewegender Roman über eine ganz und gar unwahrscheinliche Adoption entfaltet sich auf zwei Zeitebenen. Die erste beginnt mit dem sechsjährigen Mädchen, auf der zweiten begegnen wir einer erwachsenen Harvey. Seit ihrem 26. Geburtstag lebt und arbeitet sie in Paris. Als wir ihr dort begegnen, bereitet sie gerade Jasons ersten Besuch bei ihr vor. Der Vatertag, den sie immer besonders gefeiert haben, steht vor der Tür und Harvey plant eine Reihe von Überraschungen für ihren Ziehvater. Sie hat eine ganze Kiste voller Geschenke für ihn, für jeden Tag seines Besuchs eins. Jedes ist eine besondere Reminiszens an ein Ereignis ihrer Kindheit.

„Mit jedem Jahr“ bringt Simon Van Booy nicht nur die Gegensätze zwischen dem verwaisten Mädchen Harvey und dem unruhigen Jason zusammen, sondern er schafft auch das Kunststück, eine bewegte Kindheit in zarten, ruhigen Nuancen zu erzählen. Ganz zurückhaltend entfaltet sich langsam die Botschaft des Buches: Wie es ein Leben verändern kann, wenn man für einen anderen da ist und wie es einen selbst verändern kann.

So ist der Roman bei weitem nicht nur eine weitere klassische Coming-of-Age-Geschichte, sondern es ist auch die Geschichte eines Mannes, der gegen seine Dämonen und Schuldgefühle kämpft und den Mut findet, sich auf ein Leben mit Verantwortung einzulassen. Er ist dafür über seinen Schatten gesprungen, nicht widerwillig, aber voller Ängste und ohne rechtes Zutrauen in sich selbst. Getragen wurde er von tiefem Mitgefühl, welches irgendwann zur Liebe wurde. Schließlich ist es die junge Harvey, die ihn erlöst. So kindlich, wie sie ist, so sehr hat sie doch ein Gespür für Jasons Qualen und Verwundbarkeit. Sie verhilft ihm zu einer überraschenden Absolution.

Der vielseitige und preisgekrönte britische Schriftsteller Simon Van Booy, der zurzeit mit seiner Familie in New York lebt, gibt beiden Charakteren eigene unverwechselbare Stimmen. Kurze, knackige Sätze, minimale Interpunktion kennzeichnen Jasons lakonischen Charakter, Harvey hingegen erzählt eher poetisch.

Der Autor begleitet beide Figuren mit viel Empathie, er weiß um ihre Schwächen und Fehler, aber er begegnet ihnen gnädig und gibt ihnen stets eine Chance. Es hätte eine kitschige Geschichte werden können, aber er schafft es, sentimentale Klippen zu umschiffen. Nicht zuletzt durch die allgegegenwärtige Bedrohung von Jasons lange nur mühsam unterdrückter Aggressivität.

Das letzte Geschenk aus Harveys Kiste enthüllt ein Familiengeheimnis, auf welches Harvey ganz zufällig gestoßen ist. Leider wirkt genau dieses arg konstruiert und zu sehr darum bemüht, den Kreis sich schließen zu lassen. Simon Van Booy hätte diese Effekthascherei nicht nötig gehabt.

Simon Van Booy: „Mit jedem Jahr“. Roman. Insel Verlag, 307 Seiten, €22,00




So fremd im eigenen Leben – Yasmina Rezas Roman „Babylon“

Manchmal genügt eine kleine Unachtsamkeit, ein Zufall oder ein unbedachtes Wort – und schon lösen sich all unsere Gewissheiten auf, zerbröselt die schöne Fassade des Alltags zu bizarrem Maskenspiel, werden wir heimatlos in unserem eigenen Leben.

Kaum jemand weiß das besser und kann es mit heiterer Melancholie hintergründiger beschreiben als die französische Autorin Yasmina Reza, die international erfolgreiche Theaterstücke („Kunst“, „Drei Mal Leben“, „Der Gott des Gemetzels“) und Prosa („Hammerklavier“, „Im Schlitten Arthur Schopenhauers“, „Glücklich die Glücklichen“) verfasste.

Auch in ihrem neuen Roman „Babylon“ zeigt die Schriftstellerin mit den multikulturellen (jüdischen und iranischen) Wurzeln, dass der Schrecken hinter der nächsten Ecke lauert und die Bedrohung unserer bürgerlichen Idylle allgegenwärtig ist, dass aus geistreichem Geplauder schnell eine böser Beziehungskrieg werden kann, die Wirklichkeit aus löchrigen Erinnerungen besteht und dass vielleicht die Sprache der einzige Ort ist, der uns Heimat, Schutz und Identität gibt.

Sado-Maso und die misslungene Frühlingsparty

Zum Beispiel Elisabeth: Sie ist Anfang 60, arbeitet als Ingenieurin im Patentamt, lebt mit ihrem Gatten ein beschauliches, ruhiges Leben. Ihre Wohnung in Paris ist groß und geschmackvoll möbliert, ihre Ehe ein gut funktionierendes Gebilde ohne Höhen und Tiefen. Doch plötzlich zeigen sich erste feine Risse, drängeln sich unbekannte, geheimnisvolle Bedürfnisse ans Tageslicht. Als ihre Schwester berichtet, dass sie im Internet Männer kennen lernt und sich auf perverse Sado-Maso-Spiele einlässt, wünscht sich auch Elisabeth eine Lederpeitsche.

Um aus dem alltäglichem Einerlei auszubrechen, kommt Elisabeth, die sonst nie Freunde zu sich nach Hause bittet, auf die verwegene Idee, eine Frühlingsparty zu veranstalten und dazu sogar ihren kauzigen Nachbarn Jean-Lino und dessen schrille Gattin Lydie einzuladen. Natürlich besorgt sie zu viele Stühle, Speisen und Getränke, alles wirkt ein bisschen peinlich und verrutscht. Die Gespräche mäandern laut- und lustlos dahin. Fröhliche Frühlingsgefühle wollen nicht aufkommen, auch weil es draußen unerwartet zu schneien beginnt. Dann verheddern sich auch noch Jean-Lino und Lydie in kleine Wortgefechte, streiten über veganes Essen und artgerechte Tierhaltung.

Großer roter Koffer für eine Leiche

Als alles endlich überstanden und Elisabeth schon in ihrem Bett sanft schlummert, klingelt es an der Tür: Jean-Lino hat soeben seine Frau ermordet und bitte Elisabeth um Rat und Hilfe. Soll er sich der Polizei stellen oder lieber die Leiche verschwinden lassen? Elisabeth hat doch diesen riesigen roten Koffer im Keller: Könnte man die Tote nicht vielleicht darin verstauen und wegschaffen?

Was zunächst wie ein absurder Krimi klingt und augenzwinkernd mit Motiven aus Hitchcocks „Immer Ärger mit Harry“ spielt, weitet sich bei Yasmina Reza schnell zu einer garstigen Realsatire über die Unwägbarkeiten des Alltags und den Wahnsinn der Welt. Elisabeth, die Erzählerin dieser leichthändig irrlichternden, mit der Banalität des Bösen jonglierenden Handlungsfäden, spürt deutlich, dass ihr Leben auf der Kippe steht und das Abgleiten in den Abgrund nur einen Augenblick entfernt ist.

Die Echos aus der Kindheit

Immer wieder mischen sich auch Erinnerungen aus der Kindheit in Elisabeths angeschlagene Gemütslage, spürt sie das donnernde Echo ihres strengen, schlagenden Vaters und die Hilflosigkeit ihrer ängstlichen, stillen Mutter, die das drangsalierten Mädchen mit einer Nudelsuppe über die schlimmsten Momente hinweg tröstete.

Das Leben als etwas Fremdes, das Dasein als Exil, das kennt auch Jean-Lino, der zerknirschte Mörder, der sich, während er zusammen mit Elisabeth die tote Lydie in den Koffer quetscht, daran erinnert, wie sein Vater immer wieder dieselben Verse aus dem Buch der Psalmen vorlas: „An den Wassern zu Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“

Ja, das Leben ist eine unablässige Suche nach dem Einssein mit uns selbst, nach einer Heimat, die wir verloren haben, nach der wir ständig Ausschau halten, zum Beispiel in den Büchern von Yasmina Reza, diesen schrecklich humorvollen Weggefährten unserer täglichen ziellosen Odyssee.

Yasmina Reza: „Babylon“. Roman. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Carl Hanser Verlag, München, 224 S., 22 Euro.




Festival als Fetisch – Versuch über das Scheitern regionaler Literaturpolitik am Beispiel der Kölner lit.RUHR

Von 2017 bis 2019 leisten sich fünf Ruhr-Stiftungen für eine halbe Million Euro jährlich den Aufbau einer Außenstelle der lit.COLOGNE. Mit dieser Filialisierung verpasst die selbsternannte Metropole Ruhr erneut die Chance zu zeigen, was sie aus eigenen Kräften zu leisten imstande wäre. Statt eigensinnige Ansätze der Literaturförderung zu wagen und aus dem sich totlaufenden Event- und Kampagnenkarussell auszusteigen, wird Kölner Literatrubel dreist kopiert. Darin könnte auch eine Chance für selbstbewusste Literaturprojekte abseits des Rummels liegen.

Programmveröffentlichung bei der lit.RUHR.
(v. r. n. l.): Rainer Osnowski (Festivalleiter lit.RUHR), Jolanta Nölle (Vorstandsmitglied Stiftung Zollverein), Traudl Bünger (Künstlerische Leiterin lit.RUHR), Daniela Berglehn (Pressesprecherin der innogy Stiftung), Eva Schuderer (Programm lit.RUHR), Bettina Böttinger (Moderatorin), Thomas Kempf (Vorstandsmitglied der Krupp-Stiftung), Tobias Bock (Programm lit.RUHR)
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Viel zu lange haben es sowohl Kulturpolitik als auch Unternehmen und Stiftungen längs der Ruhr versäumt, Literaturförderung beherzt so zu unterstützen, dass sich mehr gute Ideen bis zur Projekt- oder Bühnenreife hätten entwickeln lassen.

An Konzepten wie dem zum Europäischen Literaturhaus Ruhr, zum Literaturnetz Ruhr, zur Stadtschreiber-Residenz oder zur Fortführung des Schulschreiber-Modellversuches herrschte kein Mangel. Viele klopften damit als bittstellende Buch- und Bettelmönche an die Türen der Internationalen Bauausstellung Emscherpark, der Kulturhauptstadt-Macher, der RAG-Stiftung oder des Regionalverbandes Ruhr.

Konzepte leichthin abkupfern

Doch hiesige Geldgeber scheinen guten Ideen, die aus der Region kommen, abgrundtief zu misstrauen. Sie fürchten schlicht jenes dräuende Mittelmaß, das ihnen aus der eigenen Arbeit so wohl vertraut ist. Niemand wollte Interesse daran bekunden, behutsam Qualität aufzubauen, konnte man doch leichthin Kulturtourismus-Konzepte anderswo abkupfern – zuletzt ging es so zum Shoppen auf nach Köln.

Mit dem Ankauf des hochglänzenden lit.COLOGNE-Ablegers lit.RUHR – so hoffte wohl eine dezent agierende „Elite“ – bekäme man über den Hintereingang doch noch Zutritt ins austauschbare Event- und Marketingbusiness großer Vorbild-Metropolen wie Berlin, London, New York. Dass angesichts solch öden Kopisten-Coups wirklich schöpferischer und inspirierender Austausch im öffentlichen Leben des Ruhrgebiets nicht vermisst wird, zeigt bereits, wie ruiniert jede Debattenkultur hierzulande ist.

(Ach, Ruhrgebiet, du sick apple. Gestern Abend ging ich durch Essens Kettwiger Straße und dachte: Wer es hier nicht schafft, schafft es nirgendwo. Bin ich wirklich der Einzige ohne Bierflasche in der Hand?)

Simulation statt Stimulation

Um Missverständnissen vorzubeugen: Über die lit.RUHR und deren Glamour-Mäntelchen ist zu sprechen. Infrage steht aber ebenso eine ideenlose Literaturpolitik, die lebendiges literarisches Leben weder gestalten kann noch fördern will. Statt genau dieses Leben zu stimulieren, wird es immer nur simuliert.

Infrage steht die Arroganz reicher Ruhr-Stiftungen, die besser zu wissen wähnen, was das literaturinteressierte Publikum wünscht. Infrage steht ihre als „gut gemeint“ deklarierte, aber schlecht gemachte Modernisierung von oben, vom grünen Sponsor-Tisch aus. Infrage steht mit diesen Stiftungen und deren Vorständen, Kuratorien, Juristen aus Wirtschaft und Politik eine eitle Literaturförderung nach Gutsherrenart, die sich qua Kultur vor allem dem Standortkonkurrenz-Denken und der Politikrepräsentation verpflichtet fühlt (zu dieser Mentalität s. auch FAZ).

Pressekonferenz lit.RUHR
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Mit beschränkter Haftung

Zurück zunächst aber zur geschäftstüchtigen lit.COLOGNE-GmbH (und dem ihr eng verbundenen gemeinnützigen lit e.V.). Hochprofessionell hat man in Köln Denkfaulheit und Geltungssucht an der Ruhr genutzt, um einen Marken-Klon namens lit.RUHR zu platzieren und sich dabei exorbitant subventionieren zu lassen. Allerdings darf man dies Verein und GmbH nicht ernsthaft vorwerfen.

Die lit.COLOGNE hat so eine zweite Abspielstätte gefunden, hat allen Fensterreden zum Trotz aber über die Eigenart des Ruhrgebiets bisher nicht wirklich nachgedacht. Schade, dass mit der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, der Brost-Stiftung, der RAG-Stiftung, der innogy Stiftung sowie der Stiftung Mercator gleich fünf Stiftungen der Versuchung nicht widerstanden, an der lit.COLOGNE anzudocken.

Sehr gekonnt gepanschter Wein in gebrauchtem Schlauch

Kaum etwas an der lit.RUHR überrascht, die meisten Schauspieler, Moderatoren, Musiker und – nicht zu vergessen – Autoren waren längst zu Gast an der Ruhr. Zugegeben, Literaturveranstalter kochen überall nur mit Wasser und selbstverständlich werden auch der lit.RUHR gute Abende gelingen.
Schließlich hat er Hochkonjunktur, dieser im deutschen Sprachraum sich überbietende Eventzirkus: vom ‚internationalen literaturfestival berlin‘ über ‚Harbour Front‘ in Hamburg und „Leipzig liest“/“Zürich liest“ bis hin zur Frankfurter Buchmesse, zum Erlanger Poetenfest oder all den Crime-Festivals landauf landab. Viele dieser Festivals sind zum Erfolg verdammt, auch ökonomisch. Und wo Erfolg sich nicht einstellen will, redet man ihn über PR-Arbeit herbei.

Heinz Strunk: Kommt zur lit.Ruhr und war letztes Jahr Gast der Reihe"ausgebootet" im Katakombentheater Essen; Copyright-Foto: Jörg Briese

Heinz Strunk: Kommt zur lit.Ruhr und war letztes Jahr Gast der Reihe“ausgebootet“ im Katakombentheater Essen; Copyright-Foto: Jörg Briese

Gut aufgestellt? Schlecht nachgestellt!

Angesichts dieser Festivalitis und Überfülle nähme die lit.RUHR den Mund allerdings sehr voll, wenn sie irgendein „Alleinstellungsmerkmal“ auch nur ansatzweise behaupten wollte. Beileibe nicht nur die IKIBU Duisburg, die Internationale Kinderbuchausstellung, stellt seit Jahrzehnten Kinder- wie Jugendbuchautoren aus aller Welt vor und kämpfte immer mal wieder ums Überleben. Auch Jugendstil, das Dortmunder Kinder-und Jugendliteraturzentrum NRW, unterstützt vehement das Engagement für „kreative Literaturvermittlung und Leseförderung“.

Nun also liest auch die lit.kid.RUHR den Jüngeren was vor, das ist sehr lieb, aber beileibe nichts Unerhörtes, zumal trotz Förderung durch die Brost-Stiftung nicht einmal dies kostenlos zu sein scheint. Und in Gelsenkirchen durfte eine Jungautoren-WG aus Studenten des Literaturinstituts Leipzig sogar fünf Wochen lang das Ruhrgebiet erkunden und beschreiben. Schön für die Transitreisenden, doch auch nur wunderbar kalter Kaffee. Die Katholische Akademie in Mülheim hat so etwas unter dem Projekttitel „Metropolenpilger“ bewerkstelligt – und auch sie war damit nicht die Erste oder Einzige.

"Morgenstund hat Gift im Mund" -Sophie Rois las auf Einladung des Literaturbüros im Ringlokschuppen gallige Texte Dorothy Parkers; Fotot: © Jörg Briese

„Morgenstund hat Gift im Mund“: Sophie Rois las auf Einladung des Literaturbüros im Ringlokschuppen gallige Texte Dorothy Parkers; Foto: © Jörg Briese

Permanente Revolution

Ende August 2017 gingen die lit.COLOGNE SPEZIAL und die lit.RUHR gleich mit zwei zum Verwechseln ähnlichen Pressemitteilungen/Programmvorstellungen in Köln und Essen ins Festival-Windhundrennen. Wer es vom 3. bis zum 15. Oktober 2017 nicht schaffen sollte, Zadie Smith, Donna Leon, Sven Regener, Ulla Hahn oder Uwe Timm in Köln zu erleben, kann sie vom 4. bis 8. Oktober im Ruhrgebiet sehen und hören. Nicht nur jene Fans wird das freuen, die an der Ruhr bereits bei einem der vielen Auftritte dieser Autoren dabei waren.

Allein Zadie Smith war im Revier nie zu Gast, jeder aber kennt Donna Leon, die einst sogar in der Stadtbücherei Gladbeck las, später trat sie mehrmals bei „Mord am Hellweg“ auf. Auch Robert Menasse kommt zur lit.RUHR. Bei seinen drei Auftritten für das Literaturbüro Ruhr war er immer ein sehr kluger, liebenswerter Gast; etwa als er seinen Essayband „Permanente Revolution der Begriffe“ im Essener Grillo-Theater vorstellte.

Anteasern und wiederkäuen

Apropos Revolution in Permanenz: In der Tat wenig Lust auf die lit.RUHR macht einer der Video-‚Teaser‘ auf Youtube. Mariele Millowitsch nuschelt da vor Kölner Lärmkulisse so über die lit.RUHR hinweg, als ob diese längst gelaufen wäre. Sprachlich ergiebiger dürfte dagegen die Eröffnungsgala der lit.RUHR werden. Neben Iris Berben, Christoph Maria Herbst, Bettina Böttinger, Max Mutzke sind sogar zwei Literaten zu hören, einer davon Wladimir Kaminer, auch ihn kennen viele von seinen Lesungen im Ruhrgebiet.

Die Eintrittspreise für einen Platz bei der Eröffnungsgala liegen zwischen 24 und 56 Euro. Nicht auszudenken, wie hoch sie lägen, wenn nicht fünf Ruhrstiftungen die lit.RUHR mit 500.000 Euro gesponsert hätten. Wofür gibt man diese Summe plus der Einnahmen durchs Ticketing wohl aus? Die Honorarkosten des diesjährigen Programms scheinen eine solch hohe Summe kaum herzugeben, zumal durch Mehrfachauftritte in Köln und an der Ruhr sowie die Sponsoren einiges an Fahrt-und Hotelkosten eingespart werden dürfte. Doch sicher werden viele Tausender auch in die Werbung und die Infrastruktur gehen müssen, um im Ruhrgebiet einen Hype um die lit.RUHR erstmals zu entfachen.

Ziemlich versteckt: Landschaftspark Duisburg-Nord, das 2010-Publikum der Grass-Lesung des Literaturbüros Ruhr. Foto: © Jörg Briese

Schelte und Ignoranz

Dabei sollte mit der lit.RUHR alles ganz anders werden. Wie meinte in der WAZ Essen die „Vorsitzende der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Stiftung Zollverein und seit langem ein Fan der lit.Cologne“, wie also sprach Dr. Anne Rauhut, die die spannende Vielfalt der Lesungen und Literaturgespräche vor Ort nicht zu kennen scheint und also die lit.COLOGNE ins Revier lockte: Vieles sei „zu versteckt und relativ weit weg von den Menschen“, findet Rauhut.

Ein Lesefest wie die lit.RUHR, so Rauhut weiter, sei eine „gute Mischung aus Anspruch und Unterhaltung“, eine große Bühne, auf der Fußball und Musik genauso Platz haben wie Tolstoi und Tucholsky. ‚Man muss die Hemmschwellen niedriger legen‘, meint Rauhut.“ Gratulation, Letzteres scheint nun gelungen. Fehlen auf der Bühne eigentlich nur noch Carmen Nebel und ein Pony. Aber wer weiß?

Fehlgriff Stadtschreiber Ruhr, Glücksgriff Gila Lustiger

Nun aber wirklich Schluss mit der Kritik an der lit.RUHR, ihrem Marketing-Sprech, ihrem rasenden Event-Stillstand. All das hat die Ruhr-Stiftungen nicht davon abgehalten, die lit.COLOGNE auch noch zu Beratern des frisch installierten Stadtschreiber Ruhr-Projekts zu machen. Die gute Nachricht war: Gila Lustiger wird erste Stadtschreiberin Ruhr; die schlechte: Die Kölner „lit.Cologne berät“ – so die WAZ – beim Stadtschreiber-Projekt die Essener Brost-Stiftung.

Jens Dirksen, Kultur-Chef der WAZ, war in seinem Print-Artikel so freundlich zu erwähnen, dass das Literaturbüro und die Literarische Gesellschaft Ruhr seit Jahren eine Stadtschreiber-Residenz fordern. Niemand hat allerdings hingehört. Nun machen Brostens dabei erneut diskret-gemeinsame Sache mit der lit.COLOGNE.

Bodo Hombach formulierte erläuternd: „Im Ruhrgebiet ist eine reiche menschliche, kulturelle und historische Schatzsuche möglich.“ Was mag das sein, eine ‚menschliche Schatzsuche‘? Das Gegenteil einer ‚unmenschlichen Schatzsuche‘? Hombach möchte wahrscheinlich sagen, dass es auch an der Ruhr großartige Menschen zu entdecken gäbe, wenn man denn hinsähe. Da hat er allerdings recht.

„Wir müssen draußen bleiben“

Doch auch beim Stadtschreiber-Projekt hat man davon abgesehen, Autoren, Kritiker, Literaturwissenschaftler oder Literaturveranstalter aus der Region einzubeziehen. Wiederum borgt man sich das, was man für Kompetenz hält, aus der karnevalesk schillernden Ruhrmetropole Köln (die so gerne wie Berlin wäre).

Von Balance und dem rechten Maß kann nirgendwo mehr die Rede sein: hier der Tribut der Stiftungen für die lit.COLOGNE, dort die Missachtung der Literaturförderer vor Ort. Sprach nicht der Philosoph Odo Marquard einst von Inkompetenzkompensationskompetenz?

„Mehr Licht“ forderte völlig vergeblich Günter Grass bei seinen 2010er-Lesungen fürs Literaturbüro Ruhr in Bochum und Duisburg.

Kampagne – von „campagne“: „Feldzug“

Konfuse Kulturpolitik im Ruhrgebiet hat ohne Not kapituliert, sich selbst entmündigt und große Teile konzeptioneller Eigenständigkeit aus der Hand gegeben. Obszön ist das, im ursprünglichen Sinn des Wortes, beschämend für alle Beteiligten.

Woher kommt sie, diese Dominanz des Herumprotzens mit dem Fetisch ‚Festival‘, mit dem Irrglauben an dessen zwingenden Erfolg und überragende Außenwirkung? Als ob es im Ruhrgebiet nicht bereits ernüchternde Erfahrungen mit Kampagnenpolitik, deren bösen Folgen oder deren Verpuffen gegeben hätte. Überfällig, dies endlich zu evaluieren; nur bitte nicht weiter von jenen, die solche Kampagnen selbst inszeniert haben.

Statt Literatur zu lesen, darüber in Muße nachzudenken und sich in Gesprächen öffentlich auszutauschen, werden mit der Festivalisierung der Stadtpolitik Kunst und Kultur weiterhin vor den Karren von Marketing und Politik gespannt. Dabei vernachlässigt man gern auch die äußerst unterschiedlichen strukturellen Rahmenbedingungen Kölns und des Ruhrgebiets.

Das Ruhrgebiet ist Flächen- und Splitterstadt, es fehlt an großen Sendern, Verlagen, es fehlt trotz guter Journalisten an einem international ausstrahlenden Feuilleton und all jenen Medienmenschen, Kritikern, Autoren, die in Köln dafür sorgen, dass die lit.COLOGNE mediale Schaufenster ins Bundesweite hat. Immerhin: Für die lit.RUHR hat man wichtige  ‚Medienpartner‘ wie WDR und Funke-Medien gewonnen, dies dürfte zumindest garantieren, dass unabhängige Eventkritik nicht stattfindet.

2014: US-Autor Stewart O’Nan als Gast von lit….. äh… des Literaturbüros Ruhr; Foto: © Jörg Briese

Ruhrgebiets-Bashing

Wobei neben der Eventkritik auch Diskursanalyse bitter nötig wäre. Michel Foucault hatte einst über sie nachgedacht, jene unausgesprochenen Regeln, die beeinflussen, was wie wann von wem zur Sprache gebracht werden kann und was nicht. Vielleicht ließe sich so erklären, warum Rainer Osnowski von der lit.COLOGNE im Rahmen seiner Vorankündigungsrhetorik in der Kölnischen Rundschau verlauten ließ: „Im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern sollen „erstmals Autoren auftauchen, die daran bislang vorbeigegangen sind“. Das interessiere auch jene Verlage, „für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist‘.“

Wer austeilt, sollte auch einstecken können: Alles, was man im Leben braucht, sind Ignoranz und Selbstvertrauen, heißt es bei Mark Twain – und davon hat Osnowski anscheinend reichlich. Bös missglückte ihm aus enger Kölner Perspektive die Werbung für die lit.RUHR gleich zu Beginn. Um die lit.RUHR aufzuwerten, griff er zur Entwertung des literarischen Lebens an der Ruhr.

Mit osnowskischer Geringschätzung und Erlöserpose treten Missionare auf, nicht aber Förderer der Literatur, die doch Kenner und Könner der Sprache sein sollten. Zwischen Duisburg und Dortmund würde man noch mehr Osmose durch internationalen Austausch der Künste und Künstler durchaus begrüßen, auf die lit.RUHR aber und Großformate ohne Format könnte man gut und gern verzichten.

Keine Fixierung auf die lit.RUHR, sondern Eigensinn ganzjährig stärken

In diesen Zeiten der postdemokratischen Kultur- als Symbolpolitik kann allen Literaturliebhabern an der Ruhr in heiterer Verlassenheit nur geraten werden, ihre eigenen und eigensinnigen Projekte weiter voranzutreiben (viele davon habe ich für die ‚Revierpassagen‘ recherchiert). Und: Warum sollte man sich beim Tanz ums goldene Festival-Kalb überhaupt abstrampeln? Kraft und Fantasie kostet das und mit jeder Überdosis Organisation verkümmert schnell die Lust am Lesen.

Nervtötend ist zurzeit deshalb auch die Dauerfrage, warum denn die ‚literarische Szene‘ an der Ruhr (was soll das sein?) nicht selbst ein ‚hochkarätiges‘ (drunter geht’s nicht) Festival auf die Beine gestellt habe. Ganz einfach: Viele investieren hierzulande all ihr beharrliches Engagement, manchmal auch einen Teil ihres Geldes in die eigenen Projekte der Literatur- und Leseförderung, des Zeitschriftenmachens oder internationalen Austauschs – damit haben sie mehr als genug zu tun. Niemand von ihnen könnte nebenbei auch noch die ‚Szene‘ dauerhaft vernetzen oder ein Festival organisieren. Und vor allem: Kaum jemand will das. Warum auch? Siehe oben.

Heinz Helle & Hubert Winkels zu Gast bei „Über Leben! Von der Hoffnung auf Zukunft“ – September 2017, Medienforum Bistum Essen

Kleine Volte: Hoch lebe die lit.RUHR!

Die lit.RUHR kommt so sicher wie das Amen im Essener Dom und für vier Tage im Jahr wird sie ihr ganz eigenes Publikum finden: Und? Mögen doch „Hannelore Hoger, Richie Müller und die Gummi-Ente“ (Programmbeilage der lit.RUHR) im schadstoffarmen Diesel des Sponsors Mercedes zu ihrem Auftritt „Fetisch“ (7.10., Zollverein) fahren, ihre „literarische Expedition in die Welt des Fetischismus“ starten und danach erschöpft ins Kissen der Hotel-Suite des Sponsors Sheraton sinken. Wieder ein – sagen wir mal – bunter Rezitationsabend, den man nicht selbst veranstalten musste (Verzeihung, verehrte Frau Hoger).

„Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, daß der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, daß es Zeit wird.“ So heißt es in Paul Celans Gedicht „Corona“. Man darf das UNIFORMAT „FESTIVAL“ getrost der lit.RUHR und ihren Gönnern überlassen und … abhaken.

An der Zeit wäre es allerdings, im Ruhrgebiet die Förder-Balance nicht noch weiter zu verlieren und ideell wie finanziell endlich Initiativen zu ermutigen, deren nachgewiesene Kompetenz es verdient hätte. Aber dafür werden Sachverstand, Mut und Geld bei den Stiftungen wohl nicht ausreichen – von Kommunen und RVR ganz zu schweigen.

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Gerd Herholz, der Autor des Beitrags, ist langjähriger Wissenschaftlicher Leiter des in Gladbeck angesiedelten Literaturbüros Ruhr. (Anm. d. Red.)




Nominierungen zum Theaterpreis „Der Faust“: Auszeichnungen für Oberhausen, Essen, Dortmund und Düsseldorf

DER FAUST - so sieht die Auszeichnung aus. Foto: Natalie Bothur

„Der Faust“ – so sieht die Auszeichnung aus. Foto: Natalie Bothur

Alle Achtung! Da kommt soeben die Pressemeldung des Deutschen Bühnenvereins zum Theaterpreis „Der Faust“ 2017 herein – und wir entdecken gleich mehrfach Nominierungen für Bühnen in Nordrhein-Westfalen.

Waren die Theater in NRW nicht sonst eher so ein Geschwader hässlicher Entlein, die schüchtern im Kielwasser der glanzvollen Schwäne aus Berlin, Hamburg etcetera mitpaddeln durften? Diesmal könnte es anders sein. Und dass ein nicht gerade auf Rosen gebettetes Theater wie Oberhausen in der Kategorie „Regie Schauspiel“ nach 2014 erneut für einen Preis infrage kommt, darf durchaus mit Stolz zur Kenntnis genommen werden. Neben Oberhausen stehen Düsseldorf, Essen und Dortmund in der Liste der „Faust“-Nominierungen.

„Látszatélet / Imitation of Life“ des unbequemen ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó soll einen „Faust“ für die beste Schauspiel-Regie erhalten. „Dieser Abend wühlt auf und wühlt im Zuschauer“, schreibt der Kritiker Sascha Krieger über die Oberhausener Premiere im Juni 2016. In der Kooperation des ungarischen Proton Theaters – eines der kritischen Ensembles, die keine staatliche Unterstützung mehr bekommen –, der Wiener Festwochen und weiterer Partner geht es um Alltagsrassismus und Ausgrenzung am Beispiel einer Roma-Familie. Krieger: „Es ist der Kreislauf von Hass und Ausgrenzung, den Mundruczó an diesem Abend zeichnet. Ein intensiver, stiller Abend, an dem man zuweilen kaum hinsehen will.“

Einen Regie-Faust hat für NRW auch Johanna Pramls „Sommernachtstraum“ am Schauspielhaus Düsseldorf in Aussicht. Auf der neu gegründeten Bürgerbühne entwickelte die 1980 in Offenbach geborene, mehrfach ausgezeichnete Regisseurin ihr Projekt gemeinsam mit Laien und Schauspielern. Am Freitag, 6., und Sonntag, 8. Oktober ist das Ergebnis noch einmal zu sehen. Der Kritiker Stefan Keim sagt dazu, das Verwirrspiel frei nach Shakespeare sei „wunderbar sympathisch, selbstironisch und auch mutig, denn die Darsteller erzählen von ihren eigenen Träumen, von ihren Ängsten und dann wird es auch richtig magisch.“

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Szene aus Tatjana Gürbacas „Lohengrin“-Inszenierung in Essen, nominiert für den Theaterpreis „Der Faust“: der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Im Musiktheater steht neben Paul-Georg Dittrichs Berlioz-Deutung in „La Damnation de Faust“ am Theater Bremen und Christoph Marthalers „Lulu“ in Hamburg die Essener „Lohengrin“-Inszenierung Tatjana Gürbacas auf der „Faust“-Liste. In einem beziehungsreichen Bühnenbild Marc Weegers hat Gürbaca im Aalto-Theater Wagners häufig interpretiertes Werk in einer klugen, komplexen Regie an die Gegenwart angenähert, ohne die Deutungswege der letzten Jahre weiter auszutreten, aber auch ohne in die Extreme verstiegenen Überbaus zu flüchten oder das Heil in der Rückkehr zu Opulenz und Konvention zu suchen. Sie inszenierte weder ein „Künstlerdrama“ noch eine bloß politische Parabel, sondern gab der Offenheit des Dramas, dem „Wunder“ einen sinnlich und sinnhaft ausgedeuteten Raum. Ab 18. April 2018 ist Gürbacas Inszenierung in der Wiederaufnahme in Essen wieder zu erleben.

Im Bereich Bühne/Kostüm konnte sich Dortmund – nach Pia Maria Mackerts Bühne zu „Das goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ 2014 – wieder eine „Faust“-Nominierung sichern: Michael Sieberock-Serafimowitsch (Bühne) und Mona Ulrich (Kostüm) erhielten sie für ihre Ausstattung von „Die Borderline Prozession“ am Schauspiel Dortmund. Im Megastore erarbeiteten Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin ein aufwendiges Gesamtkunstwerk: eine detailreich ausgestattete Villa, bewohnt von Schauspielern und umzogen von einer Prozession. Eine „verstörende Lebens-Geisterbahn“ nennt Rezensentin Dorothea Marcus die Produktion; eine „philosophische Welt-Installation über das Draußen und das Drinnen, Arm und Reich, Grenzen und Übergänge. Darüber, wie Bilder und Worte den Blick auf das Echte verstellen können.“ Die „Borderline Prozession“ war zum Berliner Theatertreffen 2017 eingeladen und wird bis 14. Oktober noch fünf Mal im Dortmunder Megastore gezeigt.

Einen „Faust“ für Choreografie kann Dewey Dells „Sleep Technique – Eine Antwort an die Höhle“ erhalten; eine Performance, die in der Berliner Tanzfabrik und im März 2017 in PACT Zollverein ihre Uraufführung feierte. Die 2007 gegründete Kompanie Dewey Dell hat als Team – als Choreographin wird Teodora Castellucci genannt – eine „poetische Reise zu den Tiefen des Ursprungs europäischer Kultur“ entwickelt. Auch diese Arbeit versteht sich als ein Gesamtkunstwerk aus Choreographie, Musik, Bühnenbild und Licht.

Der Deutsche Theaterpreis „Der Faust“ wird am Freitag, 3. November 2017 im Schauspiel Leipzig zum zwölften Mal verliehen. Der undotierte Preis umfasst Auszeichnungen in acht Kategorien sowie den Preis für das Lebenswerk, den in diesem Jahr die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek erhält. In der Begründung heißt es: „Als eine der prominentesten Mitgestalterinnen der Umbrüche im deutschsprachigen Theater nach 1968 hat sie mit ihrer Absage an traditionelle dramatische Strukturen und mit ihren wortgewaltigen, sprachlich verdichteten Textflächen eine neue Richtung vorgegeben.“ – Zum ersten Mal wurde der Theaterpreis 2006 im Aalto-Theater Essen vergeben. Damals ging je eine „Faust“-Nominierung nach Düsseldorf, Essen und Moers.




Mein Onkel, der Tüftler, Daimler-Benz, Hotzenblitz und die Bereitschaft zur Innovation

Die deutsche Autoindustrie ist bekanntlich in Verruf und Verzug geraten. Euphemistisch ist von „Schummeleien“ die Rede, wo man wohl von Betrug reden müsste, von offenkundigen Kartellabsprachen mal ganz abgesehen.

Frühes deutsches Elektroauto: der Hotzenblitz "Buggy", produziert von 1993 bis 1996. (Foto von 2011: F. Rethagen/Wikipedia - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Frühes deutsches Elektroauto: Hotzenblitz „Buggy“, in Miniserie produziert von 1993 bis 1996. (Foto von 2011: F. Rethagen/Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Überdies drohen die bislang auf dem Weltmarkt so überaus präsenten deutschen Konzerne den technischen Anschluss zu verlieren, wenn es um Elektromobilität und andere, womöglich zukunftsträchtige Antriebe geht. Sollten die erfolgsverwöhnten Firmen etwa unbeweglich und innovationsfeindlich sein?

Verbesserungsvorschläge unterbreitet

Warum ich das Thema hier aufgreife? Nun, mein vor einigen Jahren verstorbener Onkel Josef (genannt „Jupp“), der übrigens ein grundanständiger Mensch gewesen ist, hat sich – neben seinem Beruf bei einer Versicherung – vielfach als Tüftler betätigt und sich immer mal wieder kleine Erfindungen ausgedacht. Leider wohnte er in Frankfurt/Main und man traf sich nur selten. Sonst hätte ich mir in dieser Hinsicht gerne mehr von ihm abgeschaut.

Wie auch immer. Als ich seinen Nachlass gesichtet habe, fand ich darunter auch ein paar Briefwechsel mit Firmen bzw. Institutionen (z. B. Patentstelle der Fraunhofer-Gesellschaft), denen er Ideen und Verbesserungsvorschläge angeboten hat. Jetzt habe ich diese Papiere beim Aufräumen noch einmal durchgesehen. Und ich fand den Inhalt aus aktuellem Blickwinkel stellenweise recht interessant.

Wenn der Mercedes-Stern aufleuchtet

So hat er im Juli 1998 der Daimler-Benz AG eine offenbar bis ins Detail durchdachte Neuerung unterbreitet, die das dritte Bremslicht betraf. Mit LED-Technik wollte er bewirken, dass dort bei jedem Bremsvorgang der Mercedes-Stern aufleuchtete. Zugegeben: keine grundlegend notwendige Erfindung fürs Automobil, vielleicht aber tatsächlich eine effektive Werbemaßnahme. Mein Onkel in seinem Schreiben an Daimler-Benz:

„Die dritte Bremsleuchte dient dann nicht mehr nur der Sicherheit, sie dient zugleich der Werbung für Ihre Fahrzeuge, ein m. E. nicht zu unterschätzender Aspekt. Denken Sie hierbei insbesondere an den Markt in den USA…“

Restriktive Betriebsvereinbarung

Bemerkenswert nun die Antwort von Daimler-Benz aus Stuttgart, versandt von der Abteilung „Vertriebsorganisation Deutschland“. Sie liegt mir hier vor. Es geht nicht um die Ablehnung an sich, sondern um die fadenscheinige Begründung.

Dem Dank „für die Einsendung Ihres o.g. Vorschlages“ folgt diese Ausführung:

„Leider können wir diesen jedoch zur weiteren Bearbeitung innerhalb des Betrieblichen Vorschlagswesens nicht annehmen, weil aufgrund einer zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite getroffenen Betriebsvereinbarung bestimmte Themen nicht behandelt werden dürfen. Dazu zählen insbesondere Themen, die die Grundsatzfragen der Unternehmenspolitik unseres Hauses betreffen.“

Nanu? Das klingt ja ganz schön geheimnisvoll. Oder sollten hier einfach die einflussreichen Betriebsräte einen Riegel vorgeschoben haben, damit nur Werksangehörige entsprechende Vorschlags-Prämien erhalten?

Was bleibt denn da noch übrig?

In einem weiteren Brief der Daimler-Benz AG wird es in selbiger Sache etwas konkreter. So werden von außerhalb des Hauses offenbar keine Verbesserungsvorschläge zu folgenden Themenbereichen angenommen, wir listen die Punkte mal auf:

Grundsätze der Geschäftspolitik
Öffentlichkeitsarbeit
Werbung
Ein- und Verkaufsmaßnahmen
Entwicklung eines neuen oder anderen Fahrzeugtyps
Änderung oder Ergänzung der Ausstattung unserer Fahrzeuge
stilistische Veränderungen
Neu- und Weiterentwicklungen

Der gute Stern... Post aus dem Hause Daimler-Benz (1998). (Repro: BB)

Der gute Stern… Post aus dem Hause Daimler-Benz (1998). (Repro: BB)

Oha! Jetzt frage ich mal in die Runde: Welche Themen bleiben da eigentlich noch übrig, die zulässig wären? Hat sich da eine Weltfirma etwa abgeschottet von möglichen externen Quellen der Neuerung? Wie sieht es in diesem Punkt wohl bei den anderen deutschen Autokonzernen aus, beispielsweise bei Volkswagen? Und gilt die strenge Regelung bei Daimler-Benz – auch fast 20 Jahre danach – immer noch in gleicher Weise? Mag ja sein, dass sich die Schwaben traditionsgemäß ohnehin für die besten aller Tüftler halten.

Den Fahrtwind mit einem Generator nutzen

Mein findiger Onkel hat sich natürlich nicht nur mit Werbemaßnahmen befasst, sondern beispielsweise auch mit Feinheiten wie neuartigen Bohrfuttern (Vorschlag für Black & Decker) und – jetzt kommt’s – schon relativ zeitig mit Energie sparender Fahrzeugtechnik.

So hat er der damals noch existierenden E-Auto-Schmiede Hotzenbitz (in Suhl/Thüringen) 1995 mit Planskizzen usw. dazu geraten, die Autos zusätzlich mit einem Windgenerator auszurüsten, der just den Fahrtwind nutzen sollte, um Extra-Energie zu erzeugen. Ob das technisch sofort umsetzbar gewesen wäre oder nicht – für mich als Laien klingt es jedenfalls nach einem Ansatz, den man vielleicht weiter hätte verfolgen können.

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P.S.: Sollte ich eines Tages ein Mercedes-Modell entdecken, bei dem der „gute Stern auf allen Straßen“ als Firmenlogo im dritten Bremslicht aufleuchtet, so weiß ich Bescheid und melde jetzt schon mal vorsorglich Protest an. Alle Rechte vorbehalten…




Mit seligem Schwung zum Beifall: Die Essener Philharmoniker eröffnen unter Tomáš Netopil die Serie ihrer Sinfoniekonzerte

Tomás Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomáš Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Kaum jemand kennt sie mehr, die alten Studentenlieder. Nur „Gaudeamus igitur“ dürfte noch vertraut sein: Wie einen Hymnus auf die alte Burschenherrlichkeit setzt Johannes Brahms die Melodie an den Schluss seiner „Akademischen Festouvertüre“. Mit einem Humor, wie er dem Meister der „deutschen Tonkunst strengeren Stils“ angemessen ist, gibt Brahms der Universität Breslau die Ehre. Sie hatte ihn zum Ehrendoktor gekürt.

Die Essener Philharmoniker eröffnen in der Philharmonie mit Brahms’schem Hintersinn das neue Konzertjahr, und ihr Chef Tomáš Netopil lässt die abwechslungsreiche Verarbeitung von Melodien wie dem einst berühmten „Fuxenritt“ mit gekonnter Geste in Blechmajestät münden. „Gratulor“ würde der flotte Bursch von einst komplimentieren.

„Strengen“ Stils befleißigt sich auch Antonín Dvořák in seinen „Sinfonischen Variationen“ op. 78, mit denen er sich die Anerkennung von Brahms errungen hat. Netopil setzt mit diesem oft aufgenommenen, im Konzertsaal aber seltener zu hörenden Stück sein Vorhaben fort, das Publikum mit musikalischen Schätzen seiner Heimat bekannt zu machen. Wundervoll gesponnene Melodik, spritzige Rhythmen, leise Idyllen: Dvořák entfaltet das Spektrum seiner Ausdruckskraft und zeigt sich als Meister der Form. Die Posaunen haben einen wirkungsvollen Auftritt, die Streicher dürfen mit Seele singen.

Ein anderer Tonschöpfer aus Tschechien, Bohuslav Martinů, hat’s in seinem originellen Konzert für Streichquartett mit Orchester nicht so mit dem Kantablen: 1932 uraufgeführt, orientiert es sich an der Form des concerto grosso aus dem 18. Jahrhundert, aber auch an der Freude am Experimentellen, die Martinů in Paris pflegte. Die Lust an der Polyphonie und an der Dissonanz lebt er ähnlich exzessiv aus wie Igor Strawinsky oder Darius Milhaud.

Der atemlose Ton der modernen Zeit

Die vortrefflichen Musiker des Pavel Haas Quartetts stellen das thematische Material vor: spritzig, unruhig, rastlos wie die moderne Zeit, die sich auch bei Martinů in der Musik spiegelt. Das Orchester nimmt diesen atemlosen Ton auf. Das Prinzip der Variation schlägt die Brücke zu Dvořák, aber die Atmosphäre des dichten, von den Essenern kühl durchschauten Orchestersatzes mit seinen Reibungen und harmonischen Zusammenstößen hat mit dem böhmischen Altmeister wenig zu tun. Den Mittelsatz spielen Veronika Jarůšková, Marek Zwiebel, Radim Sedmidubský und Peter Jarůšek mit heiliger Ruhe und intensivem Vibrato zu den knöchern aufs Holz durchschlagenden Streicher-Pizzicati des Orchesters. Und im Finale genießen die Bläser spitz und ironisch ihren virtuosen Beitrag.

Zum Schluss ein Tribut an den kulinarischen Geschmack: Aber Richard Strauss‘ „Rosenkavalier“-Suite will Netopil nicht so recht gelingen. Der Einstieg ist massiv und laut statt leuchtend, vorlaut statt elegant. Die Sphärenklänge der „silbernen Rose“ bleiben irdisch durchschaubar. Doch das ans Missgeschick des lerchenauischen Ochs erinnernde Spukgepolter und der selig schwingende Walzer versöhnen zum freundlichen Beifall.

Heute Abend, am 12. September 2017, gastieren Netopil und die Essener Philharmoniker im Rudolfinum in Prag beim diesjährigen Dvořák Festival, das er am Samstag, 23. September am Pult der Wiener Symphoniker mit Dvořáks „Te Deum“, der Sechsten Symphonie und Johannes Brahms‘ „Tragischer Ouvertüre“ abschließen wird.

Das Zweite Sinfoniekonzert der Saison am 28. und 29. September in der Philharmonie Essen bringt als Hauptwerk die „Reformations“-Symphonie Felix Mendelssohn-Bartholdys und geistliche Musik des 1946 geborenen lettischen Komponisten Pēteris Vasks: „The Fruit of Silence“ für gemischten Chor und Streichorchester.




„Hunger“ – der letzte Teil von Luk Percevals Bühnentrilogie nach Zola-Romanen bei der Ruhrtriennale

Jetzt herrschte „Hunger“ bei der Ruhrtriennale. Nur zweimal kam diese Gemeinschaftsproduktion des Festivals und des Thalia Theaters Hamburg vor düster-rostiger Hochofenkulisse in Duisburg zur Aufführung und war selbstverständlich ausverkauft.

Unter Tage kommen sie sich näher: Szene mit Marie Jung (Catherine) und Sebastian Rudolph (Étienne Lantier) (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailowic)

Den Besuchern wurde zu warmer Bekleidung geraten, außerdem gab es Wolldecken, die, wenn man sie sich nicht über die Knie legte, auch als Polsterung der harten Plastikbestuhlung gute Dienste leisteten. Es ist halt schon eine Herausforderung, stillgelegte Schwerindustrie mit Theater zu bespielen. Doch mittlerweile gelingt dies der Ruhrtriennale souverän. Und es hat auch nicht immerzu geregnet.

Bergleute streiken

Die Bühne in der Gießhalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord ist seit dem ersten Teil dieselbe geblieben, eine karge Spielfläche mit schwer erklimmbarer Erhöhung am hinteren Rand und einigen Seilen, die von oben herabhängen.

„Hunger“ ist als Titel durchaus wörtlich zu verstehen. Teil 3 von Luk Percevals Bühnenfassung zentraler Motive aus Émile Zolas Romanzyklus „Die Rougon-Macquart“ erzählt (nach „Liebe“ und „Geld“) zu einem wesentlichen Teil vom elenden Leben der Bergleute im (fiktiven) nordfranzösischen Bergarbeiterdorf Montsou, denen ihr karger Lohn nicht mehr zum Überleben reicht. Angeführt von Étienne Lantier, der erst vor kurzem herkam, planen sie einen Streik. Als Vorlage diente Zolas Roman „Germinal“.

Lebensgefährliche Nähe: Lokführer Jacques (Rafael Stachowiak, rechts) und Severine (Patrycia Ziolkowska). (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailovic)

An Étienne erinnert man sich möglicherweise noch aus Teil 2 der Trilogie als uneheliches Kind der Wäscherin Gervaise. Nun, in Folge 3, ist er erwachsen geworden und sucht händeringend Arbeit – ein echter Proletarier also, ein „freier Lohnarbeiter“, der hier die Bühne der ungestümen, menschenverachtenden Industrialisierung des 19. Jahrhunderts betritt.

Unbändige Mordlust

Sein Bruder Jacques, Lokomotivführer von Beruf, ist Hauptperson des zweiten Handlungsstrangs dieses Abends. Seine Leidenschaft gilt der Maschine, und bangend hofft er, dass das auch so bleibt. Denn wenn Jacques in Leidenschaft für eine Frau erglüht, dann will er sie töten, und gegen diesen Trieb kommt er nicht an. Es sei dies, legt der Stoff nahe, eine Hypothek aus schwerer Kindheit.

Der Programmzettel erinnert uns daran, dass all diese Dinge ja Resultate von Doktor Pascals Recherche sind, welche zur „Trilogie meiner Familie“ führte. Doktor Pascal lernten wir ausführlicher vor zwei Jahren kennen, als ratlosen Erforscher familiären Unglücks, das mit wenig Betrachterphantasie auf Menschheitsunglück hochgerechnet werden kann.

Ein Mord, um noch einmal auf die Bühnengeschehnisse im dritten Teil zurückzukommen, schweißt Jacques (Rafael Stachowiak) und Severine (Patrycia Ziolkowska) in heißer Zuneigung zusammen, doch letztlich geschieht, was wir befürchteten. Der übermächtige Hunger nach Befriedigung bricht sich Bahn. Und unter den Rädern der Lokomotive, so ist zu hören, findet die Geschichte schließlich ihren schauerlichen Abschluss, während Militär streikende Bergleute erschießt.

Barbara Nüsse gibt den Großvater – ein unwirkliches, furchterregendes Anarchistenwesen. (Foto: Ruhrtriennale/ Armin Smailovic)

Mit Saxophon

Viel Stoff also, der da auf die Bühne drängt und inszenatorisch gebändigt sein will. Luk Perceval arbeitet mit einer, wie man vielleicht sagen könnte, filmischen Technik und wechselt zwischen den beiden Handlungen nach Art von Schnitt und Gegenschnitt.

Manchmal, wenn eine Szene ihr (meist) deprimierendes Ende findet, spielt der Saxophonist Sebastian Gille auf der Bühne sehr expressiv und schön ein Intermezzo, und die Klage seiner Töne schwillt mit dem Gang der Dinge an. Doch der Einsatz des Musikers macht die dramatische Konstruktion nicht wirklich geschmeidiger.

Holzschnitthaft und verkrampft

Die Bergarbeitergeschichte wirkt in ihrem Bemühen, möglichst detailreich vom Elend zu erzählen, holzschnitthaft und verkrampft. Aufruhr wird bevorzugt mit erregtem Herumlaufen dargestellt, nie herrscht ein Mangel an markigen Sätzen. Schließlich sondert Mutter Maheu (Oda Thormeyer) nur noch lange, aufgebrachte Schreie ab, einem verwundet aufheulenden Tier nicht unähnlich. Ja, die Verhältnisse sind schrecklich. Doch war das schon lange vorher klar.

Eine vergleichsweise originelle inszenatorische Idee ist es, die jungen Bergleute mit LED-Stirnlampen auszustatten, die bei fortschreitender Dämmerung für längere Zeit einzige künstliche Lichtquelle auf der Duisburger Hochofenbühne sind. Doch gesehen hat man Ähnliches schon öfter, gern würde man von Pfiffigerem überrascht, gern auch von sinnstiftenden Raffungen im Erzählstrang.

Bühnengeschehen im Schein der Kopflampen. Szene mit Tilo Werner (Vater Maheu) und Marie Jung (Catherine), (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailovic)

Sportliches Ensemble

Man könnte ja auch einfach alles zerschlagen, wie Bonnemort (in etwa: „guter Tod“), es den Bergleuten ausmalt. Barbara Nüsse gibt dem Großvater, diesem gespenstischen Anarchistenwesen, das stets da ist und doch neben allem steht, furchteinflößende Gestalt. Gabriela Maria Schmeide, an die wir uns in der Rolle der Wäscherin Gervaise noch gut erinnern, ist jetzt als schwachsinnig-seherische Alzire auf der Bühne, agiert wie auch Bonnemort ein wenig außerhalb der Handlung, die ein jugendliches, ausnahmslos vorzügliches Ensemble hier mit großer Sportlichkeit auf die zugige Gießhallenbühne stellt. Video-Elemente fehlen völlig, ohne deshalb vermisst zu werden.

Anhaltender und lebhafter Applaus.

Die ganze Trilogie wird am 15. und 17. September bei der Ruhrtriennale zu sehen sein, dann warten schlanke 11 Stunden Theater mit zwei Pausen. Start ist um 13.00 bzw. 12.00 Uhr. Besucher sollten sich warm anziehen und auf den Wetterbericht achten. Infos: www.ruhrtriennale.de




Nachlese zu den Salzburger Festspielen: Gefangen im Mechanismus der Macht – Aribert Reimanns Oper „Lear“

Auf dem Weg in den Wahnsinn: Gerald Finley als König Lear in Salzburg. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Auf dem Weg in den Wahnsinn: Gerald Finley als König Lear in Salzburg. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Ein sorgsam geschichteter Cluster aus Tönen wird zu einem unbestimmt lauernden Klang. Pianissimo hält ihn Dirigent Franz Welser-Möst in der Schwebe, während ein jovialer Politiker im Dinner-Jacket etwas verspätet hereinstrebt und in die Menge grüßt. Festlich gekleidete Menschen, vor der Bühne, rund um die Bühne. Der Mann im crèmefarbenen Dress bekundet, der Macht müde zu sein, das Reich teilen zu wollen.

Drei Töchter, zwei davon in Pastell-Rosa und Lindgrün wie eine Mischung aus Queen Elizabeth und Margaret Thatcher, stehen schon bereit auf der breit gezogenen, bunt und wild blühenden Wiese, die Simon Stone in der Felsenreitschule in Salzburg als Spielfläche frei gelassen hat. Wir sehen „Lear“, Aribert Reimanns 1978 in München uraufgeführtes Hauptwerk, inzwischen ein Klassiker des zeitgenössischen Musiktheaters.

Wäre die Besetzung nicht so riesig – selbst in Salzburg muss das vielfältig besetzte Schlagwerk auf den Balkon rechts vom Orchestergraben ausweichen –, hätte diese Shakespeare-Oper sicher schon mehr als die bisher weltweit rund 30 Neuinszenierungen erlebt, darunter auch am Aalto-Theater in Essen. Reimann musste erst 81 Jahre alt werden, bis sich die Salzburger Bühne für ihn öffnete – und das trotz großartiger Werke von „Melusine“ bis „Medea“.

Markus Hinterhäuser ist seit Herbst 2016 mit einem Fünf-Jahres-Vertrag Intendant der Salzburger Festspiele und hat eine erste erfolgreiche Saison hinter sich. Foto: Salzburger Festspiele/Julia Stix

Markus Hinterhäuser ist seit Herbst 2016 mit einem Fünf-Jahres-Vertrag Intendant der Salzburger Festspiele und hat eine erste erfolgreiche Saison hinter sich. Foto: Salzburger Festspiele/Julia Stix

Reimanns bis an die Schmerzgrenze expressive und exzessive Musik wird unter den Händen von Franz Welser-Möst und in der klanglichen Vollendung der Wiener Philharmoniker zum bestimmenden Ereignis dieser letzten Premiere der Salzburger Festspiele. Welser-Möst verlässt sich nicht auf die immer noch schockierende Härte und Brutalität der schlagzeuggepanzerten Akkordtürme und Tonschichtungen Reimanns, sondern zeigt, wieviel Resignation und wahnsinnsverwehter Zärtlichkeit in den Klängen steckt.

Er hütet sich, die präzise Kontrolle der Dynamik jemals aufzugeben und lässt so die Zuschnürung des dramatischen Knotens musikalisch erleben, bis er in der Heideszene des ersten Aktes reißt und das kontrolliert kontrapunktische Chaos entfesselt losbricht: Im Dröhnen der Perkussion und im Aufschreien des Orchesters entlädt sich der Sturm der Elemente, der zum inneren Wüten in der Seele Lears wird. „Haltlosigkeit, Ziellosigkeit“ schreibt Reimann selbst in seinen Notizen zum Kompositionsprozess. Und danach, in erschöpfter Ruhe, die enthobenen Girlanden der Melismen Edgars, des von seinem Vater Gloster verstoßenen Sohnes.

Der ausgewogene, abgerundete Klang der Wiener Streicher, die disziplinierten Bläser – auch wenn sie böse gellen und schrill kreischen –, die schmerzvoll-süßen Unisoni und das gedämpfte Brodeln der kunstvoll gebauten Flächen aus Viertel- bis Eineinvierteltönen nehmen der Musik nichts von ihrer Schärfe, schleifen ihre schmerzhaften Krallen nicht, verhindern aber, dass sie durch permanente Überreizung abstumpft. Die kluge Dramaturgie der Dynamik, verbunden mit einer fabelhaften Transparenz und einem wie selten sinnhaft-sinnlich durchgestalteten Klang, bestätigt eindrucksvoll die formalen wie expressiven Qualitäten von Reimanns Musik.

Reduziert auf elementare kreatürliche Bedürfnisse

Was geschieht mit einem Herrscher, der die Macht hinter sich lässt? Das Libretto von Claus H. Henneberg spitzt Shakespeares Drama unbarmherzig zu: Lear bleibt ein Gefangener der Macht, zuerst ihre Mechanismen wunderlich verkennend, dann an ihrer nackten Brutalität zerbrechend, reduziert auf die elementarsten kreatürlichen Bedürfnisse, die ihm nur noch der barmherzige Gloster gewährt.

Simon Stone, der von Preisen verwöhnte australische Regisseur, lenkt seine zweite Arbeit für das Musiktheater weg vom Erzählenden, hin zu bildmächtigem Darstellungs- und postdramatischem Episodentheater. Schon bei der Verteilung des Reiches stehen die Töchter Lears in einer Reihe in weitem Abstand. Auf sich selbst konzentriert schleudert Evelyn Herlitzius ihre stählernen Tonfolgen heraus, zeichnet Gun-Brit Barkmin – 2013 in Essen die Lady Macbeth Verdis – die hysterischen Intervallsprünge Regans nach.

Lear (Gerald Finley) teilt das Reich; Seine Tochter Cordelia (Anna Prohaska, im Vordergrund), die ihre Liebe nicht in Worten beschreiben kann und will, geht leer aus. Im Hintergrund Gun-Brit Barkmin als Regan. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Lear (Gerald Finley) teilt das Reich; Seine Tochter Cordelia (Anna Prohaska, im Vordergrund), die ihre Liebe nicht in Worten beschreiben kann und will, geht leer aus. Im Hintergrund Gun-Brit Barkmin als Regan. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Das wüste Gelage von Lears Gefolge verwandelt die Blumenwiese in einen grünlichen Matsch, in dem sich später der nackte Lear im Regen und in der Qual seiner Ohnmacht wälzt. Auf der breit gezogenen Spielfläche von Bob Cousins legt Stone offenbar keinen Wert darauf, die Personen zueinander in Verhältnisse zu setzen, auch die Begegnungen Lears mit dem anrührend singenden Edgar Kai Wessels und dem von Anfang an kraftlos gezeichneten Gloster Lauri Vasars bleiben seltsam distanziert.

Für den hereinbrechenden Wahnsinn Lears scheint sich Stone auf das darstellerische Potenzial Gerald Finleys verlassen zu haben, der den erbarmungswürdig ohnmächtigen König in seiner Flucht in weltlosen Wahn grandios zeichnet, dessen Fallhöhe aber nicht deutlich wird – dazu ist der Herr im Sakko zu Beginn einfach zu durchschnittlich.

Aber der Abstand von psychologischem Realismus ist Absicht, auch wenn er den Figuren komplexe Facetten nimmt. Im zweiten Teil des Abends wird deutlicher, wohin Stone zielt, wenn Gloster zunächst hyperrealistisch in einem blutigen Schaustück seine Augen ausgedrückt werden, wenn das Blut aus der Kehle des gemeuchelten Cornwall (zupackend singend: Michael Colvin) stürzt, dann in einer riesigen Blutlache auf weißer, leerer Fläche ein Schlachten beginnt, das wie ein symbolhaftes Ritual wirkt: Security-Leute, von Mel Page in die blauen Uniformen einschlägiger Typen gesteckt, wie wir sie aus Nachrichtensendungen oder amerikanischen Filmen kennen, reißen willkürlich einzelne Menschen aus den Zuschauerreihen auf der Bühne heraus, stoßen sie in den roten Teich, wo sie mit Blut besudelt werden und ins Irgendwo seitlich der Bühne schreiten, als gehörten sie zu einer stummen Totenprozession.

Das mag ein eindrückliches Bild dafür sein, dass die inhärente Grausamkeit des Stücks eine beklemmende Gegenwarts-Dimension hat. Aber für diese Erkenntnis opfert Stone die viel grundsätzlichere Einsicht in das verhängnisvolle Gefüge der Macht, dem alle scheinbar Mächtigen zum Opfer fallen. Stone verweigert den letzten Szenen die theatrale Konkretion, lässt an der Rampe singen: Edgars Zweikampf gegen den mit souveränem Kern die Töne bildenden Charles Workman als Edmund, Regans trotz Gun-Brit Barkmins leicht gastritischen Zuckungen beiläufiger Gifttod, Gonerils vermeintlicher Triumph und Selbstmord.

Eine Wolke entzieht sie unseren Blicken

Anna Prohaska (Cordelia) und Gerald Finley (Lear) beim Schlussapplaus. Foto: Salzburger Festspiele/Franz Neumayr

Anna Prohaska (Cordelia) und Gerald Finley (Lear) beim Schlussapplaus. Foto: Salzburger Festspiele/Franz Neumayr

Das Bild dahinter allerdings prägt sich ein: Lear und Cordelia – Anna Prohaskas lyrischer Sopran unterscheidet sich im Timbre zu wenig von ihren bösen Schwestern – sind in einem Gazeschleier gefangen. Ganz in Weiß erstarrt hat die tote Cordelia nur mehr behauptete Präsenz, Lear erhebt sich aus dem Krankenhausbett, streift mit seinen Händen den bleichen Staub von ihren Haaren ab und färbt sich selbst todessehnsüchtig damit ein. Eine Vision, von einer weißen Wolke langsam den Blicken von Edgar und Albany (der ebenfalls vorzüglich singende Derek Welton) entzogen. Dunst für die sinnlose, vergebliche Existenz, in die wir Menschen geworfen sind? Oder verbergende Hülle einer Hoffnung, die ahnungsvoll Lears und Cordelias geschundene Menschlichkeit birgt? Im blitzartigen Dunkel des Endes bleibt jeder Zuschauer mit dieser Frage sich selbst überlassen.




„Situation Kunst“ in Bochum-Weitmar: Hier wuchs ein durchgrüntes Kulturgebiet sondergleichen

Kunst-Kubus in der alten Schlossruine - ein wesentlicher Teil der "Situation Kunst". (Fotos: Bernd Berke)

Kunst-Kubus in der alten Schlossruine – ein wesentlicher Teil der „Situation Kunst“. (Foto: Bernd Berke)

Nicht, dass ich noch ins haltlose Schwärmen gerate! Doch es kann und soll nicht verschwiegen werden, dass es im Ruhrgebiet ein Kunst-Areal von besonderer Güte gibt, das nicht nur zu Ausflügen ins Grüne animiert, sondern innige Zwiesprachen zwischen Kunst, Architektur und Natur stiftet, nicht zuletzt mit Skulpturen im Außenbereich (von Größen wie Richard Serra, Ulrich Rückriem u. a.). Im gesamten Revier, ja in ganz Deutschland gibt es wohl nichts Vergleichbares. Und wo denn überhaupt?

Ich meine den Schlosspark in Bochum-Weitmar, dem sich nach und nach immer mehr Ausstellungsorte angegliedert haben, ohne den Erholungswert zu beeinträchtigen. Im Gegenteil. Hier kann die Seele vielfach gelüftet werden.

Zu meiner nicht geringen Schande muss ich gestehen, dass ich das Ambiente bis gestern noch nicht in seiner jetzigen, mit den Jahren gehörig angewachsenen Ausdehnung und Ausformung gekannt habe. Mit diesen Zeilen leiste ich Abbitte fürs Versäumnis.

Kubus in der Ruine und ein „Museum unter Tage“

Das Ganze nennt sich „Situation Kunst“ und besteht aus einer ersten Stufe (1988-90) mit vier helllichten Baukörpern, einem Erweiterungsbau von 2006 sowie neuerdings vor allem aus dem Kubus, der zum Kulturhauptstadt-Jahr 2010 als Kunststätte in die Reste einer alten Schlossruine eingesenkt wurde (ein Meisterstück zeitgenössischer, Historie aufnehmender Architektur). Rings um die modern angefüllte Ruine ist ein Wassergraben entstanden, nahebei findet sich ein pittoresker Teich mit mächtiger Trauerweide. Hier lasset uns bleiben für einige Zeit…

Oberirdischer Eingangsbereich des "Museums unter Tage". (Foto: Bernd Berke)

Schmucklos-nüchtern: oberirdischer Eingangsbereich des „Museums unter Tage“. (Foto: Bernd Berke)

Im November 2015 wurde schließlich das „Museum unter Tage“ („MuT“) eröffnet, dessen Räumlichkeiten tatsächlich – bis auf einen recht unscheinbaren Eingangsbereich – unter der Erde liegen und somit die umliegende Landschaft mit ihrem ehrwürdigen alten Baumbestand so gut wie gar nicht antasten.

Apropos Landschaft: Die Dauerschau des „MuT“ zeigt hochkarätige Landschaftsmalerei aus sechs Jahrhunderten. Hinzu kommen immer wieder Wechselausstellungen, wie jetzt gerade die sehr sehenswerte Fotografie-Präsentation „Umbrüche“ zum Wandel des Ruhrgebiets seit den späten 50er Jahren – mit Arbeiten von Rudolf Holtappel, Bernd und Hilla Becher, Joachim Brohm und Jitka Hanzlová. Über diese Schau (bis 25. März 2018) wird bei Gelegenheit noch ausführlicher zu reden sein. Versprochen.

Idyllisches Ambiente im Schlosspark. (Foto: Bernd Berke)

Idyllisches Ambiente im Schlosspark. (Foto: Bernd Berke)

Um das Kunstglück noch zu steigern: In direkter Nähe der erwähnten Bauten liegt auch noch die renommierte „Galerie m“, die bereits im rebellisch gestimmten Jahr 1968 von Alexander von Berswordt-Wallrabe gegründet wurde und seit 2003 von Susanne Breidenbach geleitet wird.

Alexander von Berswordt-Wallrabe als Spiritus rector

Damit sind wir ganz zwanglos beim Spiritus rector des ganzen Ensembles angelangt, der immer noch wohltätig im Hintergrund wirkt. Berswordt-Wallrabe hat vor Jahr und Tag den Schlosspark geerbt und hatte schon vorher bekundet, dass er ihn öffentlich zugänglich machen und künstlerisch ausgestalten wollte. Derlei „linke“ Ideen und Umtriebe missfielen seinem Vater, der ihn deshalb eigentlich schon enterbt hatte. Im gültigen Testament stand dann aber doch der Name des Sohnes, der also seine Pläne nach und nach umsetzen konnte. Welch‘ günstige Fügung…

Erste Annäherung ans Gelände auf dem Fußweg über die Schlossstraße. (Foto: Bernd Berke)

Erste Annäherung ans Gelände auf dem Fußweg über die Schlossstraße. (Foto: Bernd Berke)

Träger des durchgrünten Kunstgebiets ist die 2005 gegründete, gut ausgestattete Stiftung „Situation Kunst“, deren Vorstandsvorsitzende Alexander von Berswordt-Wallrabes Ehefrau Silke ist. Beide haben ihre famose Kunstsammlung in die Stiftung eingebracht. Dem Stiftungs-Kuratorium gehört u. a. der nunmehr aus dem zweithöchsten Staatsamt scheidende Alt-Bundestagspräsident Norbert Lammert an.

Zum Gedenken an den Kunsthistoriker Max Imdahl

„Situation Kunst“ ist dem Andenken ans Lebenswerk des einflussreichen Bochumer Kunstprofessors Max Imdahl (1925-1988) gewidmet, fungiert offiziell als Teil der Bochumer Ruhr-Universität (RUB) und wird vom dortigen Kunstwissenschaftlichen Institut betreut. Studierende können sich hier im laufenden Ausstellungsbetrieb beweisen – längst nicht nur als zunehmend kundige Wächter der Kunstschätze, sondern auch im kuratorischen Team unter Leitung von Maria Spiegel.

Genug der Einzelheiten. Jetzt aber rasch auf die Strecke; vor allem, sofern dieser Herbst noch ein paar schönere Tage mit sich bringt.

Weitere Infos mit Anfahrtsbeschreibung, Öffnungszeiten der Ausstellungen etc.: http://www.situation-kunst.de




Bayreuth-Nachlese: Frank Castorfs „Ring“-Inszenierung wird in die Geschichte eingehen

Die Bayreuther Festspiele 2017 sind Vergangenheit – und mit ihnen Frank Castorfs „Ring des Nibelungen“ aus dem Wagner-Jubiläumsjahr 2013. Aber schon während der drei Vorstellungsserien dieser Festspielzeit war festzustellen: Dieser „Ring“ hat Geschichte geschrieben und wird in die Geschichte eingehen.

Szene aus dem ersten Aufzug von Wagners "Siegfried". Foto: Enrico Nawrath

Szene aus dem ersten Aufzug von Wagners „Siegfried“. Foto: Enrico Nawrath

Selten hat sich der Geist einer Zeit so nachvollziehbar auf der Opernbühne manifestiert. Selten ist die Spannung zwischen den Anspruch eines Werks, dem Prozess, seinen Sinn zu erschließen und der lustvollen Verweigerung jeglicher Hermeneutik so sardonisch schmerzhaft ausgekostet worden.

Vergeblichkeit der Sinnsuche

Bestürzend klar lässt der Berliner Altmeister, der im Juli 2017 seine Weihestätte am Rosa-Luxemburg-Platz und die Schar seiner Gläubigen verlassen musste, vor unser Auge treten, dass er es für vergeblich hält, in dieser Welt einen Sinn erfassen zu wollen. Elementare Lüste und die alte Macht der Triebe leben sich aus. Und wir sind hilflos zurückgeworfen auf die Flut der Bilder, auf die verborgene Macht der ins Leere zielenden Zeichen und Verweise, auf die Klicks, mit denen persönliche Assoziationen und gedankliches Schweifen in einen Text, in eine Musik einrasten, die nur mehr Spiel-Material sind.

Theater der Dekonstruktion und Diskontinuität

Theater der Dekonstruktion und Diskontinuität: Das hatte in den letzten 25 Jahren an der Volkbühne in Berlin seine Entwicklung, die zwischendrin mal niemanden mehr aufregte und die mit einer Mischung aus verbissener Treue, snobistischer Langeweile, theaterästhetischem Beharrungsvermögen und avantgardistischer Lust an der Anarchie ihren Platz ausfüllte. Ganz neu war diese Art Theater für Bayreuth auch nicht mehr, als Castorf 2013 sich mit Wonne dem Spießrutenlaufen nach den „Ring“-Premieren aussetzte.

Der Riecher von Wolfgang Wagner schnüffelte schon in diese Richtung, als er 1993 Heiner Müller den „Tristan“ inszenieren ließ – eine legendär gewordene Arbeit, die Müllers Ex-Assistent Stephan Suschke im September 2018 in drei bereits ausverkauften Vorstellungen am Landestheater Linz wiederbelebt. Auch der zu Recht viel gescholtene „Tannhäuser“-Exzess Sebastian Baumgartners holte mit der bespielten Installation Joep van Lieshouts postdramatisches Theater ins Festspielhaus, wenn auch weit entfernt von der Konsequenz Castorfs.

Jetzt also Inszenierungsgeschichte: Dass dieser „Ring“ ähnlich prominent wie vor 40 Jahren Patrice Chéreaus wegweisende Arbeit in die Bayreuther Annalen eingehen wird, ist kaum zu bezweifeln. Welche Impulse für künftige tetralogische Regie-Bemühungen von ihm ausgehen, ist noch nicht abzusehen. Der nächste Bayreuther Großversuch 2020 soll ja, so wird geraunt, Diskontinuität weiter zementieren, wenn vier Regisseurinnen jeweils einen Teil erarbeiten und damit betont wird, dass die vier Abende auch ohne inneren Zusammenhang szenisch gelesen werden können.

Der „Ring“ ist zu Ende gedeutet – neue Konzepte sind nötig

Das ist kein neuer Gedanke (in Stuttgart und Essen etwa hat es solche Zyklen längst gegeben), möglicherweise dennoch einer mit innovativem Potenzial. Und neue Impulse sind bitter nötig: Wagners „Ring des Nibelungen“ wurde in den letzten Jahren allzu häufig als Objekt ehrgeiziger Regisseure und Dirigenten aus- und überinszeniert. Zu erzählen hatten sie dabei wenig Aufregendes – ob Georg Schmiedleitner in Nürnberg mit Müll und Trash, ob Rosamund Gilmore in Leipzig mit zahnloser Personenführung in Ruinen und Hallen oder Uwe Eric Laufenberg in Wiesbaden mit einem Aufguss seiner Linzer „Ring“-Bemühung.

Dietrich Hilsdorfs Düsseldorfer Zyklus, der in der letzten Spielzeit mit „Das Rheingold“ begonnen hat, weist wieder einmal in die bekannte Gesellschaftskritik, ist aber immerhin handwerklich glänzend erarbeitet und verspricht von daher noch spannende Fortsetzungen. Nicht vergessen sei der Detmolder „Ring“, in dem Kay Metzger (Regie) und Petra Mollerus (Bühne) mit eigenständigen Ideen einen bildmächtigen Bogen vom Absolutismus bis in eine Science-fiction-Zukunft geschlagen haben – große Leistung eines kleinen Hauses.

Castorf hatte eine Menge zu erzählen: Der Gegensatz zu statuarisch-symbolhaften Bildwelten, wie sie Wieland Wagner begründet und zuletzt vielleicht Vera Nemirova in Frankfurt gepflegt hat, könnte nicht stärker sein: Von den gelangweilt herumlümmelnden Rheintöchtern, die dem abgehalfterten Alberich die Peitsche spüren lassen – er braucht sich die Lust nicht mehr listig erzwingen –, über die ungestümen Stalin- und Lenin-Gleichsetzungen im „Siegfried“ bis hin zu den Road-Movie-Typen der „Götterdämmerung“, ihren Halbweltweibern und Voodoo-Schamanen entwickeln Castorfs Darsteller Charaktere, die sich in einer Fülle szenischer Mikro-Episoden lustvoll ausspielen.

Ertränkt und aufgeputscht von der Flut der Bilder

Castorf überschüttet den Zuschauer mit einem Wust aus Zitaten, Klischees, Gags, Bildfetzen aus biographischer oder kollektiver Erinnerung, medialen Chiffren, politischen Zeichen und symbolbehafteten Schauplätzen. Eine Flut, die bewusst überfordert: Wer kann mit Ketchupflaschen und Isolierdecken etwas anfangen, wer erkennt die Hinweise auf unbedeutende Trash-Filme, wer ahnt, worauf Alberichs Plastik-Entchen verweisen könnte, wer deutet sich durch die Anspielungswelt der Kostüme Adriana Braga Peretzkis, die von Marlene Dietrichs mondänen Pelzen über den abgedrehten „glitter man“ und Pianisten Liberace bis hin zu Nicholas Cage in David Lynchs „Wild at Heart“ reichen?

Das Motel an der Route 66 mit derTankstelle im "Rheingold". Foto: Enrico Nawrath

Das Motel an der Route 66 mit der Tankstelle im „Rheingold“. Foto: Enrico Nawrath

Einen wesentlichen Anteil an der ästhetischen Wirkung dieses „Rings“ haben die Bühnenbilder von Aleksandar Denić. Sie spielen mit Orten, die aus anderen medialen Erzählungen bekannt und zu Chiffren moderner (Popular-)Kulturen geworden sind: Das schmierige Motel an der „Route 66“ ruft einen Topos auf, der – über „Highway 66“ hinaus – in zahllosen amerikanischen Filmen zu finden ist, und könnte auch ein Hitchcock-Setting sein.

Die Scheune mit der Anspielung auf die schmutzige Ölförderung, verlegt in ein Land unter dem roten Stern, könnte irgendwo in Amerika stehen, wird aber mittels historischer Propagandafilme mit dem Sowjet-Sozialismus Stalins verknüpft. Der Coup mit dem verhülltem Reichstag und den machtvollen Säulen der New Yorker Börse in der „Götterdämmerung“, die Mount-Rushmore-Karikatur im „Siegfried“ oder die triste DDR-Alltags-Ästhetik des Alexanderplatzes öffnen weitreichende Gedanken-Spielräume und anachronistische Perspektiven, die absichtsvoll gebrochen sind oder ins Leere laufen. Aber diese meisterhaft ausgeleuchteten Bilder (Rainer Casper) haben einen so eindringlichen Wiedererkennungswert, dass sie sich unauslöschlich ins Gedächtnis einbrennen.

Und natürlich wecken sie – bestärkt noch durch die ständigen Video-Projektionen, die Details aus Innenräumen großformatig nach außen bringen und die Protagonisten in den Fokus rücken, wie es auf der Opernbühne niemals möglich wäre – eine fast kindliche Lust am Deuten. Denn entgegen den Anweisungen des Meisters war in diesem Jahr die Lust im Publikum zu spüren, sich die Castorf-Welt zurechtzuerklären: In den Pausen wurde über diese und jene Details debattiert, ahnungsvoll raunend verborgene Zusammenhänge festgestellt.

Die Suche nach dem Sinn kommt durch die Hintertür zurück

Das „Besserwissertheater“, das Castorf in einem seiner Interviews gegeißelt hatte, feiert fröhlich Wiederkehr: Wer kennt die Filme auf den Plakaten im Inneren des Motels? Wer erkennt Bild- oder Szenenzitate und ihre mögliche Bedeutung? Der Mensch erträgt es nicht, seine Welt ungedeutet zu lassen. Er will die Ordnung, den Sinn der Abläufe erkennen. Wenn der Glaube nicht hilft, findet sich eine Ideologie. Wenn die versagt, wird ein subjektivistischer Nihilismus zum Rückzugsort, auf dem sich die Bewegung der Wellen von einem vermeintlich festen Standpunkt aus bestimmen lässt. Das war vielleicht das spannendste Ergebnis der sechzehn Stunden Zeichenflut.

„Ich habe Sehnsucht nach menschlicher Welt“, schreibt Castorf im Programmheft. Was er zeigt, sind nur noch Degenerationen menschlicher Existenz. Der „Ring“ ist in seinen Augen eine Erzählung tiefster Verzweiflung: Liebe ist zu sexueller Lust oder Gewalt degeneriert, Gestaltungskraft zu Machtmissbrauch, Selbstbewusstsein zu Egozentrik, Freiheit zu Anarchie, Furchtlosigkeit zu Brutalität. Eine freie, wilde Welt, mit rastlosem Antrieb nach Macht, die sich am Ende nur noch um Selbsterhaltung ängstigen muss. Wagners Welt des „Rings“? Man wird nicht umhin können, ihre Züge auch unter der Camouflage Castorf’scher Assoziationsketten zu erkennen.

Zwiespältige musikalische Eindrücke

Musikalisch waltet über den drei letzten „Ring“-Zyklen die Hand des 78-jährigen Marek Janowski, der mit der Staatskapelle Dresden eine hoch gelobte Aufnahme der Tetralogie vorgelegt hatte. Das Bayreuther Ergebnis ist zwiespältig: Im „Rheingold“ fehlt zu Beginn die Atmosphäre, am Ende das gewisse Pathos, das der Musik eingeschrieben ist.

Dass Janowski keine Leitmotivhuberei betreibt, ist kein Verlust, dass er wichtige Blechbläsermotive mit den begleitenden Bewegungen der Streicher übertönt, schon eher. Seltsam willkürlich wirkende Modifikationen im Tempo, unmotivierte Betonungen vor allem in den Holzbläsern, dann wieder klangliche Pauschalisierungen lassen das Dirigat inhomogen, manchmal sogar ziellos erscheinen. Im ersten Akt der „Walküre“ ersticken Bedrohliches und Poetisches im neutralen Fluss von Tönen. Der erste Akt des „Siegfried“ dagegen erklingt als ein Stück fortschrittlicher Musik, fast so bittersüß wie Schostakowitsch.

Das Bayreuther „Ring“-Ensemble, in der „Götterdämmerung“ angeführt vom stets untadeligen Chor Eberhard Friedrichs, hat mit Catherine Foster eine der besten Brünnhilden im derzeitigen internationalen Sänger-Markt zu bieten. Foster bildet die Töne frei und unverkrampft, ohne Druck und Verfärbung, mit ermüdungsfreier Schwerelosigkeit. Dazu kommt eine pointierte Bühnenpräsenz, die sie selbst in diesem schauspielerisch auf Höchstleistung verpflichteten Ensemble herausragen lässt.

Die Erda Nadine Weissmanns muss gleich hinter Foster genannt werden: eine opulente Alt-Stimme, artikulationsgenau, klangschön, unbeirrbar. Auch Marina Prudenskaya hat als Waltraute einen tollen, stimmlich einem ausgewogenen italienischen Klangideal zuneigenden Auftritt. Alexandra Steiner, Stephanie Houtzeel und Wiebke Lehmkuhl harmonieren als Rheintöchter dank solide positionierter Stimmen. Tanja Ariane Baumgartner wirkt als Fricka im „Rheingold“ nicht so frei und unbefangen wie in der „Walküre“. Und Caroline Wenborne muss als Freia in Latex ihre Figur ausschließlich sexuell definieren.

Eine Trias erstklassiger Wagner-Bässe

Im „Rheingold“ erweisen sich Günther Groissböck und Karl-Heinz Lehner (Fasolt und Fafner) als erstklassige Wagner-Bässe. Auch Georg Zeppenfeld spielt als Hunding seinen böse-schwarzen Bass mit zynischer Härte aus. Roberto Saccá mag als Loge mit begrenztem, klanglich gedeckeltem Tenor stimmlich nicht recht überzeugen; Iain Paterson hat als Wotan seine besten Momente, wenn er verhalten reflektiert; in den dramatischen Stellen des letzten Akts der „Walküre“ stößt er an seine Grenzen.

Christopher Ventris singt den Siegmund mit klarem, deutlich artikuliertem Ton, hat auch die Farben für das Spektrum der Gefühle zwischen Resignation und siegesgewissem Aufbegehren. Seine Partnerin Camilla Nylund wird im Lauf des klug durchgestalteten ersten Akts härter und vibratoreicher. John Lundgren in der „Walküre“ und Thomas J. Mayer im „Siegfried“ singen Wotan/Wanderer solide, darstellerisch präsent, aber ohne vokales Charisma. Stefan Vinke überwältigt als Siegfried weniger durch Strahlkraft als durch eine untrügliche, abgesicherte Basis seiner Stimme. Ana Durlovsky wirkt überanstrengt; das Timbre passt aber zum Rollenkonzept eines alternden Berliner Showgirls.

Auch Stephen Milling reiht sich in die Riege der überzeugenden Wagner-Bässe ein: Sein Hagen ist ein böser, stimmgewaltiger Ränkeschmied, der es mit Siegfried und mit seinem Halbbruder Gunther – dem sicheren, klangschön singenden Markus Eiche – locker aufnehmen kann. Albert Dohmen flüchtet sich als Alberich zu oft in flaches, unstet gestütztes Deklamieren; der Mime von Andreas Conrad dürfte vor allem im ersten „Siegfried“-Akt in gestalterischer Finesse kaum zu übertreffen sein.

Das Publikum quittiert die unterschiedlichen sängerischen Profile fast durchweg mit unterschiedslosem Jubel und ein paar deplazierten Buhs; der wütende Protest gegen die Regie, wie er 2013 zu erleben war, blieb aus. Wer diesen „Ring“ nicht mag, hat sich längst entschlossen, zu Hause zu bleiben.

Co-Autor: Robert Unger




„Die ganze Welt der Horror die Zeit…“ – Eine Siebenjährige entdeckt mit dem Smartphone die automatische Textproduktion

Hie und da hat man schon mal von medial induzierter Kunst gehört. Dass mit Handys & Smartphones zur Not auch rudimentäre Formen von Literatur produziert und übermittelt werden könn(t)en, ist auch nicht völlig neu. Doch hier kommt eine weitere Variante, hervorgebracht von einer Siebenjährigen!

Mit "fliegenden Daumen": rasante Textproduktion. (Foto: BB)

Mit „fliegenden Daumen“: rasante Textproduktion. (Foto: BB)

Nun gut, ich bin befangen, denn sie ist meine Tochter. Jedenfalls finde ich ihre grundsätzliche Offenheit für technische Möglichkeiten und den Umgang mit all dem staunenswert. Obwohl man ja eh so viel darüber liest.

Vor gerade mal zwei Jahren hat sie in der Schule begonnen, das Lesen und Schreiben zu lernen. Nun ist sie in der Handhabung des Mobiltelefons ihrer Mutter und mir bereits voraus – wie wohl etliche ihrer Altersgenoss(inn)en. Mit virtuellen Phantomen wie „Siri“ und „Alexa“ parlieren sie recht geläufig.

Jeden Vorschlag akzeptieren

Darum muss ich derzeit noch mehr feixen, wenn ich die Bundestags-Wahlplakate sehe, auf denen das allzeit geschmeidige, aber auch in Sorge um Deutschland sich verzehrende, ungesund übernächtigte Politmodel Christian Lindner (FDP) in hippem Schwarzweiß mit Smartphone posiert und die ungeheure Wichtigkeit der Digitalisierung beschwört. Mit Verlaub: Er ist doch vergleichsweise auch schon ein alter Zausel.

Worum es eigentlich geht? Ach so, ja: Unsere Tochter hat die Möglichkeiten der Autokorrektur/Autovervollständigung entdeckt bzw. genauer: die verbalen Vorschläge, die einem das Smartphone unterbreitet, wenn man in der SMS- oder Whatsapp-Nachricht erst mal ein anfängliches Wort hingeschrieben hat und zum nächsten ansetzt. Ihr Dreh ist es, jede, aber auch wirklich jede dieser Vorgaben sofort spontan zu akzeptieren. Reihen- und kettenweise.

Das „System“ textet sich selbst zu

Wenn da also beispielsweise vier Vorschläge dafür stehen, wie es weitergehen könnte, so werden sie in rascher Abfolge auch allesamt angenommen – ohne jegliches Innehalten. Fortan braucht sie praktisch kein eigenes Wort mehr hinzutippen, sondern nur noch zu bestätigen, was da ohne Unterlass geliefert wird. Mit anderen Worten: Das „System“ reagiert sozusagen auf sich selbst, es spricht mit sich selbst oder textet sich gleichsam selbst zu.

...und der Ausschnitt eines Resultats. (Foto: BB)

…und der Ausschnitt eines Resultats. (Foto: BB)

Was dabei herauskommt, ist natürlich nicht gleich Literatur, es läuft aber (vor allem mit dem entsprechenden Zeilenzuschnitt) auf eine traditionell quasi-literarische Textgestalt hinaus, die inhaltlich zunächst noch sehr roh und unbehauen wirkt, die einigermaßen seelenlos zu rattern scheint. Man müsste das also noch bearbeiten, hier glätten und da zuspitzen, doch es scheint schon durchaus verwertbare Ansätze zu enthalten.

Ein Beispiel gefällig? Bitte sehr, hier ist es, ich habe es als SMS-Botschaft erhalten. Dieser erste Text müsste wohl füglich das Wort „Horror“ im Titel tragen und klingt stellenweise – Achtung, höchst gewagter Vergleich! – wie von Beckett ersonnen:

Ich bin jetzt auf der
Suche ist das ja nicht
mehr zu spät kommt die
Mädels und Jungs und
Mädchen in den Mädels
und ich hoffe das ist ein
Test der Zeitschrift die
ganze Welt der Horror die
Zeit ist es ist ein Witz ist
ja jetzt schon es ja ist
es nicht so gut und
zwar mit der Horror die
ganze Welt der Arbeit der
Horror und dann ja nicht
zu sehr gerne mal mit der
Horror die ganze Nacht
über das Thema der
Horror und wir werden
die ganze Nacht Welt
und dann ja aber nicht
mehr erholt und dann ja
nicht zu viel an den
Mädels und ich hoffe es
ja vielleicht noch nicht
mehr so viel in Ruhe und
wir werden die beiden
uns ja nicht mehr so gut
ist ein Test zu sein
scheint mir die beiden.

Nach demselben Prinzip ist folgendes Stückchen entstanden:

Und dann ist ja wohl ein r ist
es nicht so oft in Ruhe
reden ich hoffe du bist
ein Schatz schlummert
ist Tee ist es ist ein
Witz ist das ja auch die
ganze Nacht über die
ganze Welt der Fahrt mit
Theresa der zu ja
ist ja jetzt schon es
richtig ist das zu spät ich
habe ein bisschen zu
sehr nett wenn sie ist es
nicht zu viel um die
Ohren steif zu sein ist
tatsächlich eine ganz
liebe ist es nicht zu
viel um die Ohren es
nicht zu sehr nett gerne (…)
ich zu spät ist das ja auch
nicht mehr zu tun haben
mehr als ein wir sind.

Genug. Man sieht schon: Die Möglichkeiten solcher Textproduktion sind offenbar begrenzt, so manches wird sich wiederholen und zur Ödnis des Immergleichen tendieren. Trotzdem könnte man sich das Verfahren vielleicht zunutze machen und – fast wie beim „automatischen Schreiben“ herkömmlich-surrealistischer Art – Anregungen daraus empfangen. Ich mein‘ ja nur.




Beide waren heute nicht in der Kirche, hatten aber ihre spirituellen Momente – das „TV-Duell“ Merkel vs. Schulz

Längere Zeit habe ich mit mir gerungen, dann habe ich es doch getan: Ja, ich bekenne, ich habe das so genannte „TV-Duell“ zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz gesehen. Zur Gänze. Zum Schluss war ich doch ziemlich erschöpft. Obwohl es jetzt intellektuell nicht gar zu anstrengend gewesen ist.

Artikes Shake-Hands zwischen Angela Merkel und Martin Schulz zum TV-Duell in Berlin-Adlershof. (Foto © WDR/Herby Sachs)

Artiges Shake-Hands zwischen Angela Merkel und Martin Schulz zum TV-Duell in Berlin-Adlershof. (Foto © WDR/Herby Sachs)

In den meisten Fragen waren die beiden Probanden ähnlicher oder gar der gleichen Auffassung. Schulz hatte gelegentlich seine liebe Mühe und Not im steten Bemühen, Unterschiede zwischen den Positionen herauszukitzeln.

Locker den Amtsbonus ausgespielt

Merkel hatte das gar nicht nötig, sie konnte die (zumeist ziemlich zahnlosen) Attacken des Widersachers getrost abwarten und gelassen kontern. Hie und da spielte sie, ganz nonchalant und wie nebenbei aus dem Handgelenk, ihren Amtsbonus aus, wenn sie etwa ankündigte, in den nächsten Tagen mal eben mit den USA, Japan und China zu reden…

Ungemein lange hielt man sich anfangs mit der Flüchtlings- und Integrationspolitik auf. Etwa die Hälfte der Sendezeit (insgesamt nur um 120 Sekunden überzogen: 97 statt 95 Minuten, jede halbgare Show darf mehr über die Stränge schlagen) ging dafür ins Land. Auch hierbei unterschieden sich die Kandidaten allenfalls in Nuancen.

Klare Kante gegen Erdogan

Lediglich in der Haltung zur Türkei des „Autokraten“ (man könnte gewiss auch noch kantigere Worte finden) Erdogan gab sich Schulz eine Spur kämpferischer. Als Kanzler, so betonte er mehrfach, wolle er dafür sorgen, dass die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara sofort abgebrochen werden.

Apropos Kanzlerschaft: Schulz‘ in den Vormonaten zwischenzeitlich zur Schau getragene Selbstgewissheit (nach dem Motto: „Ich als Kanzler werde…“) scheint übrigens dahin zu sein. Mehrfach hieß es jetzt aus seinem Munde, f a l l s er das Mandat der wahlberechtigten Bürger erhalte, werde er… Das klingt doch schon weitaus bescheidener.

Was erlauben Strunz?

Die Fragesteller der vier übertragenden TV-Anstalten (warum musste es eigentlich gleich ein Quartett sein?) ARD, ZDF, RTL und SAT1 agierten – wie üblich – im Modus der bedeutsam geschwollenen medialen Wichtigtuer.

Die Damen Maybrit Illner (ZDF) und Sandra Maischberger (ARD), die für die öffentlich-rechtlichen Anstalten antraten, waren noch einigermaßen erträglich – im Vergleich zu den zwei Privatsender-Gockeln Peter Kloeppel (RTL) und vor allem Claus Strunz (SAT1), der schon mal gern quasi-populistische Töne anschlägt. Am liebsten hätte er es wohl gehabt, wenn Merkel und Schulz ihm auf den Leim gegangen wären und noch entschiedener versucht hätten, die eine oder andere AfD-Stimme abzufischen. Um mal eine berühmte Fußballfloskel zu zitieren: Was erlauben Strunz?

Soziale Wohltaten angekündigt

Sowohl Merkel als auch Schulz gerieten hie und da ins Stocken oder Stammeln. Wir wollen das mal als menschlichen Faktor verbuchen und nicht gleich als politische Unsicherheit. Und überhaupt: In diesen Zeiten möchte man nicht unbedingt mit ihnen tauschen…

Nach den vergleichsweise geradezu epischen Auslassungen zur „Flüchtlingsfrage“ und zur Türkei ging es hernach zunehmend hopplahopp. Die katastrophale Gemengelage zwischen Kim und Trump wurde ebenso hastig abgehakt wie die Themenkomplexe „Soziale Gerechtigkeit“, Maut und Diesel sowie Steuern. Natürlich gelobten beide, die Bürger spürbar zu entlasten, Schulz legte sich – inklusive Wegfall der Kita-Beiträge – auf rund 200 bis 250 Euro für eine vierköpfige Familie mit 3500 Euro Monatseinkommen fest, Merkel warf Gesamt-Wohltaten von rund 15 Milliarden Euro in die Manege.

Hektische Runde zum Schluss

Da man sich ein wenig verplaudert hatte (und halt kein weiteres „Duell“ ansteht), sah man sich schließlich zur irrwitzigen Hektik einer Ja-Nein-Fragerunde genötigt. Ehe für alle, Fußball-WM-in Katar, Gerhard Schröders Russland-Jobs, Wahlrecht für 16-Jährige, Terrorabwehr und Polizei-Ausstattung wurden nur noch atemlos durchgehechelt.

Vorher haben wir übrigens noch staunend erfahren, dass weder Merkel noch Schulz heute in der Kirche die Messe begangen haben. Beide beeilten sich allerdings zu sagen, dass sie dennoch spirituelle Momente an Gräbern und in Kapellen gehabt haben.

Nahezu grotesk das allerletzte Statement von Martin Schulz. Zu einer kurzen Schlussaussage aufgefordert, fragte er: „Wieviel Zeit habe ich?“ Nach der Information „60 Sekunden“ (die ihm gewiss vorab bekannt war) kamen ihm sogleich „spontan“ über die Lippen: die  so unterschiedlichen Verdienste einer Krankenschwester und eines Managers in just 60 Sekunden. Auch diese wohlfeile Schläue wird ihm nicht entscheidend genutzt haben.

Ich lege mich – ebenfalls wohlfeil – fest: Wenn nichts Weltumstürzendes geschieht, wird, in welcher Parteien-Konstellation auch immer, die nächste Kanzlerin wiederum Angela Merkel heißen. Welcher Hasardeur würde dagegen wetten wollen?




Wuchtige Bilder statt Zauber und Geheimnis – Krzysztof Warlikowski deutet „Pelléas et Mélisande“ bei der Triennale

Pelléas (Phillip Addis) und Mélisande (Barbara Hannigan) an der Bar, in Tristesse vereint. Foto: Ben van Duin

Draußen das gewohnte Bild des Bretterbudendorfes – einfache Bauten für Kneipe und Kunst. Hier ein Raum voller Schrott, die Hinterlassenschaften unserer Lebensart. Dort eine vergitterte Werkstatt, alle Elemente akribisch angeordnet. Doch Obacht: Das Neue, das hier geschaffen wird, sind Waffen, also Werkzeuge der Zerstörung.

„The Good, the Bad and the Ugly“ heißt diese Ansiedlung vor der Bochumer Jahrhunderthalle, wieder errichtet vom Atelier Joep van Lieshout zu Johan Simons‘ drittem und letztem Ruhrtriennale-Jahr. Auf Zerfall und Gewalt trifft der Betrachter, van Lieshout proklamierte zum Festivalbeginn das Ende von allem. Um allerdings aus dieser Art Apokalypse einen kreativen Neubeginn abzuleiten. Doch ist dem zu trauen? Drinnen jedenfalls ist es mit dem Optimismus nicht weit her. Zum Finale von Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ beherrschen Tod und Agonie die Szene.

König Arkels Versuch der Aufmunterung, sein Verweis auf die Zukunft, Mélisandes gerade geborene Tochter im Blick, geht ins Leere. Wie überhaupt diese Aufführung in der Jahrhunderthalle geprägt ist von tiefer Tristesse, vom Zerfall einer Familie, von Eifersucht und Wahn. Was fehlt, sind Zauber und Geheimnis, da muss die Regie passen. Nur die Musik spricht davon, mit ätherisch anmutenden Klanggespinsten, prächtig kolorierten Passagen oder durch den bisweilen entrückten Gesang der Mélisande.

Golaud (Leigh Melrose), zerfressen von Eifersucht. Foto: Ben van Duin

Regisseur Krzysztof Warlikowski hingegen setzt auf Spannung, jede Menge Filmbildmacht und teils rohe Gewalt. Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak hat ihm dazu eine zweiteilige Bühne konstruiert, die ebenfalls ein Draußen und Drinnen kennt, einhergehend mit verschiedenen Zeitbezügen. Hier ein großbürgerlicher Raum mit Holzvertäfelungen und einer riesigen, im Halbrund geschwungenen Treppe, dort eine neonhelle Bar, mit Hockern, Tischen, Stühlen, dahinter lauter Waschbecken. Am Tresen und im Waschraum trifft sich das Prekariat der Gegenwart, im vornehmen Haus die königliche Familie nebst Dienerschaft. Lauter einsame Menschen in zerrütteten Verhältnissen, trotz Standesunterschied. Wer mag da an eine schöne Zukunft denken.

Golaud jedenfalls, Enkel des Königs Arkel, hat es hinausgetrieben aus der Schweigsamkeit und Enge des Schlosses, hin zu jener bunten Bar, an der bereits Mélisande hockt. Sie, vom Leben gezeichnet, Kette rauchend, mit langsamen Bewegungen wie von einer Süchtigen. Mag sein, dass sie als Prostituierte arbeitet. Er, zunächst still, ein kraftvoller Typ, mit schwarzem Bart und Haar, alles unter Kontrolle. Sein Jähzorn entlädt sich erst später. Da sitzen sie, wie die verlorenen Gestalten in Edward Hoppers Gemälde „Nighthawks“. Dann nimmt die Geschichte ihren Lauf, und hauchte Mélisande gerade noch ihr waidwundes „Fass mich nicht an!“ in den Raum, verlustiert sie sich auch schon mit Golaud an den Waschtischen.

Das birgt natürlich auch Geheimnis, wirkt aber wie ein schlechter Film. Regisseur Warlikowski setzt noch eins drauf, zeigt Horror-Szenen von Schafen, die geschlachtet werden (Andrzej Wajda: Pilatus und andere) sowie eine Sequenz aus Hitchcocks „Die Vögel“. Die Stoßrichtung ist klar: Mélisande, das Opferlamm, Mélisande, das verängstigte junge Mädchen, vom großen schwarzen Vogel attackiert. Das ist eben niemand anderes als der aufbrausende, bald von Eifersucht zerfressene Golaud.

Er nämlich heiratet seine Eroberung, bringt sie zum Schloss, wo sie auf den scheuen Pelléas trifft. Schnell entwickelt sich eine Seelenverwandtschaft zwischen diesen beiden Wunderlichen. Die Liebe, die daraus erwächst, ist eine keusche zwar, doch der wilde Golaud wittert Ehebruch, demütigt und schlägt seine Frau, ersticht schließlich seinen Halbbruder Pelléas. Am Ende gar stirbt Mélisande an der Geburt ihrer Tochter. Was bleibt, ist Erstarrung.

Mélisande ganz mondän, wie eine Filmdiva. Foto: Ben van Duin

Die Regie findet dazu teils starke, teils blasse Bilder. Als Brunnen, an dem sich Pelléas und Mélisande treffen, muss der Waschraum der Bar herhalten. Die mächtige Treppe wiederum dient als Gewölbe, davor ein schwindelerregender Abgrund sich auftun soll. Beides konstruierte Szenarien ohne große Wirkmacht.

Weit spannender aber wird es, wenn Warlikowski den Blick auf seine Hauptpersonen fokussiert. Allen voran Leigh Melrose als Golaud und Barbara Hannigan als Mélisande. Dann nämlich, wenn dieses ungleiche Paar sich mit Stimmkraft und Spielfreude aufs Äußerste einbringt, entwickelt die Inszenierung ungeheure Sogkraft, wirkt Debussys Musik wie ein schweres Opiat.

Der Bariton von Melrose kann sich so bedrohlich schwarz färben wie seine Gestalt finster ist. Phillip Addis (Pelléas) hingegen geht als Sanftmut in Person durchs Leben, ebenfalls ein Bariton, aber heller timbriert, in den Höhen etwas überreizt. Er ist Opfer wie auch Mélisande, der Hannigan teils leuchtende Farben verleiht, teils sanft dahinschmelzende Leidenstöne. Sie gibt sich mondän im hochherrschaftlichen Ambiente, steht herausfordernd da wie eine stilisierte Freiheitsstatue (in Glitzerkleid, mit Feuerzeug), und bleibt doch zerbrechlich bis zum letzten Atemzug. Und ob all dieses Elends flüchtet sich selbst der gute König Arkel, dem Franz-Josef Selig teils strenge, teils wehmütige Basssolidität verleiht, an die Bar.

Dass aber Debussys Oper in ihrem sanften Fluss, durchsetzt mit mancher Raserei, uns wie ein Narkotikum umringt, in großer Transparenz aufklingend, so schmerzvoll wie schön, ist zuerst den Bochumer Symphonikern zu danken. Sie spielen unter Leitung von Sylvain Cambreling in Bestform, bieten wundersame Farben, eine fein abgestufte Dynamik vom ätherisch Zarten bis hin zum überwältigenden Rausch. Das Ensemble, durch Mikroports leicht verstärkt, fügt sich akustisch prima ein, nur selten kommt es zur Übersteuerung.

Der Beifall ist groß, wenn auch nicht enthusiastisch. Die Regie will nichts weniger als das ganz große Kino, darin die Welt am Abgrund steht. Lust auf kreativen Neubeginn macht das eher nicht.