Die Bewältigung einer Überwältigung – Wagner und Mahler an einem Abend mit dem Mariinsky Orchester und Valery Gergiev

Dirigent Valery Gergiev inmitten seines Orchesters. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Der Mann ist wahnsinnig. Setzt zwei Stücke für einen Konzertabend an, die für sich allein schon wie gewaltige Monolithe im Raum stehen. Platziert den ersten Aufzug aus Richard Wagners „Die Walküre“ neben Gustav Mahlers sechste Sinfonie.

Beide Male geht es um Leben und Tod, insgesamt bald zweieinhalb Stunden lang, geht es also wieder einmal ums Ganze. Das scheint dem Manne am Pult, dem Dirigenten Valery Gergiev, gerade das rechte Maß. Mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg ist er nach Essen gekommen, in die Philharmonie. Es wird ein Abend, der insgesamt beeindruckt, im Einzelnen aber manche Schwäche offenbart. Kein Wunder.

Gergiev wirkt als Dirigent immer ein wenig archaisch. Wie er dasteht mit seinem Zahnstochertaktstock, wenig Körperlichkeit zeigt, nur ab und an einen Einsatz aus den Armen rüttelnd. Manchmal raunt er in sich hinein, zischt oder bläst hörbar die Luft durch die Backen. Von ihm geht eine gewisse Zuchtmeister-Aura aus, die letzthin auch bedeutet, dass seine Disziplin die des Orchesters sein muss. Musizierende „Indianer“ zeigen eben keine Schwächen, sei ein Konzert auch noch so lang. Doch Heldentum ist das eine, die physische Belastbarkeit eines Instrumentalisten die andere Seite der Medaille. Und dann kann schon Mal etwas aus dem Ruder laufen.

So wie im „Walküre“-Aufzug. Der ruppige Streicherbeginn, die Sturm- und Gewittermusik, von höchster Not kündend, wirkt ein wenig holprig und nicht wirklich tief schwarz. Überhaupt scheint Gergiev in erster Linie in Strukturen zu denken, was die zunehmende musikalische Raserei bisweilen ausbremst. Andererseits gönnt sich der Dirigent die feine psychologische Ausdeutung des personellen Beziehungsgeflechts und agiert betont sängerfreundlich. Die wiederum danken es mit klarster Diktion und einem unaufdringlichen Spiel, das die Spannung allein durch Blickkontakte hält.

Anja Kampe (Sieglinde) und Mikhail Vekua (Siegmund), einander noch fremd, im 1. Aufzug von Wagners „Walküre“. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Denn dieser Teil aus Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ handelt nicht zuletzt vom Wiedererkennen. Siegmund flieht vor Feinden und Wetter in Sieglindes Heim. Beide ahnen zunächst, erlangen zunehmend Gewissheit, dass sie einst als Zwillingspaar auseinandergerissen wurden. Die Freude über das Wiedersehen steigert sich zur inzestuösen Liebesbeziehung. Wenn da nur nicht der widerliche Hunding wäre, Sieglindes Gatte durch Zwangsheirat und Siegmunds Todfeind.

Dies alles untermalt Wagner mit rauschhafter Glut und  sehrendem Melos, das sich förmlich beißt mit der archaischen, dunklen Akkordik des Hunding-Motivs. Lyrische Episoden, die von Liebe künden, stehen neben exzessiver Leidenschaft, neben Parlando- und Belcanto-Elementen. Ja, ausdrucksstark und schön darf hier gesungen werden, oder, im Falle Hundings, arg bedrohlich. Das löst Mikhail Petrenko in großer Finsternis ein, wie andererseits die wunderbare Anja Kampe eine Sieglinde gibt, die jugendliche Unbekümmertheit ausstrahlen kann wie auch  die weit gefächerte Emphase. Ihr Sopran ist gut fundiert, blüht herrlich auf, schillert in verführerischen Farben. Nur schade, dass Mikhail Vekua (Siegmund) sich vor allem mit den deutschen Vokalen arg müht. Der Tenor verfügt über jede Menge Metall und Kraft, sucht aber oft sein Heil in der gekünstelten Exaltation, im Affekt.

Sei’s drum: Nach einer guten Stunde dieses emotionalen Aufbegehrens hat das Publikum – und das Orchester – eine Pause redlich verdient. Einige wollen sich das Schwelgen in Wagners Leitmotiven auch nicht zerstören lassen und verzichten auf Mahlers 6. Das ist durchaus nachvollziehbar. Denn es folgen weitere 75 Minuten wild hämmernde Rhythmik, Destruktion und Endzeitstimmung, nur kurz unterbrochen von einer vermeintlichen Idylle, die alsbald schon ins Dramatische abgleitet. Ja, Mahler wollte mit seiner Musik eine Welt zimmern, doch vom puren Paradies war dabei nie die Rede. Schon Schönberg erkannte in der 3. Sinfonie die nackte Seele eines Menschen, „wie eine geheimnisvolle, wilde Landschaft“, mit „grauenerregenden Untiefen“ und „idyllischen Ruheplätzen“.

Am Ende großer Applaus. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Und so ist auch die Nr. 6 ein in musikalische Tableaus gegossener Daseinskampf, der indes in der Katastrophe endet. Zwei wuchtige Hammerschläge im Finale besiegeln das Desaster eines imaginären Helden, zugleich stehen sie für den Zerfall tönender Struktur. Es ist ein Schlagen und ein Toben, Aufjaulen und Zerbröseln im Orchester, dass wir den Wagner vom Beginn des Konzerts nur noch einer fernen Vergangenheit zuordnen wollen.

Fast stoisch allerdings steht Valery Gergiev das alles durch, legt auch hier Strukturen frei, nimmt dem Ganzen jedoch die letzte Entäußerung. Das Orchester gerät konditionell und in puncto Genauigkeit ohnehin an seine Grenzen. Mahlers Raumklangeffekte wollen sich nicht einstellen. Und den wenigen, von Herdenglocken durchtränkten Idyllen, fehlt die Nähe zur Transzendenz, zur Erhabenheit.

Am Ende (natürlich) jede Menge Applaus, doch ein wenig darf sich das Publikum auch selbst feiern. Für die Bewältigung einer Überwältigung.

 

 

 




Mit Leoš Janáček in die neue Spielzeit: Die Essener Philharmoniker eröffnen die Reihe ihrer Sinfoniekonzerte

Er tritt für die Musik seiner Heimat ein: GMD Tomáš Netopil stand am Pult beim ersten Sinfoniekonzert der Spielzeit 2018/19. Foto: Hamza Saad.

Er tritt für die Musik seiner Heimat ein: GMD Tomáš Netopil stand am Pult beim ersten Sinfoniekonzert der Spielzeit 2018/19. Foto: Hamza Saad.

Mit einer Aufführung der „Glagolitischen Messe“ von Leoš Janáček und von Ludwig van Beethovens gerne vernachlässigter Zweiter begann Generalmusikdirektor Tomáš Netopil die Serie der zwölf Sinfoniekonzerte der Essener Philharmoniker.

Mit Janáčeks „Glagolitischer Messe“ stellt Tomáš Netopil ein weiteres wichtiges Werk aus dem hierzulande viel zu wenig bekannten Repertoire seiner tschechischen Heimat vor. Eine Serie, die hoffentlich in den nächsten Jahren – Netopils Vertrag wurde bis 2023 verlängert – weitere Begegnungen ermöglicht. Die Messe trägt ihren Namen, weil der glühende Panslawist Janáček den Messtext im uralten Kirchenslawisch vertont hat.

Liturgisches Werk oder Konzertmusik?

Im Westen wurde die Komposition nie richtig heimisch: Ihr hing wie so manch anderer wertvoller Musik östlicher Nachbarn das zweifelhafte Prädikat des „Nationalen“ an. Nicht für die Liturgie geschaffen und selbst für semiprofessionelle Chöre sehr schwer, dazu weder schmeichelnd melodisch noch offensichtlich fromm, passte sie als merkwürdiger Zwitter weder in die kirchliche Musikpflege noch in den bürgerlichen Konzertbetrieb.

Das hat sich durch einige verdienstvolle Einspielungen – von Rafael Kubelik bis Pierre Boulez – zum Glück geändert. Aber die aufgelockert besetzten Reihen im Alfried Krupp Saal belegen, dass die Messe das Publikum nicht anzieht – ein Schicksal, das sie kurioserweise mit Beethovens Zweiter Sinfonie teilt. Dabei spart Janáček nicht mit hymnischem Überschwang: in den Fanfaren des Beginns etwa, die sich am Ende wiederholen, aber auch im aufgewühlten Credo, das die slawische Glaubensformel „Vĕruju“ stets aufs Neue wiederholt.

Vielfältige Farben der Blechbläser

Dazwischen nimmt Janáček die Musik oft zurück. Aber der raue Samt flächiger Violinen und die dunklen Bläser-Piani werden kontrastiert von Paukensoli und heftigen Orgelakkorden (Friedemann Winklhofer). Die Farben der Blechbläser setzt er vielfältig ein, kontrastiert filigrane Streicher mit der tiefen Glut von Posaunen und Tuba. Die heftigen rhythmischen Akzente, die ostinat wiederholten Figuren, das drängende, oft atemlose Tempo ist als expressives Mittel aus seinen Opern wohlbekannt.

Netopil lässt die Philharmoniker die spröden Seiten des Klangs nicht überbetonen, sondern sorgt für eine eher weiche, aber nicht glattpolierte Artikulation. Almuth Herbst bietet unter den Solisten trotz ihrer nur marginalen Aufgabe den schönsten, weich grundierten Stimmklang. Carlos Cardoso mit kräftig-festem Tenor und Almas Svilpa mit muskulösem Bass sind ihren Partien gewachsen; Andrea Danková zeigt harte Tongebung und flackerndes Vibrato, das dem Kern ihres Soprans dennoch nicht hilft, das Orchester zu überstrahlen.

Alle Anzeichen panischer Gottesfurcht

Patrick Jaskolka und Jens Bingert haben ihre Chöre vorzüglich einstudiert: Die Sängerinnen und Sänger pflegen eine weitgehend klare Aussprache des fremden Idioms. Die Lobpreisungen des „Gloria“, die Glaubenssätze des „Credo“ fasst Janáček nicht in die Form feierlicher Hymnen oder erhabener Anrufungen: Sie erklingen wie hervorgestoßene Aufschreie, atemlos, hektisch, erregt und grell. Da äußert sich keine balsamische Glaubensgewissheit, sondern eine fast panische Gottesfurcht. Der kirchenskeptische Janáček schreibt, ähnlich wie Giuseppe Verdi in seiner „Missa da Requiem“, eine Musik des Zweifels, aber auch der existenziellen Hoffnung am Rande des Nichts. Die Hoffnung, am Ende möge doch nicht alles umsonst gewesen sein, verbindet Janáčeks Messe mit Beethovens Ouvertüre zu Goethes „Egmont“, die den Abend eröffnete, voll Wehmut und Passion.

So haydnisch heiter wie oft beschrieben klingt Beethovens Zweite Sinfonie an diesem Abend auch nicht: Die Violinen artikulieren frisch und markant im ersten Satz, im Scherzo trifft das Orchester die Eleganz á la Haydn, aber auch die unwirschen Akzente und dynamischen Überraschungen, die über die Surprisen des älteren Meisters hinausgehen.

Während Netopil die Einleitung genüsslich ausbreitet, findet er im Allegro con brio des ersten Satzes den forschen Schritt, der gleichwohl nichts überhetzt, gibt im zweiten Satz mehr Atem als Zeit und macht so aus dem „Larghetto“ kein „Largo“. Der letzte Satz wird erhitzt getrieben und hält die Spannung bis zum Ende. So gespielt steht die Zweite keineswegs in der zweiten Reihe der Sinfonien Beethovens.

Saisonausblick: Dominanz des Bewährten

Mit dem Schlagzeug steht in der beginnenden Saison ein Instrumentarium im solistischen Vordergrund, das erst im 20. Jahrhundert zu derartigen Ehren gekommen ist: Alexej Gerassimez, inzwischen in die führende Riege der Schlagzeuger aufgestiegen, widmet sich „Sieidi“, einem Konzert des Finnen Kalevi Aho. Dieses Konzert ist auch in einem neuen „Einsteiger-Abo“ mit vier Konzerten enthalten, mit dem die Vorteile eines fest gebuchten Platzes schmackhaft gemacht werden sollen.

Die weiteren Konzerte bis Juli 2019 bieten Neues oder Überraschendes nur in homöopathischen Dosen, verlassen sich auf die Dominanz des Bewährten und eine Prise von Randständigem: Tschaikowsky etwa zieht immer und kommt mit seiner Fünften, kombiniert mit dem Violinkonzert mit Julian Rachlin als Solist und Dirigent, am 14./15. Februar zu Ehren. Dazu tritt am 11./12. Juli das b-Moll-Klavierkonzert mit Boris Berezovsky. Mozarts „Jupiter“, Bruckners Dritte unter Hans Graf, Mahlers Sechste und Schostakowitschs Fünfte, beide mit Netopil am Pult, umschreiben den Kreis der Sinfonien.

Namhafte Solisten wecken Erwartungen

180 Jahre alt wird der Philharmonische Chor Essen, der mit Janáčeks Messe eine erste Bewährungsprobe erfolgreich bestanden hat und sich am 22./23. November Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ stellen wird. Erwartungen wecken die Namen der Solisten, unter ihnen der amerikanische Pianist Tzimon Barto mit dem B-Dur-Klavierkonzert Johannes Brahms‘ am 10./11. Januar 2019, Christiane Karg mit Maurice Ravels „Shéhérazade“ am 7./8. März, der Geiger Daniel Bell mit Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ am 4./5. April oder Gautier Capuçon, der am 20./21. Juni das Erste Konzert für Violoncello und Orchester op. 33 von Camille Saint-Saëns spielt.

Selten zu hörende Werke wie Arthur Honeggers witzige Sport-Adaption „Rugby“ oder Ottorino Respighis musikalische Annäherung an den magischen Lichtglanz bunter Kirchenfenster „Vetrate di Chiesa“ stehen eher am Rand – in diesem Fall etwa als Einleitung zu Carl Orffs unverwüstlichen „Carmina burana“ mit Ivor Bolton und dem Collegium Vocale Gent am 25./26. April.

Schon am 27. und 28. September setzt sich die Reihe der Sinfoniekonzerte fort, wenn Gastdirigent Alexander Liebreich als zentralen populären Programmpunkt Modest Mussorgskys „Bilder eine Ausstellung“ dirigiert.

Tel.: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de