Überall auf der Welt ist Heimat – Zum Programm der letzten Ruhrfestspiele von Frank Hoffmann

Nein, Frank Hoffmann sieht aus wie immer. Erkennbar ist es nicht dem Alter geschuldet, daß diese Ruhrfestspiele seine letzten sein sollen. Aber nach 14 Jahren Intendanz ist es vielleicht an der Zeit, das Festival anderen, Jüngeren zu überlassen. Frank Hoffmann, 63 Jahre ist er jetzt alt, klebt erkennbar nicht am Intendantenstuhl, und das ehrt ihn.

„Barbarische Nächte oder der erste Morgen der Welt“ („Les Nuits Barbares“), eine Choreographie von Hervé Koubi (Foto: Nathalie Sternalski/Ruhrfestspiele)

Zudem ist 2018 das Jahr, in dem mit Prosper-Haniel in Bottrop die letzte Zeche des Reviers schließt, eine Epoche mithin zu Ende geht, die für das Ruhrgebiet und die Ruhrfestspiele von kaum überbietbarer Bedeutung war und ist. Ein guter Zeitpunkt, um abzutreten. Und ganz feierlich geschieht dies am 17. Juni im Festspielhaus, in der letzten Veranstaltung dieses Jahres mit dem Titel „Frank Hoffmann sagt Adieu“.

Nachfolger Olaf Kröck

Hoffmanns Nachfolger heißt übrigens Olaf Kröck, ist 45 Jahre alt und in dieser Spielzeit Interimsintendant des Bochumer Schauspielhauses, bevor dort in der nächsten Spielzeit Johan Simons das Zepter übernimmt. Der ist zwar schon über 70, aber wohl immer noch recht rebellisch. Wo fürderhin das jugendlichere, frischere Theater stattfindet, in Bochum oder in Recklinghausen, ist also keineswegs ausgemacht.

Es hätte auch Kohle heißen können

Zurück zu den Ruhrfestspielen, die in diesem Jahr, top aktuell wieder einmal, „Heimat“ betitelt sind. Es könnte einem schon der Gedanke kommen, daß der Arbeitstitel vielleicht doch eher „Kohle“ oder „Bergbau“ oder irgend etwas anderes in diesem Kontext gewesen sein könnte und man erst später auf Heimat umschaltete, als dieser Begriff durch die politische Diskussion (samt Gründung diverser „Heimatministerien“) plötzlich eine neue Aktualität bekam. Ist ja auch egal; Heimat eignet sich jedenfalls sehr gut als Überzeile, so lange nicht die Definition von Thomas Bernhard gilt „Heimat ist, wo man sich aufhängt“. Frank Hoffmann zitierte den großen, zornigen, zu früh und durch eigene Hand aus dem Leben gerissenen österreichischen Dramatiker nicht ohne Ernst, wenn auch mit der ihm eigenen Leichtigkeit.

Burghart Klaußner spielt in „Der Besuch der alten Dame“ (Foto: Ruhrfestspiele)

Ein Klassiker von Dürrenmatt

Von Thomas Bernhard, um jetzt endlich mal die Kurve zum Programm zu kriegen, ist leider nichts in demselben. Das Festival startet mit Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, den Frank Hoffmann selbst in einer Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater für die Ruhrtriennale inszeniert hat. Um Kohle geht es hier wohl eher nicht, wenn man das Vermögen der alten Dame Claire Zachanassian nicht Kohle nennen will; um Heimat geht es allerdings sehr wohl, um eine grausame, verstoßende Heimat, um Heimatverlust.

Nicht wenige Zuschauer werden dem „Besuch der alten Dame“ im Gymnasium begegnet sein, ein unbedingt respektables, sinnhaftes Stück, aber vielleicht auch etwas angestaubt. Man darf gespannt sein, was Hoffmann daraus macht. Auf jeden Fall stehen gute Leute auf der Bühne, beispielsweise Maria Happel und Burghart Klaußner in den Hauptrollen.

Hauptmann, Brecht und Shakespeare

Das zweite „große“ Stück im Großen Haus ist ebenfalls eine Koproduktion (mit dem Deutschen Theater Berlin). Im Kino wäre diese Produktion von „Vor Sonnenaufgang“ so etwas wie eine Neuverfilmung, für das Theater fehlt der entsprechende Begriff. Ewald Palmetshofer also, ein immer noch recht junger österreichischer (was sonst? Kommen ja alle aus Österreich, die jungen Dramatiker!) Dramatiker, hat Gerhart Hauptmanns gleichnamiges Stück über den abrupten Niedergang einer durch Bergbau reich gewordenen Bauernfamilie aktualisiert, Jette Steckel führt Regie. Ein bißchen geschraubt wirkt die Formulierung im Programmheft „Premiere der deutschen Erstaufführung bei den Ruhrfestspielen“, auch wenn sie letztlich zutrifft. Doch zu sehen war Palmetshofers Stück bereits in Basel (Regie: Nora Schlocker) und in Wien (Regie: Dušan David Pařízek). Die Kritiken fielen durchwachsen aus.

Weitere Theaterproduktionen auf der großen Bühne sind „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht in der Regie von Albert Ostermaier und ein „König Lear“ von Shakespeare in der Regie des Altmeisters Claus Peymann, der lange Zeit Intendant des Berliner Ensembles war. Diese Produktion allerdings entstand am Schauspiel Stuttgart, und den greisen König, der sich so grausam in seinen Töchtern irrt, spielt Peymanns alter Weggefährte (seit Bochumer Zeiten) Martin Schwab.

„Ruhrepos“ von Albert Ostermaier

Originell ist schließlich die letzte Produktion im Festspielhaus zu nennen. „Die verlorene Oper. Ruhrepos“ von Albert Ostermaier, eine Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Hannover, wandelt sozusagen auf den Spuren von Bert Brecht und Kurt Weill. Die wollten ein solches Epos schaffen, machten über und unter Tage fleißig Recherchen, 1927 sollte in Essen Premiere sein. Wegen „antisemitischer Hetze“ so das Programmheft, wurde das Projekt jedoch fallengelassen, und zwei Jahre später entstand in Berlin die „Dreigroschenoper“. Ich gebe das mal ohne weitere Überprüfung so wider, wohl wissend, daß Fragen bleiben. Nun also ein Epos von Albert Ostermaier. Regie führt Thorleifur Örn Arnarsson (what a name!).

Ganz familiär: „Home“ (Foto: Maria Baranova/Ruhrfestspiele)

„La Catastròfa“

Zwei bemerkenswerte, düster grundierte Liederabende harren der Erwähnung. „La Catastròfa“ erinnert, dargeboten von Etta Scollo und Joachim Król, an ein schweres Bergunglück in Belgien, 1956. 262 sizilianische „Gastarbeiter“ kamen bei einem Grubenbrand ums Leben. Sie wurden Opfer skandalöser, unmenschlicher Arbeitsbedingungen, die in bestem zwischenstaatlichen Einvernehmen (zwischen Belgien und Italien) auf Ausbeutung der billigen Arbeitskräfte ausgerichtet waren.

Den anderen Liederabend singt und gestaltet Ute Lemper. Ihre „Lieder für die Ewigkeit“ entstanden im Konzentrationslager Theresienstadt, das der NS-Propaganda als „Vorzeigelager“ diente und in dem etliche Künstler interniert wurden. Anrührende Musik im Angesicht des Todes – Victor Ullmann, Ilse Weber, Willy Rosen nennt das Programmheft namentlich.

Mitbewohner auf der Bühne

Etwas heiterer geht es in „Home“ von Geoff Sobelle zu, einer (wiederum zitieren wir etwas irritiert das Programmheft) „Kooperation mit BAM, Arizona State University – Gammage, New Zealand Festival und Edinburgh International Festival“, wo es um ein mehrgeschossiges Holzbauwerk auf der Bühne geht, in dem etliche Mitbewohner (wortlos) das Mitbewohnen in seinen zahlreichen mehr oder minder komischen Facetten proben.

Die Neue Philharmonie Westfalen spielt Smetana („Mein Vaterland“), man diskutiert („Forum Arbeit – Lied – Bewegung; Forum zum Thema Heimat und Lieder der deutschen Arbeiterbewegung“), und Konstantin Wecker führt samt Trio vor, was damit gemeint sein könnte („Konzert im Rahmen des Forums Arbeit – Lied – Bewegung“).

John Malkovich regt sich auf in „The Music Critic“ („Der Musikkritiker“) (Foto: Sandro Miller/Ruhrfestspiele)

Hollywood-Stars Malkovich und Murray

Ach ja, Hollywood! Es gibt ein Wiedersehen mit John Malkovich, der mit ihm eigener Verve Musikkritiken vortragen wird, sämtliche Verrisse. „The Music Critic“ verspricht höchst unterhaltsam zu werden (Idee und Konzeption: Aleksey Igudesman, Swiss Gart). Und Bill Murray kommt auch. Er, den einst täglich das Murmeltier grüßte und der sich „Lost in Translation“ wähnen mußte, führt bei diesen Ruhrfestspielen ein anregendes Bühnengespräch in englischer Sprache mit dem Cellisten Jan Vogler über klassische Musik und amerikanische Literatur. Mira Wang (Violine) und Vanessa Perez (Klavier) ergänzen die illustre Begegnung, und einige Male singt Bill Murray sogar – Klassiker des Great American Songbooks.

Mehrere afrikanisch grundierte Projekte springen ins Auge, die ihre Energie oft aus dem Zusammentreffen mit europäischen Sichtweisen schöpfen. „Barbarische Nächte oder Der erste Morgen der Welt“ („Les nuits barbares“) des Choreographen Hervé Koubi gehört dazu, eine Produktion mit Tänzerinnen und Tänzern aus Nordafrika, die sich mit der Faszination und den Ängsten befaßt, die der „schwarze Kontinent“ über Jahrhunderte bei den Europäern weckte. Gleichzeitig forscht Koubi, Kind algerischer Eltern, nach Spuren verschwundener Kulturen, sucht Mythen, Masken, Rituale und bindet sie in seine Arbeit ein.

Afrikanisches Tanztheater

„Ein Spiel namens Mut“ von Michael Ojake, koproduziert mit UFA Fabrik Berlin, vereint Spiel und Tanz und erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der beschließt, Nigeria zu verlassen und nach Europa zu gehen. Seine Pläne lösen im Dorf eine heftige Diskussion aus. Ähnliches geschieht in „A Man of Good Hope“, dargeboten im Theater Marl. Das Stück nach einem Roman von Jonny Steinberg dreht sich um den jungen Asad, der es von Somalia nach Südafrika schafft, wo das Leben auch kein Zuckerschlecken ist. Mittelalterliche Clan-Strukturen, staatliche Repression, Menschenhandel, Gewalt, Korruption und latenter Rassismus in den Townships sind stets gegenwärtig in dieser Produktion des Isango Ensembles Südafrika in Zusammenarbeit mit dem Young Vic London, Royal Opera, Repons Foundation, BAM und Les Théâtres de la Ville de Luxembourg.

Unterschiedliche Blickwinkel

Unbedingt zu erwähnen ist schließlich das Tanzprojekt, das aus den Teilen „The Choreonauts“ und „In Between/Digging in the Night“ besteht. Teil 1 verantwortet Afro-European Navigations in Dance, Teil 2, das wird jetzt lang, in einer Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Phumlani Nyanga und Helge Letonja, steptext dance project Bremen, Tanz! Heilbronn, Theater Bremen und Festival AFRICTIONS. Extravagante Black Dandys und Hipster in Johannesburg, obdachlose Müllsammler und Zuwanderer…  Es geht um sozialen Wandel, Veränderungsdruck, Reflexionen gesellschaftlicher Zustände, wahrgenommen aus den Blickwinkeln des Europäers Letonja und des Afrikaners Nyanga. Definitiv ein spannendes Projekt.

Beckmanns, Die Spielkinder (Foto: Die Spielkinder/Ruhrfestspiele)

Die Harfouch spielt Marine Le Pen

Weil es originell ist, ohne lustig zu sein, sei noch auf eine Produktion im Kleinen Haus hingewiesen: Dort spielt die grandiose Corinna Harfouch in einer Koproduktion mit dem Theater Magdeburg „Die Präsidentin“. Das Stück basiert auf der Annahme, Marine Le Pen hätte es in den Elisée-Palast geschafft. Wie wäre es dann weitergegangen, wie stringent griffen in einem solchen Fall die Mechanismen der Macht? Vorlage für diese gar nicht so bizarre Geschichte ist ein französischer Strip von François Durpaire und Farid Boudjellal, Regie führt Cornelia Crombholz.

Und natürlich wäre es reizvoll, dies mit Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ zu vergleichen, dem Stück, in dem das bürgerliche Lager Frankreichs im Bestreben, den Front National zu verhindern, Islamisten den Weg an die Spitze des Staates ebnet. Von Houellebecqs Protagonist François – in Hamburg hinreißend dargeboten vom großartigen Edgar Selge – weiß man, daß das Leben auch in solchen Fällen weitergeht, manchmal sogar ausgesprochen behaglich.

Wir sind die Beckmanns

So. Wir müssen zum Ende kommen. Letzte Erwähnungen sollen den Beckmann-Kids gelten, den Schauspiel-Sprößlingen Nils, Till, Maja und Lina, die alle ihr Ding machen, sich ab und zu jedoch zu überaus ergötzlichen gemeinsamen Bühnenlesungen aus dem Alltag treffen. „Die Spielkinder und Gäste“ heißt ihr (leider nur einmaliger) Auftritt bei den Ruhrfestspielen, und die Gäste sind Jennifer Ewert, Charly Hübner und Sebastian Maier.

Die Kunstausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen schließlich kommt in diesem Jahr von dem Künstler-Zwillingspaar Gert&Uwe Tobias, ist „ein multimediales Ausstellungsprojekt zur Kohle“ und geht über drei Etagen. Die Heilige Barbara fehlt hier ebenso wenig wie der Kanarienvogel und der große Naive Erich Bödeker, der wohl bekannteste Künstler der Stadt.

Das Festspielhaus wartet auf seine Gäste (Foto: Ruhrfestspiele)

Fringe vor dem Aus?

Wiederum bleibt vieles unerwähnt, vor allem viele Lesungen und Kabarett-Auftritte bekannter Künstler. Im Fringe-Festival (eigenes gelbes Programmbuch) wird wieder eine Menge originelle „Kleinkunst“ für alle Altersklassen geboten, und sollte Hoffmann-Nachfolger Kröck, wie in einem Zeitungsinterview angekündigt, Fringe tatsächlich abschaffen, wäre das sehr, sehr schade. Wie immer kann auch diese Programmankündigung nur mit der Empfehlung enden, sich nach Lektüre noch etwas schlauer zu machen.

Und was macht Hoffmann, wenn er in Recklinghausen nichts mehr macht? Nun, nach wie vor ist er ja auch noch Intendant des Luxemburger Nationaltheaters. Dort möchte er zukünftig häufiger Regie führen, mehr Stücke in französischer Sprache inszenieren.

Das reicht gewiß für den Moment. Für einen Nachruf wäre es noch etwas früh.

www.ruhrfestspiele.de




Die Masse als politischer Akteur: Zum 100. Geburtstag Gottfried von Einems zeigt Magdeburg seine Oper „Dantons Tod“

Am 24. Januar 1918, vor 100 Jahren, erblickte in Bern einer der bekanntesten Komponisten der fünfziger und sechziger Jahre das Licht der Welt: Heute nur noch Insidern der Operngeschichte ein Begriff, entfaltete Gottfried von Einem nach der Uraufführung seiner Oper „Dantons Tod“ in Salzburg das musikalische Nachkriegs-Leben in Deutschland und Österreich entscheidend mit. Magdeburg würdigt nun als bisher einziges deutsches Opernhaus von Einem mit einer Premiere seines erfolgreichen Opern-Erstlings von 1947.

Beim Wiener Verlag Kremayr und Scheriau erschienen: Joachim Reibers Biografie des Komponisten Gottfried von Einem. Coverabbildung: Verlag

Beim Wiener Verlag Kremayr und Scheriau erschienen: Joachim Reibers Biografie des Komponisten Gottfried von Einem. Coverabbildung: Verlag

Von 1948 an hatte Gottfried von Einem als Mitglied des Direktoriums der Salzburger Festspiele – mit Unterbrechung bis 1964 – weitreichenden Einfluss, gestützt durch seine hervorragende Vernetzung, unter anderem mit der Familie Wagner, den Komponistenkollegen Boris Blacher und Werner Egk oder dem in vielen Bereichen aktiven Rolf Liebermann.

Die Opern „Der Prozess“ nach Franz Kafka (1953) und „Der Besuch der alten Dame“ nach Friedrich Dürrenmatt (1971) sicherten dem eher konservativ eingestellten, der neuen Musik der Schönberg-Schule und der Darmstädter Kreise abholden „Componist“ – so die Selbstbezeichnung – einen festen Platz auf den Spielplänen der Opernhäuser, den er erst nach seinem Tod 1996 langsam einbüßte.

Mit „Jesu Hochzeit“ auf ein mystisch-esoterisches Libretto seiner zweiten Frau, der Schriftstellerin Lotte Ingrisch, verursachte von Einem 1980 in Wien einen veritablen Opernskandal. Gottfried von Einem verstand es, sich einerseits mit den Verhältnissen während des Dritten Reiches äußerlich zu arrangieren, half aber auch, Juden zu schützen und wurde daher 2002 posthum als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet. In Deutschland und Österreich galt von Einem dank seiner Oper „Dantons Tod“ als „Komponist der Stunde Null“ – eine Bezeichnung, die heute angezweifelt wird, etwa in der neuesten Biografie von Joachim Reiber.

Bogen von der Französischen Revolution bis zur NS-Diktatur

Die Vorlage zu von Einems Oper, Georg Büchners „Dantons Tod“ lässt sich von vielschichtigen Zeitebenen aus lesen: Da ist das Stück über die Französische Revolution, zugespitzt auf ein paar Wochen des Jahres 1794. Da ist der Blick des jungen, unruhevollen Geistes auf Danton, Robespierre, Saint-Just, Desmoulins und ihre Gefolgschaften aus der Perspektive der restaurativen Gesellschaft der 1830er Jahre in Deutschland, eingespannt zwischen brutaler Unterdrückung des politischen Lebens und gärendem Freiheitswillen. Da ist die illusionslose Realität des Polizeistaats Hessen-Darmstadt, in dem Büchner ein System von Bespitzelung, Willkür und Gewalt am eigenen Leibe erfährt. Und da ist, unvermeidlich, der Blick der eigenen Gegenwart auf den historischen Stoff.

Noa Danon als Lucile in "Dantons Tod" von Gottfried von Einem in Magdeburg. Foto: Kirsten Nijhof

Noa Danon als Lucile in „Dantons Tod“ von Gottfried von Einem in Magdeburg. Foto: Kirsten Nijhof

Gottfried von Einem zieht noch einmal eine Ebene ein: Unverkennbar reflektieren er und sein Librettist Boris Blacher – selbst ein begabter Komponist – die zwölf Jahre der braunen Diktatur. Das geschieht nicht direkt, sondern wirkt subtil, dem schnellen Blick kaum bemerkbar. Aber die Masse als politischer Akteur und gleichzeitig Material in den Händen weniger Demagogen, das „Volk“ als Faktor der ideologischen Auseinandersetzung führt über Büchner hinaus.

Gottfried von Einem hat mit dem Werk kurz nach dem Attentat auf Hitler 1944 begonnen. Er selbst beschreibt die Situation als „unerträglichen Druck“, unter dem wie er Millionen Menschen standen: „Ständige Spannung, Schrei nach Erlösung von ihr.“ Wie gebannt sei er unter dem Zwang des Stoffes gestanden: „Das Werk brannte ab mit mir, mit meiner Musik.“

In Magdeburg tut Intendantin Karen Stone gut daran, die Handlung nicht eindeutig zu verorten, weder im Paris des 18. Jahrhunderts noch im Ambiente einer der Diktaturen der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit. Die Szene von Ulrich Schulz, eine Brücke aus kaltem Metall, flankiert von zwei Treppen, öffnet oder schließt je nach Bedarf einen flexiblen Spielraum, der sich mit einer Tapete mit französischen Lilien in einen Wohnraum oder mit einem hochgefahrenen Lichtkäfig in ein Gefängnis verwandeln lässt. Auch Requisiten und Kostüme spielen mit den Zeitebenen, lassen an Barock, 68er oder die uniformierten Einheitsschnitte östlicher Diktaturen denken.

Inszenierung rückt Rolle der Massen in den Mittelpunkt

Stone rückt in ihrer Inszenierung die Rolle der Massen in den Mittelpunkt. Unterstützt von Choreograph David Williams sucht sie den Weg zu stilisierter Aktion, die der Falle des so gut wie immer unglaubwürdigen Bühnen-„Realismus“ entgeht. Das gelingt nicht durchweg: Die zweite Szene, in der ein junger Adliger (Peter Diebschlag) gelyncht werden soll, sieht ein wenig aus wie eine schlechte Victor-Hugo-Verfilmung.

Aber wenn Stone bei den großen Reden Robespierres und Dantons das Volk wie in Trance wandeln lässt, wenn sie in der Gerichtsszene des zweiten Teils den unheimlichen Sog zeigt, der jede Individualität von den Einzelnen abzieht, machen die gleichgeschalteten Bewegungen dieser Marionetten und ihre mechanischen Reaktionen auf den Bann der Macht deutlich, wie wenig sich der Einzelne, und sei er ein mutiger Revolutionär wie Danton, der Wucht der Masse entziehen kann.

„Wir sind das Volk und wir wollen, dass kein Gesetz sei …“ skandiert eine zwielichtige Menge. Robespierre schafft es, die ungeordnete Menschenschar in Reih‘ und Glied hinter sich zu bringen. „Égalité“ prangt in blutigen Lettern im Hintergrund – und Gottfried von Einems Musik spiegelt das emotional wirksame Pathos, das wir aus den Aufmärschen aller Diktatoren der Welt nur zu gut kennen. Die Statisterie und der von Martin Wagner höchst sicher einstudierte Chor haben diese Szenen bravourös bewältigt und die Faktur der für viele wohl völlig unbekannten Musik bis hin zum „Brüllen“ der Menge anstandslos umgesetzt.

Der „Blutrichter“ zeigt die unheimliche Einsamkeit der Macht

Sobald es um die Rolle von Einzelnen im Getriebe der Revolution geht, wird Stones Regieansatz unschärfer, zeichnet am ehesten noch Robespierre als einsamen Gesinnungstäter durch: Stephen Chaundy färbt seinen Tenor schneidend-gequält, um die eisige Tugend-Ideologie eines Mannes darzulegen, der eine Welt zurücklässt, die er mit den Worten der Bibel für das Chaos vor der Schöpfung beschreibt: wüst und leer. Die unheimliche Einsamkeit der Macht, die glaubt, sie mache sich nicht die Hände schmutzig: Während der Vorhang langsam fällt, zieht sich der „Blutrichter“ der Revolution Handschuhe über.

Szene aus dem zweiten Teil von "Dantons Tod" im Bühnenbild von Ulrich Schulz. Foto: Kirsten Nijhof

Szene aus dem zweiten Teil von „Dantons Tod“ im Bühnenbild von Ulrich Schulz. Foto: Kirsten Nijhof

Danton wird im puffigen Pink eines Vergnügungsetablissements als Epikureer eingeführt, für den „liberté“ wohl eher in Richtung eines Libertinismus zu lesen sei: Jeder möge seine Natur ausleben und auf diesem Wege selig werden. Zu wenig, um die markigen Ansprachen zu erklären, mit denen sich Peter Bording später mit beeindruckender deklamatorisch gefasster Stimmwucht zu verteidigen sucht. Johannes Stermann gibt als Saint-Just den „Mann aus dem Volk“, dessen todbringenden Einfluss auf Robespierre und das Tribunal er mit der Gelassenheit des Siegers ausspielt.

Auch Simon (Paul Sketris) ist eine zwielichtige Figur, die mit roter Mütze als Einpeitscher oder williges Echo durch die Szene geistert. Amar Muchhala bemüht sich nach Kräften, mit seinem schlank-klaren Tenor den Alpträumen des traumatisierten Camille Desmoulins im Gefängnis Ausdruck zu geben, wird aber szenisch von der Regie eher allein gelassen.

Eine Oper für Frauen ist „Dantons Tod“ wirklich nicht; dennoch war die Rolle der Lucile bei der Uraufführung in Salzburg mit Maria Cebotari prominent besetzt. In Magdeburg tritt Noa Danon in die Fußstapfen ihrer großen Vorgängerin und erfüllt die entscheidenden Szenen am Ende des dritten und des sechsten Bildes mit Stimmglanz und Gestaltungskraft. Wenn sie über den Leichen das alte Volkslied „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“ anstimmt, fasst sie das Elend des einzelnen Menschen angesichts des grässlichen Fatalismus der Geschichte in einem anrührenden Moment zusammen. Über ihr glänzen die Schlagworte der Revolution auf der Schneide einer riesigen Guillotine im Blut.

Handwerklich sattelfeste Musik

Gottfried von Einems Musik lässt hören, dass sich da jemand mit dem Studium des „strengen Kontrapunkts“ handwerklich sattelfest gemacht hat, bevor er dem Genius der Inspiration freien Flug zugestand. Die hochdifferenziert ausgearbeitete Partitur gebraucht die Mittel des Orchesters sich souverän beschränkend, kammermusikalisch filigran, aber auch mit Gewicht und Klangpracht, wenn es auf (falsches) Pathos oder aufgewühlte Massenszenen ankommt.

Kimbo Ishii und das Magdeburger Orchester widmen sich der Musik mit Klangsinn und Präzision, lassen hören, wie sich von Einem der tonalen Tradition zugehörig fühlt, aber sich auch die Freiheit zu einer Moderne nimmt, die sich nicht an den damals tonangebenden Richtungen zeitgenössischer Musik orientiert.

Schöne Melodie für zwei Henker

Die schönste Melodie erfindet von Einem für die beiden Henker (Frank Heinrich und Alejandro Muñoz Castillo), die nach getaner Arbeit nach Hause gehen: Ganz „normale Männer“, die den schönen Mond besingen – so wie die Hunderttausende von Tätern des Dritten Reiches. Ein Hinweis auf die Gefährlichkeit des deutschen romantischen Gefühls, der schaudern lässt.

Von Einems Oper ist ein Werk kultivierter Autoren für ein gebildetes Publikum, ein kaum dramatisch motiviertes Philosophieren in Musik. Der Hunger nach Geist hat im Jahr 1947 dieses Werk sicher mit Sehnsucht begrüßt. Dass diese Reflektion über die Bedingungen und Grenzen der Freiheit und der an Büchner angelehnte fatalistische Blick auf den Lauf der Geschichte in den achtziger und neunziger Jahren aus der Zeit gefallen schien, ist verständlich. Heute, mit dem Plärren des „Volks“ im Hintergrund, blitzt in „Dantons Tod“ wieder eine Zeit-Aktualität auf, die es lohnend macht, sich jenseits einer Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag eines verdienten Autors mit dem Stück zu beschäftigen.

Magdeburg war der mutige Vorreiter – die bisher einzige deutsche Bühne, die sich in dieser Spielzeit an von Einem gewagt hat. Es folgt noch „Der Besuch der alten Dame“ in Radebeul am 26. Mai. Wien würdigt von Einem mit der Premiere von „Dantons Tod“ an der Staatsoper am 24. März und von „Der Besuch der alten Dame“ im Theater an der Wien am 16. März 2018.




Mit Nacktbildern auf dem Handy beginnt eine tödliche Geschichte – Jan Mehlums Krimi „Kalte Wahrheit“

Es ist ein sehr aufgewecktes Mädchen, das da eines Tages in der Kanzlei von Rechtsanwalt Svend Foyn steht und eine recht ungewöhnliche Bitte an ihn heranträgt: Er solle doch herausfinden, wer denn eigentlich ihrer Schwester Elvira regelmäßig Nacktbilder auf deren Handy sendet.

Die junge Besucherin hat auch gleich einen Beweis mitgebracht und zeigt dem Juristen auf dem eigenen Smartphone eines dieser Fotos, die die Schwester weitergeleitet hat. Dem Wunsch des Mädchens nachkommen kann der Anwalt aber nicht, sie ist minderjährig und in dem Alter darf sie ihm keinen offiziellen Auftrag erteilen.

War es wirklich Selbstmord?

Als die Familie kurz danach Elvira tot in der Badewanne findet, ist Foyn erschüttert. Alles deutet darauf hin, dass sie sich selbst das Leben genommen hat. Doch an einen Freitod mag der Anwalt Jan Mehlums norwegischem Krimi „Kalte Wahrheit“ nicht glauben.

Der Jurist hegt den Verdacht, dass das Mädchen umgebracht wurde. Während er mit eigenen Erkundungen beginnt, gerät er selbst ins Visier der Kriminalpolizei. Elvira hat ein Tagebuch geführt und ihren Besuch in der Kanzlei erwähnt. Nun hat Svend Foyn zwar schon oft mit der Kripo zusammengearbeitet (der Roman ist der 15. mit ihm in der Hauptrolle), aber natürlich stellen sich die Ermittler die Frage, ob der Anwalt wirklich eine reine Weste hat.

Verdächtiger Freund der Familie

Dessen Interesse richtet sich auf Elviras Familie und die engsten Freunde. Da er gut vernetzt ist, gelingt es ihm sehr schnell, mehr über die Vergangenheit der Angehörigen und deren Bekannten herauszufinden. Vor allem wendet er seine Aufmerksamkeit einem Mann zu, der von Berufs wegen eigentlich über alle Zweifel erhaben sein sollte, arbeitet er doch als Katechet. Doch die dunklen Seiten dieses Freundes der Familie könnten eine Spur ergeben, hat er doch eine Vorliebe für sehr junge Mädchen.

Während Foyn auf eigene Faust seine Nachforschungen weitertreibt und dazu auch gern mal Recht und Gesetz für sich selbst außer Kraft setzt, um in fremde Häuser einzudringen, gewinnt die weitere Entwicklung an Dramatik. Denn plötzlich ist die Schwester des toten Mädchens verschwunden und lediglich eine Karte, die sie aus Dänemark schickt, ist noch ein Lebenszeichen – vorausgesetzt, sie hat die Karte auch selbst geschrieben und verschickt.

Der mehrfach preisgekrönte norwegische Autor knüpft immer wieder neue Handlungsstränge. Den Überblick kann man trotz verwobener Erzähllinien durchaus bewahren. Im Mittelteil weist der Krimi hier und da ein paar Längen auf. Doch die ungeahnten Wendungen gegen Ende sind wieder spannender Lesestoff.

Jan Mehlum: „Kalte Wahrheit“. Kriminalroman. Grafit-Verlag, Dortmund. 382 Seiten, 12 Euro.