15 Episoden erzählen von der Liebe – „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ von Joel Pommerat in Münster

Das Ensemble: Ulrike Knobloch, Sandra Bezler, Gerhard Mohr, Ilja Harjes, Wilhelm Schlotterer, Carola von Seckendorff, Regine Andratschke, Andrea Spicher  (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Groß ist der Bühnenraum, fast leer und in ungemütliches helles Licht getaucht. In der Mitte steht eine Frau, die erklärt, warum sie die Scheidung will. Im Zuschauerraum verteilte Darsteller stellen peinliche Verhörfragen, warum erst jetzt, warum überhaupt. Doch die Frau wankt nicht, weil da keine Liebe ist, geht schließlich ohne erkennbare Erregung ab. „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ heißt das Stück von Joel Pommerat, das Beziehungsthemen in unterschiedlichsten Spielarten so lapidar zelebriert und das jetzt in Münster Premiere hatte.

Bizarr und alltäglich

Da platzt eine Hochzeit, weil die Schwester der Braut ebenfalls Ansprüche auf den Bräutigam anmeldet, da hören Nachbarin und Nachbar hilflos zu, wie ihre Partner es heftig miteinander treiben (oder woher kommen die Geräusche?), da gibt eine Prostituierte sich zum Nulltarif hin, weil sie an die Liebe glaubt.

15 Episoden zählt das Programmheft auf, die Pommerat in seinem Stück eher unvermittelt aneinanderreiht und in denen er Partnerbeziehungen beschreibt, die mal bizarr sind, mal aber auch von frappierender Alltäglichkeit. So, wenn Paare am Ende sind und der eine vom anderen zurückfordert, was er ihm gegeben habe, emotional. Der andere versteht das gar nicht, alles bleibt im Vagen, beim schwulen Paar ebenso wie bei den beiden Frauen.

Episode „Hochzeit“; Szene mit Regine Andratschke, Ulrike Knobloch, Ilja Harjes, Sandra Bezler, Andrea Spicher (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Mit Korea hat das Stück nichts zu tun, mit Liebe viel. Der Titel ist lediglich ein Zitat aus einer Episode, der Versuch, die Großartigkeit einer ersehnten wie unerfüllbaren Liebe zu erklären. So großartig sei sie, wie – eben – „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“.

Mit der Säge

Graue Plastikstühle sind fast die einzigen Requisiten (Bühne: Sylvia Rieger). Einmal allerdings kommt der Spezialtisch eines Magiers ins Spiel, auf dem er sich anschickt, eine Frau zu zersägen. Die Episode nimmt eine unerwartete Entwicklung, als die Dame sagt, sie halte es für möglich, vom Magier im Zustand der Bewusstlosigkeit vergewaltigt worden zu sein, was sie allerdings in der Erinnerung sehr schön finde und gerne wiederholen würde. Der Magier, dessen empörte Leugnung in rhetorischer Absurdität verpuffen muss, schafft es anschließend nicht mehr, die Frau zu zersägen. Schließlich hat sie die Säge in der Hand – ein putziges Stück Machtumverteilung, auf das man erstmal kommen muss. „Liebestrank“ ist die Episode überschrieben.

Episode „Liebestrank“; Szene mit Christian Bo Salle, Sandra Bezler (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Ein wenig Musik

In Münster baut Regisseurin Anne Bader weitgehend auf die Vorlage, lässt die Episoden auf der Bühne allerdings szenisch ineinanderfließen, so dass sich keine harten Schnitte ergeben. Nur einmal geht das Licht aus, aber da handelt es sich um einen Stromausfall im Stück, der zum Gebrauch von Taschenlampen zwingt, was zur Entdeckung eines Erhenkten führt.

Rhythmische, melodische und trotzdem irgendwie beunruhigende leise Musik liegt unter dem Bühnengeschehen, manchmal tanzen Protagonisten; im Tanz, so scheint es, finden sie die Harmonie, den Gleichklang, die ihnen das wirkliche Leben vorenthält. Wiederholt greift Ilja Harjes in die Saiten seiner Elektrogitarre und stimmt schmachtende Liebeslieder aus dem amerikanischen Repertoire an, die man kennt und mehr oder weniger auch versteht. Manchmal singen die Personen auf der Bühne mit, doch bleibt Live-Musik hier ein zurückhaltendes Bühnenelement, das ein wenig strukturiert und akzentuiert, ohne sich in den Vordergrund zu schieben.

Episode „Schwanger“; Szene mit Christian Bo Salle, Andrea Spicher(Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Erschütternd intensiv

Diese Inszenierung, die gänzlich ohne Video, ohne Projektionen, ohne dramatische Lichtsetzung auskommt, setzt voll und ganz auf die solide agierenden 10 Schauspielerinnen und Schauspieler aus dem Münsteraner Ensemble, die die namenlos bleibenden Personen in den Episoden geben (Regine Andratschke, Sandra Bezler, Joachim Foerster, Ilja Harjes, Ulrike Knobloch, Gerhard Mohr, Christian Bo Salle, Wilhelm Schlotterer und Carola von Seckendorff).

In besonderer Erinnerung bleibt Andrea Spicher in der letzten Episode „Schwanger“. Hier gibt sie eine geistig zurückgebliebene Heiminsassin, die geschwängert wurde und das Kind nicht, wie in früheren Fällen, abtreiben lassen will. Sie liebt, sagt sie, den Kindsvater und will mit ihm ein neues Leben beginnen. Verliebtheit, Verzweiflung, Glück, Trotz – all das spielt Andrea Spicher bis in feine Gesten und Posen hinein mit erschütternder Intensität. Das begeisterte Publikum bedachte sie dafür mit einem deutlichen Mehr an Applaus.




Die wundersame Macht des Zufalls: „Das rote Notizbuch“ von Paul Auster liegt endlich vollständig auf Deutsch vor

Das Leben hängt am seidenen Faden, der Zufall regiert die Welt, und wer du bist und was du wirst, hängt oft allein davon ab, welche Entscheidung du an einer unscheinbaren Wegmarke triffst oder ob du die Telefonnummer wählst, die auf einem Zettel notiert ist, den du im Hotel unter einem Stuhl findest.

Es gibt wohl kaum ein Buch des jüdisch-amerikanischen Autors Paul Auster, in dem der Zufall nicht eine entscheidende Rolle spielt und darüber wacht, ob die Protagonisten weiter in einer Welt leben dürfen, die ohnehin nicht aus Wirklichkeit, sondern aus Sprache gebaut ist.

Zuletzt hatte Auster in seinem 1200-seitigen Opus Magnum „4, 3, 2, 1“ sein Lebensmotto und den Schreibimpuls („Was wäre geschehen, wenn…“) am Beispiel von Archibald Ferguson gleich viermal durchgespielt und furios vorgeführt, welche Variationen möglicher Identitäten eine Lebensgeschichte haben kann, wenn man an einer bestimmten Stelle aus dem Tritt gerät, dem Schicksal in die Quere kommt oder dem Tod noch einmal von der Schippe springt.

Als der Jugendfreund vom Blitz erschlagen wurde

Paul Auster war 14, als ihm schmerzlich bewusst wurde, wie wenig ein Leben wiegt und wie schnell es vorbei ist: Bei einer Jugendfreizeit geraten er und ein Freund in ein heftiges Gewitter. Während sein direkt neben ihm stehender Freund vom Blitz erschlagen wird, kommt Paul mit dem Schrecken davon. Auster hat dieses traumatische Erlebnis oft erzählt und vielfach literarisch variiert. Natürlich findet sich diese Geschichte auch in der Sammlung seltsamer Wechselfälle des Lebens, die er schon vor Jahren unter dem Titel „Das rote Notizbuch“ veröffentlichte und die jetzt erstmals vollständig auf Deutsch erscheint: Auster berichtet von kuriosen Begegnungen und oft bizarren Zufällen, vollkommen verrückt erscheinenden Ereignissen, die jeder Logik spotten und doch, darauf besteht er mehrfach, nicht erfunden, sondern wahr sind.

Das unverhoffte Erscheinen eines Retters

Als es ihm in jungen Jahren einmal besonders dreckig geht und er als unbekannter Autor fast verhungert, taucht im letzten Moment eine Retter am Horizont auf und will ihn unbedingt – warum eigentlich? – zum Essen einladen. Als er sich einmal abends im Stadion bei einem Baseballspiel bückt, um eine am Boden liegende Münze aufzuheben, ist es – das kann doch nicht sein! – dieselbe Münze, die er morgens vor seinem Haus in Brooklyn verloren hat. Das vergriffene Buch, nach dem sein Freund seit langem vergeblich sucht, taucht plötzlich in den Händen einer fremden Frau auf, die es gerade auf der Straße, lässig an ein Marmorgeländer gelehnt, liest. Als der Freund die Frau ansprichst, und ihr erzählt, wie sehr ihm an diesem Buch liegt, antworte sie: „Nehmen Sie meins.“ Und als der überraschte Mann zur Frau sagt: “Aber das gehört doch Ihnen“, meint die Frau nur lächelnd: „Es hat mir gehört, aber jetzt bin ich damit fertig. Ich bin heute hierher gekommen, um es Ihnen zu schenken.“

Die Welt ist klein, die Literatur ist groß

Es sind nicht nur unglaubliche, sondern auch unglaublich schöne und verwirrende Geschichten, die Auster aus seinen Erinnerungen ans Tageslicht zieht und die von Menschen erzählen, die auf wundersame Weise mit seinem Leben verbunden sind. Eine handelt von zwei jungen amerikanischen Frauen, die in Taiwan Chinesisch studieren und feststellen, dass ihre in New York lebenden Schwestern sich zwar (noch) nicht kennen, aber im gleichen Haus wohnen. Eine heißt Siri Hustvedt. Auster wird sie kennen lernen und heiraten. Beide werden viele Jahre später von einer fremden Frau in einer Buchhandlung angesprochen, die ihnen erklärt, dass ihre Schwester und Siris Schwester zusammen in Taipeh studiert haben.

Die Welt ist ein Dorf. Der Mensch ist klein. Aber die Literatur ist groß. Und Paul Auster ist einer der ganz großen Autoren, einer, der in den Falten der Zeit das Verdrängte und in den Schwarzen Löchern der Fantasie das Vergessene sucht und uns davon erzählt, warum das Schicksal ungewiss ist, aber doch einen Namen hat: Zufall.

Paul Auster: „Das rote Notizbuch. Wahre Geschichten“. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek. 112 Seiten, 15 Euro.