Die Ausbrüche des Gisbert zu Knyphausen – ein enttäuschendes Konzert im Dortmunder FZW

Kann ich mich denn so vertan haben, oder hat sich (nach meinem Empfinden) sein Schaffen so nachteilig verändert? Vom Auftritt des Gisbert zu Knyphausen im Dortmunder FZW hatte ich mir einiges versprochen. Wie hatte ich aufgehorcht, als 2008 und 2010 seine ersten Platten herauskamen! Da schien er mir durchaus originell zu sein – sowohl textlich als auch musikalisch.

Gisbert zu Knyphausen (voller Name: Gisbert Wilhelm Enno Freiherr zu Innhausen und Knyphausen) 2015 beim "Oper Flair" in Eschwege am Bass für Olli Schulz. (Foto: Franz Deelmann / Wikimedia Commons - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Gisbert zu Knyphausen, hier 2015 beim „Open Flair“ in Eschwege – am Bass für Olli Schulz. (Foto: Franz Deelmann / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Jetzt sieht es so aus, als müsste ich vorerst abschwören. Sieben Jahre lang ist kein neues Knyphausen-Album mehr erschienen, seit Herbst 2017 lässt er – um im Bild zu bleiben – „Das Licht dieser Welt“ aufleuchten. Doch ganz ehrlich: In jener Welt wabert es mir entschieden zu viel.

Ich weiß, es klingt gemein: Im Geiste eines spätpubertären Existenzialismus, wie man es hilfsweise nennen könnte, steigert sich Gisbert zu Knyphausen mit immergleich erscheinenden Formeln in unbestimmte Sehnsüchte hinein, in denen stets eine konturlose Freiheit sowie die Sterne und der Mond beschworen werden, unter denen wir umher irren. Schon nach drei, vier Songs kann man genug davon haben. Immer diese gewollten Ausbrüche und Entgrenzungen!

Als empfindsamen Liedermacher hatte ich ihn in Erinnerung, leider ist er jetzt als Beinahe-Allerwelts-Rocker zurückgekehrt, der mit seiner Band auch schon mal mehr oder weniger gepflegten Krach macht und manche Satzfetzen nur noch herausbrüllt. Warum nur dieser Richtungswechsel? Will er gezielt ein jüngeres Publikum ansprechen? Will er sich nach so langer Pause überhaupt Gehör verschaffen oder einfach aus dem alten Gehege ausbrechen?

Vor allem seine Texte scheinen gelitten zu haben, in einem Song nennt er sich selbst einen „Freund von Klischees“ – und hat damit recht. Mit derlei Selbstironie lässt sich ja nicht alles glattbügeln. Tatsächlich gelangt er vielfach über wohlfeile Sinnsprüche (und Sinnlosigkeitssprüche) kaum wesentlich hinaus. Der Mann, der einst „Ton Steine Scherben“ und „Element of Crime“ als seine Vorbilder genannt hat, erreicht deren Qualitäten bei weitem nicht mehr.

Im Mittelteil des Konzerts erklingen ein paar ältere, leisere Lieder. Und wahrhaftig: Er ist ungleich stärker in diesen Passagen. Es geht einem viel näher, wenn er konkrete Einzelheiten beschreibt und besingt, als wenn er drangvoll ins Allgemeine und Universelle ausgreift. Auch scheint es, als stünde ihm sanftere Melancholie viel besser zu Gesicht als brachiale Verzweiflung, die nicht eben sonderlich authentisch wirkt.

Wie es dann am Ende zuging? Ich weiß es nicht. Wir haben die Stätte früher verlassen – wie einige andere Leute auch. Und bevor sich jemand aufregt: Nein, ich war nicht auf Pressekarte dort, sondern habe die Tickets gekauft. Da kann man gottlob gehen, wann man will.

P.S.: Fahndet doch mal mit der Suchmaschine nach Mark Berube. Der Kanadier aus Montreal ist mit seiner Band vor Gisbert zu Knyphausen aufgetreten – leider nur recht kurz und somit unter Wert präsentiert.




Französische Literatur aus Sicht eines ihrer besten Kenner – Hanns Grössels Essays und Kritiken

Wer sich für Literatur aus Frankreich interessiert und nicht mehr ganz jung ist, wird in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen, aber auch in verschiedenen Büchern dem Namen Hanns Grössel begegnet sein; als Übersetzerangabe oder als Verfasser von Vor- oder Nachworten.

In den 1970er-Jahren beispielsweise trug Grössel wesentlich zur Wahrnehmung des Surrealismus in Deutschland bei. Und er machte das Lesepublikum auf Raymond Roussel aufmerksam, von dem er zwei Werke übersetzte und über den er eine Monographie in der Edition text+kritik herausgegeben hat.

Eine repräsentative Auswahl der Essays und Kritiken des im Sommer 2012 im Alter von 80 Jahren verstorbenen Literaturkritikers und Übersetzers, der 30 Jahre als Rundfunkredakteur beim WDR tätig war, konnte zur Buchmesse im vorigen Herbst dank der Initiative der Kunststiftung NRW in einem sorgfältig edierten Band im Lilienfeld Verlag erscheinen.

Spektrum von Stendhal bis Modiano

Zeitlich reicht das Spektrum der versammelten Texte von Stendhal bis Patrick Modiano. Neben den kanonisierten großen Namen der Moderne wie Victor Hugo, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant, Charles Baudelaire, Emile Zola, Marcel Proust gibt es dabei auch weniger Bekannte wie José-Maria de Heredia oder Charles-Louis Philippe zu entdecken.

Sodann sind natürlich Geheimtipps vertreten, Autoren, die selten eine große Leserschaft erreichten, deren Werke aber immer wieder, oftmals von kleineren, engagierten Verlagen neu aufgelegt werden. Als Beispiele könnte Marcel Schwob genannt werden, dessen Reisebriefe aus der Südsee im vorigen Herbst im Elfenbein Verlag erstmals in deutscher Übersetzung erschienen sind.

Zu nennen wären auch Joris-Karl Huysmans und Emmanuel Bove, von denen jeweils ein schöner Band für dieses Jahr im Lilienfeld Verlag angekündigt ist. Oder Saint-Pol-Roux, von dem nach längerer Pause 2013 ein kleineres, aber wichtiges Werk bei Matthes & Seitz erscheinen konnte, Paul Valérys „Cahiers“, oder gar die von Gerd Haffmans herausgegebene 11-bändige Ausgabe der Tagebücher der Brüder Edmond und Jules de Goncourt im Verlag Zweitausendeins.

Diese wenige Beispiele zeigen, dass die Entdeckungen und Wiederbegegnungen keineswegs auf die Jahre zwischen 1966 und 2002 beschränkt bleiben, in denen Grössel die in diesem Band versammelten Essays und Kritiken schrieb.

Kein Sammelsurium, sondern Komposition

Dass bei der Vielzahl der besprochenen Autoren aus diesem Band kein Sammelsurium unterschiedlichster Texte wurde, verdanken wir der sorgfältigen Auswahl und Zusammenstellung durch Norbert Wehr, der Grössels Nachlass verwaltet und der den Band ebenso umsichtig und mit Liebe zur Literatur komponiert hat wie jedes Dossier der von ihm seit 40 Jahren herausgegebenen Literaturzeitschrift „Schreibheft“.

Hanns Grössel bietet die besten Voraussetzungen für eine abgerundete Werkschau, er, der ausgezeichnete Kenner, der die von ihm besprochenen Bücher in ihrem literaturgeschichtlichen Zusammenhang berücksichtigt, mit vielfältigen Querverbindungen und Leitmotiven.

So stellt sich beim Lesen des Buchs der Eindruck ein, die ursprünglich an verstreuten Orten erschienenen Beiträge folgten insgeheim dem Prinzip der kommunizierenden Röhren, wovon ein Artikel zu André Breton aus der Süddeutschen Zeitung vom August 1973 handelt, und fügten sich zu einem sprechenden, einem erzählenden Hanns-Grössel-Kosmos zusammen.

Das Nachwort von Norbert Wehr mit persönlichen Erinnerungen an den großen Literatur-Entdecker und Übersetzer verdeutlicht dessen Verdienste, seine gewissenhafte Haltung gegenüber der Literatur und Grössels respektvollen Umgang mit Büchern und Autoren, auch mit denen, die seinem kritischen Blick nicht standhielten.

Schwerpunkte und Vorlieben

Bei aller Vielfalt und Weite seines immensen Schaffens lassen sich gut die Schwerpunkte und Vorlieben des Literaturmenschen Grössel erkennen. Der streitbare Georges Bataille gehört dazu, mit dem sich die Auseinandersetzung nach wie vor lohnt – sei es mit seinem ökonomischen Konzept der Verausgabung, sei es mit seiner Perspektive auf die wilde Kindheit, sei es mit den Provokationen in seinem „obszönen Werk“ (unter diesem Etikett sind 1972 im Rowohlt Verlag fünf seiner wesentlichen Texte erschienen).

Ähnlich bekannt für Grenzüberschreitungen und Tabubrüche dürfte Henri Michaux sein, der sich früh „großen Zerreißproben“ unter dem Einfluss von Meskalin und LSD ausgesetzt hatte – nebenbei bemerkt: ein faszinierender Zeichner. Von ihm ist in dem Band das Werk Eckpfosten besprochen.

Innenansichten einiger Außenseiter

Unter den Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts sind es besonders Nathalie Sarraute und Marguerite Yourcenar, denen sich Grössels besondere Aufmerksamkeit zuwendet. An den von Yourcenar gewählten Sammeltitel zu ihrer dreibändigen autobiographischen Familiengeschichte, Das Labyrinth der Welt, lehnt sich der Titel des vorliegenden Bands an.

Zu Victor Segalen hat der Auswahlband glücklicherweise einen Text erstmals nach dem ungekürzten Manuskript veröffentlichen können, während in der Wochenzeitung Die Zeit im August 1983 eine gekürzte Fassung erschienen war. Dieser außergewöhnliche Schriftsteller, Arzt, Ethnologe ist plausibel in einem Kapitel vertreten, das „Außenseiter. Fünf Innenansichten“ benannt ist und außer ihm Raymond Roussel, Michel Leiris, Max Jacob und Paul Léautaud umfasst. Letzterer wird unter zwei verschiedenen Rubriken besprochen; seine Kriegstagebücher in dem Kapitel „Paris unter Besatzung“.

Keine Narrenfreiheit für Kollaborateure und Antisemiten

Die deutsche Besatzung, die Vichy-Regierung, französische Kollaborateure und auch die Résistance bilden für Grössel einen besonderen Forschungsgegenstand. Mit nur spärlichen Informationen über die Tätigkeit seines Vaters im besetzten Paris bemühte sich Grössel, wie das Nachwort deutlich macht, durch die Werke von Louis-Ferdinand Céline, Pierre Drieu la Rochelle, Paul Léautaud, Paul Nizan, Jean-Paul Sartre und Léon Werth dem Leben im Paris der Kriegsjahre näher zu kommen.

Grössel bleibt als Kritiker unabhängig und lässt sich durch stilistische Qualität nicht bestechen, wenn es sich um Kollaborateure und erklärte Antisemiten wie Céline oder Drieu la Rochelle handelt. Er möchte das Politische nicht vom Literarischen trennen, davon ausgehend, „dass alle Schriften eines Autors aus demselben Kopf stammen“. Er fährt fort: „Sollte diese Überzeugung dann in den Ruch eines moralischen Rigorismus geraten: besser, wir nehmen das hin, als dass wir unsere Glaubwürdigkeit verlieren, wir, die wir über Literatur schreiben, sie analysieren und werten.“

In die Diskussion um Pierre Drieu la Rochelle, der in seinen 52 Lebensjahren zwischen den politischen Extremen pendelte, der 1931 den später von Louis Malle verfilmten Roman Le feu follet (Das Irrlicht) vorlegte und im März 1945 seiner Verurteilung als Kollaborateur der Nazis durch Selbstmord zuvorkam, schaltet sich Grössel ein und wehrt sich dagegen, „dem Künstler, weil er Künstler ist, ein erhebliches Maß an politischer Narrenfreiheit zu gewähren.“ Er verteidigt sein Berufsethos: „Wenn wir nicht selber Schaden nehmen wollen, müssen wir mit dem Verhätscheln aufhören.“

Was fehlt und was noch kommt

Freilich muss ein auf 540 Seiten begrenzter Band eine Auswahl treffen. Man mag bedauern, dass beispielsweise Grössels Nachwort zu Jules Renards Tagebuchauszügen aus dem Band Ideen, in Tinte getaucht (München 1986) nicht einbezogen wurde. Doch Renard und viele, denen kein eigener Beitrag gewidmet ist, kommen in den Essays zu anderen Autoren durchaus zur Geltung, wie etwa Jean Genet in der Besprechung zu Sartres Buch Saint Genet, Komödiant und Märtyrer (Reinbek 1982). Dankenswerterweise hat die Kunststiftung NRW keine Kosten und Mühen gescheut, dem Band ein umfassendes Personenregister beizufügen.

Leserinnen und Lesern, denen Hanns Grössel mehr als Experte für dänische und schwedische Literatur, vor allem als Übersetzer der Lyrik von Inger Christensen und des Literatur-Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer, bekannt ist, können sich auf den zweiten, von Peter Urban-Halle herausgegebenen Band freuen, den der Lilienfeld Verlag für dieses Jahr angekündigt hat. Mit der Zusammenstellung seiner Essays und Kritiken in zwei Bänden wird dem Homme de lettres Hanns Grössel eine verdiente Würdigung zuteil.

Hanns Grössel: Im Labyrinth der Welt. Essays und Kritiken zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Literatur, Band 9. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. 544 Seiten, 30 €.

Außerdem vom Verlag angekündigt:

Hanns Grössel: Umwege zur Wirklichkeit. Essays und Kritiken zur skandinavischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Peter Urban-Halle. Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Literatur, Band 10. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2018, ca. 450 Seiten, 30 €.




Düstere Schwermut, strahlender Sieg: Anja Harteros und der Dirigent Gustavo Gimeno in der Philharmonie Essen

Anja Harteros. Foto: Marco Borggreve

Anja Harteros. Foto: Marco Borggreve

Richard Wagner und Claude Debussy in einem Konzert zu kombinieren, ist eine passende Idee. Der Franzose, der vor 100 Jahren starb, war der dominierenden musikalischen Größe aus Deutschland zeitlebens mit merkwürdiger Hassliebe zugetan. Es wäre noch passender gewesen, hätte das Orchestre Philharmonique de Luxembourg zu Beginn seines Konzerts in der Philharmonie Essen Ausschnitte aus „Parsifal“ gespielt: Wagners mystisches Spätwerk hat Debussy über alles geliebt.

So also „Tannhäuser“, in einer Hochglanz-Version des Spaniers Gustavo Gimeno. Ein eleganter, nicht zu dekorativ-gestenreicher Dirigent. Ein edel schimmernder, lyrisch geprägter, fast möchte man sagen nazarenischer Wagner, ohne untergründige Erregung, ohne das prickelnde Fieber des Venusbergs, das am besten mit dem altmodischen Wort „Inbrunst“ beschrieben wäre. Eine gedämpfte Impulswelt also, die erotische Hochspannung von einer gewissen Contenance beruhigt. Das Orchester gefällt, kein raues Geschürfe stört den leuchtenden Glanz.

Zwischen Verschmelzung und eigenständiger Kontur

Das technische Niveau des Orchesters aus Luxemburg lässt keine Zweifel aufkommen, nur die Lautstärke könnte hin und wieder dem Saal angemessener dosiert sein. Aber die kleinteiligen rhythmischen Geflechte in den beiden Orchesterwerken Claude Debussys, „La mer“ und „Ibéria“, der zweiten Suite aus den „Images“, ereignen sich klar artikuliert; die Balance und die Staffelung der Klänge stimmen: Sie finden das richtige Maß zwischen Verschmelzung und eigenständiger Kontur. Dieser Debussy zerfällt nicht in lauter Mikro-Ereignisse, er verschwimmt aber auch nicht zu dem ungreifbaren Geflirr, das wir auf den Gemälden der Impressionisten so zauberhaft finden.

Chefdirigent Gustavo Gimeno malt mit kräftigeren, kantigeren Farben, lässt die Solisten Details ausmodellieren. In „Ibéria“ wehen die „Düfte der Nacht“, vom unwirklichen Ton der Celesta getragen, in verfließenden Formen und schattenhaften Klängen durch den Raum. Das wirkt nicht nur nächtlich-geheimnisvoll, sondern hat in den gedämpften Fragmenten von Melodien, in den fahlen Fetzen ferner Tänze, im Verfließen der Formen etwas Unheimliches an sich. Nicht umsonst beschäftigte sich Debussy mit Edgar Allan Poe – in Frankreich durch Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé bekannt gemacht – und seinem „Fall of the House of Usher“.

Offenbar kein „Mathematiker der Musik“

Diese gestalterischen Finessen, mehr noch aber das Spiel der Farben und Schatten in „La mer“ haben Debussy den Ruf eines „Impressionisten“ eingebracht, gegen den er sich wehrte, indem er sich zum „Mathematiker“ der Musik stilisierte. Doch die subtilen, schillernd-sprühenden Klänge in den drei „symphonische Skizzen“ wollen das Bonmot ständig Lügen strafen. Vom Flageolett-Nebel der Violinen über die bebenden Repetitionen des gedämpften Blechs bis hin zur variativen Koloristik, die Debussy an die Stelle einer Form-Entwicklung setzt, lassen sich die Luxemburger von keiner spieltechnischen Herausforderung schrecken.

Kritiker ätzten damals, das Stück enthalte nur „Geräusch“. Recht hatten sie – in gewisser Weise –, denn Debussy fängt das Unregelmäßige, Spontane, auch das Gewaltige und Gewalttätige der Naturprozesse ein, ohne ein musikalisches Imitat zu gestalten. Er mimt das Meer nicht musikalisch – wie es etwa Arnold Bax meisterhaft geglückt ist –, sondern er stellt uns die Idee des Meeres vor das innere Ohr.

Anja Harteros beglaubigt mit Wagners „Wesendonck-Liedern“ ihren Spitzenplatz unter den Sopranen unserer Tage. Sie setzt nicht bloß auf den leuchtenden Ton, sie braucht nie technischen Tricks, wenn sie die Stimme zurücknimmt und färbt. Vor allem in den weiten Entwicklungen, in den Bögen und im Aufleuchten einer groß gedachten Phrase gefällt ihre Stimme: frei gebildet der Ton, mühelos gesteigert der Klang, wundervoll abgetönt die Farben. Die Instrumentierung Felix Mottls unterstreicht noch die Nähe zu „Tristan und Isolde“. Aber auch Anja Harteros betont Tristan-Schwermut und Sieges-Strahlen: Da verstummt tatsächlich die Lippe in staunendem Schweigen.




Hilfe, die Bär(inn)en sind allgegenwärtig!

Wo wir gerade so schön gemütlich bei Invasions-Phantasien sind: Ich wette, Euch ist der folgende Umstand noch nicht aufgefallen. Bären sind nämlich drauf und dran, die Macht in Politik und Gesellschaft zu übernehmen. Nicht im Handstreich, sondern heimlich. Begonnen hat es vielleicht vor langer Zeit mit „Teddy“ Roosevelt in den USA. Heute kann man es schon längst nicht mehr verkennen.

Sie sehen so harmlos aus. Jedoch... (Foto: BB)

Sie sehen so harmlos aus. Jedoch… (Foto: BB)

Ihr wollt Indizien? Kein Problem. Wir haben sie sogar mit magischer Jahreszahl auf Lager.

Wie heißt jetzt die neue Parteichefin der Grünen? Exakt. Annalena Baerbock, die seit 2013 (!) im Bundestag sitzt.

Auch die CSU hat ihre mittlerweile bundesweit bekannte bekannte Bärin, nämlich Dorothee Bär, die 2013 (!) erstmals zur Staatssekretärin (im Verkehrsministerium) wurde, nun im selben Rang dem Landwirtschaftsministerium angehört und in die erste Reihe ihrer Partei aufgerückt ist.

Und wer ist seit 2013 (!) FDP-Generalsekretärin? Richtig: Nicola Beer. Das heißt: eigentlich nicht so ganz richtig. Denn durch ihre Schreibweise schert sie aus der Bärinnen-Phalanx aus. Und wisst ihr was? Das dürfte der eigentliche Grund sein, warum die FDP aus den Jamaika-Sondierungen ausgestiegen ist. Tja!

Christian Lindner musste halt einsehen, dass es besser ist, gar keine Bärin in die Koalition zu holen, als eine falsche Bärin. Mit anderen Worten: Grüne und CSU haben das Bären-Defizit der FDP vergleichsweise überdeutlich werden lassen. Haben sie der Republik einen Bärendienst erwiesen?

Habt ihr übrigens schon einmal über den vielsagenden Anklang der Worte Koalition und Koala sinniert? Nein? Dann wird’s aber höchste Zeit.

Jedenfalls gilt neuerdings: kaum eine Talkshow ohne Bär oder orthographisch artverwandte Wesen. Und was binden sie uns dort auf? Eben. Quasi sich selbst. Bären!

Doch damit nicht genug: Unter welchem Zeichen tritt Putin in Moskau an? Unter dem eines russischen Bären, der mühelos Tiger zureitet. Welches Wappentier hat die deutsche Hauptstadt Berlin? Genau! Und welches Tier steppt auf der dortigen Szene? Ebenfalls der Bär! Wer steht vor den Börsen der Welt und bedeutet böse Baissen? Nun, der Stier ist es nicht, sondern… Im Kölner „Tatort“ tritt derweil seit vielen Jahren der Dortmunder Dietmar Bär auf. Sie sind eben überall. Ebenso wie all die bärtigen Männer.

Schon unsere Kleinen werden indoktriniert und an die angeblich niedlichen, im Grunde aber ziemlich gefährlichen Tiere gewöhnt. Denkt an die Abermillionen Teddybären, denkt an literarische Figuren wie „Pu“, den Bär, an schier endlose TV-Serien wie „Mascha und der Bär“. In jedem zweiten oder dritten Kinderbuch taucht mindestens ein Bär auf. Und immer wollen sie Honig.

Von wegen „Nich‘ am Bär packen!“ Mit solchen Sprüchen lassen wir uns nicht mehr abspeisen. Das Bären-Desaster liegt so offen zutage, dass es sich nicht mehr um eine Verschwörungstheorie handeln kann. Wir reden hier von echten Zusammenhängen, von glasklaren Ursachen und Wirkungen, die tief in die Struktur unserer Wirklichkeit eingesenkt sind.

Und Psssst! Mich würde es nicht wundern, wenn auch das Merkel ein Bär ist.




Natur und Kunst, Schönheit und Grauen: Vor 150 Jahren starb der Biedermeier-Schriftsteller Adalbert Stifter

Kann man ihn überhaupt noch lesen, diesen Biedermeier-Schriftsteller? Ist seine Sittlichkeit nicht längst altmodisch? Sind diese langatmigen Schilderungen von Landschaften und Naturidyllen nicht jedem modernen Gefühl zuwider? Fehlt ihm nicht, was schon Joseph von Eichendorff vermisste, der über ihn sagte, er habe „nicht eine Spur von moderner Zerrissenheit“?

Adalbert Stifter, vor 150 Jahren (am 28. Januar 1868) gestorben, galt einst als der bedeutendste Autor des Biedermeier. Man schätzte seine Naturdarstellungen. Bis in die 1960er Jahre hinein war seine Prosa Stoff für die Schule, seine Texte fanden sich in Lesebüchern. Werke wie „Die Mappe meines Urgrossvaters“, seine Erzählungs-Sammlung „Bunte Steine“ oder sein wohl berühmtester Roman „Der Nachsommer“ gehörten zum literarischen Bildungsgut.

Sogar Karl Kraus hat ihn gepriesen

Der Philosoph Friedrich Nietzsche etwa bewunderte diesen groß angelegten Bildungsroman und zählte ihn – neben Goethe – zum „Schatz der deutschen Prosa“. Der scharfzüngige Karl Kraus ließ allein Stifter unter allen Schriftstellern dieser Epoche gelten, die anderen „sollten diesen Heiligen für ihr lautes Dasein um Verzeihung bitten …“. Und kein Geringerer als Thomas Mann preist ihn in höchsten Tönen: „Stifter ist einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur.“

Die Sprache bleibt für die Gegenwart

Kritiker dagegen bemängeln, dass die Figuren seiner Werke als Menschen blass bleiben und hinter den allzu ausgiebigen Natur- und Landschaftsschilderungen zurücktreten. Sein Stil wird als weitschweifig getadelt. „Die Ergebenheit in alles von der Natur Vorgegebene beginnt selbst den geneigten Leser zu martern“, schreibt Ilse Aichinger über seine Erzählung „Bergkristall“. Was für heute bleibt, glaubt man der österreichischen Schriftstellerin, ist die Sprache: Sie „entdeckte in der Schilderung die Definition der Räume und Landschaften, in der Gelassenheit und Ergebenheit den reißenden, fast verzweifelten Strom der Sprache, ihre Hochkarätigkeit, den Tod zu ihren Seiten.“

Das Abgründige in Stifters Werk, das wohl auch Franz Kafka erspürt hatte, die Natur als Raum und Spiegel der Seele – das braucht offenbar Zeit und Einfühlung, um entdeckt zu werden. Das Grauenvolle, Unergründliche, zutiefst Erschreckende, dessen Walten in der Natur Stifter eben auch entdeckt, hat man gern und geflissentlich übersehen.

Solche Bilder leisteten der Idyllisierung Vorschub: Adalbert Stifter, Im Gosautal, ein Gemälde aus dem Jahr 1834. Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Adalbert_Stifter_-_Im_Gosautal.jpg

Solche Bilder leisteten der Idyllisierung Vorschub: Adalbert Stifter, „Im Gosautal“, ein Gemälde aus dem Jahr 1834. Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Adalbert_Stifter_-_Im_Gosautal.jpg

Sehnsucht nach Harmonie

Adalbert Stifter, 1805 in Oberplan an der Moldau in Böhmen (heute Horni Planá in Tschechien) geboren, stammt aus den armen Verhältnissen einer Leinweberfamilie. Der Großvater brachte ihn auf die Lateinschule und ab 1818 in das Stiftsgymnasium der Benediktiner von Kremsmünster. Eine Zeit, die er später als die schönste seines Lebens beschrieb. Er lernte Zeichnen und wollte Landschaftsmaler werden – einige Bilder zeugen von seinem Talent.

Die Schule vermittelte ihm Religion, Philosophie, Kunst und Naturwissenschaft gleichermaßen, führte ihn in den Kosmos der christlichen Weltanschauung ein, unterwies ihn aber auch in der Philosophie der Aufklärung. Im Schönen entdeckte er das Göttliche. Das Göttliche aber strebe, so schrieb er selbst, überall nach beglückender Entfaltung, als Gutes, Wahres, Schönes. Die Sehnsucht nach dieser harmonischen Weltschau sollte sein späteres Denken und Schreiben prägen.

Unglückliche Liebe und materielle Not

Als Student der Rechte in Wien begann er auch zu dichten. In Wien verliebte er sich heftig und unglücklich in Fanny, die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns. Sie erwiderte seine Leidenschaft nicht. Stifter verfiel dem Alkohol und musste das Studium ohne Abschluss abbrechen. In dieser Zeit entstanden erste Erzählungen, die aber nicht oder erst später veröffentlicht wurden. Um die Ordnung in seinem Leben wieder herzustellen, vermählte sich Stifter mit der Putzmacherin Amalia Mohaupt, die ihn über 30 Jahre lang liebevoll umsorgte.

In den ersten Jahren plagten das Paar erhebliche materielle Sorgen. Die Lage wandelte sich allmählich, als 1840/41 die Erzählungen „Der Condor“ und „Feldblumen“ veröffentlicht wurden und auf positives Echo stießen. Stifter unterrichtete als Hauslehrer den Sohn des österreichischen Staatskanzlers Metternich und fand einen Verleger, der ihn förderte. Die Schicksalserzählung „Abdias“ brachte ihm 1842 den literarischen Durchbruch. Zwei Jahre später erschienen erste Bände seiner gesammelten Erzählungen.

Keine Gegenliebe für pädagogische Reformideen

Im Revolutionsjahr 1848 zog Stifter, der auf der Seite der Erneuerung stand, von Wien nach Linz. Die Erzählung „Die Landschule“ spiegelt sein lebenslanges pädagogisches Interesse wieder. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, 1850 einen Posten als Schulrat zu erreichen.

Gut zwei Jahre später wurde er auch zum Landeskonservator für Oberösterreich der k.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale ernannt. Sehr engagiert widmete er sich dem Denkmalschutz und der Förderung der bildenden Kunst, in der er die „irdische Schwester der Religion“ erkannte. Seine pädagogischen Reformideen jedoch stießen bei Kirche und Behörden nicht auf Gegenliebe.

Neu bei dtv: Wolfgang Matz hat Stifters Erzählungen nach den Erstdrucken herausgegeben - rechtzeitig zum 150. Todestag des Autors. Cover: dtv

Neu bei dtv: Wolfgang Matz hat Stifters Erzählungen nach den Erstdrucken herausgegeben – rechtzeitig zum 150. Todestag des Autors.

Gesundheitliche Gründe und ein Schicksalsschlag – der Tod seines Adoptivkindes Juliane, wohl ein Suizid – führten dazu, dass Stifter seinen Tätigkeiten nicht mehr nachgehen konnte. Seinen historischen Roman „Witiko“ vollendete er nach jahrelanger Arbeit.

Stifter war ein übermäßiger Esser und Trinker, der sechs Mahlzeiten am Tag verschlang. Als sein Tod infolge einer Leberzirrhose absehbar war, öffnete er sich auf dem Krankenbett mit einem Rasiermesser die Halsschlagader und starb zwei Tage nach diesem Suizidversuch am 28. Januar 1868.

Neue Bücher:

Der Münchner Literaturwissenschaftler, Lektor und Träger des Paul-Celan-Preises Wolfgang Matz hat 2016 mit „Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge“ eine Biografie auf aktuellem wissenschaftlichen Stand vorgelegt.

Stifters großer Roman „Der Nachsommer“ ist in einer neuen Ausgabe beim Deutschen Taschenbuch-Verlag (dtv) erhältlich, der auch „Bergkristall“ und „Witiko“ im aktuellen Programm führt. Wichtige Werke von „Abdias“ bis „Bunte Steine“ sind als gelbe Reclam-Ausgaben erhältlich.

Hier noch ein Gedicht von Adalbert Stifter:

Abschied

Nun sind sie vorüber, jene Stunden,
Die der Himmel unsrer Liebe gab,
Schöne Kränze haben sie gebunden,
Manche Wonne floß mit ihnen ab.

Was der Augenblick geboren,
Schlang der Augenblick hinab,
Aber ewig bleibt es unverloren,
Was das Herz dem Herzen gab.

 




Operetten-Passagen (9): Paul Abrahams „Märchen im Grand Hotel“ wirft leise satirische Blicke auf das mondäne Leben

Hotels, die großen, mondänen, waren und sind bis heute Traumorte: Hier verkehren Menschen, die Geschichten mit sich tragen; hier gibt es Skandale und Geheimnisse; hier tummeln sich Verliebtheit und Verbrechen. Heute ist kaum mehr zu ermessen, was die Hotels der Vorkriegszeit bedeuteten: Man schlief und speiste nicht nur im Hotel, man vergnügte oder verbarg sich, man tanzte und träumte.

Tanzt erstklassig: Sarah Bowden in Paul Abrahams "Märchen im Grand Hotel" an der Komischen Oper Berlin. Foto: Robert-Recker.de

Tanzt erstklassig: Sarah Bowden in Paul Abrahams „Märchen im Grand Hotel“ an der Komischen Oper Berlin. Foto: Robert-Recker.de

Das Hotel war der magische Brennpunkt des luxuriösen Lebens, das der eine aus dem Vollen schöpfte, der andere wenigstens für ein paar Stunden erhaschte. Kein Wunder, dass es Menschen gab, die quasi im Hotel existierten. Ein letzter Spross dieser Hotelkultur war wohl der legendäre Opern-Erklärer Marcel Prawy, der hinter der Wiener Staatsoper im Hotel Sacher seine letzten Jahre verbrachte.

„Märchen im Grand Hotel“ – der Titel der kaum mehr bekannten Operette von Paul Abraham, die an der Komischen Oper Berlin wiederentdeckt wurde, ließ also zur Zeit ihrer Uraufführung 1934 eine ganze Lichterkette von Assoziationen aufgehen. Man wusste, wovon sie erzählt, oder man konnte es sich nach Vicki Baums 1929 erschienenem Roman „Menschen im Hotel“ – bereits drei Jahre später Thema eines mit dem Oscar geschmückten Films – irgendwie vorstellen. Und Abraham selbst, der Jahre seines Lebens in Hotels verbrachte, hatte wohl aus eigener Erfahrung einen sehr konkreten Begriff von Glanz und Elend der Nobelherbergen.

Paul Abraham freilich schildert nicht das vereinsamte, depressive Luxus-Treibgut, das sich in Baums Roman sammelt. Er überhöht das Etablissement – wie viele andere Operettenschreiber – zur Traumkulisse. Seine Hotelbewohner sind entweder fröhliche Angestellte wie der stets alerte Zimmerkellner Albert, oder sie sind exotisch-exzentrische Reizfiguren wie eine spanische Infantin im Exil nebst Zofe, ein mit jener verlobter Prinz und der Geldadel der neuen Welt, die Herrscher über die damals neuen Medien: ein Filmproduzent und seine selbstbewusst sorgenfreie Tochter. Figuren, die sich als Projektionsfläche für Wünsche, Träume und Begehrnisse bestens qualifizieren.

Träumen und Staunen mit Ironie

Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda, die anerkannten Operettenroutiniers, verknüpfen diese Typen nicht ohne satirischen Blick zu einer augenzwinkernd vorhersagbaren Story: Am Ende der unglücklichen Liebe zwischen Niedrig und Hoch findet sich ein toller Zufall, der alles gut werden lässt – und die neue mediale Illusionsfabrik, der Film, tut einen Teil dazu.

Dass solche Geschichten nicht in peinliche Banalität abrutschen, ist dem Talent der Macher zu verdanken, sich immer wieder mit Ironie zu distanzieren; leise genug, um ein vergnügungssüchtiges Publikum nicht beim Träumen und Staunen zu stören, aber ausreichend vernehmbar, um den Geist nicht mit dem erstbesten Groschenroman-Sujet zu betäuben.

Henning Hagedorn (links) und Markus Grimminger haben - wie bei anderen Abraham-Operetten auch - die noch auffindbaren Quellen ausgewertet und eine bühnenpraktische Fassung erarbeitet. Foto: Werner Häußner

Henning Hagedorn (links) und Markus Grimminger haben – wie bei anderen Abraham-Operetten auch – die noch auffindbaren Quellen ausgewertet und eine bühnenpraktische Fassung erarbeitet. Foto: Werner Häußner

Wortwitz ist eine Methode, musikalische Raffinesse die andere: Abraham zeigt sich in dieser nach seiner Vertreibung aus dem hakenkreuzdurchseuchten Berlin entstandenen Operette nicht ganz auf der Höhe seiner melodischen Erfindungsgabe, aber im Drive der Nummern, im Nervenreiz der Rhythmen, in der Eleganz und sprühenden Farbigkeit der auch bei diesem Werk wieder von Henning Hagedorn und Matthias Grimminger eingerichteten Instrumentation ist er ganz der Alte, wie wir ihn aus „Viktoria und ihr Husar“ oder „Ball im Savoy“ kennen.

Mit „Märchen im Grand Hotel“ hat die Komische Oper Berlin eine Reihe begonnen, die in den nächsten Jahren fünf Operetten von Paul Abraham vorstellen soll. Zu denken wäre an seine frühen Werke wie „Zenebona“ oder „Der Gatte des Fräuleins“ oder an seine ungarischen Operetten wie „Julia“, „Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus“, oder gar an „Tambourin“, jenes Schmerzenskind, an dem er im Exil in den USA arbeitete und das bisher nie aufgeführt wurde.

Punktgenau aufs Tempo der Operette eingeschworen

Leider sind vollständige Inszenierungen der unbekannten Trouvaillen nicht geplant, aber Hausherr Barrie Kosky weiß nur zu gut, dass eine „konzertante“ Aufführung einer Operette ein Unding ist. So richtet er auf der Vorderbühne – das Orchester sitzt dahinter – einen Spiel-Raum ein, den die von Kathrin Kath herrlich schrill kostümierten Darsteller mit flott choreographiertem Spiel ausfüllen. Den Chor ersetzt das Lindenquintett mit Arrangements á la Comedian Harmonists. Und weil Kosky einem seiner Operettenstars, Max Hopp, neben der Rolle des Albert auch die eines Conférenciers überlässt und sich die meisten Sprechtexte spart, haben die 90 Minuten auch ohne ausgebaute Szenerie das atemlose Tempo, bei dem keine Sekunde die Spannung verloren geht.

Dafür sorgen die Darsteller, allesamt hochprofessionell auf die Kunstform der Operette eingeschworen: flink, punktgenau, pointensicher, selbstironisch, aber dennoch voll in der Rolle drin. Das Manko ist nur: Das Singen ist ihre am wenigsten entwickelte Kunst. Ungeachtet der Frage, ob man in der Operette wirklich Microports verwenden sollte: Ohne Technik kämen wohl weder Max Hopp noch Sarah Bowden, die „Stars“ der Produktion, mit ihrer Stimme über die Rampe. Wie war das denn anno 1934? Vergessen wir die Frage schnell …

Nun hat es durchaus Qualitäten, wie Max Hopp, ein gescheiter Conférencier, eine wunderbar zugespitzte Sprache führt, aber für die „schönste Rose und ein Herz voller Liebe“ hätte man sich doch einen stimmbeherrschenden Operettentenor statt ein heiseres Falsettsäuseln gewünscht. Man sollte nicht jedes Unvermögen zum künstlerischen Mittel hochstilisieren.

Sarah Bowden (Marylou) ist ein anderer Fall: Sie tritt als Tanzsoubrette par excellence auf, hat Esprit und Glamour im Auftritt, kann sprechen, aber singt mit dem flach-nasalen Ton und dem aufgesetzten Vibrato, wie es im kommerziellen Musical heute üblich ist. Talya Lieberman bringt als Infantin Isabella dagegen eine sauber gestützte Stimme, ein angenehmes, vom Vibrato nicht zerschlagenes, sondern geadeltes Timbre und eine technisch abgesicherte Flexibilität mit – genau richtig für die sentimentalen Lieder, mit denen Abraham ihre Partie geschmückt hat.

Üppiger Schaum und ein wenig Pfeffer

Johannes Dunz, adrett im Auftritt, müsste sich wohl nicht elektronisch stützen lassen; sein frischer Tenor verspricht hinter dem technisch aufgepeppten Sound einen attraktiven „Natur“-Klang. Philipp Meierhöfer als Filmproduzent Sam Makintosh ein quirliger Lieferant eines musikalischen Running Gags und Tom Erik Lie als soignierter Hotelbesitzer und en travestie als überdrehte spanische Gräfin in ebenso herrlich überdrehter Robe pfeffern die Handlung mit genau dem richtigen Zuviel, das vor der Überwürze des Klamauks gerade noch gefeit ist.

Mit Adam Benzwi steht ein operettenversierter Dirigent am Pult des Orchesters der Komischen Oper, der weiß, wie die Rhythmen der damaligen Modetänze flexibel zu halten, wie instrumentale Details zu beleuchten, wie Tempo in Schmiss zu verwandeln ist. Da geht es oft um agogische Detailarbeit, um Präzision im Laissez-faire, um den treffsicheren Geschmack in der Phrasierung.

Die Bühne ist allerdings nicht der optimale Spielort für das üppig besetzte Orchester: Der Klang bleibt oft unbestimmt, Details sind im Raum nicht durchgezeichnet, die verstärken Stimmen übertönen die Finessen. Dennoch: Paul Abrahams mitreißend gemachte Musik garantiert schäumendes Vergnügen, das man gerne an anderer Stelle – und dann szenisch voll durchgearbeitet – noch einmal serviert bekommen würde.




Unterwegs zu einer Welt ohne jede Verletzung – ein müßiger Frankfurter Streit um „Mohren“-Apotheken

Das musste ja irgendwann kommen! Ich hatte mich schon gewundert, dass diese Debatte nicht viel eher vom Zaun gebrochen wurde: Laut „Frankfurter Rundschau“ (ach, das Blatt gibt’s wirklich auch noch?) wird in der Mainmetropole jetzt angeblich heiß diskutiert, ob die beiden „Mohren“-Apotheken in der Stadt weiterhin so heißen dürfen.

Logo der Dortmunder "Mohren-Apotheke": eine geradezu klassische Darstellung, die doch nicht mehr schockieren muss. (Screenshot)

Logo der Dortmunder „Mohren-Apotheke“: eine geradezu klassische Darstellung, die doch wohl nicht mehr schockieren muss. (Screenshot)

Zumindest steuert die – seltsam gestrig benannte – „Kommunale Ausländer- und Ausländerinnenvertretung“ (KAV) stracks auf ein Verbot zu. Der Magistrat solle unverzüglich einschreiten, weil „in Frankfurt am Main kein Platz für Rassismus ist“, wie die formelhaft herunter geleierte Begründung lautet. Haben die in Frankfurt keine anderen Sorgen und Probleme, als aus heiterem Himmel solche nutzlosen Spiegelfechtereien anzuzetteln?

Die alten Bücher umschreiben

Hier ist mal wieder derselbe Furor am Werk, der am liebsten immerzu eingreifen und untersagen würde – eine durchaus „deutsche“ Untugend, auch und gerade unter „linken“ Vorzeichen. Am besten wär’s nach dieser Lesart, wenn man beispielsweise die Bücher von Astrid Lindgren, Michael Ende und vielen anderen Autoren gründlich umschriebe, wenn man so manche missliebige Kinoszene aus Filmen herausschnitte. Da waltet der ach so wohlmeinende Ungeist von Zensoren, die sich immerzu berufen fühlen, für uns alle zu handeln. Sie wünschen sich eine quasi keimfreie Welt ohne jede Verletzung. Schlimmer noch: Sie drohen unentwegt mit deren alsbaldiger Herbeiführung.

Lauert denn nicht auf jeder Seite, in jeder Szene ein Affront, den die hyperempfindlichen, daher gramgebeugten und schließlich doch aufrechten Recken der politischen Korrektheit aufspüren und flugs beseitigen müssen? Just jetzt ereilte uns ja auch die Nachricht, dass ein herzlich harmloses, ja ausgesprochen sanftmütiges Gedicht Eugen Gomringers von einer Berliner Hochschulwand getilgt wird, weil sich überaus frauenbewegte Menschen davon „sexistisch“ angegriffen fühlen wollen. An dieser Stelle haben wir über das blödsinnige, kulturfeindliche Unterfangen schon ratlos den Kopf geschüttelt.

Gleich wieder am großen Rad drehen

Ginge es einem einzigen Einwohner, einer einzigen Kundin besser, wenn die Apotheken nicht mehr so hießen? Wären die dort verkauften medizinischen Mittel dann eventuell sogar wirksamer? Mir würden viele Verhältnisse einfallen, in denen sich alltäglicher Rassismus weitaus deutlicher und schmerzhafter zeigt als in solchen traditionellen Benennungen, die man nach so vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten schlichtweg hinnehmen oder ignorieren könnte. Im Falle einer der beiden Frankfurter Apotheken ist das „Mohren“-Motiv gar seit langer Zeit in die Hauswand eingelassen und gilt als denkmalwürdig. Aber nein! Da muss gleich wieder das ganz große Rad gedreht werden.

Haltestellenschild im Sauerland. Ist hier die sofortige Umbenennung erforderlich? (Foto: Bernd Berke)

Haltestellenschild im Sauerland. Ist hier die sofortige Umbenennung erforderlich? Dürfen ganze Orte Oberneger, Mittelneger und Unterneger heißen? (Foto: Bernd Berke)

Beim „Negerkuss“ (heute meist „Schokokuss“ oder „Schaumkuss“ genannt) kann ich die Empörung viel eher nachvollziehen, die Bezeichnung steht noch ganz anders und schärfer provozierend im Heute, sie sollte nun wirklich und selbstverständlich vermieden werden, ebenso wie etwa das „Zigeunerschnitzel“. Wobei sich etliche Zeitgenossen gerade durch derlei Einschränkungen bemüßigt fühlen, die Worte „jetzt erst recht“ herauszukrähen. Wat willze machen, wie wir im Revier sagen.

Auch in Dortmund gibt es eine…

Anders verhält es sich mit einem angestaubten, in ziemlich ferner Historie angesiedelten Wort wie „Mohr“, von dem sich wirklich niemand mehr attackiert fühlen muss. Es hat schon eher heraldische Qualität. In vorkolonialer Zeit konnte damit durchaus der „edle Schwarze“ gemeint sein, was freilich auch wieder so ein Klischee darstellt. Doch es ist vertrackt: Entfernt man zwiespältige Worte, so verschwindet keinesfalls wie von selbst die Haltung, die damit vermeintlich einhergeht.

Jetzt folgt noch der fulminante Ruhrgebiets-Regionalbezug: Auch in Dortmund gibt es eine „Mohren-Apotheke“, die ich nicht nur kenne, sondern auch sehr schätze – ungeachtet des Names. Allerdings habe ich insgeheim damit gerechnet, dass diese Benennung eines Tages plötzlich zum Thema werden könnte. Man kennt ja die Pappenheimer. Dass eine Stadt wie Frankfurt die Vorreiterrolle übernehmen würde, war zu erwarten.

Ein notorischer Witzbold hat unterdessen vorgeschlagen, die Dortmunder „Mohren-Apotheke“ vorsichtshalber und zugleich kostengünstig in „Möhren-Apotheke“ umzubenennen. Ruhe! Darüber lacht man doch nicht.




Überall auf der Welt ist Heimat – Zum Programm der letzten Ruhrfestspiele von Frank Hoffmann

Nein, Frank Hoffmann sieht aus wie immer. Erkennbar ist es nicht dem Alter geschuldet, daß diese Ruhrfestspiele seine letzten sein sollen. Aber nach 14 Jahren Intendanz ist es vielleicht an der Zeit, das Festival anderen, Jüngeren zu überlassen. Frank Hoffmann, 63 Jahre ist er jetzt alt, klebt erkennbar nicht am Intendantenstuhl, und das ehrt ihn.

„Barbarische Nächte oder der erste Morgen der Welt“ („Les Nuits Barbares“), eine Choreographie von Hervé Koubi (Foto: Nathalie Sternalski/Ruhrfestspiele)

Zudem ist 2018 das Jahr, in dem mit Prosper-Haniel in Bottrop die letzte Zeche des Reviers schließt, eine Epoche mithin zu Ende geht, die für das Ruhrgebiet und die Ruhrfestspiele von kaum überbietbarer Bedeutung war und ist. Ein guter Zeitpunkt, um abzutreten. Und ganz feierlich geschieht dies am 17. Juni im Festspielhaus, in der letzten Veranstaltung dieses Jahres mit dem Titel „Frank Hoffmann sagt Adieu“.

Nachfolger Olaf Kröck

Hoffmanns Nachfolger heißt übrigens Olaf Kröck, ist 45 Jahre alt und in dieser Spielzeit Interimsintendant des Bochumer Schauspielhauses, bevor dort in der nächsten Spielzeit Johan Simons das Zepter übernimmt. Der ist zwar schon über 70, aber wohl immer noch recht rebellisch. Wo fürderhin das jugendlichere, frischere Theater stattfindet, in Bochum oder in Recklinghausen, ist also keineswegs ausgemacht.

Es hätte auch Kohle heißen können

Zurück zu den Ruhrfestspielen, die in diesem Jahr, top aktuell wieder einmal, „Heimat“ betitelt sind. Es könnte einem schon der Gedanke kommen, daß der Arbeitstitel vielleicht doch eher „Kohle“ oder „Bergbau“ oder irgend etwas anderes in diesem Kontext gewesen sein könnte und man erst später auf Heimat umschaltete, als dieser Begriff durch die politische Diskussion (samt Gründung diverser „Heimatministerien“) plötzlich eine neue Aktualität bekam. Ist ja auch egal; Heimat eignet sich jedenfalls sehr gut als Überzeile, so lange nicht die Definition von Thomas Bernhard gilt „Heimat ist, wo man sich aufhängt“. Frank Hoffmann zitierte den großen, zornigen, zu früh und durch eigene Hand aus dem Leben gerissenen österreichischen Dramatiker nicht ohne Ernst, wenn auch mit der ihm eigenen Leichtigkeit.

Burghart Klaußner spielt in „Der Besuch der alten Dame“ (Foto: Ruhrfestspiele)

Ein Klassiker von Dürrenmatt

Von Thomas Bernhard, um jetzt endlich mal die Kurve zum Programm zu kriegen, ist leider nichts in demselben. Das Festival startet mit Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, den Frank Hoffmann selbst in einer Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater für die Ruhrtriennale inszeniert hat. Um Kohle geht es hier wohl eher nicht, wenn man das Vermögen der alten Dame Claire Zachanassian nicht Kohle nennen will; um Heimat geht es allerdings sehr wohl, um eine grausame, verstoßende Heimat, um Heimatverlust.

Nicht wenige Zuschauer werden dem „Besuch der alten Dame“ im Gymnasium begegnet sein, ein unbedingt respektables, sinnhaftes Stück, aber vielleicht auch etwas angestaubt. Man darf gespannt sein, was Hoffmann daraus macht. Auf jeden Fall stehen gute Leute auf der Bühne, beispielsweise Maria Happel und Burghart Klaußner in den Hauptrollen.

Hauptmann, Brecht und Shakespeare

Das zweite „große“ Stück im Großen Haus ist ebenfalls eine Koproduktion (mit dem Deutschen Theater Berlin). Im Kino wäre diese Produktion von „Vor Sonnenaufgang“ so etwas wie eine Neuverfilmung, für das Theater fehlt der entsprechende Begriff. Ewald Palmetshofer also, ein immer noch recht junger österreichischer (was sonst? Kommen ja alle aus Österreich, die jungen Dramatiker!) Dramatiker, hat Gerhart Hauptmanns gleichnamiges Stück über den abrupten Niedergang einer durch Bergbau reich gewordenen Bauernfamilie aktualisiert, Jette Steckel führt Regie. Ein bißchen geschraubt wirkt die Formulierung im Programmheft „Premiere der deutschen Erstaufführung bei den Ruhrfestspielen“, auch wenn sie letztlich zutrifft. Doch zu sehen war Palmetshofers Stück bereits in Basel (Regie: Nora Schlocker) und in Wien (Regie: Dušan David Pařízek). Die Kritiken fielen durchwachsen aus.

Weitere Theaterproduktionen auf der großen Bühne sind „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht in der Regie von Albert Ostermaier und ein „König Lear“ von Shakespeare in der Regie des Altmeisters Claus Peymann, der lange Zeit Intendant des Berliner Ensembles war. Diese Produktion allerdings entstand am Schauspiel Stuttgart, und den greisen König, der sich so grausam in seinen Töchtern irrt, spielt Peymanns alter Weggefährte (seit Bochumer Zeiten) Martin Schwab.

„Ruhrepos“ von Albert Ostermaier

Originell ist schließlich die letzte Produktion im Festspielhaus zu nennen. „Die verlorene Oper. Ruhrepos“ von Albert Ostermaier, eine Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Hannover, wandelt sozusagen auf den Spuren von Bert Brecht und Kurt Weill. Die wollten ein solches Epos schaffen, machten über und unter Tage fleißig Recherchen, 1927 sollte in Essen Premiere sein. Wegen „antisemitischer Hetze“ so das Programmheft, wurde das Projekt jedoch fallengelassen, und zwei Jahre später entstand in Berlin die „Dreigroschenoper“. Ich gebe das mal ohne weitere Überprüfung so wider, wohl wissend, daß Fragen bleiben. Nun also ein Epos von Albert Ostermaier. Regie führt Thorleifur Örn Arnarsson (what a name!).

Ganz familiär: „Home“ (Foto: Maria Baranova/Ruhrfestspiele)

„La Catastròfa“

Zwei bemerkenswerte, düster grundierte Liederabende harren der Erwähnung. „La Catastròfa“ erinnert, dargeboten von Etta Scollo und Joachim Król, an ein schweres Bergunglück in Belgien, 1956. 262 sizilianische „Gastarbeiter“ kamen bei einem Grubenbrand ums Leben. Sie wurden Opfer skandalöser, unmenschlicher Arbeitsbedingungen, die in bestem zwischenstaatlichen Einvernehmen (zwischen Belgien und Italien) auf Ausbeutung der billigen Arbeitskräfte ausgerichtet waren.

Den anderen Liederabend singt und gestaltet Ute Lemper. Ihre „Lieder für die Ewigkeit“ entstanden im Konzentrationslager Theresienstadt, das der NS-Propaganda als „Vorzeigelager“ diente und in dem etliche Künstler interniert wurden. Anrührende Musik im Angesicht des Todes – Victor Ullmann, Ilse Weber, Willy Rosen nennt das Programmheft namentlich.

Mitbewohner auf der Bühne

Etwas heiterer geht es in „Home“ von Geoff Sobelle zu, einer (wiederum zitieren wir etwas irritiert das Programmheft) „Kooperation mit BAM, Arizona State University – Gammage, New Zealand Festival und Edinburgh International Festival“, wo es um ein mehrgeschossiges Holzbauwerk auf der Bühne geht, in dem etliche Mitbewohner (wortlos) das Mitbewohnen in seinen zahlreichen mehr oder minder komischen Facetten proben.

Die Neue Philharmonie Westfalen spielt Smetana („Mein Vaterland“), man diskutiert („Forum Arbeit – Lied – Bewegung; Forum zum Thema Heimat und Lieder der deutschen Arbeiterbewegung“), und Konstantin Wecker führt samt Trio vor, was damit gemeint sein könnte („Konzert im Rahmen des Forums Arbeit – Lied – Bewegung“).

John Malkovich regt sich auf in „The Music Critic“ („Der Musikkritiker“) (Foto: Sandro Miller/Ruhrfestspiele)

Hollywood-Stars Malkovich und Murray

Ach ja, Hollywood! Es gibt ein Wiedersehen mit John Malkovich, der mit ihm eigener Verve Musikkritiken vortragen wird, sämtliche Verrisse. „The Music Critic“ verspricht höchst unterhaltsam zu werden (Idee und Konzeption: Aleksey Igudesman, Swiss Gart). Und Bill Murray kommt auch. Er, den einst täglich das Murmeltier grüßte und der sich „Lost in Translation“ wähnen mußte, führt bei diesen Ruhrfestspielen ein anregendes Bühnengespräch in englischer Sprache mit dem Cellisten Jan Vogler über klassische Musik und amerikanische Literatur. Mira Wang (Violine) und Vanessa Perez (Klavier) ergänzen die illustre Begegnung, und einige Male singt Bill Murray sogar – Klassiker des Great American Songbooks.

Mehrere afrikanisch grundierte Projekte springen ins Auge, die ihre Energie oft aus dem Zusammentreffen mit europäischen Sichtweisen schöpfen. „Barbarische Nächte oder Der erste Morgen der Welt“ („Les nuits barbares“) des Choreographen Hervé Koubi gehört dazu, eine Produktion mit Tänzerinnen und Tänzern aus Nordafrika, die sich mit der Faszination und den Ängsten befaßt, die der „schwarze Kontinent“ über Jahrhunderte bei den Europäern weckte. Gleichzeitig forscht Koubi, Kind algerischer Eltern, nach Spuren verschwundener Kulturen, sucht Mythen, Masken, Rituale und bindet sie in seine Arbeit ein.

Afrikanisches Tanztheater

„Ein Spiel namens Mut“ von Michael Ojake, koproduziert mit UFA Fabrik Berlin, vereint Spiel und Tanz und erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der beschließt, Nigeria zu verlassen und nach Europa zu gehen. Seine Pläne lösen im Dorf eine heftige Diskussion aus. Ähnliches geschieht in „A Man of Good Hope“, dargeboten im Theater Marl. Das Stück nach einem Roman von Jonny Steinberg dreht sich um den jungen Asad, der es von Somalia nach Südafrika schafft, wo das Leben auch kein Zuckerschlecken ist. Mittelalterliche Clan-Strukturen, staatliche Repression, Menschenhandel, Gewalt, Korruption und latenter Rassismus in den Townships sind stets gegenwärtig in dieser Produktion des Isango Ensembles Südafrika in Zusammenarbeit mit dem Young Vic London, Royal Opera, Repons Foundation, BAM und Les Théâtres de la Ville de Luxembourg.

Unterschiedliche Blickwinkel

Unbedingt zu erwähnen ist schließlich das Tanzprojekt, das aus den Teilen „The Choreonauts“ und „In Between/Digging in the Night“ besteht. Teil 1 verantwortet Afro-European Navigations in Dance, Teil 2, das wird jetzt lang, in einer Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Phumlani Nyanga und Helge Letonja, steptext dance project Bremen, Tanz! Heilbronn, Theater Bremen und Festival AFRICTIONS. Extravagante Black Dandys und Hipster in Johannesburg, obdachlose Müllsammler und Zuwanderer…  Es geht um sozialen Wandel, Veränderungsdruck, Reflexionen gesellschaftlicher Zustände, wahrgenommen aus den Blickwinkeln des Europäers Letonja und des Afrikaners Nyanga. Definitiv ein spannendes Projekt.

Beckmanns, Die Spielkinder (Foto: Die Spielkinder/Ruhrfestspiele)

Die Harfouch spielt Marine Le Pen

Weil es originell ist, ohne lustig zu sein, sei noch auf eine Produktion im Kleinen Haus hingewiesen: Dort spielt die grandiose Corinna Harfouch in einer Koproduktion mit dem Theater Magdeburg „Die Präsidentin“. Das Stück basiert auf der Annahme, Marine Le Pen hätte es in den Elisée-Palast geschafft. Wie wäre es dann weitergegangen, wie stringent griffen in einem solchen Fall die Mechanismen der Macht? Vorlage für diese gar nicht so bizarre Geschichte ist ein französischer Strip von François Durpaire und Farid Boudjellal, Regie führt Cornelia Crombholz.

Und natürlich wäre es reizvoll, dies mit Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ zu vergleichen, dem Stück, in dem das bürgerliche Lager Frankreichs im Bestreben, den Front National zu verhindern, Islamisten den Weg an die Spitze des Staates ebnet. Von Houellebecqs Protagonist François – in Hamburg hinreißend dargeboten vom großartigen Edgar Selge – weiß man, daß das Leben auch in solchen Fällen weitergeht, manchmal sogar ausgesprochen behaglich.

Wir sind die Beckmanns

So. Wir müssen zum Ende kommen. Letzte Erwähnungen sollen den Beckmann-Kids gelten, den Schauspiel-Sprößlingen Nils, Till, Maja und Lina, die alle ihr Ding machen, sich ab und zu jedoch zu überaus ergötzlichen gemeinsamen Bühnenlesungen aus dem Alltag treffen. „Die Spielkinder und Gäste“ heißt ihr (leider nur einmaliger) Auftritt bei den Ruhrfestspielen, und die Gäste sind Jennifer Ewert, Charly Hübner und Sebastian Maier.

Die Kunstausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen schließlich kommt in diesem Jahr von dem Künstler-Zwillingspaar Gert&Uwe Tobias, ist „ein multimediales Ausstellungsprojekt zur Kohle“ und geht über drei Etagen. Die Heilige Barbara fehlt hier ebenso wenig wie der Kanarienvogel und der große Naive Erich Bödeker, der wohl bekannteste Künstler der Stadt.

Das Festspielhaus wartet auf seine Gäste (Foto: Ruhrfestspiele)

Fringe vor dem Aus?

Wiederum bleibt vieles unerwähnt, vor allem viele Lesungen und Kabarett-Auftritte bekannter Künstler. Im Fringe-Festival (eigenes gelbes Programmbuch) wird wieder eine Menge originelle „Kleinkunst“ für alle Altersklassen geboten, und sollte Hoffmann-Nachfolger Kröck, wie in einem Zeitungsinterview angekündigt, Fringe tatsächlich abschaffen, wäre das sehr, sehr schade. Wie immer kann auch diese Programmankündigung nur mit der Empfehlung enden, sich nach Lektüre noch etwas schlauer zu machen.

Und was macht Hoffmann, wenn er in Recklinghausen nichts mehr macht? Nun, nach wie vor ist er ja auch noch Intendant des Luxemburger Nationaltheaters. Dort möchte er zukünftig häufiger Regie führen, mehr Stücke in französischer Sprache inszenieren.

Das reicht gewiß für den Moment. Für einen Nachruf wäre es noch etwas früh.

www.ruhrfestspiele.de




Die Masse als politischer Akteur: Zum 100. Geburtstag Gottfried von Einems zeigt Magdeburg seine Oper „Dantons Tod“

Am 24. Januar 1918, vor 100 Jahren, erblickte in Bern einer der bekanntesten Komponisten der fünfziger und sechziger Jahre das Licht der Welt: Heute nur noch Insidern der Operngeschichte ein Begriff, entfaltete Gottfried von Einem nach der Uraufführung seiner Oper „Dantons Tod“ in Salzburg das musikalische Nachkriegs-Leben in Deutschland und Österreich entscheidend mit. Magdeburg würdigt nun als bisher einziges deutsches Opernhaus von Einem mit einer Premiere seines erfolgreichen Opern-Erstlings von 1947.

Beim Wiener Verlag Kremayr und Scheriau erschienen: Joachim Reibers Biografie des Komponisten Gottfried von Einem. Coverabbildung: Verlag

Beim Wiener Verlag Kremayr und Scheriau erschienen: Joachim Reibers Biografie des Komponisten Gottfried von Einem. Coverabbildung: Verlag

Von 1948 an hatte Gottfried von Einem als Mitglied des Direktoriums der Salzburger Festspiele – mit Unterbrechung bis 1964 – weitreichenden Einfluss, gestützt durch seine hervorragende Vernetzung, unter anderem mit der Familie Wagner, den Komponistenkollegen Boris Blacher und Werner Egk oder dem in vielen Bereichen aktiven Rolf Liebermann.

Die Opern „Der Prozess“ nach Franz Kafka (1953) und „Der Besuch der alten Dame“ nach Friedrich Dürrenmatt (1971) sicherten dem eher konservativ eingestellten, der neuen Musik der Schönberg-Schule und der Darmstädter Kreise abholden „Componist“ – so die Selbstbezeichnung – einen festen Platz auf den Spielplänen der Opernhäuser, den er erst nach seinem Tod 1996 langsam einbüßte.

Mit „Jesu Hochzeit“ auf ein mystisch-esoterisches Libretto seiner zweiten Frau, der Schriftstellerin Lotte Ingrisch, verursachte von Einem 1980 in Wien einen veritablen Opernskandal. Gottfried von Einem verstand es, sich einerseits mit den Verhältnissen während des Dritten Reiches äußerlich zu arrangieren, half aber auch, Juden zu schützen und wurde daher 2002 posthum als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet. In Deutschland und Österreich galt von Einem dank seiner Oper „Dantons Tod“ als „Komponist der Stunde Null“ – eine Bezeichnung, die heute angezweifelt wird, etwa in der neuesten Biografie von Joachim Reiber.

Bogen von der Französischen Revolution bis zur NS-Diktatur

Die Vorlage zu von Einems Oper, Georg Büchners „Dantons Tod“ lässt sich von vielschichtigen Zeitebenen aus lesen: Da ist das Stück über die Französische Revolution, zugespitzt auf ein paar Wochen des Jahres 1794. Da ist der Blick des jungen, unruhevollen Geistes auf Danton, Robespierre, Saint-Just, Desmoulins und ihre Gefolgschaften aus der Perspektive der restaurativen Gesellschaft der 1830er Jahre in Deutschland, eingespannt zwischen brutaler Unterdrückung des politischen Lebens und gärendem Freiheitswillen. Da ist die illusionslose Realität des Polizeistaats Hessen-Darmstadt, in dem Büchner ein System von Bespitzelung, Willkür und Gewalt am eigenen Leibe erfährt. Und da ist, unvermeidlich, der Blick der eigenen Gegenwart auf den historischen Stoff.

Noa Danon als Lucile in "Dantons Tod" von Gottfried von Einem in Magdeburg. Foto: Kirsten Nijhof

Noa Danon als Lucile in „Dantons Tod“ von Gottfried von Einem in Magdeburg. Foto: Kirsten Nijhof

Gottfried von Einem zieht noch einmal eine Ebene ein: Unverkennbar reflektieren er und sein Librettist Boris Blacher – selbst ein begabter Komponist – die zwölf Jahre der braunen Diktatur. Das geschieht nicht direkt, sondern wirkt subtil, dem schnellen Blick kaum bemerkbar. Aber die Masse als politischer Akteur und gleichzeitig Material in den Händen weniger Demagogen, das „Volk“ als Faktor der ideologischen Auseinandersetzung führt über Büchner hinaus.

Gottfried von Einem hat mit dem Werk kurz nach dem Attentat auf Hitler 1944 begonnen. Er selbst beschreibt die Situation als „unerträglichen Druck“, unter dem wie er Millionen Menschen standen: „Ständige Spannung, Schrei nach Erlösung von ihr.“ Wie gebannt sei er unter dem Zwang des Stoffes gestanden: „Das Werk brannte ab mit mir, mit meiner Musik.“

In Magdeburg tut Intendantin Karen Stone gut daran, die Handlung nicht eindeutig zu verorten, weder im Paris des 18. Jahrhunderts noch im Ambiente einer der Diktaturen der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit. Die Szene von Ulrich Schulz, eine Brücke aus kaltem Metall, flankiert von zwei Treppen, öffnet oder schließt je nach Bedarf einen flexiblen Spielraum, der sich mit einer Tapete mit französischen Lilien in einen Wohnraum oder mit einem hochgefahrenen Lichtkäfig in ein Gefängnis verwandeln lässt. Auch Requisiten und Kostüme spielen mit den Zeitebenen, lassen an Barock, 68er oder die uniformierten Einheitsschnitte östlicher Diktaturen denken.

Inszenierung rückt Rolle der Massen in den Mittelpunkt

Stone rückt in ihrer Inszenierung die Rolle der Massen in den Mittelpunkt. Unterstützt von Choreograph David Williams sucht sie den Weg zu stilisierter Aktion, die der Falle des so gut wie immer unglaubwürdigen Bühnen-„Realismus“ entgeht. Das gelingt nicht durchweg: Die zweite Szene, in der ein junger Adliger (Peter Diebschlag) gelyncht werden soll, sieht ein wenig aus wie eine schlechte Victor-Hugo-Verfilmung.

Aber wenn Stone bei den großen Reden Robespierres und Dantons das Volk wie in Trance wandeln lässt, wenn sie in der Gerichtsszene des zweiten Teils den unheimlichen Sog zeigt, der jede Individualität von den Einzelnen abzieht, machen die gleichgeschalteten Bewegungen dieser Marionetten und ihre mechanischen Reaktionen auf den Bann der Macht deutlich, wie wenig sich der Einzelne, und sei er ein mutiger Revolutionär wie Danton, der Wucht der Masse entziehen kann.

„Wir sind das Volk und wir wollen, dass kein Gesetz sei …“ skandiert eine zwielichtige Menge. Robespierre schafft es, die ungeordnete Menschenschar in Reih‘ und Glied hinter sich zu bringen. „Égalité“ prangt in blutigen Lettern im Hintergrund – und Gottfried von Einems Musik spiegelt das emotional wirksame Pathos, das wir aus den Aufmärschen aller Diktatoren der Welt nur zu gut kennen. Die Statisterie und der von Martin Wagner höchst sicher einstudierte Chor haben diese Szenen bravourös bewältigt und die Faktur der für viele wohl völlig unbekannten Musik bis hin zum „Brüllen“ der Menge anstandslos umgesetzt.

Der „Blutrichter“ zeigt die unheimliche Einsamkeit der Macht

Sobald es um die Rolle von Einzelnen im Getriebe der Revolution geht, wird Stones Regieansatz unschärfer, zeichnet am ehesten noch Robespierre als einsamen Gesinnungstäter durch: Stephen Chaundy färbt seinen Tenor schneidend-gequält, um die eisige Tugend-Ideologie eines Mannes darzulegen, der eine Welt zurücklässt, die er mit den Worten der Bibel für das Chaos vor der Schöpfung beschreibt: wüst und leer. Die unheimliche Einsamkeit der Macht, die glaubt, sie mache sich nicht die Hände schmutzig: Während der Vorhang langsam fällt, zieht sich der „Blutrichter“ der Revolution Handschuhe über.

Szene aus dem zweiten Teil von "Dantons Tod" im Bühnenbild von Ulrich Schulz. Foto: Kirsten Nijhof

Szene aus dem zweiten Teil von „Dantons Tod“ im Bühnenbild von Ulrich Schulz. Foto: Kirsten Nijhof

Danton wird im puffigen Pink eines Vergnügungsetablissements als Epikureer eingeführt, für den „liberté“ wohl eher in Richtung eines Libertinismus zu lesen sei: Jeder möge seine Natur ausleben und auf diesem Wege selig werden. Zu wenig, um die markigen Ansprachen zu erklären, mit denen sich Peter Bording später mit beeindruckender deklamatorisch gefasster Stimmwucht zu verteidigen sucht. Johannes Stermann gibt als Saint-Just den „Mann aus dem Volk“, dessen todbringenden Einfluss auf Robespierre und das Tribunal er mit der Gelassenheit des Siegers ausspielt.

Auch Simon (Paul Sketris) ist eine zwielichtige Figur, die mit roter Mütze als Einpeitscher oder williges Echo durch die Szene geistert. Amar Muchhala bemüht sich nach Kräften, mit seinem schlank-klaren Tenor den Alpträumen des traumatisierten Camille Desmoulins im Gefängnis Ausdruck zu geben, wird aber szenisch von der Regie eher allein gelassen.

Eine Oper für Frauen ist „Dantons Tod“ wirklich nicht; dennoch war die Rolle der Lucile bei der Uraufführung in Salzburg mit Maria Cebotari prominent besetzt. In Magdeburg tritt Noa Danon in die Fußstapfen ihrer großen Vorgängerin und erfüllt die entscheidenden Szenen am Ende des dritten und des sechsten Bildes mit Stimmglanz und Gestaltungskraft. Wenn sie über den Leichen das alte Volkslied „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“ anstimmt, fasst sie das Elend des einzelnen Menschen angesichts des grässlichen Fatalismus der Geschichte in einem anrührenden Moment zusammen. Über ihr glänzen die Schlagworte der Revolution auf der Schneide einer riesigen Guillotine im Blut.

Handwerklich sattelfeste Musik

Gottfried von Einems Musik lässt hören, dass sich da jemand mit dem Studium des „strengen Kontrapunkts“ handwerklich sattelfest gemacht hat, bevor er dem Genius der Inspiration freien Flug zugestand. Die hochdifferenziert ausgearbeitete Partitur gebraucht die Mittel des Orchesters sich souverän beschränkend, kammermusikalisch filigran, aber auch mit Gewicht und Klangpracht, wenn es auf (falsches) Pathos oder aufgewühlte Massenszenen ankommt.

Kimbo Ishii und das Magdeburger Orchester widmen sich der Musik mit Klangsinn und Präzision, lassen hören, wie sich von Einem der tonalen Tradition zugehörig fühlt, aber sich auch die Freiheit zu einer Moderne nimmt, die sich nicht an den damals tonangebenden Richtungen zeitgenössischer Musik orientiert.

Schöne Melodie für zwei Henker

Die schönste Melodie erfindet von Einem für die beiden Henker (Frank Heinrich und Alejandro Muñoz Castillo), die nach getaner Arbeit nach Hause gehen: Ganz „normale Männer“, die den schönen Mond besingen – so wie die Hunderttausende von Tätern des Dritten Reiches. Ein Hinweis auf die Gefährlichkeit des deutschen romantischen Gefühls, der schaudern lässt.

Von Einems Oper ist ein Werk kultivierter Autoren für ein gebildetes Publikum, ein kaum dramatisch motiviertes Philosophieren in Musik. Der Hunger nach Geist hat im Jahr 1947 dieses Werk sicher mit Sehnsucht begrüßt. Dass diese Reflektion über die Bedingungen und Grenzen der Freiheit und der an Büchner angelehnte fatalistische Blick auf den Lauf der Geschichte in den achtziger und neunziger Jahren aus der Zeit gefallen schien, ist verständlich. Heute, mit dem Plärren des „Volks“ im Hintergrund, blitzt in „Dantons Tod“ wieder eine Zeit-Aktualität auf, die es lohnend macht, sich jenseits einer Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag eines verdienten Autors mit dem Stück zu beschäftigen.

Magdeburg war der mutige Vorreiter – die bisher einzige deutsche Bühne, die sich in dieser Spielzeit an von Einem gewagt hat. Es folgt noch „Der Besuch der alten Dame“ in Radebeul am 26. Mai. Wien würdigt von Einem mit der Premiere von „Dantons Tod“ an der Staatsoper am 24. März und von „Der Besuch der alten Dame“ im Theater an der Wien am 16. März 2018.




Mit Nacktbildern auf dem Handy beginnt eine tödliche Geschichte – Jan Mehlums Krimi „Kalte Wahrheit“

Es ist ein sehr aufgewecktes Mädchen, das da eines Tages in der Kanzlei von Rechtsanwalt Svend Foyn steht und eine recht ungewöhnliche Bitte an ihn heranträgt: Er solle doch herausfinden, wer denn eigentlich ihrer Schwester Elvira regelmäßig Nacktbilder auf deren Handy sendet.

Die junge Besucherin hat auch gleich einen Beweis mitgebracht und zeigt dem Juristen auf dem eigenen Smartphone eines dieser Fotos, die die Schwester weitergeleitet hat. Dem Wunsch des Mädchens nachkommen kann der Anwalt aber nicht, sie ist minderjährig und in dem Alter darf sie ihm keinen offiziellen Auftrag erteilen.

War es wirklich Selbstmord?

Als die Familie kurz danach Elvira tot in der Badewanne findet, ist Foyn erschüttert. Alles deutet darauf hin, dass sie sich selbst das Leben genommen hat. Doch an einen Freitod mag der Anwalt Jan Mehlums norwegischem Krimi „Kalte Wahrheit“ nicht glauben.

Der Jurist hegt den Verdacht, dass das Mädchen umgebracht wurde. Während er mit eigenen Erkundungen beginnt, gerät er selbst ins Visier der Kriminalpolizei. Elvira hat ein Tagebuch geführt und ihren Besuch in der Kanzlei erwähnt. Nun hat Svend Foyn zwar schon oft mit der Kripo zusammengearbeitet (der Roman ist der 15. mit ihm in der Hauptrolle), aber natürlich stellen sich die Ermittler die Frage, ob der Anwalt wirklich eine reine Weste hat.

Verdächtiger Freund der Familie

Dessen Interesse richtet sich auf Elviras Familie und die engsten Freunde. Da er gut vernetzt ist, gelingt es ihm sehr schnell, mehr über die Vergangenheit der Angehörigen und deren Bekannten herauszufinden. Vor allem wendet er seine Aufmerksamkeit einem Mann zu, der von Berufs wegen eigentlich über alle Zweifel erhaben sein sollte, arbeitet er doch als Katechet. Doch die dunklen Seiten dieses Freundes der Familie könnten eine Spur ergeben, hat er doch eine Vorliebe für sehr junge Mädchen.

Während Foyn auf eigene Faust seine Nachforschungen weitertreibt und dazu auch gern mal Recht und Gesetz für sich selbst außer Kraft setzt, um in fremde Häuser einzudringen, gewinnt die weitere Entwicklung an Dramatik. Denn plötzlich ist die Schwester des toten Mädchens verschwunden und lediglich eine Karte, die sie aus Dänemark schickt, ist noch ein Lebenszeichen – vorausgesetzt, sie hat die Karte auch selbst geschrieben und verschickt.

Der mehrfach preisgekrönte norwegische Autor knüpft immer wieder neue Handlungsstränge. Den Überblick kann man trotz verwobener Erzähllinien durchaus bewahren. Im Mittelteil weist der Krimi hier und da ein paar Längen auf. Doch die ungeahnten Wendungen gegen Ende sind wieder spannender Lesestoff.

Jan Mehlum: „Kalte Wahrheit“. Kriminalroman. Grafit-Verlag, Dortmund. 382 Seiten, 12 Euro.




Kein dürres Gedenkdatum: Was mir der Élysée-Vertrag und die deutsch-französische Freundschaft persönlich bedeuten

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Was sehe ich denn da im Gedenktagekalender? Der deutsch-französische (oder auch französisch-deutsche) Élysée-Vertrag jährt sich heute zum 55. Mal? Für mich ist das kein abstraktes Datum aus ferner Vergangenheit. Es ist mit persönlicher Bedeutung angefüllt. Lasst mich kurz davon erzählen.

Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichneten das historische Vertragswerk am 22. Januar 1963. Damit wurde die fürchterliche „Erbfeindschaft“ zwischen beiden Ländern, die in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts so viele Menschenleben kostete, höchst offiziell und feierlich beendet. Und es blieb gottlob keine bloße Symbolik.

Tatsächlich herrscht seit 1945 und erst recht seit 1963 dauerhafter Frieden zwischen diesen beiden Völkern, etwaige Konflikte klärt man zeitnah bei regelmäßigen Konsultationen. Dabei spielt es bisher keine Rolle, welche Regierung jeweils am Ruder ist. Und die europäische Einigung wäre ohne Frankreich und Deutschland nicht so immens vorangeschritten – mancherlei Mängel inbegriffen, von denen wir aber jetzt einmal absehen wollen.

Dortmund verkündete schon 1960 Partnerschaft mit Amiens

Im Gefolge des Vertrages gab es nicht nur zahlreiche Jugendbegegnungen zwischen beiden Ländern, es entstanden auch etliche Städtepartnerschaften. Dortmund war ganz früh mit von der Partie, schon vor dem Élysée-Vertrag. Man knüpfte Verbindungen zu Amiens und proklamierte die Partnerschaft bereits 1960. Just aus Amiens kamen die Kinder, mit denen fortan viele Dortmunder Kinder- und Jugendgruppen einige Wochen der Sommerferien verbrachten. Ich durfte mehrmals dabei sein. Schon kurz nach der Anfangsphase. Welch ein Glück des Beginnens.

Urlaub mit meinen Eltern habe ich so gut wie gar nicht erlebt, höchstens mal ein paar Tage an der holländischen Küste oder in der Eifel. An Fliegen oder gar Fernreisen war noch nicht zu denken, ein eigenes Auto hatten wir damals auch nicht. Statt dessen ging’s – erstmals mit elf Jahren – mit dem Bus auf deutsch-französische Gruppenreisen, zunächst dreimal nach Mollseifen im Sauerland, später nach Rieseberg/Königslutter (Niedersachsen), einmal auch nach Sanary in Süfrankreich und nach Marina di Massa in Italien.

Wie Pfadfinder am Lagerfeuer - die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Nach Pfadfinder-Art am Lagerfeuer: die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Herrliches Gemeinschaftserlebnis

Sauerland klingt für heutige Begriffe vielleicht langweilig, war aber als Gemeinschaftserlebnis wunderbar und teilweise abenteuerlich nach Pfadfinder-Art. Allein die Schnitzeljagden, Budenbauten und Indianerspiele in den Wäldern… Ich will nicht behaupten, dass man davon bis heute zehrt. Aber unvergesslich sind so manche Augenblicke doch. Und es will mir scheinen, als sei dies noch wirkliche Kindheit gewesen.

Leider hatten wir anfangs in der Schule noch keinen Französisch-Unterricht, so dass die Kommunikation überwiegend nonverbal erfolgen musste. Doch wie gut das unter uns Kindern ging! Für Zweifelsfälle waren da ja auch noch ein sprachkundiger „Moniteur“ bzw. eine „Monitrice“ (GruppenleiterIn). Wenn wir zusammen durch die Wälder streiften, hitzige Wettspiele austrugen, miteinander malten oder einander Lieder aus dem jeweiligen Land vorsangen, spielte Sprache eh nur eine Nebenrolle.

Die Jungs aus Frankreich waren galanter

Mit der Zeit bemerkten wir auch Unterschiede, die teilweise den Klischees entsprachen: Gleichaltrige französische Jungs waren einfach „früher dran“ und entschieden frecher, was den galanten Umgang mit Mädchen anbelangte; die französischen Mädchen wiederum hatten – wie soll man sagen – vielfach mehr Geheimnis und schon früh etwas Apartes, Anmutiges. Oder war’s eher das lockende Unbekannte, das einen verwirrte? Allein, dass sie mit so wohlklingenden Lauten sprachen, deren Wortsinn sich einem nicht erschloss. Jedenfalls glaube ich, dass aus der Zeit meine – und nicht nur meine – spätere Vorliebe für französische Filme (Truffaut, Rohmer, Rivette etc.) herrührte. Ja, in jenen Ferienzeiten erfuhren wir vielleicht einen Hauch von Nouvelle Vague…

Ich erinnere mich an jenen Tag, als abends „Teppichtanz“ gespielt wurde, in dessen Verlauf man sich unschuldige Küsschen geben durfte. Doch schon das brachte uns ca. Dreizehnjährige einigermaßen in (bestenfalls halbwegs begriffene) Wallung. Sagte nicht eine Monitrice nach Ende des Spiels zu ihrem Kollegen, das habe uns wohl zu sehr aufgeregt? Was sie wohl gemeint hat? Wenn Adenauer und de Gaulle geahnt hätten, was sie uns da beschert haben… Adenauer hätte vielleicht mit rheinischem Zungenschlag einen seiner Lieblingssätze gesagt: „Meine Herren, die Situation ist da…“

„Hitler – c’est fini…“

Und der Krieg? War anfangs noch keine 20 Jahre her, spielte aber unter uns Kindern praktisch keine Rolle mehr. Alles schmeckte so herrlich nach Neuanfang. Einmal sagte ein kleiner Franzose mit plötzlichem Ernst zu uns: „Hitler (sprich: „Itlère“) – c’est passé, c’est fini!“ Hatten sie ihm zu Hause wohlmeinend aufgetragen, das zu sagen? Egal. Jedenfalls haben wir ihn verstanden und waren wirklich erleichtert.

Diese bedeutsamen kleinen Momente. So unscheinbar, doch noch nach Jahrzehnten präsent.




Hochglanz am Klavier: Die gestylten Gebrüder Jussen spielen mit den Essener Philharmonikern Musik von Francis Poulenc

Inszenierter Glamour: Lucas und Arthur Jussen. Foto: Carli Hermes

Inszenierter Glamour: Lucas und Arthur Jussen. Foto: Carli Hermes

Arthur und Lucas Jussen werden zur Zeit mächtig gehypt. Ein wenig freundlich-verspielt, dann wieder lässig cool und mit gewagt dosiertem Sex-Appeal präsentieren sich die Brüder hochglanzumschimmert, um sich in der großen Schar der „Ausnahme“-Pianisten zu profilieren. Auch künstlerisch werden sie mit Marketing-Lorbeeren umkränzt und es werden ihnen Hymnen gesungen, bei denen man nie so genau weiß, welche Sätze aus einer PR-Abteilung kommen.

Die beiden stylishen Jungs scheinen gut in die Gesetze des Musikbetriebs zu passen: Ihr Auftritt in der Essener Philharmonie beim Sechsten Symphoniekonzert der Philharmoniker hatte eben jenen Touch jugendlicher Unbekümmertheit, mit dem man die beiden als dynamische Boys zwischen Teenie- und Erwachsenenalter vermarkten kann.

Sie brachten das d-Moll-Konzert für zwei Klaviere von Francis Poulenc mit, das sie auch auf einer vielgelobten Aufnahme bei ihrem marktmächtigen Plattenlabel eingespielt haben. Nicht gerade eine Wahl, die den Mainstream bedient, und von daher schon neugierig machend. Aber das Publikum wurde ja auch mit dem „Boléro“ zum Ende hin ohrwurmaffin getröstet.

Die Ravel’sche Apotheose des Rhythmus prägt auch den ersten Satz des Poulenc-Konzerts: Das üppig besetzte Schlagwerk trumpft erst einmal auf; seine heftigen Attacken und sein Puls dominieren auch die Exposition der Klaviere. Poulenc führt das melodische Element kaum über Floskeln und Episoden hinaus zu einer geschlosseneren, fassbaren Form.

Die Klaviere machen das Spiel zunächst mit, in der zweiten Satzhälfte aber wirkt es, als seien sie des rhythmischen Impulses müde. Se erheben sich über Pizzicati und Kastagnetten-Echos mit träumerisch in sich versunkenen, manchmal spieluhrenartigen, dann wieder quasi improvisierenden Abschnitten. Arthur und Lucas Jussen nehmen diese Momente kühl-versonnen, mit perlendem Spiel.

Dass ihre Koordination, ihr Einverständnis, ihre innere Verbundenheit makellos ist, zeigen sie spätestens im ausdrücklich mit Mozart verbundenen – sogar das d-Moll Konzert KV 466 zitierenden – Mittelsatz. Sie präsentieren die Melodie ohne romantischen Anflug, genauso distanziert wie Poulenc sie aufgefasst hat. Das Orchester sprengt bald das „klassische“ Maß und macht klar, dass wir uns nicht mehr am Ende des 18. Jahrhunderts befinden.

Im dritten Satz mit seinem Allegro molto und seinen rhythmischen Verspieltheiten zeigen die Brüder an den Flügeln endgültig, was sie können: Tempo, Agogik, Dynamik, Anschlagsfarbe wirken, als würde ein Geist und ein Gefühl in zwei Körpern agieren. Man wird sich auf die nächsten Auftritte der beiden Niederländer freuen dürfen: am 17. April in Münster, am 12. Juni in Hagen, am 17. Juni in der Philharmonie Essen und am 30. Juni in Köln.

Unter dem Dirigat von Jun Märkl eröffneten die Essener Philharmoniker das Debussy-Jahr – zum 100. Todestag des bahnbrechenden Komponisten der Moderne am 25. März – mit „En blanc et noir“, einem frühen Klavierstück, das von dem englischen Komponisten Robin Holloway 2002 für Orchester bearbeitet wurde. In gewisser Weise ein Missverständnis, denn der Neoromantiker Holloway instrumentiert zwar im Sinne früherer Orchesterwerke Debussys, lässt aber den schon im Titel angedeuteten Willen außer Acht, die Farben zu reduzieren.

Im Bezug auf die barocke französische Musik Rameaus und Couperins und mit Verweis auf die „Grisaillemalereien von Velasquez“ ging es Debussy bei dem 1915 im Krieg entstandenen Werk um Transparenz, Klarheit und eine gewissen Härte, wie sie im Schwarz-Weiß-Gegensatz ausgedrückt wird.

Ungeachtet aller raffinierten instrumentalen Details, von den Philharmonikern (Bassklarinette, Harfe, Horn, Trompete) liebevoll nachgezeichnet, ist es fraglich, ob das Stück so wirklich den „spirit of Debussy“ trifft, wie Holloway meint. Zu hören sind delikate und herbe Momente, von Märkl sorgsam herausgearbeitet, die aber dann doch eher an die wagnerischen und „impressionistischen“ Seiten Debussys erinnern.

Ja, die „Images“, die klangliche Malerei und Koloristik, die Debussy anstrebte, ohne sich die Parallelen zur bildenden Kunst allzu sehr anzueignen oder gar dem „Impressionismus“ als Stil zu huldigen – sie sind ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich Kunst-Debatten führen lassen, um zum Kern der Begriffe vorzustoßen. „Ibéria“ stammt aus den „Bildern“ für Orchester und greift – darin Ravels „Boléro“ verwandt – spanische Instrumente und Elemente der Folklore der iberischen Halbinsel auf, überträgt sie aber in ein kunstvolles Idiom, das jeden Gedanken an ein Imitat verbietet.

Die Essener Philharmoniker geben den „Images“ eine plastische Leuchtkraft, in der die Instrumente vom rhythmischen Tamburin bis zur ätherischen Fraktion von Harfe und Celesta brillieren können. Zum Schluss der „Boléro“: vorhersehbare Begeisterung im Publikum.




Ein paar unmaßgebliche Stichworte zur GroKo-Entscheidung

Aus meinem Notizblock und Zettelkasten: nur ein paar unmaßgebliche Stichworte zur GroKo-Vorentscheidung der SPD.

Welch eine Woche! Erst "Friederike" (siehe Bild) - und nun der GroKo-Vorentscheid... (Foto: Bernd Berke)

Welch eine Woche! Erst der heftige Januar-Sturm „Friederike“ (siehe Bild) – und nun der GroKo-Vorentscheid… (Foto: Bernd Berke)

  • Zunächst 100 Wortmeldungen à 3 Minuten beim Sonderparteitag, dann tatsächlich rund 50 kontroverse Redebeiträge – ist das nicht ein gutes Zeichen für innerparteiliche Demokratie? Selbst FDP-Chef Lindner, der uns das ganze Gezerre eingebrockt hat, zollte Respekt wegen der offenen Debatte. Man nimmt es amüsiert zur Kenntnis.
  • Das 56,4-Prozent-Ergebnis pro GroKo kommentiert ein Freund auf Facebook so: „Selbstmord aus Angst vor dem Tod“.
  • Mir selbst kam in den Sinn: „Wer hat sich verraten? Sozialdemokraten.“
  • Sonntags in Bonn: Ortssymbolik des ehemaligen Regierungssitzes, die „gute alte Zeit“ der BRD, als man z. B. noch aus voller Brust „Willy wählen“ sagen konnte; als Herbert Wehner und Helmut Schmidt noch leibten und lebten. Obwohl dieses Trio auch nur sehr bedingt miteinander konnte.
  • Ziemlich wenig Beifall für Martin Schulz‘ Rede, sein Anteil am Pro-Entscheid dürfte gering zu veranschlagen sein, wenn er nicht gar seinem „Anliegen“ (welches wäre das genau?) geschadet hat. Womöglich haben auf die letzte Minute Stellungnahmen der Altvorderen (Hans-Jochen Vogel, Erhard Eppler) den Ausschlag pro GroKo gegeben. Es wird wohl bald ohne Schulz gehen müssen.
  • Man könnte ganze Leitartikel darüber schreiben, ob die Zwergenmützen auch für eine Tendenz zur Selbstverzwergung der SPD stehen könnten. Man kann’s aber auch lassen. Jedenfalls ein hübsch-hässliches Detail für die bildgierigen Fernsehleute.
  • Folgen jetzt noch zähe Nachverhandlungen, bei denen niemand sein Gesicht (falls vorhanden) verlieren will? Oder geht alles ganz schnell in Richtung „Weiter so“?
  • „Bätschi“-Nahles hat mal wieder volle Kanne geredet: Man werde „nachverhandeln, bis es quietscht…“ Mit Verlaub: Die Frau hat eine unangenehm wuchtige Aufdringlichkeit.
  • Frohlockt jetzt das nicht-populistische Europa? Kriegen wir ein kleines Lob vom großen Macron?
  • Käme es wirklich zur GroKo, wäre die AfD – wenn auch knapp – zahlenmäßig stärkste Oppositionspartei. Die freuen sich schon auf ihre ungeahnten Profilierungs-Chancen.
  • Wenn man bedenkt, wie Schulz nach den Bundestagswahlen jede SPD-Beteiligung an einer Regierung ausgeschlossen hat – darf man seine SPD nun „Umfaller-Partei“ nennen? Den Titel hatte früher einmal die FDP exklusiv für sich.
  • Juso-Chef Kevin Kühnert ist quasi über Nacht zu einem der prominentesten Sozis geworden. Wird er bald am Kanzleramtstor rütteln und rufen „Ich will hier ‚rein?“ Aber wie denn, wenn die Partei nur noch 17 Prozent der Wählerstimmen bekommt? Falls es gut läuft.
  • Die GroKo-Befürworter sollten sich nicht zu früh freuen. Das alles war ja heute nur eine Vorentscheidung, nach den Sondierungen nun auch in Koalitionsverhandlungen einzutreten. Etwa 440.000 SPD-Mitglieder (schaut mal nach, wie viele es früher mal waren) werden am Schluss über das Resultat dieser Koalitionsverhandlungen abstimmen. Das wird kein leichter Gang.
  • Erste Idee für einen Schlager im Stil der 1920er Jahre: „Gab’s im Rokoko / denn eine NoGroKo?“

 




Hochstapler und ehrbarer Kaufmann – spannungsreiche Gegenüberstellung im Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“

Es sind die Porträts zweier gegensätzlicher Charaktere, die hier zwischen denselben zwei Buchdeckeln zusammengebracht werden: Erich Wulffens Psychologie des Hochstaplers von 1923 und Oswald Bauers klassisches Handbuch Der ehrbare Kaufmann und sein Ansehen, das zuerst 1906 erschienen ist.

Um diese beiden Wiederentdeckungen in dem Rahmen zu würdigen, in dem sie jetzt neu erscheinen, sei kurz auf den Verlag hingewiesen. Er heißt Das kulturelle Gedächtnis, und der Name ist Programm. Das Ziel der Kuratoren ist, wie es im ersten Verlagsprogramm heißt, „notwendige Bücher der Literatur- und Kulturgeschichte neu zu verlegen – um so schon gemachte Erfahrungen einzubringen, erreichte Standards des Denkens und Schreibens hochzuhalten.“

Dieses anspruchsvolle Programm verantworten vier Kenner, die im Literaturbetrieb langjährige Erfahrungen gesammelt haben: Thomas Böhm, Peter Graf, Carsten Pfeiffer und Tobias Roth. Im Frühjahr 2017 ist diese schöne Buchreihe zum ersten Mal in Erscheinung getreten, mit einer Neuveröffentlichung von Voltaires Tragödie Le Fanatisme ou Mahomet le prophète, die 1741 uraufgeführt wurde und 2017 in einer neuen Übersetzung von Tobias Roth unter dem Titel Der Fanatismus oder Mohammed erschienen ist.

Fake News von 1835, Flüchtlingsschicksal von 1754

Eine weitere historische Veröffentlichung im selben Verlagsprogramm, die an Aktualität nichts zu wünschen übrig lässt, liefert ein frühes Beispiel für Fake News: Die astronomische Entdeckung von Bewohnern des Mondes, heute eine allzu leicht zu durchschauende Lügengeschichte, die aber 1835 mit einem vorgeblich wissenschaftlichen Garanten die Auflage der New York Sun in die Höhe schnellen ließ.

Ein Flüchtlingsschicksal beschreibt ein drittes Buch aus dem Verlagsprogramm: Bereits der lange Weg zur Küste hat das aufgesparte Geld verzehrt; Gebühren, Bestechungsgelder für Schlepper, überteuerte Camps mit Massen an Ausreisewilligen. Einige ertrinken oder werden auf der Überfahrt verhungern, an Krankheiten und Auszehrung sterben – das Buch heißt Reise in ein neues Leben und handelt von dem Schwaben Gottlieb Mittelberger, der sich 1754 auf den Weg nach Amerika aufmachte.

Als Walt Whitman den Schmelztiegel New York pries

Mit dem zweiten Verlagsprogramm im Herbst 2017 folgte die deutsche Erstveröffentlichung eines Romans von Walt Whitman. Der Autor ist vor allem durch sein Hauptwerk Leaves of Grass (dt.: Grasblätter) bekannt. Sein 1852 anonym erschienener Roman Life and Adventures of Jack Engle jedoch konnte erst 165 Jahre nach seiner Veröffentlichung dem richtigen Autor zugeordnet werden und erschien 2017 unter Whitmans Namen erstmals auf Englisch und in deutscher Übersetzung durch Stefan Schöberlein unter dem Titel Das abenteuerliche Leben des Jack Engle. Walt Whitman lobpreist in der Romanhandlung die multikulturelle Metropole New York als einen Schmelztiegel, in dem Menschen aus allen Nationen zusammenhalten, um einen Schwachen gegen die Übermacht der Herrschenden zu verteidigen.

Ebenfalls im Herbst erschien neu Ernst Ottwalts Justizroman Denn sie wissen was sie tun, über dessen Protagonisten Kurt Tucholsky 1932 schrieb: Er „ist das Produkt von Erziehung, Kaste und System. Es ist gut gesehen, wie die Rädchen des großen Unrechtgetriebes ineinander greifen, Akte auf Akte, Paragraph auf Paragraph, (…) und zum Schluss ist es keiner gewesen.“ Ein Schelm, wer dabei an aktuelle Gerichtsverfahren denkt.

Gelassenheit, Widerborstigkeit, Liebe zur Buchkunst

Aber die Gruppe der vier Kuratoren belässt es in ihrem Verständnis vom kulturellen Gedächtnis nicht bei einem bequemen Alles-schon-mal-Dagewesen. Sie wollen die Erfahrungen der Vergangenheit für die Gegenwart nutzbar machen, und neben den sich aufdrängenden Parallelen zur Jetztzeit werden auch die historischen Unterschiede und Entwicklungen deutlich. „Dieses Ziel verfolgen wir mit heiterer Gelassenheit, Widerborstigkeit und mit Liebe zur Buchkunst.“

Gegensatz zwischen Diplomatie und Duell

Innerhalb der ohnehin nicht hoch genug zu lobenden Initiative dieser Verlagsgründung soll an dieser Stelle ein Buchformat besonders in den Fokus gerückt werden: die von Thomas Böhm konzipierte und kuratierte Reihe GEGENSCHUSS. Es geht darum, größte denkbare Gegensätze in einen Band zusammenzubringen, der sich von zwei Richtungen aus lesen lässt. Im Programm aus dem Frühjahr 2017 waren das ein Standardwerk der internationalen Diplomatie und eine Schrift über die Regeln des Duells.

Diplomatie oder Duell – gibt es in der Weltpolitik ebenso wie in jedermanns Alltag wichtigere Entscheidungsfragen? Jules Cambons Buch Der Diplomat, erstmals auf Deutsch 1925 erschienen, möchte man manchem Grobian und jedem Autokraten auf den Nachttisch legen. Und wo der Kampf unausweichlich erscheint, lädt Franz von Bolgárs Schrift von 1880 auf konzentrierten 60 Seiten immerhin dazu ein, Die Regeln des Duells – so der Buchtitel – zu beachten.

Was war nach den Diplomaten und Duellanten als nächstes brisantes Gegensatzpaar vorstellbar? Der Kurator hat sich für den Hochstapler und den ehrbaren Kaufmann entschieden.

Betrug mit theatralischen Qualitäten

Erich Wulffen, ein Kriminologe und Staatsanwalt, der schon früh seine Liebe zum Theater entdeckte und seinen Wunschberuf des Schriftstellers neben der vom Vater empfohlenen Juristenkarriere verwirklichen konnte, legte 1923 mit Psychologie des Hochstaplers eine erfahrungsgesättigte Charakterstudie jenes oftmals renommiersüchtigen, dabei jedoch andere Menschen für sich einnehmenden und sehr oft mit schauspielerischem Talent ausgestatteten Ganoventyps vor. Als Theaterliebhaber wusste Wulffen den dramaturgischen Aspekten der von ihm geführten Prozesse viel abzugewinnen. Vergleiche mit der Bühnenwelt durchziehen sein Hochstapler-Buch, in dem der „Hochstapelei und Literatur“ ein eigenes Kapitel gewidmet ist.

Die Elite der Gaunerwelt – wie ein anderes Buch mit Hochstapler-Geschichten heißt – verfügte immer schon über einen hohen Unterhaltungsfaktor. Felix Krulls Erben genießen weitgehende Sympathie, sind doch ihre Opfer ihnen oft gar nicht so unähnlich – Menschen mit Imponiergehabe oder solche, die sich von geringem Einsatz große Gewinne versprechen.

Hochstapelei basiert oft auf Hochbegabung

Es sind oftmals Hochbegabte, denen eine entsprechende Ausbildung verwehrt blieb, um in den Berufen arbeiten zu können, die auszuüben sie als Hochstapler vorgeben. Als ein aktuelleres Beispiel, das Wulffen in sein kriminologisches Pionierwerk freilich nicht einbeziehen konnte, erinnern wir uns an Gert Postel, einen ehemaligen Briefträger, dem es mit gefälschten Diplomen gelang, Oberarzt in einem Psychiatrischen Krankenhaus zu werden, in diesem Beruf hohes Ansehen bei den Kollegen – den Ärzten, nicht den Hochstaplern – genoss und der nach abgebüßter Haftstrafe als Bestsellerautor und als (nicht von allen) gern gesehener Gast in Talkshows reüssierte.

Zu Wulffens Zeitgenossen dagegen gehören unter anderem Ignatz Strassnoff, der 1926 seine auch später noch mehrfach aufgelegten Memoiren veröffentlichte, und Georges Manolescu, den – wie Stephan Porombka ihn nennt – „erste(n) Star der Branche“, mit dem Erich Wulffen lange Zeit eine briefliche Korrespondenz führte. Wulffen porträtiert die Personen, über die er als Staatsanwalt zu richten hatte, mit der Sympathie, die Roman- oder Theaterautoren für die von ihnen entwickelten Charaktere aufbringen, und geht bei der Hochstapelei von einem in allen Menschen angelegten Talent aus. Längere Abschnitte seiner Studie beschäftigen sich mit dem Hochstapler im Kind.

Warnung vor den Tücken der Handelswelt

Nach den abenteuerlichen Geschichten, die sich um die Psychologie des Hochstaplers gruppieren, könnte man vom ehrbaren Kaufmann ein weniger spannendes Leseerlebnis erwarten. Dem ist nicht so. Die Lektüre Oswald Bauers kann besonders dann aufregend werden, wenn sich beim Lesen des kaufmännischen Ehrenkodex‘ zahlreiche Negativbeispiele heutiger Marketing-Praktiken aufdrängen. Dass diese aber keine Erfindungen unserer Zeit sind, macht der historische Text von 1906 ebenso deutlich.

Bauer benennt die „Chikanen“, die von einzelnen Handelspartnern ausgehen können, und muss neben seinen Ausführungen zum guten Stil der kaufmännischen Korrespondenz mit Bedauern auch auf Beispiele eines impertinenten, auf Preisdrückerei angelegten Geschäftsgebarens zu sprechen kommen. Die Übergänge vom aggressiven Wettbewerb zum Betrug am Kunden sind fließend. Wem würden zu dem Thema keine Schlagzeilen aus den letzten Wochen und Monaten einfallen?

Nervöse Zeiten durch „das Telephon“

Es geht Oswald Bauer um das Ansehen des Kaufmannsstands, die Diskrepanz zwischen der äußeren Wahrnehmung und dem inneren Ehrbegriff, um Anstand, Redlichkeit, kurz, was man den Charakter nennen könnte. Kulanz ist ein Schlüsselbegriff, wenn die Überzeugung, im Recht zu sein, mit den als ungerechtfertigt empfundenen Forderungen des Vertragspartners kollidiert. Kulanz, um die Selbstachtung zu wahren, Stärke des Gewährens statt der Schwäche des Verlierens.

Für einen Kaufmann erstaunlich genug, warnt Bauer vor einer „Überschätzung materieller Glücksgüter sowohl, wie von Ehren, Rang und Würden.“ In der Geschäftigkeit sieht er Gefahren wie die allgemein zunehmende Nervosität, die er als die Krankheit der Gegenwart und als Krankheit der Zukunft erkennt. Leichte Erregbarkeit, Jähzorn, Müdigkeit und ein chronischer Mangel an Zeit, dem das letzte Kapitel gewidmet ist.

Über die Nervösen, Ausgebrannten, Depressiven schreibt Bauer: „Sie erfüllen die Anforderungen des Lebens, aber unter Kämpfen; ihre Intelligenz befähigt sie vielleicht zu großen Leistungen, aber ihre Organisation versagt ihnen Kraft und Zähigkeit; sie sehen, was andere sehen, aber wie durch ein gefärbtes Glas; sie gleichen ihrer Umgebung und sind doch fremd in ihr.“

Und er fügt eine ebenso zeitgenössische wie zeitgemäße Beobachtung hinzu: „En passant wollen wir eine nervös machende Errungenschaft der Neuzeit, das Telephon, nicht vergessen.“

Nachworte stehen in der Mitte

In einem „Zwischenspiel“ genannten Nachwort spannt Thomas Böhm einen zeitlich weiten, jedoch auf 7 Seiten komprimierten, Bogen von Plutarch über Beispiele aus dem Mittelalter, dem Humanismus bis zu modernen Standardwerken zur Volks- und Betriebswirtschaft, und hebt besonders ein Postulat aus Bauers Schrift hervor: „daß wir im weiteren Sinne zuerst Mensch und dann erst Mann des Geschäftes sein sollen.“

Die Nachworte zu beiden Büchern treffen sich in der Mitte des Bands, wo Thomas Böhm ihre Verbindung herstellt – nicht zuletzt durch einen Hinweis auf die Finanzmärkte, die sich von dem Kaufmannsideal, wie Oswald Bauer es beschreibt, komplett abgekoppelt haben und damit der Fiktion, der Hochstapelei, die Schleusentore öffnen.

Oswald Bauers Regelwerk des ehrbaren Kaufmanns von 1906 gehört ebenso zu den notwendigen Büchern wie Wulffens Charakterzeichnung des Hochstaplers. Beide behandeln auf unterschiedliche Weise entscheidende Fragen unserer Gegenwart. Wir dürfen gespannt sein auf das Programm des Frühjahrs 2018.

Erich Wulffen: „Der Hochstapler“ vs Oswald Bauer „Der ehrbare Kaufmann“ (Reihe: Gegenschuss, Band 2). Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin. 256 Seiten, 22 Euro.

Mehr Informationen zu den anderen genannten Büchern aus dem Verlag über: www.daskulturellegedaechtnis.de
Alle Abbildungen in diesem Beitrag: © Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“

Zwei andere kursiv gesetzte Buchtitel beziehen sich auf:

Egon Larsen: Hochstapler. Die Elite der Gaunerwelt. Hamburg, 1984
Stephan Porombka: Felix Krulls Erben. Die Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert. Berlin, 2001

In der Rezension erwähnt, aus Gründen der besseren Lesbarkeit jedoch nicht mit bibliographischen Daten im Text angegeben:

Gert Postel, Reiner Pfeiffer: Die Abenteuer des Dr. Dr. Bartholdy – Ein falscher Amtsarzt packt aus. Bremen, 1985
Gert Postel: Doktorspiele – Geständnisse eines Hochstaplers. Frankfurt am Main, 2001
Ignatz Strassnoff: Ich, der Hochstapler Ignatz Strassnoff. Berlin 1926




Rätsel des Alltags: „Verschwundene“ Kindersachen

Wer mit Kindern lebt, muss sich auf allerlei Abschiede und Verluste gefasst machen.

Warum das Bild Glasnudeln zeigt? Weil die noch nicht verschwunden sind. (Foto: BB)

Warum das Bild Glasnudeln zeigt? Weil die noch nicht verschwunden sind. (Foto: BB)

Nein, ich spreche mal nicht vom – im Nachhinein betrachtet – rasend raschen Vergehen dieser oder jener Lebensphase und den zugehörigen, liebgewordenen oder auch enervierenden Gewohnheiten bzw. Ritualen; auch nicht von den entscheidenden biographischen Wendungen, sondern ganz profan: von relativ nebensächlichen, letztlich geringfügigen Dingen, die man in der Summe dennoch vermisst. Jedenfalls für eine gewisse Zeit.

Mütze, Schal und vieles mehr

So sind in letzter Zeit einige Sachen rätselhaft spurlos verschwunden. Alle chronologisch sortierten Rekonstruktionsversuche, Recherchen und Nachfragen haben nicht gefruchtet. Beispiel: Die Mütze und der Schal, die beim spätherbstlichen Wochenende auf einem Ponyhof abhanden gekommen sind, waren partout nicht mehr aufzufinden. Anderen fehlen seither Reitstiefel, obwohl die Namen darin standen. Das deutet schon ein wenig auf willkürliche Inbesitznahme hin, um es nicht gleich diebisch zu nennen.

Bald darauf fehlte eine Regen- und Matschhose. Vorher gerodelt, nachher im Kino gewesen. Beim Klamottenwechsel auf dem dortigen WC muss sich besagte Kinderhose wohl in Luft aufgelöst haben. Die Trantüte am Tresen des Vorortkinos will anderntags nichts davon wissen. Ein einziges Achselzucken. Futschikato, wie man früher so sagte. Luxusprobleme, ich weiß. Dennoch ärgerlich.

Ob sich die Dinge irgendwo treffen?

Schon vorher hatte sich eine Winterjacke „aus dem Staub gemacht“. Auch hier bleibt der dringliche Verdacht, dass jemand sie gut gebrauchen konnte… Denn das Abklappern aller Orte, an denen es passiert sein konnte, hat nichts und wieder nichts gebracht. Die neueste Verlustmeldung betrifft einen blauen Wollrock, dessen Verbleib beim besten Willen nicht geklärt werden kann.

Ob sich all diese Dinge an einem geheimen Ort versammeln und kichernd ihre Geschichten austauschen? Und dabei haben wir von Kleinigkeiten wie Stiften, Trinkflaschen und Stofftieren aus der zweiten Reihe (plötzlich in Ungnade gefallen) noch gar nicht geredet.

Sehr seltsam, das alles. Sehr mysteriös.

Es mag ein Anteil von mangelnder Sorgfalt und Unachtsamkeit mit hineinspielen. Doch es muss hier auch vom schwindenden Vertrauen in manche Mitmenschen geredet werden. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass etwas fort ist, hat man es nur einmal liegen gelassen, ist offenkundig gewachsen. Man könnte es auch deutlicher mit klischierten Redensarten sagen: Einige Leute klauen anscheinend wie die Raben, wenn etwas nicht niet- und nagelfest ist. Bedenkenlos. Oder verhält sich alles ganz anders?

Katzenkopfförmiges Portemonnaie

Den betrüblichsten Fall in dieser Hinsicht muss ich jetzt auch noch eben schildern. Es begab sich im letzten Sommer. Unsere Tochter hatte über etliche Wochen hinweg ihr Taschengeld gespart und getreulich in einem Portemonnaie verwahrt. Selbiges deutete eindeutig auf ein Mädchen hin, denn es war katzenkopfförmig und auch farblich entsprechend gestaltet. Warum ich das eigens feststelle? Abwarten.

Als hätte sie etwas geahnt, hat unsere Tochter – aus welchen Beweggründen auch immer – das Portemonnaie im Urlaubsdomizil versteckt; allerdings nicht übermäßig geschickt, nämlich oben auf einem Kleiderschrank der Ferienwohnung. Bei der Abreise hat sie es vergessen und es fiel ihr erst nach einigen Tagen daheim wieder ein, wohin sie das Geld gelegt hatte. Also sofortiges Telefonat mit den ausgesprochen netten Vermietern, die auch gleich nachgesehen haben.

Schmalbrüstige Unschuldsvermutung

Erraten. Die Geldbörse war samt Inhalt nicht mehr da. Da kamen eigentlich nur unsere FeWo-Nachfolger in Frage, deren Namen ich gottlob nicht kenne. Die Vermieterin, der man auch einige Menschenkenntnis zutrauen darf, befand, bei jenen habe sie gleich ein ungutes Gefühl gehabt. Ihnen sei sozusagen alles zuzutrauen. Unverschämt fordernd und unangenehm pampig seien sie aufgetreten. Beweisbar ist es natürlich nicht, also kann man auch nicht ohne weiteres Vorwürfe erheben. Aber die rechtsübliche Unschuldsvermutung scheint mir in diesem Falle ausgesprochen schmalbrüstig daherzukommen.

Man muss sich das einmal vorstellen: ein Kind zu bestehlen, das sich seine paar Euro mühselig zusammengespart hat. So verkommen muss man erst einmal sein. Wenn ich daran denke, kann ich eine leicht aggressiv behauchte Stimmung nicht gänzlich unterdrücken. Wie bitte? Solchen Hackfr Typen müsse man eigentlich „eine Abreibung verpassen“? Das haben Sie jetzt aber gesagt.




Heute vor fünf Jahren: das Ende der „Rundschau“

Das frühere "Rundschauhaus" wird zur Zeit umgebaut. (Foto: Bernd Berke)

Das frühere „Rundschauhaus“ wird zur Zeit umgebaut. (Foto: Bernd Berke)

Keine Angst, dies wird kein langer Text. Nicht mehr. Heute vor genau fünf Jahren wurde die gesamte Redaktion der Westfälischen Rundschau (WR) durch die Führung der WAZ-Gruppe (heute: Funke Gruppe) mit einem Federstrich entlassen. Damit endete praktisch die Geschichte der Zeitung, die nur noch als fremdbefülltes Phantomprodukt erscheint.

Wie man dem beigegebenen Foto entnehmen kann, wird derzeit das Gebäude der einstigen Zentralredaktion, das frühere „Rundschauhaus“ am Dortmunder Brüderweg 9, für andere Zwecke umgebaut – mutmaßlich für die üblichen Arztpraxen, Anwaltskanzleien und dergleichen. Wenn man dies sieht, spürt man immer noch einen gewissen Phantomschmerz, sofern einem die traditionsreiche Zeitung etwas bedeutet hat.

Schräg gegenüber hat sich am Brüderweg die Dortmunder SPD niedergelassen. Bemerkenswerter Zufall: Just heute Abend will Parteichef Martin Schulz nach Dortmund kommen, um im immer noch bundesweit bedeutsamen Unterbezirk für die GroKo zu werben. Vielleicht sollte er zwischendurch eine klitzekleine Gedenkminute für die Rundschau und alle seinerzeit (und teilweise bis heute) betroffenen WR-Kolleg(inn)en einlegen? Schließlich war die SPD-Medienholding Mitbesitzerin des Blattes; wenn auch mit einer Minderheitsbeteiligung.

Doch Schulz hat bestimmt Wichtigeres zu tun.

 




Fördertürme als prägende Bauten einer ganzen Region – Rolf Arno Spechts Fotoband „Kathedralen im Revier“

Wie schon hie und da gesagt: Im Revier wird heuer allerorten der Zechen-Vergangenheit gedacht, denn die hier so lange prägende Ära der Steinkohle endet im Dezember 2018 mit Schließung der allerletzten Schachtanlagen.

Der Zusammenschluss der RuhrKunstMuseen wird ebenso seinen Ausstellungs-Reigen beisteuern, wie beispielsweise das Ruhr Museum (Essen) und das Deutsche Bergbaumuseum (Bochum), die mit einer gemeinsamen Schau groß ins Geschehen einsteigen. Überdies gibt es einschlägige Film- und TV-Dokus, literarische Aufarbeitungen und Sachbücher zum Themenkreis. Womit wir sicherlich noch nicht alle Sparten genannt haben. Wird vielleicht auch irgendwo eine Zechenoper aufgeführt?

Im Essener Klartext Verlag, der seit einigen Jahren zur Funke Mediengruppe gehört, ist jetzt ein Bildband erschienen, der die Fördertürme in den Mittelpunkt stellt, sein nicht gar zu origineller, jedoch treffender Titel lautet „Kathedralen im Revier“. Tatsächlich ist der sakrale Bezug nicht so weit hergeholt, die imposanten Industrie-Ensembles können es an Wucht und Pathos mit so manchem Kirchenbau aufnehmen. Übrigens gibt es auch eine Art heimliches Pathos der Sachlichkeit.

Manche Motive zeigen sich so nur sehr selten

An Begleittexten wird bis zum Punkt der Kargheit gespart. Ein knappes Grußwort und ein ebenso kurzes Vorwort sowie ein paar Zwischenrufe müssen reichen. Die Bilder des 1969 in Marl geborenen Fotografen Rolf Arno Specht, im gesamten Ruhrgebiet zwischen Duisburg/Dinslaken im Westen und Hamm/Ahlen im Nordosten entstanden, sprechen ja auch weitgehend für sich. Der Mann muss sich wahrlich intensiv und extensiv mit seinem Thema befasst haben. Bestimmte Motive hat er nach eigenem Bekunden auf diese Weise bestenfalls einmal im Jahr aufnehmen können, als Wetter, Lichtverhältnisse und Perspektiven exakt seinen Vorstellungen entsprachen.

Für die relativ wenigen Untertage-Fotos hat Specht – wegen der Explosionsgefahr – keine womöglich Funken auslösende Digital-Ausrüstung verwenden können, auch Belichtungsmesser und Autofokus waren nicht erlaubt. Althergebrachte fotografische Tugenden und Fähigkeiten waren also unabdingbar.

Bauten im dichten Nebel und bei Sonnenuntergang

Der Band beginnt mit einer ganzen Reihe von Aufnahmen im ungemein dichten Nebel, welcher an den einst alltäglichen Smog gemahnt, der oft durchs ganze Ruhrgebiet waberte. Nur schemenhaft tauchen die imposanten Bauwerke zunächst auf; ganz so, als müssten sie erst noch einmal behutsam ans Tageslicht geholt werden und als müsse man der Erinnerung vorsichtig aufhelfen. Oder ist just schon das Gegenteil der Fall: Entschwinden die Gebäude etwa schon in die Gefilde des Vergessens? Doch hoffentlich nicht.

Des weiteren sieht man Bilder zur Einbettung der Zechengerüste in (Stadt)-Landschaften, aus denen sie gleichsam erwachsen und über die sie sich – zuweilen geradezu majestätisch – erheben.

Eine weitere Reihe zeigt Fördergerüste im Licht von Sonnenuntergängen bzw. Sonnenaufgängen, dabei kommt etwas beinahe Überirdisches oder Magisches ins Spiel. Schließlich folgen noch einige Luftbilder, die abermals die herausragenden Plätze der Fördertürme in den diversen Stadtlandschaften markieren. Tatsächlich sind es architektonische „Auftritte“, wie man sie sonst von Sakralbauten kennt.

Imposante Signaturen von Heimat und Identität

Man erfährt noch einmal ein- und nachdrücklich, wie sehr diese Bauten das Bild der ganzen Region bestimmt haben, so dass sie natürlich unbedingt denkmalwürdig sind; vielleicht nicht jedes einzelne Ensemble, aber doch etliche von ihnen. Und ja: Das alles hat mit Begriffen wie Heimat und Identität zu tun. Vieles andere ist im Revier ja mittlerweile so ähnlich wie in anderen Gegenden. Aber eine Zechenlandschaft haben sie in München, Berlin, Hamburg oder Frankfurt eben nicht, ja noch nicht einmal im nahen und mental doch so fernen Düsseldorf.

Der Erhalt der Gebäude und möglichst vielfältiges neues Leben an diesen einstigen Stätten härtester Arbeit sind wichtige Aufgaben der Revierstädte und der Ruhrkohle AG (RAG), die über ihre millionenschwere Stiftung ja auch mancherlei technische „Ewigkeitskosten“ zu tragen hat, damit das von Bergsenkungen durchzogene Revier nicht „absäuft“.

Einige Gerüste wanderten von Stadt zu Stadt

Das Buch schließt mit einer schnellen „Bestandsaufnahme“ über alle noch existierenden Fördertürme – insgesamt 125, wenn ich richtig mitgezählt habe. Diesen Überblick hätte man sich noch ein wenig ausführlicher gewünscht.

Doch auch so lernt man im Schlussteil, dass im Gefolge des Bergbau-„Wanderzirkus'“ dieses oder jenes Fördergerüst schließlich noch den Ort gewechselt hat. So stand etwa das Wahrzeichen des Deutschen Bergbaumuseums Bochum einst an der Dortmunder Zeche Germania, während wiederum die heute an der Dortmunder Zeche Zollern II/IV“ aufragenden Türme früher zu Schachtanlagen in Gelsenkirchen bzw. Herne gehört haben. Aus heutiger Sicht nicht zu fassen: Die gesamte Zollern-Anlage, heute Zentrale des Westfälischen Industriemuseums, sollte ursprünglich komplett abgerissen werden. Deshalb fehlen die Original-Fördergerüste, denn der Akt der Barbarei hatte schon begonnen.

Rolf Arno Specht: „Kathedralen im Revier. Zechenlandschaft Ruhrgebiet“. Klartext Verlag, Essen. 176 Seiten Bildbandformat, Hardcover, durchgehend farbig. 24,95 Euro.




Vom fernen Freigeist fasziniert – Werner Streletz‘ Versuch über den französischen Dichter Robert Desnos

Man tritt dem Bochumer Autor Werner Streletz wohl nicht zu nahe, wenn man ihn einen fleißigen, produktiven Schreiber nennt.

2011 erschien „Volkers Lied der Nibelungen. Eine Annäherung“, 2013 der Roman „Rohbau“, 2014 „Gewaltig endet so das Jahr. Meine Tage mit Georg Trakl“. 2016 folgte wiederum ein autobiographisch getönter Roman: „Rückkehr eines Lokalreporters“.

Im Umkreis des Surrealismus

Und nun liegt, noch 2017 erschienen, ein freilich nur 66 Seiten schmaler Band mit dem Titel „Der freieste aller Dichter vor“, der als Novelle firmiert und in dem Streletz Annäherungsversuche an den französischen Dichter Robert Desnos (1900-1945) unternimmt.

Streletz ist geradezu getrieben vom Impuls, zumal in der Literatur-, Theater-, Film- und Rockmusik-Geschichte Geistesverwandtschaften aufzuspüren oder – wer weiß – vielleicht auch erst zu kreieren. Nun also Robert Desnos, der vor allem als sprühend inspirierter Lyriker im Umkreis der Pariser Surrealisten auftrat, sich aber von deren selbsternanntem „Papst“ André Breton keineswegs vereinnahmen ließ und auch dessen kommunistische Orientierung nicht teilte.

„Der freieste aller Dichter“

Unterdessen verdingte sich Desnos als durchaus fähiger Journalist und „Werbefuzzi“, um mit Streletz zu reden. Das Ehrenzeichen, „der freieste aller Dichter“ zu sein, bekam Desnos vom Schriftstellerkollegen Paul Eluard angeheftet.

Werner Streletz zeigt sich durchweg angetan, ja fasziniert vom französischen Freigeist und imaginiert die eine oder andere Begegnung mit diesem „Sekretär des Unbewussten“ – nach dem Leitmotto „Wenn ich ihn gekannt hätte…“ Es ist, als wolle sich der Bochumer partout eines weiteren Vorläufers oder zumindest Anregers versichern.

Einmal verfassen die beiden sogar quasi ein Gedicht miteinander, genauer: Der Bochumer ermuntert Desnos, in einer schwachen Stunde wieder in seine literarische Spur zu finden. Zuweilen fallen Streletz zu Begebenheiten aus Desnos‘ Biographie eigene Erinnerungen aus der Ruhrgebiets-Kindheit ein. So beispielsweise, wenn es um die Angst vor dem eigenen Vater geht.

Nicht alles will sich zueinander fügen

Doch nicht immer will sich das wirklich zueinander fügen. Manches wirkt eher wie zwanghaft herbeigeschrieben. Die Lebensläufe lassen sich natürlich nicht ohne weiteres miteinander kurzschließen. Und man fragt sich im Lauf der Lektüre, ob Werner Streletz vielleicht gerade auch die Schwierigkeit herausstellen wollte, sich solch einer literarischen Gestalt tatsächlich zu nähern. Der unentwegt betonte Modus des „Es wäre möglich, dass…“ würde sich somit teilweise als illusorisch erweisen.

Robert Desnos mit seiner Gefährtin Youki Foujita im Jahr 1933. (Foto: Archives Desnos / Menerbes - public domain / gemeinfrei bei Wikimedia Commons)

Robert Desnos mit seiner Gefährtin Youki Foujita im Jahr 1933. (Foto: Archives Desnos / Menerbes – public domain / gemeinfrei bei Wikimedia Commons)

Es ist eine manchmal geradezu leichtfertige, dann aber auch wieder recht mühselige Annäherung, in deren Verlauf Streletz zuweilen auch sprachlich sehr vorsichtig tastend und manchmal geradezu umständlich zu Werke geht. Hie und da droht er sich in Zeitebenen und konjunktivischen Formen geradewegs zu verheddern. Ein literarischer Draufgänger ist er nicht; eher schon einer, der sich immerzu in Frage stellt.

Tod im KZ Theresienstadt

Etwa in der Mitte des Textes ist es aufs Schrecklichste vorbei mit der einst herrlich behaupteten Freiheit der Kunst und des Künstlers. Die Nazi-Truppen sind in Frankreich einmarschiert und können sich auch auf Denunzianten und Kollaborateure stützen. So kommt es, dass auch Robert Desnos, der für die Résistance im Untergrund gearbeitet und zuvor mit der Japanerin Youki Foujita ein privates, jedoch auch öffentlich zelebriertes Glück gefunden hat, verhaftet und nacheinander in verschiedene Konzentrationslager deportiert wird. Kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Theresienstadt stirbt Desnos dort unter absurd tragischen Umständen am 8. Juni 1945.

Überflüssig zu sagen, dass eine „Annäherung“ an den französischen Dichter mit dieser Zeit in der Hölle noch unendlich problematischer, wenn nicht vollends unmöglich wird. Was zuvor streckenweise mühselig erschien, wird nun in jeder Hinsicht quälend.

Im letzten Satz der Novelle (wir wollen hier nicht über Gattungs-Definitionen streiten) schwingt denn auch leise Resignation mit: „Seltsam eigentlich, dachte ich: Vielleicht ist das alles doch schon zu lange her.“

Werner Streletz: „Der freieste aller Dichter. Unterwegs mit Robert Desnos“. projekt verlag, Bochum/Freiburg. 66 Seiten. 12,80 Euro.

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Nachspann

P.S.:

Eine heitere Gedichtprobe von Desnos, die in Streletz‘ Buch zitiert wird und von Morgenstern oder Ringelnatz stammen könnte – oder auch von Villon:

Der Pelikan

Der Kapitän Jonathan
Fing schon mit 18 Jahr’n
Eines Tages einen Pelikan
Auf einer Insel im Ozean.

Der Pelikan von Jonathan
Legt morgens ein schneeweißes Ei,
Und daraus schlüpft ein Pelikan
Der ihm erstaunlich gleicht.

Und dieser zweite Pelikan
Legt auch ein schneeweißes Ei,
Aus dem schlüpft unvermeidlich dann
Ein neuer und tut es ihm gleich.

Ich glaub, dass dies so ewig währte,
wenn man sie nicht vorher als Omelett verzehrte.

P.P.S.:

Zufallsfund während der Streletz-Lektüre: „Der freieste Schriftsteller aller Zeiten“ war – nach dem Urteil von Friedrich Nietzsche – übrigens (auch) Laurence Sterne („Tristram Shandy“), ein unübertroffener Großmeister der Abschweifungen.

P.P.P.S.:

Und noch ein Fund, verzeichnet im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek; eine ausgesprochene Rarität, sogar mit Ruhrgebiets-Bezug: Anno 2008 ist in der von Louis Flamel betriebenen Dortmunder edition alicorn ein druckgraphisches Mappen-Buch über Robert Desnos erschienen: „L’étoile de mer oder die Sirene des Schlafs. Robert Desnos & Louis Flamel“. edition alicorn. Trémoigne (= Dortmund) 2008.

 




Diese wunderbare Vielfalt auf dem Planeten – mit den Reisefilmen auf 3sat wachsen Neugier, Staunen und Verstehen

Jüngst habe ich ein Filmgenre für mich (wieder)entdeckt, dem ich zuvor – aus unerfindlichen Gründen – wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe.

Teilstück der legendären Route 66, die heute abseits der Hauptstrecken liegt. (Foto: © ZDF/SRF, RTS)

Teilstück der legendären Route 66, die heute abseits der Hauptstrecken liegt. (Foto: © ZDF/SRF, RTS)

Es begab sich auf dem Umweg über die Internet-Seite www.sendungverpasst.de Wenn man da einmal zu stöbern beginnt, findet man so allerlei Sehenswertes in den diversen Mediatheken. Ich bin vor allem bei 3sat hängen geblieben, genauer: bei den zahlreichen Dokumentarfilmen über fremde und zumeist ferne Länder.

So bin ich jetzt in wenigen Tagen filmisch nach Tasmanien, Tokio und über die legendäre Route 66 quer durch die USA sowie durch den nordwestkanadischen Polarwinter gereist. Mal schauen, wohin es mich demnächst so treibt, wahrscheinlich erst einmal zum Aufwärmen in die Südsee. Auch wenn das alles natürlich keine echten Reisen ersetzen, sondern bestenfalls anregen kann, nimmt man auf solchen Wegen doch schon ein paar Eindrücke mit.

Von Tasmanien bis kurz vor den Nordpol

Nehmen wir den Filmen die Befunde einfach mal ab: Welche wunderbaren, inzwischen freilich auch schon bedrohten Refugien seltene Tierarten in Tasmanien vorfinden, wie sehr sich Einzelne dafür engagieren! Wie verblüffend regelhaft rund 37 Millionen Japaner in der weiteren Agglomeration von Tokio miteinander und einsamst ohne einander leben, so dass sich viele von ihnen Gesprächspartner(innen) stundenweise mieten, während sie mit ihren direkten Nachbarn oft kein einziges Wort wechseln. Wie staunenswert aufgeräumt und wie wenig aggressiv diese Megalopolis erscheint.

Straße im Tokioter Vergnügungsviertel Kabukicho. (Foto: © ZDF/SR/Stephan Düfel)

Straße im Tokioter Vergnügungsviertel Kabukicho. (Foto: © ZDF/SR/Stephan Düfel)

Und weiter: Was für sympathisch eigenwillige Leute entlang der längst nostalgisch gewordenen Route 66 leben, die durch acht Bundesstaaten von Chicago bis Los Angeles führt. Vergesst mal allen sonstigen Ärger über „die“ Amis, solche Zuschreibungen sind eh meistens Quatsch; hier begegnet man jedenfalls prächtigen Typen! Und wie heroisch die Menschen im äußersten Nordwesten Kanadas irrsinnige Temperaturen mit Blizzards als schiere Alltagszutaten ertragen, so dass sie bei Minus 15 Grad schon aufatmen und den nahenden Frühling wittern. Man sollte daran denken, wenn man das nächste Mal über lachhaft kleine Schneehügelchen jammert.

Mit wachen Sinnen unterwegs

Obwohl 3sat als renommierter Kultursender gilt, sind die vier erwähnten Dokus nicht einmal sonderlich tiefgründig, sie dringen (in jeweils nur rund 45 Minuten) kaum wesentlich in verborgene Schichten des gesellschaftlichen Lebens vor, sie folgen ihren mehr oder weniger vorgezeichneten Spuren aber mit wachen Sinnen und ausgeprägt ästhetischem Sensus, immer bereit, am Wegesrand noch etwas Neues wahrzunehmen.

Jeder dieser Filme bringt Besonderheiten ans Licht, die es so nur in den jeweiligen Gegenden gibt. Doch eines haben sie letztlich alle gemeinsam: Man begreift noch einmal neu die ungeheure Vielfalt auf diesem Planeten, die sich hoffentlich durch jede Globalisierung hindurch fortsetzen wird. Man lernt, verschiedenste Fähigkeiten zu bewundern, etwaige spezielle Schwächen zu verstehen und überhaupt tausend Lebensformen nicht nur zu tolerieren, sondern zu schätzen. Ein Grundgefühl dabei: Freundliche, warmherzige Menschen, die gleich für sich einnehmen, gibt es gottlob überall. Und auch solche, deren Eigenarten oder Schroffheiten man eben zu akzeptieren hat. Dass unser gutes altes Europa bei all dem nicht im Zentrum, sondern gleichrangig neben anderen Weltzonen steht, versteht sich von selbst.

Und nun schaut. Oder noch besser: reist.




„Manapouri“ – Marcel Schwobs Briefe von einer Reise nach Samoa am Beginn des 20. Jahrhunderts

In den Jahren 1901/1902 unternahm der französische Schriftsteller Marcel Schwob (1867–1905) auf den Spuren des von ihm verehrten Robert Louis Stevenson eine Reise in die Südsee. Die Briefe, die er von dieser Seereise an seine geliebte Frau, die erfolgreiche Schauspielerin Marguerite Moreno, schrieb, wurden nun erstmals in deutscher Übersetzung im Elfenbein Verlag veröffentlicht.

In den Pariser Schriftstellerzirkeln der 1890er-Jahre um Stéphane Mallarmé, André Gide, Paul Valéry, Alfred Jarry, Paul Claudel, Colette und Jules Renard galt Marcel Schwob wegen seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung, stilistischen Brillanz und enormen Belesenheit als eine große Hoffnung der französischen Literatur.

In der kurzen Zeit zwischen 1891 und 1896 veröffentlichte Schwob jährlich mindestens einen Band mit Erzählungen, die meisten im Verlag Mercure de France; er übersetzte Shakespeare, Defoe, De Quincey und auch die Erzählung „Will o‘ the Mill“ von Robert Louis Stevenson. Seine Entdeckerfreude erstreckte sich ebenso auf englischsprachige Literatur wie auf ältere französische Dichtung. Mit seinem Korrespondenzpartner Robert Louis Stevenson verband ihn unter anderem ein starkes biographisches Interesse an François Villon. Ab 1896 aber wurde Schwob zunehmend zum Opfer einer nicht eindeutig diagnostizierten Krankheit, die ihn in die Abhängigkeit von Morphium brachte. Viele, vor allem wissenschaftliche, Arbeiten blieben Fragmente.

Auf den Spuren von Robert Louis Stevenson

Einer seiner Ärzte riet ihm zu einer längeren Seereise. Wie Stevenson, der eingangs seines 1896 posthum veröffentlichten Werks In der Südsee große Erwartungen an das der Gesundheit zuträgliche Klima der pazifischen Inselwelt formulierte, setzte auch Schwob alle Hoffnung in die Heilkraft einer längeren Südseereise.

Im Oktober 1901 schiffte er sich in Marseille ein; die Reise führte über Port Said durch den Sueskanal nach Dschibuti und weiter über Ceylon, wo Schwob bei einem vierzehntägigen Aufenthalt Gelegenheit hatte, die von Henry Cave beschriebenen Ruinenstädte zu besichtigen, nach Australien. Sein chinesischer Begleiter Ting durfte den Kontinent erst nach Zahlung einer sehr hohen Kaution betreten, die Schwob nur mit Mühe auftreiben konnte, wodurch die Weiterreise hier bereits zu scheitern drohte. Die Begegnung mit dem eigenwilligen Kapitän Crawshaw ermöglicht schließlich, dass er mit dessen Schiff „Manapouri“ die Insel Upolu erreicht, den letzten Wohnsitz des bereits 1894 gestorbenen Robert Louis Stevenson in Samoa.

Mit Worten malen

Schwobs Briefe legen Zeugnis ab, welch einen elaborierten Stil er auch in der privaten Form pflegte. Sie waren nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, eventuell aber vom Autor als Vorarbeiten zu einem noch zu schreibenden Werk gedacht, das dann jedoch nicht mehr zustande kam.

Die sich bei einer langen Seefahrt wiederholenden Motive – Meer, Horizont, Wolken, gelegentlich die Silhouette eines entfernt gelegenen Landes oder einer Insel – beschreibt Schwob nuanciert und ohne sich zu wiederholen. Seine Sprachmalereien dürften auch beim Übersetzen ins Deutsche eine Herausforderung dargestellt, dem guten Ergebnis nach zu urteilen aber auch den besonderen Reiz einer solchen Aufgabe ausgemacht haben.

„Die fliegenden Fische um uns herum“

Ein Beispiel: „Das flüssige Himmelsufer aus düsterem Blau wird da und dort von Grisailleflächen unterbrochen, finsteren Dunstklippen, bei denen es sich um äquatorialen Regen handelt. Wo kein Wind weht, weint der Himmel lautlos auf die Erde. Die nördliche und die südliche Welt vermischen sich in der Trauer ihrer Sterne. Am Äquator ist das Meer auf ewig traurig und von Regen zerfurcht.“

Das Wenige, was abgesehen vom gesellschaftlichen Leben an Bord passiert, wird zum Ereignis: „Und dabei schwirren die fliegenden Fische um uns herum wie Schmetterlinge. Ein feuchter und silbriger Strich schnellt hoch, gleitet in einem langen Kuss knapp übers Wasser. Zehn, zwanzig, dreißig springen auf, stechen winzige Strudel ins glatte Meer. Arme kleine Fische mit so schweren Flügeln, die einem freudlosen Himmel entgegenstreben. Und der Regen prasselt; und das Meer erschauert von seinem unzählbaren Lachen hinter schweren Tränen.“

Verehrung und Krankheit

In Apia, der Hauptstadt Samoas, wird Schwob freundlich aufgenommen. Er beginnt, Samoanisch zu lernen, erhält eine Einladung des alten Königs Mataafa, der von Robert Louis Stevenson in Eine Fußnote zur Geschichte. Acht Jahre Unruhen aus Samoa (1892; deutsch: Achilla Presse, Hamburg, 2001) unter Samoas zerstrittenen Herrscherfamilien mit besonderer Sympathie bedacht worden war; eine Kava-Zeremonie wird ausführlich beschrieben.

Wie Stevenson erhielt auch Schwob von den Einheimischen den Namen Tusitala – der Geschichtenerzähler. Doch statt der erwarteten Genesung von seiner Krankheit verschlimmert sich sein Zustand. Eine Lungenentzündung überlebt er, in einer Hütte der hingebungsvollen Pflege durch einen jungen Einheimischen überlassen, nur knapp.

Sorgfältige Edition

Stevensons letztes Wohnhaus und sein Grab auf dem nahe der Hauptstadt Apia gelegenen Mont Veae konnte Marcel Schwob wohl nicht mehr besuchen. Erneut ist es Kapitän Crawshaw mit seiner „Manapouri“, der ihm weiterhilft und seine Rückreise ermöglicht. Im März 1902 erreicht Marcel Schwob Marseille, knapp drei Jahre später starb er im Alter von 37 Jahren.

Die eindrucksvolle Reisebeschreibung wird in der deutschen Ausgabe durch Schwobs 1894 erstmals erschienenen Essay zu Robert Louis Stevenson und durch vier Briefe Stevensons an Schwob aus den Jahren 1889–1894 bereichert. Der Übersetzer und profunde Schwob-Kenner Gernot Krämer, der zuvor im selben Verlag zwei andere Werke des Autors veröffentlicht hat (Das gespaltene Herz, 2005, und Der Kinderkreuzzug, 2012) steuerte wertvolle Anmerkungen und ein informatives Nachwort bei. Zahlreiche zeitgenössische Foto-Dokumente der beschriebenen Schauplätze illustrieren die Briefe anschaulich. Das sorgfältig gestaltete Buch ist ein wertvolles Dokument über die Brieffreundschaft und Geistesverwandtschaft zweier besonderer Schriftsteller und ein weiteres Zeugnis über die literarische Meisterschaft Marcel Schwobs.

Marcel Schwob: „Manapouri“. Reise nach Samoa 1901/1902. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gernot Krämer. Elfenbein Verlag, Berlin. Gebunden, 216 Seiten, 22 €.




Glanz und Elend der Zechen-Ära im Revier – die wehmütige WDR-Dokumentation „Der lange Abschied von der Kohle“

Zahllose Veranstaltungen im Ruhrgebiet werden sich 2018 mit dem Ende der Steinkohle-Ära befassen. Mit der letzten Schicht auf der Bottroper Zeche Prosper-Haniel wird im Dezember nicht nur die Förderung im Ruhrgebiet, sondern zugleich in ganz Deutschland enden.

Drei von vielen: Die Bergleute Bernd Blosze, Matthias Ehmke und Ilhan Yaldiz (von links) zwei Wochen vor Schließung "ihrer" Zeche Auguste Victoria in Marl. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Drei von vielen: die Bergleute Bernd Blosze, Matthias Ehmke und Ilhan Yaldiz (von links) in der Waschkaue – zwei Wochen vor Schließung „ihrer“ Zeche Auguste Victoria in Marl. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Größtes Erinnerungs-Projekt dürfte die gemeinsame Ausstellung des Essener Ruhrmuseums und des Deutschen Bergbaumuseums in Bochum sein. Für einen gewichtigen Jahresauftakt zum Thema sorgt jetzt schon einmal der 90-minütige Dokumentarfilm „Der lange Abschied von der Kohle“ (WDR, 5. Januar 2018, 20.15 Uhr und in der Mediathek).

Werner Kubny und Petra Neunkirchen haben für diesen Film Bergleute durch die letzten Monate vor der Schließung der Zeche Auguste Victoria in Marl (bis zum 18. Dezember 2015) begleitet und diesen Stoff mit etlichen Gesprächen und Geschichten zum Ruhrbergbau angereichert.

Obwohl man es seit Jahrzehnten immer deutlicher kommen sah: Fürs Ruhrgebiet ist das politisch gewollte, endgültige Aus für die Steinkohle wahrhaftig ein historischer Moment und allemal ein Anlass zum Innehalten. Naturgemäß kommen dabei – auch in dieser Dokumentation – Wehmut und eine gewisse Nostalgie auf. Übrigens: Warum läuft ein solcher Film eigentlich nicht zur besten oder wenigstens zur zweitbesten Zeit im bundesweiten ARD-Hauptprogramm?

Dieser großartige Zusammenhalt unter Bergleuten

Ein Leitgedanke bzw. leitendes Gefühl des gesamten Films ist der ungeheure Zusammenhalt unter den Bergleuten – ganz gleich, woher sie kamen. Ein paar türkische Kollegen legen davon Zeugnis ab. Bessere Integration geht schwerlich. Nicht nur „auf Zeche“ selbst, auch in der Nachbarschaft der Kolonie (und in mancherlei Arbeitskämpfen) hielt man unverbrüchlich zusammen. Und man war stolz auf seine Arbeit. Selbst die letzten Lehrlinge in Marl, die sich demnächst andere Jobs suchen müssen, sind bereits von diesem Gemeinschaftsgeist ergriffen und bedauern, dass das alles ein Ende haben wird.

Unter Tage musste sich einer hundertprozentig auf den anderen verlassen können. Das schweißte wohl dermaßen zusammen, dass einer im Rückblick sogar meint: „Das kannste mit dem schönsten Mädchen im Bett nich‘ erleben…“ Über fortschreitende Entsolidarisierung, Ellenbogen-Mentalität und Mobbing in anderen Bereichen der Wirtschaft mag man da am liebsten gar nicht nachdenken. Man sollte es aber!

Als das Revier noch die Triebkraft des Wachstums war

1956, im Jahr der größten Steinkohleförderung, waren im Ruhrgebiet noch 148 (!) Zechen in Betrieb, in denen fast 500.000 Menschen arbeiteten, die für damalige Verhältnisse relativ gut entlohnt wurden. Damals war das Revier mit seinen Berg- und Stahlwerken der stärkste Motor fürs bundesdeutsche „Wirtschaftswunder“. Aus der Keimzelle „Montanunion“ entstand auch der politische und wirtschaftliche Zusammenschluss (west)europäischer Staaten, zuerst als EWG, dann als EG, schließlich als EU.

Gewaltige Anlage, von oben betrachtet: Zeche Auguste Victoria in Marl, Schacht 8. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Gewaltige Anlage, von oben betrachtet: Zeche Auguste Victoria in Marl, Schacht 8. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Schon bald aber, noch in den späten 50er Jahren, wurden im Revier die ersten Feierschichten gefahren und es kam vereinzelt zu Zechenschließungen. Die erste ganz große Krise, die letztlich zur Gründung des Einheitskonzerns RAG (Ruhrkohle AG) führte, erfasste den Bergbau um 1966.

All diese Entwicklungen werden in der WDR-Doku gesprächsweise und mit historischen Filmausschnitten aufbereitet. Gelegentlich mit breit ausladender, feierlicher Musik unterlegt (Komponist Rainer Quade / Bochumer Sinfoniker), hat der Film einige seiner stärksten Momente, wenn die Kamera einfach nur in die Gesichter der Bergleute blickt.

Man möchte pathetisch werden – aber das passt nicht

Man könnte mit einigem Pathos darüber reden und sie als „Helden der Arbeit“ preisen, doch das wäre diesen Menschen nicht angemessen. Sie sind allesamt bodenständig und erdverbunden geblieben, wie es ihr knochenharter Beruf nun einmal mit sich bringt. Sie stehen für das, was das Ruhrgebiet einmal ausgemacht hat. Selbst der hippe DJ aus Gelsenkirchen findet, dass man die alten Zechenbauten als Stätten der Identifikation erhalten solle. Durch Eltern und Großeltern haben viele noch eine Ahnung vom einstigen Revier. Es war schmutzig, aber es war die Heimat.

Dass Kubny und Neunkirchen sich nur durchs westliche und mittlere Ruhrgebiet um Essen, Gelsenkirchen, Bottrop, Duisburg, Herne, Dorsten und Marl bewegen, dass sie das (nord)östliche Revier um Bochum, Dortmund, Lünen, Hamm und Ahlen gänzlich außen vor lassen – geschenkt. Dass sie nicht einmal die Dortmunder Jugendstil-Zeche Zollern mit dem Westfälischen Industriemuseum aufgesucht haben – auch geschenkt. Dass sie als einzigen kumpeltauglichen Fußballverein nur Schalke 04 gelten lassen – ebenfalls zähneknirschend geschenkt. Das müssen sie mit ihrem Gewissen ausmachen.

Der Dreck, die Mühsal, die Unglücke

Sie entschädigen mit grandiosen Aufnahmen der gewaltigen Industrieanlagen, die teilweise dem Verfall preisgegeben sind, teilweise aber auch mit neuem, oft kulturträchtigem Leben gefüllt werden. Andernorts holt sich das Grün die Brachen zurück. Neben solcher Industrie-Ästhetik werden freilich auch die Schattenseiten des einst so dreckig verrußten Reviers nicht verschwiegen. Ein kurzes Kapitel handelt vom schweren Leben der Ruhrgebiets-Frauen, die die Wäsche nur unter größten Mühen sauber bekamen – ohne Maschinenhilfe, dafür aber mit vielen quirligen Kindern auf engstem Wohnraum. Und die Blagen hatten, wie man früher so sagte, mächtig Kohldampf.

Von Staublunge, Unfällen und Unglücken ganz zu schweigen. Einer erinnert sich, sichtlich bewegt, wie er mit den Jahren nach und nach neun Kollegen und Freunde für immer verloren hat. Hier ist nur noch Schweigen angebracht.




Werke von großer Aussagekraft – eine nachdrückliche Erinnerung an den Künstler Werner Habig

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den Künstler Werner Habig, der u. a. viele Jahre als Kunsterzieher in Bergkamen tätig war:

Vor dem Städtischen Gymnasium in Bergkamen steht auf dem Rasenstück neben dem PZ eine abstrakte Skulptur. Es ist eine aufgeschnittene Kugel, deren Einzelteile in einer reizvollen Kombination nebeneinander gesetzt sind und so eine neue Einheit bilden. Die Skulptur ist zum Logo des Gymnasiums geworden und findet sich u.a. auf dem Briefkopf der Schule wieder.

Der BIldhauer Werner Habig (Foto: © Stefan Milk)

Der in Wattenscheid geborene Künstler Werner Habig (1924-1990) (Foto: © Stefan Milk)

Der Bildhauer, der dieses Werk geschaffen hat, ist Werner Habig, er war damals einziger Kunsterzieher am Gymnasium, durch dessen Unterricht ganze Generationen an Schülern gegangen sind.

In Bergkamen ist er leider als Schöpfer dieses Kunstwerks in Vergessenheit geraten. Bei einer Auflistung der Kunstwerke in Bergkamen durch das Kulturamt wurde die Skulptur vor dem Gymnasium mit „Künstler unbekannt“ aufgeführt. In einer späteren Liste tauchte sie gar nicht mehr auf.

Habig liebte abstrakte Formen, er schulte seine Gymnasiasten in diese Richtung und es entstanden viele Bilder nach mathematisch durchgerechneten Überlegungen.

In seiner eigenen Kunst, den Zeichnungen, vor allem aber den Skulpturen, blieb Habig nicht bei der Abstraktion. Er war ein vielseitiger Künstler, der vor allem durch Porträts von sich reden gemacht hat. Im Foyer des Recklinghauser Festspielhauses steht bis heute ein Porträt des Mitbegründers der Ruhrfestspiele, Otto Burrmeister, das Habig geschaffen hat. Ebenso gibt es von ihm eine Herbert-Wehner-Büste, die der SPD-Politiker von allen seinen Darstellungen am meisten schätzte. Stolz ließ sich Wehner in den achtziger Jahren neben der Habig-Büste ablichten.

Erschütterndes Gegenbild zu heldenhaften Christus-Darstellungen

Erschreckendes Sinnbild von Diktatur und Terror ist Habigs Büste des spanischen Diktators Franco: ein hohler Kopf mit greisenhaftem, bösartigem Gesicht und toten Augen. Davon sprach Habigs Freund Gerd Holtmann, Kamener Junge und späterer Leiter der Ruhrfestspiele, immer in einer Mischung von Bewunderung und Abscheu. „Man kann die Figur nicht lange um sich ertragen“, urteilte er. „Man hat das Gefühl, das Bösartige greift nach einem.“

Habig-Skulptur: Christus von Kevelaer. (Foto: © Stefan Milk)

Bekannte Habig-Skulptur: Christus von Kevelaer. (Foto: © Stefan Milk)

Gänzlich anders, wenn auch ebenfalls erschreckend, ist Habigs sehr bekannte Darstellung „Der Christus von Kevelaer“ gestaltet, die Einzug gefunden hat in viele Religionsbücher. Für die evangelische Kirche in Kevelaer hatte er in den fünfziger Jahren den Auftrag erhalten, ein Kruzifix zu gestalten. Habig erinnerte sich an die heldenhaften Darstellungen des germanisch geprägten Christus während der Nazizeit und hielt ein Antibild dagegen.

Vorbilder für seinen Christus waren die ausgemergelten, zu Tode geschundenen KZ-Insassen, die aus dem Gasofen gezogenen Skelette, eine Provokation, die auch in Kevelaer anfangs zu heftigen Auseinandersetzungen führte.

Ein verzerrter, entsetzlich entstellter Körper hängt an einem schmalen Bronzekreuz, der Brustkorb hat ein tiefes Loch, Ellbogen und Schultergelenke sind überdeutlich herausgedrückt, dabei ist die Figur weit nach vorn gesackt und nur noch durch die Nägel mit dem Kreuz verbunden. Man bleibt gebannt stehen, wenn man die Christuskirche in Kevelaer besucht.

1990, nur wenige Monate nach seiner Pensionierung, ist er in seinem Haus in Hamm-Sandbochum im Alter von 65 Jahren gestorben. Es ist an der Zeit, an diesen Künstler zu erinnern, der leider viel zu wenige, dafür aber großartige Werke geschaffen hat.

 

 

 

 

 

 




Die „Kumpel“-Zeit im Ruhrgebiet ist längst vorbei: Jetzt sind nur noch „Akteure“ auf der Zeche

Stillgelegte Fördertürme der Marler Zeche Auguste Victoria (Schacht 1 und 2). (Foto: Daniel Ullrich / Threedots - Wikimedia CReatice Commons - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Stillgelegte Fördertürme der Marler Zeche Auguste Victoria (Schacht 1 und 2). (Foto: Daniel Ullrich / Threedots – Wikimedia Creative Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Es scheint ganz so, als käme man beim Regionalverband Ruhr (RVR) vom angeblich metropolitanen Urbanitäts-Sprech nicht mehr herunter, das eigentlich ein von Bürokraten und Funktionären ausgehecktes, besinnungsloses Event-Sprech ist, welches sich wiederum im Grunde als lebensfernes Schnarch-Sprech erweist.

Auch rückwirkend werden Menschen nach diesem Kauderwelsch kategorisiert. Wollt ihr beispielsweise wissen, wer früher „auf Zeche“ tätig war, also denkbar hart gearbeitet oder – noch viel wahrer ausgedrückt – malocht hat?

Hier erfahrt ihr es. In einer heute lancierten Pressemitteilung aus dem Hause RVR kommt dieser weichgespülte Satz zum WDR-Dokufilm „Der lange Abschied von der Kohle“ vor, der von der Schließungsphase der Zeche Auguste Victoria in Marl handelt:

„Parallel zur Schließungsgeschichte schlägt der Film mit Archivmaterial und Erzählungen von Akteuren den Bogen von den 1950er Jahren bis heute.“

„Erzählungen von Akteuren“. Um mal herzhaft auf Herbert Knebel zu machen: Boaah, ey, glaubsse! Meine Fresse! Auch hier wären sie also zugange (gewesen): die notorischen, laut RVR stets auch für allerlei Ausprägungen der Revierkultur zuständigen „Akteure“ – und offenbar erst in zweiter Linie Bergleute, von „Kumpeln“ ganz zu schweigen.

Diese immer wieder gedankenlos herbeizitierten „Akteure“ können alles und nichts bedeuten. Es müssen wohl blutleere, künstliche Wesen, Zombies oder Aliens sein, die mit Klassenzusammenhängen oder gar Kämpfen nichts mehr zu schaffen haben. Woran sich zwanglos die Frage anschließt: Sind auch landläufige Betriebsnudeln „Akteure“?

Nun aber Fakten, Fakten, Fakten: Für seinen Dokumentarfilm hat Werner Kubny ab Herbst 2015 ein Jahr lang einige Bergleute begleitet. Am Freitag, 5. Januar, läuft die 90-minütige Doku um 20.15 Uhr im WDR-Fernsehen.

Hintergrund ist das endgültige Aus für den Steinkohlebergbau im gesamten Ruhrgebiet, das 2018 mit Schließung der Bottroper Zeche Prosper Haniel bevorsteht. Es ist das Ende einer Epoche, das sich freilich schon seit Jahrzehnten abzeichnet. In diesem neuen Jahr wird das Thema so manche Kultur-Unternehmung prägen.




Wie sich die chinesische Lyrik nach und nach von Fesseln befreite und endlich den Alltag entdeckte

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann über chinesische Gegenwartslyrik und eine Begegnung mit einigen ihrer Urheber:

Wenn in Chinas Schulen Lyrik besprochen wird, sind es meist traditionelle Gedichte aus der Tang- (618-907 n. Chr.) und der Song-Dynastie (960-1279 n. Chr.). Dabei hätte die chinesische Gegenwartslyrik durchaus Beachtung verdient, hat sie doch in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen.

Der stilbildende Lyriker Ai Qing im Jahr 1929. (Foto: unbekannt / gemeinfrei - Link mit Lizenzangaben:)

Der stilbildende Lyriker Ai Qing im Jahr 1929. (Foto: unbekannt / gemeinfrei / Wikimedia Commons – Link mit Lizenzangaben: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ai_Qing_1929.jpg)

So viel Lyrikbände und Anthologien wie selten zuvor sind im vergangenen Jahrzehnt veröffentlicht worden. Wer hier allerdings spektakuläre Zahlen angesichts eines 1,35-Milliarden-Volkes erwartet, sieht sich schnell enttäuscht.

Etwa 80 Prozent der Chinesen sind Bauern, die meisten wohnen weit weg von den boomenden Städten. Vom Wirtschaftsaufschwung, der spürbaren Öffnung und dem Bildungshunger bekommen allenfalls einige ihrer Kinder etwas mit. 1000 Lyrikanthologien mit jeweils ein paar tausend verkauften Exemplaren, das sind auch für China respektable Zahlen. Übrigens nicht nur für Lyrikbände.

Annäherung an die Umgangssprache

Das gewachsene Interesse an der Gegenwartslyrik rührt zum Teil daher, dass sie den Lesern weit entgegenkommt, hat sie sich doch von traditionellen Formen und Inhalten gelöst und den Alltag entdeckt, so dass sich die Leser in ihnen wiederfinden.

Chinas Lyrik der letzten Jahrzehnte kann man grob in drei Etappen einteilen. Bis zur „Neue-Literatur-Bewegung“, die sich im Mai 1919 formierte, war die chinesische Lyrik formal und inhaltlich streng festgeschrieben. Beispiel ist hier die chinesische Reimform „Ch`e“ (auch „Tz´i“). Sie besteht aus zwei vierversigen Strophen mit vorgeschriebenem Reimschema, je Vers sieben Silben (ersatzweise auch Wörter), mit Bruch jeweils nach der vierten Silbe. Geschrieben in hohem Tonfall und festgelegter Metaphorik (etwa der gelbe Fluss als Bild für die Mutter).

Danach begannen sich die chinesischen Lyriker der Umgangssprache zu nähern und suchten nach neuen Metaphern, die dem Alltag der Menschen entnommen und folglich zeitaktuell waren. Unter den ausländischen Autoren waren Whitman oder Tagore Vorbilder.

Die Mauer und der Flug der Vögel

Ein weiteres Fortschreiten in diese Richtung erfolgte dann in den 50er Jahren in der Phase der „patriotisch-politischen Lyrik“, wie manche Chinesen diese Richtung nennen. Dichterkreise wie „Juli“ oder „Neun Blätter“ spielten eine wichtige Rolle. Der Sprachrhythmus wurde noch fließender, so dass Emotionen stärker zum Ausdruck gebracht werden konnten.

Dichter wie Ai Qing, Zang Ke-Jia, He Qi-Fang oder Tian Jian traten nun hervor. Insbesondere Ai Qing (Jahrgang 1910) hat der Gegenwartslyrik viele ästhetische Impulse gegeben, er zählt zu den wichtigsten chinesischen Lyrikern. Bei einem Besuch in Deutschland 1979 schrieb er u.a. ein Gedicht über das Geburtshaus von Karl Marx und eines über die Mauer in Berlin, die Ai Qing in bewegenden Bildern kritisierte:

…wie könnte sie
die Flüge der Vögel und den Gesang der Nachtigall verhindern?

Wie könnte sie
das fließende Wasser und die Luft aufhalten?

Wie könnte sie
die Gedanken von Hunderttausenden
freier als der Wind
ihren Willen fester als das Land
ihre Wünsche dauerhafter als die Zeit verhindern?

Als „rechte Elemente“ verfolgt

Schon diese Dichter hatten mit Verfolgung zu kämpfen. Gong Liu (Jg. 1927) zum Beispiel, der ein wunderschönes Vater-Gedicht schrieb, seinen Vater und alle Väter meinend, ein Gedicht,  in dem er den unermüdlichen Fleiß der Väter beschreibt, die doch in der langen Geschichte Chinas stets um den Lohn ihrer Arbeit gebracht wurden, Gong Liu also wurde in den 50er Jahren als „rechtes Element“ verurteilt, in den 80er Jahren aber rehabilitiert und begann dann wieder zu schreiben.

Ähnlich erging es Liu Shahe (Jg. 1931) und Shao Yanxiang (Jg. 1933), die in ihren Anfangsjahren mutig einen subjektiv-ehrlichen Ton gegen die vorherrschende Lob- und Preislyrik der fünfziger und sechziger Jahre setzten, die dafür verfolgt wurden und erst nach ihrer Rehabilitierung (stets Anfang der achtziger Jahre) ihre literarische Arbeit wieder aufnehmen konnten. Sie zeigten Mut und Konsequenz, die Respekt abnötigen.

Monlonliteratur setzt auf Subjektivität

Insgesamt kann man den Trend der chinesischen Lyrik als Entwicklung zu immer mehr Subjektivität im Inhalt, zu immer stärkerer Anknüpfung an die Umgangssprache im Formalen bewerten. Die letzte der drei Etappen wird Monlonliteratur genannt. Monlon bedeutet „verschwommen“.  Es wird also bewusst auf das Vage, Nicht-Eindeutige, auf das Andeutende gesetzt, auf starke Subjektivität also. Sie ist ganz sicher eine Reaktion auf die zerstörerische Kulturrevolution, auf den politischen Druck und hatte ihren Ursprung in der  sogenannten „Schubladenliteratur“, die während der Kulturrevolution geschrieben, aber erst nach deren Ende und vor allem nach Maos Tod 1976 veröffentlicht werden durfte.

Der Lyriker Bei Dao im Jahr 2010 auf dem Freiheitsplatz in Tallinn/Estland. (Foto: Avjoska / Link zur Lizenz:

Auch bei uns bekannt: der Lyriker Bei Dao im Jahr 2010 – auf dem Freiheitsplatz in Tallinn/Estland. (Foto: Avjoska / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/)

Mühsam mussten sich Chinas Schriftsteller danach den Anschluss an die Moderne erarbeiteten. Ganz, so urteilte der Bonner Sinologe Alfred Kubin in einem Vortrag vor einigen Jahren in Shanghai, sei ihr das bis heute nicht gelungen. Die chinesische Literatur sei immer noch sinozentristisch, urteilte er.

Chinas Schriftsteller, unter anderem der stellvertretende Vorsitzende des Schriftstellerverbands Chen Zhong Shi, dessen berühmten Roman „Bai Lu Yuan“, in dem er am Beispiel eines Dorfes Chinas jüngste Geschichte erzählt, jeder Chinese kennt, zeigten Betroffenheit. Kubin hatte etwas angesprochen, das auch Chen Zhong Shi sehr zu denken gab. Es ist eine Lücke, die teilweise den Autoren, zum großen Teil aber den politischen Umständen anzulasten ist.

Bei Dao (Jg. 1949), Gu Cheng (Jg. 1956), Shu Ting (Jg. 1952) und Jiang He (d.i. Yu Youze, Jg. 1949) sind wichtige Namen dieser Richtung. Diese Lyrik hat im heutigen China, das sich vergleichsweise weit geöffnet hat, auch offizielle Anerkennung gefunden. Gu Cheng und Shu Ting beispielsweise bekamen für ihre Lyrikbände Preise des Schriftstellerverbands.

Von allen ist in Deutschland vermutlich Bei Dao der bekannsteste. Von ihm daher der Auszug aus einem Gedicht:

Der Akkord

Der Wald und ich
umkreisen eng den kleinen See
Die Hand ins Wasser getaucht
stört der Möwe tief sinnende Augen
Der Wald einsam und allein
Das Meer weit entfernt

Ich gehe auf die Straße
Der Lärm wird zurückgehalten hinter dem Rot
Der Schatten breitet sich
fächerartig aus
Die Fußstapfen schief und schräg
Die Verkehrsinsel einsam und allein
Das Meer weit entfernt…

Chinesisch-deutsches Treffen in Xi’an

Zwischen bundesdeutschen Schriftstellern und jüngeren Vertretern der Monlonliteratur gab es 1993 in Xi´an eine hochinteressante Begegnung. Über den Hintereingang kamen die chinesischen Schriftsteller ins Hotel, es war ein kalter Wintertag, sie trugen zwei Hosen übereinander, wie es manche Chinesen damals im Winter machten, weil sie zu Hause nicht genügend heizen konnten.

Shen Qi, Lyriker und Hochschullehrer, Yi Sha, ein damals etwas dicklicher junger Mann, Chefredakteur einer Hochschulzeitung und als avantgardistischer Schriftsteller in der Provinz Shaanxi durchaus bekannt, dazu der junge Lyriker Jiang Tao suchten das Gespräch mit den deutschen Kollegen.

Ein Covergirl als Tarnung

Während Tee getrunken wurde, erzählten die chinesischen Lyriker, dass sie die Untergrundzeitung “Genesis“ herausgaben, die von Auslandschinesen finanziert wurde, aber nicht offiziell zu kaufen war, sondern an Abonnenten per Post verschickt wurde. Um ihre Zeitschrift weiter zu tarnen, setzten sie ein Covergirl auf das Umschlagbild, so dass man nicht gleich merken konnte, dass es sich um eine Zeitschrift mit zeitkritischen Monlon-Gedichten handelte.

Sie betonten all die oben beschriebenen Elemente, die die neue chinesische Lyrik auszeichneten, wie die Abkehr von formaler Strenge und die Annäherung an die Alltagssprache. Damals waren sie gerade dabei, die europäische Literatur des Absurden wie etwa Beckett für sich zu entdecken, und die bundesdeutschen Autoren spürten, wie weit sie von den herrschenden Strömungen entfernt waren.

Harndrang über dem Gelben Fluss

Die chinesischen Autoren selbst spürten das auch, baten um Verständnis und erzählten, dass sie, um die Lücken schneller aufarbeiten zu können, in Gruppen zusammenarbeiteten. Dort könnten sie durch Austausch schneller lernen. Gerne würden sie sich auch zu gemeinsamen Spaziergängen verabreden, weil sie dabei am ungestörtesten (gemeint war wohl auch: am sichersten) miteinander reden konnten. Sie legten weniger Wert darauf, gedruckt zu werden, sondern wollten über Lesungen ihre Literatur verbreiten, um so eine direkte Wirkung zu erzielen.

Zum Schluss las damals Yi Sha zwei seiner Gedichte vor, eines, bei dem er stotterte (eine krasse Anlehnung an die gesprochene Sprache), ein weiteres, in dem der Gelbe Fluss auftauchte, in der alten chinesischen Lyrik das Bild für die Mutter. Bei Yi Sha aber war das anders, denn er schilderte eine Zugfahrt und gerade in jenem Moment, als der Zug die Brücke über den Gelben Fluss befährt, muss das lyrische Ich zur Toilette und pinkeln. Drastischer konnte er sich nicht von der alten Metaphorik und ihrem Pathos absetzen. Inzwischen ist er längst ein bekannter Dichter in China. Unter seinem richtigen Namen Wu Wenjian arbeitet er als Professor an der Fremdsprachenuniversität Xisu in Xi´an.