Von „Alka Seltzer“ bis „Schapusiak“ – Spitznamen, mit denen Fußballspieler ins Ruhrgebiet eingemeindet werden

Gastautor Heinrich Peuckmann über einfallsreiche Spitznamen im Ruhrgebiets-Fußball:

Borussia Dortmund hat wieder einen Knipser, und was für einen! Sechs Tore in 80 Minuten, das hat selbst „kleines dickes Müller“ (wie ihn sein Trainer „Tschik“ Cajkovski nannte) nicht geschafft, Bayern Münchens unvergessener Torjäger.

Da hängt es... und der Erwerb soll sich bitteschön auch gelohnt haben. (Foto: BB / © Trikot: Borussia Dortmund)

Manche nennen ihn der Einfachheit halber „Alka Seltzer“…  (Foto: Bernd Berke / © Trikot: Borussia Dortmund / Puma)

Aber der Name, Mensch der Name. Wie soll man sich das merken? „Alkacär“. Aber in so einem Fall sind wir Dortmunder Fußballfans findig und vor allem erfahren. „Dieser Alka Seltzer, hasse gesehen, hat wieder zugeschlagen“. Klar, Alka Seltzer spült das von der letzten Schreckenssaison vernebelte Gehirn wieder frei. Wir haben wieder Spaß, am Spiel und auch an unserer Wortschöpfung, die nicht die erste ist, die uns gelang.

Da gab es mal den aus der französischen Schweiz stammenden Stephane Chapuisat, auch so ein Knipser, aber noch schwerer auszusprechen. „Schapüisa“, wer kann sich schon derart die Zunge verbiegen? Vor allem, wo wir doch im Ruhrgebiet immer Fußballnamen hatten, die uns leicht und locker von der Zunge gingen. Beispielsweise Leo Konopczynki, SV Sodingen, B-Nationalspieler, oder der Altborusse Hans Cieslarczyk (WM-Teilnehmer).

Und jetzt so was, „Schapüisa“. Aber auch damals wussten wir uns schon zu helfen. Irgendwann rief es einer nach einem Tor: „Hasse gesehen, Schapusiak hat wieder zugeschlagen. Is gut, ey.“ Jau, das war er, wirklich gut. Und die Abkürzung hatten wir auch schnell drauf: Schappi. „Schappi wird Papi“ dichtete mal eine Zeitung. Und wenn sie erst mal solche Namen haben, unsere Stars, dann sind sie eingemeindet, dann gehören sie zu uns. Lange nach Schapusiak nun Alka Seltzer.

Zappel, Appel, Rübe, Ente

Überhaupt, die Spitznamen im Fußball. In Kamen spielte mal bei der örtlichen Westfalia „Zappel“ Lepke, und schon der Name reicht, um zu wissen, wie das aussah. Nervös hat er uns beim Zugucken gemacht, schrecklich nervös mit all seiner Ruderei mit den Armen. „Rübe“ Michalsky war schon fast eine liebevolle Bezeichnung angesichts seiner Birne, die jeder, aber wirklich jeder unter tausend Fußballerköppen sofort herausfinden würde, wenn er nur den Spitznamen kannte, aber nicht „Rübe“ selber.

Oder „Appel“ Maidorn vom VfL Kamen, dessen Wangen schon vor dem Anpfiff glühten wie Granatäpfel. „Appel“ war ein ungefördertes Talent, heute würde er sicher in der ersten oder zweiten Bundesliga spielen. Und egal, wie groß das Stadion sein würde, in dem „Appel“ seine Fußballkünste gezeigt hätte, egal von welchem Platz aus, man hätte ihn sofort unter all den Spielern entdeckt.

Und erst mal der unvergessene „Ente“ Lippens, grandios, wie er mit seinen nach außen gestellten Füßen durchs Westfalenstadion watschelte und seine Gegner schwindelig spielte. Sein Lieblingsgegner war übrigens der „Terrier“ Berti Vogts, den er nicht nur austrickste, sondern auf den er wartete, bis Berti sich wieder aufgerichtet hatte, einzig zu dem Zweck, um ihn noch mal auszutricksen.

Lange vor seiner Dortmunder Zeit hat sich Lippens bei Schwarz-Weiß Essen vorgestellt, wollte einen Profivertrag, aber Trainer Witzler schickte ihn nach dem Probetraining mit der Bemerkung weg: „Hau ab, du kannst ja nicht mal richtig laufen.“ Laufen vielleicht nicht, aber Fußballspielen.

 




Zwischen Kinderspiel und Abstraktion: Die Regisseurin Lotte de Beer wagt sich in Essen an „Carmen“ von Georges Bizet

Zwei Kinder-Toreros beobachten, wie sich das Drama von Don José (Luc Robert) und Carmen (Bettina Ranch) entfaltet (Foto: Matthias Jung).

Zwei Kinder-Toreros beobachten, wie sich das Drama von Don José (Luc Robert) und Carmen (Bettina Ranch) entfaltet (Foto: Matthias Jung).

Wenn die Beleuchtung auf Violett wechselt, haben zwei Kinder das Wort. Über die Tonanlage des Essener Aalto-Theaters legen sie Carmen, Don José und Escamillo die französische Sprache in den Mund, während die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne stumm dazu agieren. Mit dieser selbst erstellten Dialogfassung lösen Lotte de Beer und ihr Regieteam das Kuddelmuddel um die Oper „Carmen“, die in so vielen Versionen überliefert wurde, dass ihr späterer Welterfolg schier verwundern muss.

Wer hält hier wen gefangen? Carmen (Bettina Ranch) umgarnt Don José (Luc Robert. Foto: Matthias Jung)

Die womöglich populärste Oper aller Zeiten in Szene setzen zu müssen, dürfte eine Art Regie-Albtraum sein. Wie den Zigeunerklischees entkommen, dem Stierkampfbrimborium und den Geschlechterstereotypen? Das ist fürwahr kein Kinderspiel – oder vielleicht doch?

Die Niederländerin Lotte de Beer dreht den Spieß mutig um. Direkt nach der Ouvertüre springen zwei Mini-Toreros über die Bühne, prachtvoll ausstaffiert, aber vermutlich nicht älter als acht Jahre. Ihnen sehen wir in den folgenden vier Akten zu, wie sie „Carmen“ spielen. Georges Bizets vermeintlich totinszeniertes Meisterwerk erhält durch diesen Kniff eine Meta-Ebene, die das sattsam bekannte Stück wieder erträglich macht, ihm sogar eine neue Leichtigkeit verleiht.

Die Bühne ist dabei so leer, als habe Wieland Wagner diese „Carmen“ posthum entrümpelt. Keine Zigarettenfabrik, keine Schenke, keine Bergschlucht und keine Stierkampfarena, sondern lediglich eine kreisrunde Spielfläche, die zugleich öffentlicher Platz und Arena ist. Außer einem kleinen Zelt, das die Kinder während eines Zwischenakts aufbauen, gibt es keinerlei Requisiten.

Männlein wie Weiblein streifen sich in der Essener Neuproduktion den Rock über (Foto: Matthias Jung)

Als sei dieser hohe Abstraktionsgrad noch nicht genug, treten Choristen und Gesangssolisten nahezu einheitlich gekleidet auf. Rote Hosen, weiße Hemden und braune Westen bestimmen die Kostüme, die angenehm zurückhaltend und edel wirken (Clement & Sanôu). Mag Carmen ihren Rock auch ein wenig höher über das Knie lüften als ihre Kameradinnen, von bunten Tüchern, Goldschmuck und Flitter ist nichts an ihr zu sehen. Sie nimmt auch nicht an dem munteren Klamottentausch zwischen den Choristen und Choristinnen teil, mit dem die Regie die Geschlechterrollen in Frage stellt.

Die Personenführung ist stark aus der Musik heraus entwickelt. Chöre und Ensembles bewegen sich wie nach einer Choreographie: Sie greifen Schwung und Rhythmus von Bizets Partitur auf und treiben das Rad der Handlung unentwegt nach vorne. Zuweilen frieren die bewegten Tableaus aber auch zu Standbildern ein, die mit weißem Licht wie aus dem Dunkel der Aalto-Bühne heraus geschnitten scheinen. Überhaupt kommt der Ausleuchtung des Raums hier große atmosphärische Bedeutung zu (Licht: Alex Brok).

Wenn Carmen und José sich unterhalten, wechselt das Licht auf violett (Foto: Matthias Jung)

Schwächer gelingt die Charakterisierung der Figuren. Soll diese Carmen nun eine Femme fatale sein oder eine Femme fragile – oder weder noch? In Essen wirkt sie trotz roter Haarpracht beinahe wie eine unter vielen, was den Kontrast zu ihrer Gegenspielerin Micaëla schmälert, der frommen Bürgerstochter, die ebenfalls um Don Josés Liebe kämpft. Escamillo trägt den rotweißen Einheitsdress. Die Kinder-Toreros folgen ihm wie Schatten, zuweilen hebt er sie auf seine Schultern. Selbstgewissheit oder gar Machismo nimmt man diesem Mann nicht wirklich ab. Alles bleibt Behauptung.

Carmen (Bettina Ranch, r.) und die Schmuggler nehmen Leutnant Zuniga gefangen (Foto: Matthias Jung)

Die Stimmen klingen am Premierenabend oft ein wenig verloren auf der riesigen Bühnenfläche. Die Berlinerin Bettina Ranch, seit 2016/17 Ensemblemitglied der Essener Oper, bedient als Carmen gekonnt die Palette der schmeichlerischen bis schneidenden Töne.

Aber abseits von Habanera und Seguidilla besitzt ihr Mezzo gerade eben noch genug Volumen, um José einzuheizen. Da erntet Jessica Muirhead für die Felsenarie der Micaëla beinahe mehr Szenenapplaus. Dem steifen Bassbariton von Almas Svilpa (Escamillo) merkt man die vielen Auftritte als Wotan, Holländer und Jochanaan deutlich an. Der Kanadier Luc Robert gönnt uns als Don José einen feinen Spinto-Tenor und eine sensibel gestaltete Blumenarie.

Am Dirigentenpult setzt Saarbrückens GMD Sébastien Rouland die Partitur mit dem rechten Esprit unter Zug und Spannung. Unter seiner Leitung steigen die wunderbaren Girlanden des Zigarettenrauchs der Fabrikarbeiterinnen zart, aber ohne süßliches Parfüm in die Luft. Was Schmiss und Schwung braucht in den großen Chören und den Torero-Musiken, laden die Essener Philharmoniker zudem mit federnder Eleganz auf. Schade, dass der Absprung in das rasante Schmugglerquintett bei der Premiere komplett daneben geht. Erst nach vielen Takten finden Sänger und Orchester endlich wieder zueinander.

Die exzellent singenden und agierenden Chöre, der Kinderchor und die Statisterie des Aalto-Theaters verschmelzen zu einer eindrucksvoll wogenden Masse, aus der heraus sich das Drama entwickelt. Sie bilden die Kulisse, vor der die Natur des Don José kenntlich wird: ein Korken auf stürmischer See, wie planlos umhergetrieben. Dass dieser Mann am Ende mordet, was er liebt, scheint unausweichlich. José fällt wie in Hyperions Schicksalslied: wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, blindlings von einer Stunde zur anderen.

(Termine und Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/carmen/)




Plastikpuppen, Suchmaschinen – Dortmunder Hartware Medienkunstverein zeigt Arbeiten von „Computer Grrrls“

Bild aus Caroline Martels Film „The Phantom of the Operator“ von 2004 (Bild: public domain/artifact productions. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Zwei aufblasbare überlebensgroße Plastikpuppen sind der Blickfang im Raum – plumpe Gebilde, denen Ventilatoren in regelmäßigen Abständen Kontur und Fülle verleihen, bevor sie, mangels Luftdruck, wieder in sich zusammensacken. Der grob-schlächtigen Bemalung nach sind sie nackt, eine erotische Anmutung jedoch geht von ihnen eher nicht aus.

Luftnummer

Was die Figuren eint, ist ihre Geschichte: Beide sind sie Auftragsarbeiten, entstanden in spezialisierten Werkstätten in China und den Niederlanden, denen als Vorbild identische zweidimensionale Pläne dienten, die die Künstlerin Simone C. Niquille anfertigte. Der Unterschied zwischen den Puppen ist mithin der „kulturellen Differenz“ der Produzenten geschuldet. Da sich die Figuren jedoch recht ähnlich sind, kann es (bei dieser Art von Beweisführung) mit der kulturellen Differenz nicht weit her sein.

Ach ja: Angebliches Vorbild der Puppenplanung ist eine Doppelgängerin von Hillary Clinton (auf einem Videomonitor zu sehen), deren Gesicht folgerichtig den runden Kopfballon einer der Figuren ziert. Bei der anderen wurde auf ein vorlagengetreues Gesicht eher weniger Wert gelegt. „The Fragility of Life“ heißt das ganze bedeutungsschwer. Haben wir jetzt alles?

Computer und Zubehör aus der Vergangenheit sind das Thema von Jenny Odell. „Neo-Surreal“, 2017 (Bild: Jenny Odell. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Computer und Zubehör aus der Vergangenheit sind das Thema von Jenny Odell. „Neo-Surreal“, 2017 (Bild: Jenny Odell. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Video-Schwerpunkt

Mit dem Kunstbegriff ist es bei solchen Arbeiten nicht immer einfach. Finale Wertungen sollen hier unterbleiben, ein jeder Besucher – und eine jede Besucherin, aber klar doch! – urteile selbst.

„Computer Grrrls“ ist der Titel der Ausstellung, zu sehen ist sie im Hartware Medienkunstverein (HMKV) im Dortmunder „U“. Mit einer marginalen Ausnahme wird hier nur Kunst von Künstlerinnen (ohne Sternchen) gezeigt, Arbeiten eher jüngerer Frauen, die mehr oder weniger eng um Computer, Informationsverarbeitung, Internet, KI und so fort kreisen.

Etwa 13 der 23 Exponate (bei manchen ist eine eindeutige Zuordnung nicht sinnvoll) arbeiten mit Video, mal auf kleinem Schirm, mal im abgedunkelten Séparée, was in der Ausstellung eines „Medienkunstvereins“ ja auch naheliegend ist. Eher schon könnte man hier die Zeichnungen und Aquarelle Suzanne Treisters als Ausreißer betrachten. In ihnen ist sogar Humor zu registrieren, wenn sie etwa auf einer wandgroßen Weltkarte die „Post Singularity Epoch of Artificial Super Intelligence Inhabitation of Earth“ darstellen. Bemerkenswert sind auch die Mandalas ähnlichen ornamentalen Bilder, die die Entwicklung von IT beschreiben.

Ganz so zornig sind sie nicht

„Computer Grrrls“ denn also. Der Titel läßt an „Riot Girls“ denken, an zornigen weiblichen Punk der 90er Jahre, der nun beim Medienthema irgendeine Entsprechung zu finden sich anschickt. Doch ist in der Ausstellung eher keine aggressive Kunst zu finden, und es wäre unredlich, die oftmals klugen und nachdenklichen Positionen sämtlich unter das Zornesbanner zu drängen. Auch muß nachdenklich stimmen, daß das Signalbild der Ausstellung, eine vielgliedrige, wohl weibliche Gestalt, die die Zunge provozierend herausstreckt, keineswegs ein Exponat ist, sondern offenbar eine Auftragsgraphik des Vereins mit dem bescheidenen Copyrightvermerk „Gestaltung: Stefanie Ackermann, Manuel Bürger“. Hatten sie wirklich kein Kunstwerk, das zum Titel paßte?

Nadja Buttendorf erzählt im Video die Geschichte ihrer Eltern beim DDR-Elektronikkombinat Robotron. (Bild: Nadja Buttendorf. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Telefonistinnen

Wie auch immer. Auffällig bei vielen Arbeiten ist eine Interesse an Forschung, zumal an historischer. So befaßt sich Caroline Martels mit feiner Ironie betitelter 65-Minuten-Film „Le Fantôme de l’Opératrice“ (Das Phantom der Telefonistin) unter Verwendung alter Originalaufnahmen profund mit Frauen und elektrischer/elektronischer Technik. Darsha Hewitt hat zwei „analoge“ Rhythmusgeräte vom Typ Wurlitzer Sidemann 5000 in Glasvitrinen gestellt, hat sie gründlich erforscht und erläutert sie in 10 Fünfminutenvideos. Nadja Buttendorf wiederum erzählt im Stil einer YouTube-Serie in heiter anmutenden Dreiminutenfolgen die Geschichte ihrer Eltern, die sich im seinerzeit bedeutenden DDR-Elektronikkombinat Robotron kennenlernten, heirateten, arbeiteten und sich nach dem Niedergang der Firma trennten.

Üble Späße mit dem Chatbot

Andere Künstlerinnen registrieren – auch hier könnte man oft sagen: augenzwinkernd – die Wechselbeziehungen von Mensch und Netz. So hat Erica Scourti in „Body Scan“ ihre Körpermaße als Text in eine Suchmaschine gegeben und präsentiert in einem Video nun – emotionslos, wie es scheint -, was ihr angeboten wird. „I’m here to learn so :))))))“ von Zach Blas & Jemima Wyman erzählt die angeblich wahre Geschichte des Chatbots Tay, der im Netz die feine Konversation erlernen sollte. Böse Trolls jedoch brachten ihm so viel verbalen Schweinkram bei, daß Microsoft Tay nach 16 Stunden wieder aus dem Verkehr ziehen mußte: Eine eindrucksvolle 4-Kanal-Videoinstallation mit einem eingedötschten, munter erläuternden Chatbot-Kopf, 27:33 Minuten lang.

Schönes aus dem 3D-Drucker

Erwähnt sei schließlich noch eine besonders „schöne“ Arbeit der Iranerin Moreshin Allahyari. In der Konzentration eines abgetrennten Betrachtungsraums erzählen Videos von monströsen weiblichen Dschinn-Figuren, von Ya’jooj und Ma’jooj, von Aisha Qandisha, und in zwei Vitrinen stehen diese Figuren, leuchten golden, Geschöpfe aus dem 3D-Drucker. Dieses Projekt sei, belehrt uns das Programmheft, Teil einer Serie zu „digitalem Kolonialismus und Re-figuration als feministische und aktivistische Praxis“. Nun gut; auf jeden Fall hinterlassen die einzigen figurativen Arbeiten mit gleichsam klassisch-skulpturaler Anmutung in dieser Ausstellung einen bleibenden Eindruck.

Skulpturales aus dem 3D-Drucker: Morehshin Allahyari, „Ya’jooj Ma’jooj“, 2018 (Bild:  Morehshin Allahyari. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Plötzlich waren die Frauen weg

Zurück noch einmal zum titelgebenden Zorn, der in den Arbeiten kaum Widerhall findet. Wenn er sich aber aus der Kunst nicht speist, wie dann? Es hat, eine Zeitschiene an der Wand verdeutlicht es, mit der Präsenz oder, ehrlicher ausgedrückt, Nicht-Präsenz von Frauen im großen IT-Themenfeld zu tun.

Gewiß, in der Frühzeit des komplexen Rechnens gab es sie noch, als „Rechnerinnen“ bei Finanzämtern oder Versicherungen. Auch als Bedienerinnen riesiger Maschinen, die mechanisch oder mit Röhrenbestückung Resultate suchten, waren sie unverzichtbar, und in Bletchley Park zum Beispiel, wo der geniale Mathematiker Alan Turing im 2. Weltkrieg den Code der Nazi-Verschlüsselungsmaschine „Enigma“ knackte, war die Zahl der weiblichen Mitarbeiter erheblich.

Doch spätestens mit dem Aufkommen der Personal Computers (PC) in den 80er Jahren, erläutert Inke Arns vom Hartware Medienkunstverein, war Schluß mit weiblicher Beteiligung. Computer waren nun Männersache, und sie sind es bis heute geblieben. Wenn Frauen in der IT-Industrie doch einmal in Spitzenpositionen gelangen, CEO werden, dann wahrscheinlich auf der juristischen oder wirtschaftswissenschaftlichen Schiene, eher nicht auf der technischen. Die berühmten Firmengründer und bald danach schon Multimilliardäre – Bill Gates, Steve Jobs, Mark Zuckerberg und so fort – waren sämtlich Männer, eine Videoarbeit in der Ausstellung thematisiert die männliche Dominanz ironisch, indem sie einfach Biographien aneinanderreiht: „A Total Jizzfest“ von Jennifer Chan.

Viele künstlerische Positionen

Wenngleich feministische Klage und präsentierte Kunst in dieser Ausstellung ein wenig auseinanderfallen, schmälert dies nicht ihre Attraktivität, weil so viele junge Positionen zu sehen sind wie selten. Der Vollständigkeit halber sei noch vermerkt, daß das Pariser Kulturzentrum La Gaîté Lyrique Kooperationspartner der Schau ist. Dort, in Paris, wird die Ausstellung im kommenden Frühsommer zu sehen sein, bevor sie dann im August zum MU Einhoven nach Holland weiterzieht.

  • „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund
  • Bis 24. Februar 2019.
  • Geöffnet tgl. außer Mo 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr.
  • Eintritt frei
  • www.hmkv.de



„Stop and Go“: Dortmunder DASA zeigt Ausstellung über Mobilität, Entschleunigung und Stillstand

„Stop and Go": Plakatmotiv der DASA-Ausstellung zur Mobilität. (© DASA)

„Stop and Go“: Plakatmotiv der DASA-Ausstellung zur Mobilität. (© DASA)

…und schon wieder lockt die Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA mit einer neuen Schau. Seit September widmet man sich mit „Tüftelgenies“ den Erfindungen der Menschheit (vom Faustkeil bis zum Computer), jetzt geht es auf einem anderen Areal im zweiten Stock des weitläufigen Hauses um Mobilität im vielerlei Hinsicht.

Ein Kasten voller „Knöllchen"... (Foto: Bernd Berke)

Ein Kasten voller „Knöllchen“ (Foto: Bernd Berke)

„Stop and Go“ lautet der Obertitel der insgesamt zehn Themeninseln, die vor allem mit etlichen Audio- und Videostationen animieren sollen. Gleich eingangs kann man sich entscheiden, durch welche Tür man die Ausstellung betreten möchte – je nachdem, ob man mit dem Auto, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad zur DASA gekommen ist; wie denn überhaupt regelmäßig beim individuellen Verhalten angeknüpft wird. Es ist ja ohnehin ein DASA-Bekenntnis: die Leute da abholen, wo sie sind. Projektleiter Philipp Horst und sein Team (Ria Glaue, Luisa Kern, Magdalena Roß) haben das Motto recht konsequent umgesetzt.

Die Lust an der Raserei und der Stau

Die vielfältigen Verkehrsthemen werden nicht nur mit Infos und Statistiken, sondern auch assoziativ umkreist. So reicht das Spektrum beim Kfz von der überwiegend arbeitsbedingten Mobilität (Pendler und Berufe wie S-Bahn-Fahrer) über die Lust an der Raserei, die man im Fahrsimulator oder mit einer Carrera-Bahn gefahrlos erproben kann, bis hin zu allfälligen Staus, deren Entstehung sich hier per Touchscreen virtuell beeinflussen lässt. Ach, könnte man den zähfließenden Verkehr in der Wirklichkeit doch auch so willentlich steuern! Wissenschaftlich belegt ist jedenfalls, dass täglich absehbare Staus längst nicht so stressig sind wie unvorhergesehene.

Wenn Grundschüler ihren Schulweg zeichnen... (Foto: Bernd Berke)

Wenn Grundschüler ihren Schulweg zeichnen… (Foto: Bernd Berke)

Dann also lieber öffentliche Verkehrsmitteln nutzen? Wer sich in diesen Teil der Ausstellung begibt, vernimmt über Kopfhörer einige kleine Erzählungen über Bequemlichkeits-Vorteile und (anregende, peinliche oder gar bedrohliche) menschliche Begegnungen, über Unzulänglichkeiten und Verspätungen. Ja, man bekommt sogar ein paar dosierte Geruchsproben verabreicht – abgestandene Pizza, lästiges Parfüm. Bäh! Nun ja, wenn die Fahrt ansonsten dem Umweltschutz dient… Nachhaltiger als jedes Auto ist natürlich auch das Fahrrad. Freilich veranschaulichen Karten (Rätselspiel: Welche Stadt hat welches Radwegenetz?), dass es meistenteils noch sehr an der Infrastruktur hapert und dass Radfahren im urbanen Raum deshalb ziemlich gefährlich sein kann.

Schaubild in der DASA-Ausstellung: Dandy führt seine Schildkröte spazieren. (Foto: Bernd Berke)

Schaubild in der DASA-Ausstellung: Dandy führt seine Schildkröte spazieren. (Foto: Bernd Berke)

Auch freiwillige und erholsame Entschleunigung wird ins Visier genommen. Kinder haben ihre Wege zur Grundschule nachgezeichnet. Kein Wunder: Wer mit dem Auto gebracht wird, nimmt viel weniger Details aus der Umgebung wahr als die Fußgänger. Derlei Erkenntnisse bekräftigt auch die Promenadologie, jene noch recht junge Wissenschaft vom Gehen. Übrigens: Im 19. Jahrhundert führte manch ein flanierender Dandy wahrhaftig eine Schildkröte spazieren, um zu demonstrieren, wie viel Zeit er zur Verfügung hatte. Schon damals war’s ein Statuszeichnen.

Parkflächen-Wahnsinn

Vorhin war von Staus die Rede. Der zwangsläufig häufig ruhende Verkehr kommt mehrmals vor, beispielsweise auch, wenn es um den Wahnsinn des Parkflächenverbrauchs geht. Alle Besucher können Ideen beisteuern, wie man sonst noch mit all dem Grund und Boden von Straßen und Parkplätzen umgehen könnte: als Bühne für Kreativität nutzen, offen oder heimlich Anpflanzungen vornehmen, bis zum nächsten Regen den Asphalt bunt besprühen… Und was fällt Ihnen ein?

Sinnfällig zudem eine transparente Box mit Hunderten von „Knöllchen“ aus Dortmunder Herstellung. Wer argwöhnt, die Stadt wolle immerzu nur in Bürgers Geldbeutel greifen, wird staunen, wenn er hört, dass jede(r) Kontrolleur(in) pro Tag im Schnitt nur 12 Zettel verteilt. Für die Kommune ist es also ein herbes Minusgeschäft. Es geht eben vorwiegend um „Erziehung“.

Götzendienst am Auto: vergoldeter und mächtig getunter Opel Corsa. (Foto: Bernd Berke)

Götzendienst am Auto: vergoldeter und mächtig getunter Opel Corsa. (Foto: Bernd Berke)

Apropos Pädagogik: Die Grundlinien der Ausstellung laufen auf Abschaffung des herkömmlichen Automobils hinaus, man spürt immer mal wieder mehr oder weniger sanfte Anstöße zur Verhaltensänderung im Sinne der PS-Abstinenz. Umweltverbände dürften sicherlich weitgehend einverstanden sein, die Autolobby wohl weniger. Dabei spielen die übelsten Verpester im Weltverkehr hier noch gar keine Rolle, nämlich Kreuzfahrtschiffe und Flugzeuge.

Viel Stoff auf begrenzter Fläche

Die Auto-Vergötterung wird längst nur noch (allenfalls) mit nachsichtigem Lächeln zur Kenntnis genommen, sie materialisiert sich hier in einem vergoldeten und aufgemotzten Opel Corsa. Ein „Hingucker“, von dem man sich allerdings gern schnell wieder abwendet. Es muss doch wohl schon elend lange her sein, dass so etwas als „cool“ gegolten hat.

Kaum minder auffällige Gegenstücke zum Corsa sind ein nostalgischer VW-Bus von 1972 mit Camper-Zubehör, der für Freiheitsträume nicht nur der Hippie-Generation steht, und ein vielleicht zukunftsträchtiges Solarmobil der Bochumer Uni, immerhin rund 120 km/h schnell und mit erstaunlichen 700 Kilometern Reichweite pro Aufladung. Und da man schon einmal dabei ist, geht’s u. a. noch um Carsharing und autonomes Fahren. Sehr viel Stoff auf relativ kleiner Fläche.

Vielleicht zukunftsträchtig: Solarauto der Bochumer Uni. (Foto: Bernd Berke)

Vielleicht zukunftsträchtig: schnittiges Solarauto der Bochumer Ruhr-Uni. (Foto: Bernd Berke)

Kultverdächtig ist derweil noch ein ganz anderes Automodell: Am Eingang stehen einige Bobby Cars, mit denen höchstens Sechsjährige (die ansonsten thematisch deutlich überfordert sind) durch die Schau sausen und Wimmelbilder auf Kinderaugenhöhe ansteuern dürfen. Ich wage mal die Prognose, dass das Treiben rasch chaotische Formen annehmen kann und gelegentlich reglementiert, wenn nicht gar unterbunden werden muss.

„Stop an Go“. Eine Ausstellung zur Mobilität. DASA (Arbeitswelt Ausstellung), Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25 (Nähe TU / Universität). Vom 26. Oktober 2018 bis zum 14. Juli 2019. Mo-Fr 9-17 Uhr, Sa/So/Feiertage 10-18 Uhr. Eintritt (inklusive Begleitheft): Erwachsene 8 €, ermäßigt 5 €, Schulklassen pro Kopf 2 €. — Tel.: 0231 / 90 71 26 45.

Weitere Infos: www.dasa-dortmund.de

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P.S.: Tags zuvor rein privat mit mehreren Kindern die anfangs erwähnte Ausstellung „Tüftelgenies“ (noch bis zum 31. März 2019) zu wichtigen Erfindungen der Menschheit besucht. Die teilweise pfiffig gemachte Schau bietet einige interessante Einblicke, die vermutlich haften bleiben, sie ist tatsächlich auch schon für Sieben- oder Achtjährige geeignet, allerdings sehr schnell überfüllt.

Gewiss, es war ein museumsträchtiger, weil regnerischer Ferientag, aber nächste Woche kommen dann auch wieder Schulklassen. Es bleibt sich vom Andrang her ungefähr gleich. Eng wird’s vor allem dann, wenn mal wieder mehrere Stationen nicht funktionieren und erst einmal repariert werden müssen. Darf man auf Besserung hoffen?




In der Bar zum Krokodil: Verdis „Aida“ eröffnet die Intendanz von Heribert Germeshausen an der Oper Dortmund

Hyona Kim (Amneris) und Hector Sandoval (Radamès) in der Dortmunder Neuinszenierung von Verdis "Aida". Foto: Theater Dortmund

Hyona Kim (Amneris) und Hector Sandoval (Radamès) in der Dortmunder Neuinszenierung von Verdis „Aida“. (Foto: Björn Hickmann / Theater Dortmund)

Die ersten Premieren einer neuen Intendanz dürfen gewöhnlich als künstlerisches Statement gelesen werden. Heribert Germeshausen hat sich an der Oper Dortmund mit zwei Blockbustern eingeführt – einem überzeichneten „Barbiere di Siviglia“ aus dem komischen Genre und, als Eröffnung der Spielzeit, mit einer opulenten „Aida“. Beides viel gespielte Werke, mit denen sich ein Haus jedoch nur selten profiliert.

Mit Puccini und Wagner kündigt Germeshausen für die kommenden Jahre ebenfalls Komponisten an, bei denen man sich fragt, ob ihre Omnipräsenz nun ausgerechnet noch eines Schwerpunkts in Dortmund bedarf. Und der für 2020 angekündigte „Ring des Nibelungen“ führt die Tetralogie-Inflation an deutschen Mittelklasse-Häusern weiter, die schon längst nicht mehr über die Wiederholung von zum Überdruss gesteigerten szenisch-inhaltlichen Deutungen hinauskommt. Da hilft wohl auch nichts, dass mit Peter Konwitschny ein Altmeister gewonnen wurde, dessen letzte Arbeiten – Luigi Cherubinis „Medea“ in Stuttgart, Othmar Schoecks „Penthesilea“ in Bonn – nicht eben auf eine Lösung jenseits regietheaterlicher Dogmen hoffen lassen.

Erzählendes Theater in behutsam verfremdenden Bildern

Bei Jacopo Spirei braucht man sich der Frage, was mit dem unscharfen Begriff des „Regietheaters“ genau gemeint sei, gar nicht zu stellen: Der italienische Regisseur setzt auf erzählendes Theater in behutsam verfremdenden, ästhetischen Bildern, wie er sie für Nicola Porporas „Mitridate“ in Schwetzingen, für seine Mozart-Arbeiten am Landestheater Salzburg und für Charles Wuorinens Oper „Brokeback Mountain“ gefunden hat, welche im Mai 2018 aus Salzburg an die New York City Opera wanderte.

In „Aida“ öffnet sich Nikolaus Weberns Bühne in der Dreiecksform der ägyptischen Pyramide und gibt den Blick in einen Konferenzraum frei, wo der goldbefrackte, mit langem Rock würdevoll ausstaffierte Ramfis die Wahl der Isis für den neuen Oberbefehlshaber des Äthiopien-Feldzuges bekanntgibt. Sarah Rolke und Wicke Naujoks stecken die Militärs in adrette dunkle Uniformen. Die Dame des Hauses, Amneris, nimmt in einem steifen Modellkleid mit reichlich Goldbehang das Ägypten-Thema auf, während das Dienstpersonal, darunter Aida, in afrikanisch anmutenden Gewändern in Guantanamo-Orange Unterlagen verteilt.

Schon in diesen ersten Szenen zeigt sich, dass Spirei zwischen den Figuren kein Spannungsfeld schafft und sie auch in psychologischen Nuancen nicht ausdeutet. Was in Radamès vorgeht, erfahren wir, zum Glück, in der von Hector Sandoval mit sprödem Timbre gesungenen, aber sinnig gestalteten Romanze, die auf einem sauber-schlanken hohen b endet. Amneris wuselt reichlich unmotiviert zwischen Tisch und Stühlen herum, ohne dass die Bewegung bedeutsam würde.

Denis Velev als angenehm gerundet singender König steckt in goldenem Anzug und lässt sich als jovialer Dandy feiern, der später schon mal zu einem übermütigen Luftsprung aufgelegt ist. Welche Rolle dieser Mann zwischen straffer militärischer Organisation und bedrückender priesterlicher Bevormundung spielt, bleibt Spireis Geheimnis.

Ägyptisch glitzernde Halbwelt feiert After-Kriegs-Party

So ähnlich geht es weiter: Florian Franzens Licht setzt den blassblauen Hintergrund eines neutralen Raumes in ein Crescendo von Helligkeits- und Farbnuancen, in dessen Verlauf Radamès sein heiliges Sturmgewehr erhält. Im zweiten Akt erinnert man sich unwillkürlich an Willy Engel-Bergers „Bar zum Krokodil“ am schönen Nil mit einer auf ägyptisch getrimmten, glitzernden demi-monde, umrahmt vor vertikalen Streben, die an das verspiegelte Glas der Bankentürme einer Skyline erinnern. Zu Verdis „Allegro marziale“ reihen sich im Triumphmarsch-Bild Mütter oder Ehefrauen mit Bildern ihrer gefallenen Helden auf, die ihre Orden empfangen; Kinder salutieren kriegs- und rachebereit vor ihrem König, bevor in staubigem Grau die Gefangenen hereingetrieben werden. Der Herrscher legt schon mal – hier finden wir uns bereits in beachtlicher psychologischer Tiefe – einen Arm um die Schulter von Radamès. Eigentlich eine ganz nette After-Kriegs-Party.

Finale von Aida": Während sich zu ätherischen Tremoli und zu lichtvollen Pianissimi der Himmel öffnet, verschwimmt das Bild des Paares Aida und Radamès. Foto: Theater Dortmund

Finale von Aida“: Während sich zu ätherischen Tremoli und zu lichtvollen Pianissimi der Himmel öffnet, verschwimmt das Bild des Paares Aida und Radamès. (Foto: Björn Hickmann / Theater Dortmund)

Mit dem Nil-Akt versteigt sich Weberns Bühne dann endgültig in tiefenpsychologisch anmutende Bildwelten. Achttausend Liter Wasser, so recherchierte eine findige Lokalzeitung, füllen ein flaches Bassin. Gerät das Nass in Wallung, wirft es reizvoll gewellte Lichteffekte auf die hohen, in den Raum ragenden Wände. Viel Aufwand für ein mageres Ergebnis, denn über die Ästhetik des Augenblicks hinaus führt weder die Szene selbst noch ihre Einbettung in den Rest der Inszenierung. Die endet, durchaus als Bild wieder ansprechend, auf einem Podest im Wasserbad, auf dem der verurteilte Landesverräter sein Ende finden soll. Plexiglasplatten ersetzen den Stein, der ihn und seine treue Aida von Leben und Luft trennt. Sie schweben von oben herab und zwängen die Sterbenden immer enger ein. Und während sich zu ätherischen Tremoli und zu lichtvollen Pianissimi der Himmel öffnet, verschwimmt das Bild des Paares.

Tempo-Nuancen genau analysiert

Für die schier unendlichen Schattierungen der Dynamik und der Tempi, mit denen Verdi seine Figuren beleuchtet, sind in Dortmund die Philharmoniker unter ihrem Chef Gabriel Feltz verantwortlich. Das Ergebnis beweist, dass sich Feltz mit Verdis Angaben genau auseinandergesetzt hat. Das Orchester entfaltet das Spektrum zwischen reduziertem, fast überschlankem Pianissimo bis hin zum heftig akzentuierten Marschtritt der trivialen Aufzugsmusiken, mit denen Verdi seine Kritik an pompösem Machtgehabe musikalisch artikuliert. Jedes „animato“, jede Nuance im psychologisch fein durchdachten Tempogefüge Verdis wird registriert.

Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk

Orchesterchef Gabriel Feltz. (Foto: Thomas Jauk)

Allerdings tut Feltz hin und wieder zu viel des Guten: Dem „marcato“ am Ende des ersten Bildes vor Aidas Arie „Ritorna vincitor“ nimmt er das Pathos und verwandelt es in ein ungeduldiges Drängen. Gut so. Aber dort, wo im Finale die aufgeblasene Größe eines „maestoso“ angebracht wäre, verfällt er ebenso ins Drängeln und zieht das Tempo unverhältnismäßig an. Das „mosso“ im Duett zwischen Aida und Amneris im zweiten Akt nimmt er zum Anlass, aufs Tempo zu drücken. Und im ausgedehnten Finale wackeln die Ensembles, wenn er bei jedem „piú animato“ die Versuchung des Davoneilens bedient.

Feltz liest „Aida“ auf sinnige Weise als intimes musikalisches Kammerspiel. Aber er sollte Verdis insistierendes Bemühen, durch vierfache Piani die Orchester seiner Zeit zu einem gezügelten Musizieren zu veranlassen, nicht missverstehen: Verdi wollte die „sonorità“, den tragenden, klingenden Ton nicht anämisch verdünnen. In diese Gefahr geraten die Philharmoniker hin und wieder, wenn sie in den leisen Momenten einen schönen Ton zu sehr reduzieren.

Weibliche Hauptrollen ein Glücksfall

Mit dem zurückgenommenen Ton hat Kelebogile Besong kein Problem: Die südafrikanische Sopranistin hat Aida bereits in Malmö, Essen und den USA gesungen und zeigt in Dortmund eine dunkel-schlanke, zu samtenem Legato und zu kultivierter Expression fähige, individuell gefärbte Stimme, bei der allenfalls die etwas erzwungen wirkende brustige Tiefe aus dem Gleichmaß der Töne herausfällt. Sehr sicher und stets ohne Druck geformt erreicht ihre Phrasierung die Klimax der langen Phrasen in „Numi, pietá“ und in „O patria mia“. Die resignierte, gleichwohl als fingiert durchschaubare Unterwürfigkeit, aber auch das aufblitzende Temperament der äthiopischen Prinzessin spiegelt sich in ihrer stimmlichen Gestaltung wie in ihrem überlegten Spiel.

Ein Glücksfall für Dortmund, dass die beiden weiblichen Hauptrollen gleich überzeugend besetzt sind: Hyona Kim trifft mit flexiblem Mezzosopran die lauernden Zwischentöne im Dialog mit ihrer Rivalin Aida, das schwärmerisch in fabelhaftem Legato ausgesungene Begehren der verliebten, verwöhnten Königstochter, aber auch die lodernde Empörung gegen die „üble Rasse“ der Priester und den zwischen Versöhnung, Ergebenheit und Verzweiflung changierenden Wunsch nach Frieden am Ende. Mit ihrer in allen Lagen gleich geschmeidig ansprechenden Stimme ist Kim die ideale Interpretin italienischer Mezzo-Partien; man darf hoffen, diese Gestalterin in anderen anspruchsvollen Rollen wieder zu erleben.

Weiter geht’s mit einem populären Potpourri

Eher als Darsteller denn als Sänger überzeugt Mandla Mndebele als Amonasro: Die kaltschnäuzige Zielstrebigkeit, mit der er seine Pläne verfolgt, drückt er im Nil-Akt mit rohem Zugriff aus; sein Bariton allerdings, bei gut klingendem Material, ist zu sorglos geführt, sitzt nicht kontrolliert genug im Fokus und neigt daher dazu, die Intonation haarscharf zu verfehlen. Karl-Heinz Lehner ist ein prägnant artikulierender Ramfis, der auch in der kraftvollen, aber nicht überzeichnenden Stimme den befehlsgewohnten Oberpriester hervorkehrt. Fritz Steinbacher nimmt in den wenigen Sätzen des Boten durch Timbre und Stimmkultur für sich ein. Natascha Valentin gibt eine wohlklingende Priesterin. Fabio Mancini hat den Dortmunder Opernchor auch in den wuchtigen Bildern des zweiten Akts auf einen konzentrierten Auftritt hingeführt; die Fernchöre allerdings klingen zu präsent.

Die Oper Dortmund startet mit einer neuen Intendanz in die kommenden Spielzeiten. Foto: Werner Häußner

Die Oper Dortmund startet mit einer neuen Intendanz in die kommenden Spielzeiten. Foto: Werner Häußner

Eine radikalere Befragung von Verdis „Aida“ hat schon im Frühjahr der Dortmunder Schauspielintendant Kay Voges vorgenommen – nicht in Dortmund, sondern an der Staatsoper Hannover, wo das Ergebnis demnächst wieder zu erleben ist. Germeshausens erste Spielzeit läuft indes mit einem fast schon ärgerlichen Populär-Potpourri mit Bernsteins „West Side Story“, Lehárs „Land des Lächelns“ und Puccinis „Turandot“ weiter, bis sie mit der deutschen Erstaufführung der Heiner-Müller-Oper „Quartett“ von Luca Francesconi und Philip Glass‘ „Echnaton“ in spannendere Bereiche vorstößt. Was Repertoire-Impulse angeht, bleibt also allem Anschein nach das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen in der so reichhaltig mit Opernhäusern gesegneten Region Rhein-Ruhr ohne Konkurrenz.

Nächste Aida“-Vorstellungen: 27. Oktober, 1., 4., 18., 28. November, 15., 23. Dezember 2018; 13. Januar 2019.
Tickets: Tel.: (0231) 50 27 222, www.theaterdo.de/karten-abo/kauf/




Frauen, die beim Wohnen warten

Gelegentlich liegen der regionalen Tageszeitung Möbelprospekte bei. Die interessieren mich nur sehr bedingt. Doch eins ist mir jetzt (mal wieder) aufgefallen: Man sieht darin besonders viele wartende Frauen.

Barfuß auf dem Sofa (1)

Barfuß auf dem Sofa (1)

Ihr wisst schon ungefähr, was ich meine, nicht wahr? Junge Frauen, die offenbar endlos Zeit haben, warten in diesen Musterwohnungen – auf was auch immer. Dass ein männliches Wesen nach seines Tages Mühen erscheine? Dass endlich das Leben anfange? Warten sie etwa auf den Postboten oder Handwerker? Wohl kaum. Das wäre denn doch zu profan.

Sie sollen ungemein entspannt wirken, aber es gelingt ihnen nur selten, diesen Eindruck glaubhaft zu vermitteln. Es sind ja auch zumeist preiswerte oder gar kostenlos posierende Statistinnen, die sich da lümmeln und rekeln oder auch selbstvergessen sinnend in unbestimmte Fernen blicken.

…und meistens sind sie barfuß

Auf dem Sofa: die wartende Frau. Auf dem Bett: die wartende Frau, etwas leichter bekleidet. Auch in der Küche hat sie nichts zu tun als zu warten. Hin und wieder nimmt sie eine Tasse Tee oder Kaffee zu sich, höchstens mal ein Stückchen Obst, das ist offenbar alles, was sie zum Dasein braucht. Hin und wieder tippen solche Frauen auf Tablets oder Smartphones herum. Und meistens sind sie barfuß.

Barfuß auf dem Sofa (2)

Barfuß auf dem Sofa (2)

Nur selten kommt ein Mann hinzu, oft übrigens in deutlicher Distanz auf dem breiten, breiten Sofa. Manchmal darf auch ein fröhliches Kind dabei sein. Und wenn eine Familie sich zeigt, dann fast immer idealtypisch mit einer Tochter und einem Sohn. Ansonsten, wie gesagt, bleibt die junge Frau für sich, als wenn just die Abwesenheit des Mannes erst wahre Muße ermögliche. Paradox nur, dass sie zugleich auf ihn wartet.

Domizile in weltbester Lage

Und wahrlich, sie wohnen nicht schlecht. Im mittleren Preissegment geht es schon los mit den maßlosen Übertreibungen: Allein ihre Küchen sind wohl um die 70 Quadratmeter groß, auch in den Bädern kann man großzügig umhergehen, ganz zu schweigen von den anderen Zimmern. Es sind stets weitläufige Wohnlandschaften mit einigen Metern Deckenhöhe.

Barfuß auf dem Sofa (3)

Barfuß auf dem Sofa (3)

Die Fensterblicke im Hintergrund (selbstverständlich Fotomontagen) suggerieren derweil allerbeste Wohnlagen, entweder mitten im Zentrum von Weltstädten oder direkt am Rande riesiger Parks und Waldungen, manchmal auch Mixturen aus beidem. Latifundien halt. Anwesen sondergleichen. Gerne auch mit unverstelltem Meer- oder Flussblick. Kurzum: eigentlich für Normalsterbliche unbezahlbar. Frei nach Kurt Tucholskys Diktum über die ideale Wohnlage: vorne Ostsee, hinten Ku’damm. Oder war’s umgekehrt?




Der alltägliche Sprachf*ck

Manchmal möchte man sich am liebsten aus allen Mail-Verteilern streichen lassen und sämtliche Newsletter abbestellen, Verzeihung: canceln. Man hat dann einfach keine Lust mehr auf den gängigen Sprachmüll, der sich jede schnellvergängliche Modenarrheit einverleibt und sie sogleich unverdaut ausspeit.

Nur ein paar Beispiele aus einer einzigen Stunde, man stelle sich das addiert oder gar potenziert über Tage und Wochen hinweg vor: Da faselt eine psycho- und soziologisch orientierte Vereinigung etwas von „transgenerationaler“ Weitergabe von Erfahrungen. Klingt schon mal ziemlich wichtigtuerisch und pseudo-wissenschaftlich.

Wie überaus stolz sind sie auf ihre paar Bröckchen Latein oder vor allem Englisch, dass sie immerzu damit um sich werfen müssen. Keine Einladung mehr ohne ein „Save the Date“ im Betreff, keine nochmalige Erinnerung, die nicht „Reminder“ hieße.

Aber es geht noch deutlich blödsinniger, wie denn überhaupt die hier zitierten Beispiele vergleichsweise nur halbwegs schlimm, ja nachgerade harmlos zu nennen sind. Sie fallen nur in der Häufung auf.

Kurz nach den Transgeneratoren hat sich ein renommiertes Museum zu Wort gemeldet – mit Erwägungen darüber, wie Gedanken in die Köpfe kommen. Und wie hieß der Vorgang im überaus geil angepunkten Jargon? Na, „Hirnfick“ natürlich. Um auf dem angesagten Niveau zu bleiben: Was habt ihr denn gedacht, ihr Wi**ser?

Ein anderes Kunstinstitut, nicht minder bekannt und ebenfalls im Ruhrgebiet angesiedelt, tat derweil im allerbesten Denglisch kund, man launche eine neue App. Und ein Verband lud großspurig zum Innovation Day. Wie wollen wir das verbale Gehabe nennen? Etwa Sprachfick?

P.S.: Mooooment! Soeben ereilt mich noch eine Nachricht mit der Überschrift: Festival „Innovative Citizen“ macht Gäste zu „Makern“. Auch nicht schlecht, oder? Ich mach‘ dich zum Maker…

 




Perfekt, freudlos – das Folkwang-Museum zeigt italienische Malerei der 20er Jahre unter dem Titel „Unheimlich real“

Antonio Donghi: „Donna al caffè – Frau im Café“ von 1931 (Foto: Museum Folkwang / Archivio Fotografico – Fondazione Musei Civici di Venezia / Franzini C.)

Sie lachen nicht. Sie zeigen kaum eine Gefühlsregung. Und wenn doch einmal Leben in den Gesichtern ist, so sind es grimassierende Gaukler wie im Bild „Maschere – Masken“ von Cesare Sofianopulo. Die Ausstellung, die nun bis 13. Januar im Essener Folkwang-Museum zu sehen ist, heißt „Unheimlich real“, und natürlich ist der Titel eine Spiel mit dem umgangssprachlichen Doppelsinn des Wortes.

In der Tat kann einem unheimlich werden zwischen diesen unbeteiligten, teilnahmslosen, jedoch mit großer Meisterschaft und Detailverliebtheit in realistischer Manier auf die Leinwand geworfenen Gestalten. Fehlende Zugewandtheit eint sie, sie ist fast das stärkste Band zwischen ihnen. Atmosphärisch betrachtet reihen sich sogar die Bilder ein, auf denen gar keine Menschen zu sehen sind. Freudlose Zeiten?

Giorgio de Chirico: „Piazza d’Italia (Souvenir d’Italie) – Italienischer Platz (Souvenir aus Italien)“ von 1924-25 (Bild: Museum Folkwang / MART – Archivio Fotografico e Mediateca)

Kunst im Faschismus

In gewisser Weise: ja. 1922 hatte der Faschist Mussolini in Italien die Macht übernommen, die Moderne mit ihrem Hang zur Abstraktion, die es in Italien nie leicht gehabt hatte, schwächelte, Künstler suchten das Konkrete, Gegenständliche, eben das Reale. Es mag durchaus auch sein, daß man bei den Machthabern nicht anecken wollte, wenngleich der „Kunstsinn“ eines Adolf Hitler bei Mussolini, so weit bekannt, keine Entsprechung fand.

Was aber wollte diese Kunst recht eigentlich erzählen? Ich will gerne an dieser Stelle schon, abweichend von den dramaturgischen Usancen des Artikelbaus, bekennen, daß ich eine letztendliche Antwort nicht weiß. Sicherlich wäre es zu kurz gegriffen, in der durchgängigen Freudlosigkeit der Bilder so etwas wie Kritik an den politischen Verhältnissen erkennen zu wollen.

Richtig ist andererseits, daß diese Kunst eine starke formale Rückwärtsgewandtheit prägt, ebenso aber auch, daß surreale Überhöhungen des „Realismo magico“ diesen konservativen Duktus häufig ad absurdum führen. Zu den wenigen auch bei uns bekannten Künstlern dieser Ausstellung gehört Giorgio de Chirico, dessen „Piazza d’Italia (Souvenir d’Italie)“ von 1924/25 mit seinen oft bemühten kompositorischen Elementen wie Säulenfassaden und zentralgestellten Skulpturen vergleichsweise vertraut wirkt.

Cesare Sofianopulo: „Maschere – Masken) von 1930 (Bild: Museum Folkwang / Nicola Eccher)

Fast allegorisch

Häufig setzen kraftvolle Details gleichsam allegorische Akzente, wie im Titelbild der Ausstellung „“Ritratto della moglie sullo sfondo di Venezia – Die Frau des Künstlers vor venezianischer Kulisse“ (1921) von Ubaldo Oppi: Gondeln, Segelschiff und Stadtkulisse sowie ein merkwürdig streng drapierter Vorhang, der auf dem Balkon fast etwas fehl am Platze wirkt. Doch das könnte alles eben auch noch ganz „real“ sein, unzweifelhafte Allegorien wie Cagnaccio di San Pietros „L’alzana – zwei Treidler“ von 1926 bilden eher die Ausnahme. Zwei kräftige Männer ziehen hier ein Schiff, dessen Bug das Bild einer Pietà ziert – kraftvoll mit geballten Fäusten vorwärts strebend der eine, schlaf und einem Gefesselten gleich der andere. Doch arbeitete Cagnaccio di San Pietro auch in anderen Genres, man begegnet ihm mehrfach in dieser Ausstellung, er ist keineswegs so etwas wie ein „konsequenter Allegoriker“.

Ubaldo Oppi: „Ritratto della moglie sullo sfondo di Venezia – Die Frau des Künstlers vor venezianischer Kulisse“ von 1921 (Bild: Museum Folkwang / Carlo Baroni, Rovereto)

Futurismo und Neue Sachlichkeit

Zeitgleich mit der hier ausgestellten italienischen Malerei feierte im Deutschland der 20er Jahre die „Neue Sachlichkeit“ Erfolge, die sich jedoch, schaut man auf die Bilder ihres heutzutage wieder stark nachgefragten Protagonisten Karl Hofer, von der schnöden Wirklichkeit fern hielt und ihr Heil in schmucken, nur sehr ungefähr verorteten Personenarrangements suchte. Eine zeitlich-thematische Abgrenzung zu Marinettis „Futurismus“ findet sich leider nur in den erläuternden Texten am Eingang der Ausstellung.

Es wäre schön gewesen, diese naiv fortschrittsgläubige, dem Faschismus manchmal bedenklich nahe Kunstrichtung, mit der es 1920 ja keineswegs ein Ende hatte, im ästhetischen Vergleich zur ausgestellten „unheimlich realen“ Material zu sehen. Unvergeßlich bleibt in diesem Zusammenhang die große Futurismus-Ausstellung, die der 2007 viel zu früh verstorbene Leiter des Dortmunder Ostwall-Museums Ingo Bartsch 2002 unter dem Titel „Auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert“ ausrichtete. Bartsch bemaß die Zeit des italienischen Futurismus von 1915 bis 1945.

Carlo Carrà: „Vasi sul davanzale / Blumentöpfe auf dem Fensterbrett“ von 1923 (Bild: Museum Folkwang / Courtesy Galleria dello Scudo, Verona)

Die Wärter

Viele Portraits, von Frauen zumal, Landschaften, Stilleben – diese in neun Themengruppen sehr ordentlich sortierte Ausstellung ist unbedingt sehenswert und ein Spitzlichtlein im diesjährigen Museumsbetrieb des Reviers, zu dem wir ausnahmsweise auch mal Düsseldorf und Köln zählen wollen.

Wenn nur die Wärter nicht wären, also: diese Museumswärter. Persönliche Umstände brachten es mit sich, daß ich die Ausstellung nicht in der relativ unbeschwerten Atmosphäre eines Presserundgangs erkunden durfte, sondern ganz normal als zahlende Kundschaft. Und als solche mußte ich miterleben, wie ein älterer Herr, der sich ein Bonbon oder ähnliches in den Mund steckte, derb (anders kann man nicht sagen) darauf hingewiesen wurde, daß „das Essen“ in der Ausstellung verboten sei. Kein Essen in Essen also (Brüllwitz). Dunkel meine ich mich zu erinnern, daß das Publikum in früheren Zeiten von der Essener Bewachungsfirma Kötter bewacht wurde, die das sehr viel relaxter machte.

  • Unheimlich real – Italienische Malerei der 1920er Jahre“.
  • Bis 13. Januar 2019. Eintritt 8 €, Katalog im Museum 32 €, im Buchhandel 39,90 €
  • www.museum-folkwang.de



Literatur als Instanz ausgleichender Gerechtigkeit – Ulrike Anna Bleiers Roman „Bushaltestelle“

„Bushaltestelle“ – der schlichte Titel entspricht dem schicksalergebenen Wesen der Hauptpersonen dieses Romans. Doch darf von der Beiläufigkeit, mit der die Ereignisse daherkommen, keineswegs auf seichte Unterhaltung geschlossen werden. Ulrike Anna Bleier unterschätzt ihre Leserinnen und Leser nicht.

Das aufregende Leseerlebnis verdanken wir weitgehend der Kunst der Autorin, die notwendigen Informationen geschickt zu dosieren. Es ist bei aller Unaufdringlichkeit im Erzählton eine Menge Ungeheuerliches, was den Romanfiguren widerfährt.

Geografisch springt die Handlung zwischen einer kleinen Stadt in Bayern, unweit der tschechischen Grenze, und dem lange Zeit hinterm „Eisernen Vorhang“ verborgenen Nachbarland, das in seiner Geschichte einmal Tschechoslowakei hieß und leider auch einmal von deutscher Seite Protektorat Böhmen und Mähren genannt wurde.

Komplexes Beziehungsgeflecht

In kurzen Kapiteln mit jeweils eigenen Überschriften wird ein zeitlicher Bogen über vier Generationen gespannt; Tochter, Mutter, der Bruder der Tochter mit Frau und Kindern, die Geschwister der Mutter, zusätzlich eine Adoptivtochter der Großeltern, die Partner und Partnerinnen der Hauptpersonen sowie einige Nachbarn bilden ein komplexes Beziehungsgeflecht.

Im Mittelpunkt steht Elke, die eigentlich – in ihrer Familie und was ihre gesellschaftliche Stellung betrifft – so überhaupt nie im Mittelpunkt gestanden hat. Grammatisch in der 2. Person, der Du-Form, erzählt sie die Geschichte von Theresa, der abwesenden Mutter. Geht es jedoch um Elkes eigene Geschichte, wechselt die Erzählperspektive in die 3. Person. Womöglich ist Elkes Selbstbewusstsein zu wenig ausgeprägt, um aus einer Ich-Perspektive von sich erzählen zu können. Da ist kein starkes Ich vorhanden. Wie sollte es sich auch entwickelt haben bei ihr, die seit ihrer Geburt von der Mutter abgelehnt wurde.

Traumatische Geburt

Es war eine traumatische Geburt; Theresa hat viel Blut verloren und wurde ohne Narkose mit zwanzig Stichen „zugenäht“. „Die Jahre danach waren die schlimmsten, kaum konntest du die Geräusche des Kindes ertragen, sein Schmatzen nicht, sein Brabbeln nicht, sein Gurgeln nicht, selbst sein Atmen nicht, geschweige denn das Weinen und Schreien. Du hast dem Kind deshalb schnell abgewöhnt, Geräusche zu machen, Töne von sich zu geben (…).“

Ungeliebter Ehemann

Zu Theresas Entsetzen hat Elke die roten Haare ihres Vaters, Sepp. Ihn hat Theresa nur geheiratet, weil die sich anbietenden Alternativen noch schlimmer gewesen wären; es war eine Dann-schon-lieber-den-Sepp-Heirat. Bevor Theresa ihrer Mutter das Kind zeigt, setzt sie ihm eine Mütze auf.

Im Grunde hat Theresa immer ihren Bruder Martin geliebt. Theresas Schulabschluss wollen Martin und sein Freund Sepp mit einem Ausflug in ihrem Hanomag feiern. Theresa willigt ein, wegen ihres Bruders Martin, nicht wegen Sepp. Der (…) „ist neben dir gesessen, rechts von dir, Bein an Bein, und hat den Arm auf deine Rückenlehne gelegt, sodass er mit seiner Hand so nah an deinem Haar war, dass du sie zu spüren geglaubt hast, und du hast Angst bekommen, dass sich deine Haare bewegen und zum Feind überlaufen könnten.“

Bußgebete nach Gutdünken

Es kommt während des Ausflugs zu einem Unfall, für den wahrscheinlich Sepp weniger als Martin verantwortlich ist, aber Sepp begreift seine Schuldgefühle auch als Chance, sich Theresa zu nähern, die sich im Krankenhaus seiner Fürsorge nicht erwehren kann.

Der Pfarrer, der Theresa die Beichte abnimmt, scheint die Anzahl der zur Buße auferlegten Vaterunser und Ave Maria nach Gutdünken zu bemessen; „(…) du warst dir nicht einmal sicher, ob er wirklich mit dir sprach oder mit einer anderen Person, einen Moment lang hattest du das Gefühl, dass der Pfarrer noch einen weiteren Büßer bediente, vielleicht auf der anderen Seite des Beichtstuhls (…).“

Für die Verweigerung der ehelichen Pflicht sind mehr Vaterunser und Ave Maria zu beten als für die Missachtung des Vaters oder für den Verrat am Bruder und an der Schwester Marlene, die, nachdem Theresa die über eine unschuldige Geschwisterliebe hinausgehende Beziehung Theresas mit dem gemeinsamen Bruder Martin aufgedeckt hat, nur noch im Kloster leben kann.

Der kleine Bruder

Trotz der Zurückweisung des Ehemanns und trotz der Überempfindlichkeit nach Elkes Geburt bringt Theresa ein zweites Kind zur Welt, dieses Mal mit einem Schnitt, den sie unter Narkose nicht mitbekommt. Den Jungen, den sie leider nicht nach ihrem Bruder Martin nennen darf, dafür aber den ähnlich klingenden Namen Markus wählt, wird sie abgöttisch lieben.

Das Mädchen wird im mehrfachen Sinne zu einer Außenstehenden. Bereits als Kind lernt Elke, aus ihrem Körper herauszutreten. Zum ersten Mal wird ihr diese Fähigkeit während einer Busfahrt, zu der eine Nachbarin sie eingeladen hat, bewusst. „Und plötzlich fand sie sich da wieder, wo sie hinstarrte, und das war die andere Seite der Busfensterscheibe, erst noch in der Luft und dann an einer Ecke, wo sie sich umsah und dann winkte, dorthin winkte, wo sie stehengeblieben war, und dem Bus, in dem ihr eigener Körper saß, hinterherblickte.“

Blicke durch Fenster

Die andere Seite, die Sicht von außen, Blicke durch Fenster, der Doppelgänger oder Wiedergänger durchziehen leitmotivisch den Roman. Wenn Elke später von Markus, seiner Frau Helen und den Kindern Luisa und Pierre in Tschechien besucht wird, mieten sich alle in einer Pension ein:

„Ein paar Meter weiter befindet sich ein Fenster zum Gastraum des Restaurants. Elke schaut durch dieses Fenster wie von einer Welt zur anderen.

Auf einer langen Bank sitzen Helen, Markus und die Kinder. Die Kinder essen Pommes und trinken Saft. Helen trinkt Wasser, Markus ein Bier. Sie sind vertieft in etwas, das auf dem Tisch liegt, vielleicht ein Prospekt. Eine Landkarte. Ein Brief, den sie schon ein paar Mal studiert haben, ihn aber nicht verstehen. Sie sehen so ernst aus.“

Beobachtende Präsenz

Es ist das Außerhalb-Stehen, das die innere Distanz ermöglicht. Elke wurde als Kind stets übersehen, und spätestens im Erwachsenenalter bekommt ihre beobachtende Präsenz etwas Unheimliches. „Markus blickt plötzlich in Richtung Fenster, aber er kann niemanden sehen, weil Elke kein Licht in der Diele gemacht hat.“

Bevor die Kinder da waren, hatten Markus und Helen die Mutter einmal auf einen touristischen Ausflug nach Prag mitgenommen. Elke sieht die drei, aber es kommt zu keiner Begegnung. Über Theresa weiß sie: „(…) du hast sogar das Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite gesehen, hast gesehen, wie Gäste hinein- und Gäste herausgingen, aber du hast nicht gesehen, dass es der Ort war, an dem Elke darauf wartete, dass du das Hotel verlassen würdest.“

Ein anderer solcher gespenstischen Momente begegnet uns an der Endstation eines Zuges, aus dem sie vergessen hat auszusteigen: Der Bahnsteig ist ansonsten leer. Eine Geisterstadt. Elke sieht sich selbst am Fenster stehen und hinausschauen und etwas steht auf der anderen Seite und sieht hinein.

Ein Klassenfoto

Von den Klassenfotos ihrer Tochter hat Theresa nur ein einziges ausgewählt, eines, auf dem die Lehrerin nett lächelt; sie hatte offenbar nicht bemerkt, dass gerade auf diesem Foto Elkes Gesicht von einem Mitschüler verdeckt ist – als kündigte dieses frühe Unkenntlichkeit bereits ihr späteres Verschwinden an.

Elke verlässt als Jugendliche das Elternhaus ohne jede Ankündigung. Was die Familie lange Zeit nicht erfahren sollte: Sie nimmt die Spur von Magdalena auf, der Frau, die von ihrer Großmutter adoptiert worden war und die neben Theresa wie eine Schwester aufwuchs. Während des Krieges war Magdalena als Funkerin ins Protektorat Mähren, nach Brünn, gegangen und wurde dort die Geliebte von Hans, einem Nazi. Als Partisanen die Burg besetzten und die Nazis hinrichteten, wurde Magdalena, von einem Exekutionskommando in die zweite Reihe gestellt, im letzten Moment aber von einem der Partisanen gerettet. Elke findet die Frau, die sich nun Madla nennt, und lebt einige Zeit mit ihr auf der Burg. Mit einer Anita aus Jena, die in den Westen möchte, tauscht Elke den Pass, da beider Fotos sich – bis auf die Haarfarbe – zum Verwechseln ähnlich sehen.

Mit Anitas Identität beginnt Elke ein Studium und lernt Boris kennen. Aber eine dauerhafte Beziehung wird daraus nicht. Elke kann auch ihm ihre Geschichte nicht erzählen. Bei einer Wiederbegegnung mit ihm, Jahre später, „fällt Elke zum Glück wieder ein, dass Boris auch sie nicht fragen wird, nicht nach dem Was und dem Warum und dem Wohin und dem Wo und dem Woher, und sie entspannt sich und hört ihm zu und vergisst alles, was er sagt, noch während er es sagt.“

Pointierte Prosa

Das alles wird uns nicht in der zeitlichen Reihenfolge erzählt; die Lektüre wird zum Puzzle und bleibt trotz der düsteren Geschehnisse ein reizvolles Abenteuer. Es ist Ulrike Anna Bleiers pointierte Prosa, die ihre Figuren so gut vorstellbar werden lässt. Die Autorin versteht es, die Eigenheit von Charakteren mit wenigen Strichen zu skizzieren; zum Beispiel als Elke auf die Familie ihres Bruders Markus zugeht: Der zweijährige Pierre „zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf Elke, die vom Marktplatz her kommt, als wolle er auf sie zielen, dann winkt er aufgeregt. Dann winken Luisa und Helen und am Schluss winkt auch Markus, er winkt mit großer Geste, als habe er das Winken persönlich erfunden.“

Von Generation zu Generation

Muster wiederholen sich, werden von Generation zu Generation weitergegeben. Nicht nur die roten Haare, die auch bei Elkes Nichte Luisa wieder auftauchen, vererben sich. Auch das Motiv der juckenden Wunde – bei Theresa seit dem Unfall besonders ausgeprägt – wird auf mysteriöse Weise tradiert. Und nicht zuletzt das Thema des Verschwindens, das sich durch den Roman zieht. Bereits in Ulrike Anna Bleiers erstem Roman, Schwimmerbecken, der es 2017 als eines der zehn besten Bücher aus der Produktion unabhängiger Verlage auf die Hotlist schaffte, ging es um das Verschwinden – und das Wiederauftauchen – eines der Protagonisten. In Bushaltestelle verschwinden außer Elke gleich mehrere Personen, manche im Krieg, andere, um dem Elternhaus zu entkommen, und bei dem Jüngsten, Pierre, wohl eher aus Versehen.

Lakonische Erzählstimme

Ohne das treffsichere Sprachgefühl der Autorin, das sich oft in einer lakonischen Erzählstimme äußert, wäre die Lektüre der traurigen Geschichten wohl kein Vergnügen. Das folgende Beispiel soll den Aufbau eines Satzes, das Fortschreiten eines Gedankengangs, verdeutlichen – Martin, Elkes Onkel, hat bereits während des Kriegs mit einer Sondergenehmigung Magdalena und Hans auf der Burg in Mähren besucht:

„Dein Bruder gefällt mir, hatte der Hans gesagt, er ist eine ehrliche deutsche Haut, und Tante Madla dachte in ihrer Küche über den Ausdruck nach, ehrliche Haut, denn bei Haut dachte sie an Abziehen bei lebendigem Leib, ob ehrlich oder nicht, doch nirgendwo zog man Martin die ehrliche Haut ab, er erhängte sich ganz einfach, zuhause in der Wehrgasse, mit einem Kleiderbügel im Kleiderschrank.“

Das kurze Kapitel, in dem wir auf diese Weise von Martins Suizid erfahren, ist „Kleiderbügel“ überschrieben. Theodor W. Adorno hat in seinem Nachwort zu Walter Benjamins Briefsammlung Deutsche Menschen (1936) den Lakonismus die „sprachliche Form der bedeutenden Nüchternheit“ genannt. Alles an dieser Kennzeichnung trifft auch auf Bushaltestelle zu – der ausgeprägte Formwille, die Bedeutsamkeit des Erzählten und die Nüchternheit, mit der vom Unfassbaren gesprochen wird.

Bedeutende Nüchternheit

Scheinbar banale Tätigkeiten wie Theresas ewiges Putzen des Hauses werden zu einer vielschichtigen Metapher. Obwohl du die Wohnung zweimal die Woche geputzt hast, war das Wasser immer schwarz vor Schmutz. Doch haben an die Mutter gerichtete Sätze wie Nur beim Putzen warst du du selbst nichts Denunzierendes. Die Autorin will ihre Romanfiguren nicht anschwärzen, sie zeigt vielmehr die Bedeutung des Unscheinbaren auf. Und auch Elke in ihrem Gedankenmonolog will ihre Mutter verstehen, nicht brandmarken: „Es sind die kleinen alltäglichen Herausforderungen, die dich am Leben halten, Wäsche waschen, Vorhänge ab- und aufhängen, einkaufen, Müll wegbringen.“

Ein gut geputztes Haus und saubere Wäsche hat sie kennengelernt – eine Familie jedoch, in der sich eine(r) an den/die andere(n) anlehnen kann, wie Elke das bei Helen, Markus und ihren Kinder beobachtet, eine solche Familie hat Elke nie kennengelernt. Sie bleibt zeitlebens das Kind, das der Mutter zu viel war.

Seilbahnfahrt als Familienaufstellung

Bei einem der seltenen Familienausflüge in die Berge verhindert die Mutter geradezu gewaltsam, dass ihr Lieblingskind Markus mit dem ungeliebten Ehemann in einer Seilbahngondel zu sitzen kommt und zieht den Jungen zu sich in die nächste Gondel. Und Elke? Der Mitarbeiter an der Talstation „wusste nicht, wohin mit dem übriggebliebenen Kind, dem die Haare rötlich und wirr ins blasse Gesicht fielen; in jeder Gondel war nur Platz für zwei Personen, und so schubste der Mann das Kind in die nächste freie Kabine und sagte: Brauchst keine Angst haben, ist bisher noch jeder wieder runtergekommen.

Die Tür schloss sich mit einem Knall.“

Dieser Bergausflug liest sich wie eine aussagekräftige Familienaufstellung. Einsam in einer Seilbahngondel, starrt Elke auf Verbotsschilder, auf denen Personen, die sich aus dem Fenster lehnen und herausfallen, durchgestrichen sind. Auf keinen Fall wollte Elke zu diesen durchgestrichenen Menschen gehören.

Der Autorin gelingt es mit ihrem empathischen Blick, solche Durchstreichungen von Menschen zurückzunehmen und den im Leben Benachteiligten eine ausgleichende Gerechtigkeit als Romanfiguren zuteilwerden zu lassen. Liebe, Anerkennung, ein erfülltes Leben oder die volle Ausbildung der geistigen Kapazitäten, Notwendigkeiten, die das gute Recht eines jeden Menschen, die jedoch bei keinem Gericht der Welt einklagbar sind – es bedarf solcher Autorinnen wie Ulrike Anna Bleier, um die Ungesehenen aus ihrem Schattendasein ins Licht zu rücken. Literatur, Kunst überhaupt, ist eben doch die letzte Instanz.

Ulrike Anna Bleier: „Bushaltestelle“. Roman. lichtung verlag, Broschur, 224 Seiten, 17,90 Euro.




Vom Konzept überfrachtet: Martin G. Berger inszeniert Gioachino Rossinis „Barbier von Sevilla“ an der Oper Dortmund

Petr Sokolov (Figaro), Aytaj Shikhalizada (Rosina) ©Anke Sundermeier, Stage Picture

Petr Sokolov (Figaro), Aytaj Shikhalizada (Rosina)
© Anke Sundermeier, Stage Picture

Da hampeln sie also an ihren Fäden, die Geschöpfe von Gioachino Rossini und Cesare Sterbini, verkettet mit ihren alten Wurzeln in der Commedia dell’arte und überformt von Beaumarchais‘ vorsichtig die Zensur fürchtenden revolutionären Gedanken. In Dortmund macht der 1987 geborene Martin G. Berger zum Beginn der Intendanz von Heribert Germeshausen aus dem „Barbier von Sevilla“ ein Marionettenspiel, richtet Rossinis unsterbliche musikalische Komödie rücksichtslos nach eigenen Bedürfnissen ein und lässt die Oper nach einer resigniert vergeblichen Revolution „gegen die Festschreibungen einer Gesellschaft“ ziemlich lädiert zurück.

Berger war von 2009 bis 2012 Regieassistent und Abendspielleiter an der Oper Dortmund, arbeitet seit 2015 frei und hat mit einigen Inszenierungen wie dem mit Jelinek-Texten aufgebrochenen „Faust“ Charles Gounods in Heidelberg Opernkonventionen unterlaufen. Dafür wurde er für den Theaterpreis „Der Faust“ nominiert, der im November 2018 verliehen wird. In Augsburg hat Berger mit einer Neufassung der Paul-Abraham-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ eine berührende, stringent erzählte Story über die Ausgrenzung schwuler Sportler im kommerziellen Fußball entwickelt. Viel Kreatives also – Berger gilt als einer der „kommenden“ Regisseure der jungen Generation.

Die neue Weltordnung des Grafen Almaviva

Auch im „Barbiere di Siviglia“ schert er sich nicht viel um die Form des Originals: Die Arie des Figaro, „Largo al factotum“ eröffnet das Spiel, das Multitalent zappelt an seinen Seilen um überlebensgroße, von Rachel Pattison gebaute Puppen herum, bei denen er schon einmal einen Kopf nach hinten klappen kann. Figaro hier, Figaro da – für den fliegenden Harlekin kein Problem.

Die Form der Oper mit ihrer Folge von Rezitativen und Musiknummern wird aufgelöst. Arien und Ensembles sind Einschübe in einem Märchen, das ein Erzähler („Es war einmal …“) vorträgt und auf eine – vom Grafen Almaviva für nötig befundene – „neue Weltordnung“ trimmt.

Im Finale des ersten Akts, wenn alles drunter und drüber geht und Rossini die Gehirne in musikalischer Raserei wirbeln lässt, wird auch dieser Erzähler Opfer des Grafen, der die Marionetten von den Fäden schneidet. Hannes Brock erfüllt die Rolle des Conférenciers mit soignierter Sprache. Den aktualisierenden Späßen, etwa vom iPhone des Grafen, gibt er so eine komische Würde; auf Dauer aber wird der Fluss der Rede lang und sorgt für Löcher in der Spannung.

Petr Sokolov (Figaro), Morgan Moody (Dr. Bartolo) ©Anke Sundermeier, Stage Picture

Petr Sokolov (Figaro), Morgan Moody (Dr. Bartolo)
© Anke Sundermeier, Stage Picture

Dazwischen gibt es in der Reihe der Nummern viel zu erleben: Alexander Djurkov Hotter bestätigt in seinen Kostümen die alten Rollenklischees, etwa bei Doktor Bartolo den geschmacklos bunten, trommelbäuchigen „alten Sack“. Aber er bricht sie auch ins Komisch-Fantastische auf, etwa wenn Rosina sich aus ihrem überkandidelten Uralt-Reifrock herausschält und sich, ihren Arientext wörtlich nehmend, zur „Viper“ verwandelt, deren grünlicher Schwanz über die Bühne peitscht. Oder wenn Don Basilio den Bühnenkasten Sarah-Katharina Karls zum hoffmannesken Panoptikum verwandelt und grotesk vergrößerte pyrotechnische Effekte zwischen den – im Video zu monströsen Seilen aufgeblähten – Marionettenfäden zündet.

Skelett über Goldberg als Ideengeber

Da geht die Musik dann schon einmal im Wunder unter, zumal Denis Velev nicht den bassschwarzen Nachdruck für das Kanonen-Crescendo von Basilios Arie hat und Dirigent Motonori Kobayashi die Rossini-Eruption eher verhalten stattfinden lässt. Eines der treffendsten Bilder der Inszenierung gelingt, als der Graf den universell begabten Barbier durch den Glanz des edlen Metalls dienstbar macht: Über einem riesigen Berg von Gold schwebt ein Skelett, das dem Figaro die Ideen einflüstert.

Im zweiten Akt versuchen die befreiten Figuren dann auf schwankenden Beinen, die Intrige selbständig durchzuziehen, die sie im ersten Akt fremdgesteuert in Szene gesetzt haben. Jetzt kappt Berger die Fäden zur Handlung noch strikter: Die komplexe, von Figaro erdachte Inszenierung mit dem Ziel, Rosina zu befreien, ist nur noch rudimentär zu erahnen. Die Figuren streben schlussendlich an ihre Schnüre zurück. In die Geschirrhaken erfolgreich eingeklinkt, besingen sie erleichtert die Liebe, die sich durchgesetzt hat. Das Fazit zieht süffisant der Erzähler: Was von „Liebe und ewige Treue“ zu halten ist, möge man in der Fortsetzung der Geschichte, Mozarts „Hochzeit des Figaro“ nachlesen.

Nun ja, schauen wir doch nach! Bei Mozart setzen sich Mut und Witz gegen die Zumutungen eines Mannes durch, der von der Mühe echter Liebe irritiert und von Zeit und Gewöhnung zermürbt sein Heil im sexuellen Abenteuer sucht. Rossinis „Barbiere“ vermittelt eine ähnlich humane Hoffnung, mag sie auch mehr Wunsch als Wirklichkeit sein: Standesgrenzen, Geld und Gier können die Liebe nicht wirklich hindern, auch wenn sie sich mit der bezahlten Raffinesse eines „Hallodri“ wie dem Figaro verbünden muss. Das ist auf seine Weise untergründig subversiv. Am Ende von Bergers Inszenierung aber rollen sich die Tapeten mit den kitschigen, fliederfarbenen Riesen-Rosen aus Rosinas Mädchengefängnis wieder ab. Revolution aufgegeben, alles beim Alten. Und an die Liebe glauben wir schon lange nicht mehr.

Die Musik setzt sich nur schwer durch

Unter der Dominanz der Inszenierung hat es die Musik schwer, sich durchzusetzen. Dirigent Motonori Kobayashi bevorzugt einen leichtfüßigen, aufgelockerten Klang und maßvolle, aber nicht lahmende Tempi. Die Dortmunder Philharmoniker sitzen in der Ouvertüre einmal einem krassen Missverständnis auf, sind in manchen Übergängen in den Violinen zu hastig, begleiten aber in den Gesangsnummern die Solisten flexibel und mit Rücksicht auf den Atem.

Manchmal – etwa im Duett des Grafen Almaviva mit Figaro im ersten Akt – fehlt es an der Markanz der Pizzicati in den Bässen, die das rhythmische Grundgerüst mit federnder Energie sichern sollten. Bei den Crescendi lässt Kobayashi nicht los; die Gewittermusik bleibt daher matt und wirkt zu kalkuliert. Dass der Chor unter Fabio Mancini nur schwer mit den rasanten Orchesterfiguren zu koordinieren ist, wundert nicht: Im ersten Finale wird der ganze Graben umspielt, entsprechend ist es im Trubel kaum möglich, den Kontakt zum Dirigenten, zu den Solisten und untereinander zu halten.

Mit Sunnyboy Dladla hat Dortmund einen versierten Rossini-Tenor im Ensemble, für dessen Tessitura man sich in Zukunft mehr passende Stücke wünschen würde, zumal er auch als Darsteller „bella figura“ machen kann. Auch wenn die Tongebung hin und wieder etwas abgemagert wirkt, hat er ein glanzvolles, brillantes hohes Register und eine reibungslose Geläufigkeit. Es darf durchaus sein, dass ein Spielplan auch einmal auf einen herausragenden Solisten in einem speziellen Fach zugeschneidert wird!

Es fehlt die selbstverständliche Eleganz

Auch Aytaj Shikhalizada überzeugt als Rosina mit dunkel gefluteter Tiefe, ausgezeichnet positionierter Mittellage und koloratursicherer Phrasierung, dass sie für das Rossini-Fach alle technischen Fähigkeiten mitbringt – und dazu eine bezaubernde Darstellerin sein kann. Mit Morgan Moody als Bartolo steht ein präsenter, kerniger, in der Artikulation sattelfester Bass auf der Bühne, der diese gern defizitär besetzte „komische“ Rolle voll und ganz ausfüllt. Ji-Young Hong (Berta) kriecht als Schnecke über die Bretter und darf ihre Arie leider nicht zum Besten geben. Petr Sokolov ist ein spielfreudiger Barbier mit einem eher kraftvollen als eleganten Bariton.

Am Ende bleibt der Eindruck eines konzeptuell durchdachten, aber vielleicht gerade deshalb überfrachteten Abends; die selbstverständliche Eleganz, mit der Berger in Augsburg Paul Abrahams Operette durchgestaltet hat, geht diesem „Barbiere“ ab. Jan Philipp Gloger hat Rossinis Meisterwerk in Essen nicht weniger pointiert, aber flüssiger und leichtfüßiger inszeniert. Mal sehen, wie sich der junge Regisseur bei seiner nächsten – vom Intendanten bereits angekündigten – Dortmunder Arbeit bewährt.

Die nächsten Aufführungen: 18., 20., 26., 28. Oktober, 9., 16. November, 1., 9., 21., 26. Dezember und weitere ab 2. Februar 2019. Info: www.theaterdo.de




In den besten Momenten fast schwerelos: Der „neue“ BVB spielt bestimmt nicht perfekt, aber unwiderstehlich mitreißend

Jetzt doch mal wieder ein paar Zeilen über Fußball. Über Fußballkultur, um euphorisch zu werden. Kurz und gut: Die letzten Spiele des BVB waren vielleicht nicht perfekt, phasenweise sogar holprig, aber dann – auf einmal dieser wundersame Wandel – allesamt unwiderstehlich mitreißend. Man muss schon an Jürgen Klopps oder auch Ottmar Hitzfelds beste Zeiten zurückdenken, um Vergleichbares zu finden.

Da hängt es... und der Erwerb soll sich bitteschön auch gelohnt haben. (Foto: BB / © Trikot: Borussia Dortmund)

Da hängt es nun… und der Erwerb soll sich bitteschön auch gelohnt haben. (Foto: BB / © Trikot: Borussia Dortmund)

Wie sich die im Durchschnitt sehr junge Mannschaft jeweils in den zweiten Halbzeiten aufgerafft hat, als wüchsen ihr Flügel, das war schon außerordentlich beeindruckend. So etwas wie die (nach Anfangsschwierigkeiten) ungeahnten Erfolge gegen Frankfurt und erst recht gegen Augsburg oder auch das satte 7:0 gegen Nürnberg hat man schon lange nicht mehr gesehen. Zugegeben: Glück ist dabei. Aber auch eine Menge Können.

Nicht nur Willensakte

Besser noch: Es waren nicht nur reine Kraft- und Willensakte, sondern Steigerungen, die in den schönsten Momenten ins wunderbar Spielerische und beinahe ins Schwerelose abhoben. Der neue Trainer Lucien Favre hat offenbar schon großartige Arbeit geleistet. Stets verweist er darauf, dass er und das Team noch Zeit bräuchten. Er hat sicherlich recht. Nun gut. Wir warten ab, was da noch kommen mag.

Wer war nochmal „Auba“?

Als hätte ich’s geahnt, habe ich zwei Tage vor dem Spiel gegen die tapferen, wenn auch arg rustikalen Augsburger das Trikot mit der Nummer 9 und der Aufschrift Paco Alcacer erworben – mit BVB-üblichem Torschützen-Rabatt. Und da zaubert der Spanier als Einwechselspieler gleich schon wieder drei Treffer, darunter den entscheidenden Freistoß in der allerletzten Sekunde. Wenn er so oder ähnlich weiter macht, wird man sich bald fragen: Aubameyang – wer war denn das nochmal?

Jedenfalls sollten sie den einstweilen vom FC Barcelona nur ausgeliehenen Stürmer unbedingt an den BVB binden. Angeblich sind die entsprechenden Verträge schon unterschriftsreif und die festgelegte Ablösesumme soll „nur“ bei rund 23 Millionen Euro liegen, was nach Lage der Dinge tatsächlich ein Schnäppchen wäre, so absurd es klingt. Die Aussichten, dass er in Dortmund bleibt, sollen jedenfalls sehr gut stehen.

Zugänge passen ins Gefüge

Aber auch die anderen Neuzugänge passen recht genau ins Gefüge, allen voran der Belgier Axel Witsel, der mit seiner Routine für dringend benötigte Stabilität sorgt, und der ebenfalls sehr zuverlässige Däne Thomas Delaney. Dazu die Sturm- und Drang-Abteilung mit frühreifen Talenten wie Pulisic, Sancho oder auch Bruun Larsen. Die nicht immer standfesten, doch sichtlich ehrgeizigen und steigerungsfähigen Akanji, Diallo und Hakimi. Natürlich nicht zu vergessen der gebürtige Dortmunder Kapitän Marco Reus, der die Mitspieler zu motivieren versteht. Wenn jetzt auch noch Mario Götze zu alter Stärke zurückfände, wär’s kaum auszuhalten. Dann hätte der BVB veritable Chancen, den derzeit kriselnden Bayern ein spannendes Rennen um die Meisterschaft zu liefern und in der Champions League mehr als achtbar abzuschneiden.

Trotzdem lieber mit Rückschlägen rechnen

BVB-Sportdirektor Michael Zorc hat also bei der Sichtung des Marktes offenbar das richtige Händchen bewiesen. Man darf auch annehmen, dass Sebastian Kehl, der neu bestallte Leiter der Lizenzspielerabteilung, zumindest klimatisch auch schon etwas bewirkt hat. Sollten zudem die fachlichen Ratschläge von Matthias Sammer im Hintergrund geholfen haben? Warum nicht?

Aber träumen wir nicht zu früh. Rechnen wir lieber mit zwischenzeitlichen Rückschlägen oder gar Krisen. Erwarten wir lieber erst einmal weniger als das Mögliche und Wahrscheinliche.




Panorama europäischer Baukultur: Diözesanmuseum Paderborn zeigt herausragende Gotik-Ausstellung

Das Diözesanmuseum Paderborn zeigt eine große Gotik-Ausstellung. Eingangsbereich der Ausstellung. Foto: Werner Häußner

Das Diözesanmuseum Paderborn zeigt eine große Gotik-Ausstellung. Hier der Eingangsbereich der Schau. (Foto: Werner Häußner)

Von Licht und Farbe durchflutete Räume, himmelwärts gelenkter Blick, filigrane, schwerelose Architektur: Die gotische Kathedrale fasziniert bis heute Betrachter und Besucher; die Interpretation dieses so revolutionär scheinenden Baustils füllt Bände. Die gotische Kathedrale, deren Entwicklung Ende des 12. Jahrhunderts beginnt, ist zum Inbegriff „mittelalterlicher“ Architektur geworden und hat in der Kulturgeschichte vielfältige Deutungen erfahren. Eine große Ausstellung widmet sich nun in Paderborn einem markanten Beispiel für diese Epoche.

Das Erzbischöfliche Diözesanmuseum stellt bis 13. Januar 2019 den Paderborner Dom in den Zusammenhang der Baukultur des 13. Jahrhunderts in Europa. 170 Leihgaben aus 80 renommierten europäischen Museen stellen Verbindungen her – zwischen der gotischen Baukunst Frankreichs und Westfalens ebenso wie zwischen dem Paderborner Bau und den geistig-theologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbrüchen im „Jahrhundert der Kathedralen“.

Anlass für die Ausstellung ist das Jubiläum der Weihe des hochromanischen Doms, den Bischof Imad vor 950 Jahren errichten ließ. Dessen Nachfolgerbau, der heute zu sehen ist, bezieht sich in seinen Dimensionen auf den Imad-Dom und betont damit die Kontinuität, obwohl der gotische Bau, so das Vorwort des voluminösen Ausstellungskatalogs, der erste Dom war, der nicht „aus Anlass der Zerstörung des Vorgängers erfolgte, sondern aus einem bewusst gefassten Entschluss, eine größere und modernere, d.h. gotische Kathedrale zu errichten“.

Zentrales „Ausstellungsstück“ ist der heutige Dom selbst. An ihm lassen sich die innovative Architektur- und Formensprache ablesen, die um 1215 unter direktem französischem Einfluss in Paderborn zu einem modernen Bau führte, der regionale spätromanische Traditionen selbstbewusst mit der neuen Formensprache verbunden hat. Dies sei, wie Museumsdirektor Christoph Stiegemann betonte, kein Zeichen von Provinzialität. Heute sehe die Forschung das Eigenständige der westfälischen Gotik nicht als Mangel, sondern als bewusste Entscheidung, gotische Formen in spätromanische Architekturkonzepte umzuschmelzen.

Älteste erhaltene Architekturzeichnungen

Wie war es möglich, Formen der französischen Gotik aufzugreifen und der heimischen Bautradition anzupassen? Darauf antwortet eines der herausragenden Stücke der Ausstellung: Die Reimser Palimpseste stehen als älteste erhaltene Architekturzeichnungen für ein Medium, das in wenigen Jahrzehnten sämtliche Bau- und Planungsverfahren revolutionierte. Nun konnten die Bauleute komplexe geometrische Architekturformen konzipieren und weiträumig kommunizieren. Die Zeichnungen machten die Formen skalierbar: Es entstand Architektur en miniature; gotische Formelemente ließen sich auf kunstvolle Goldschmiedearbeiten, Elfenbeinschnitzereien oder Reliquiare anwenden. In der Ausstellung steht für solche gestalterische Möglichkeiten das einzigartige Heiliggrabreliquiar aus dem Schatz der Kathedrale von Pamplona, das bisher noch nie in Deutschland gezeigt wurde; ebenso die originalen Fragmente des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Schreins der heiligen Gertrud von Nivelles.

Die Momumentalskulpturen am Hauptportal des Paderborner Domes. Foto: Werner Häußner

Die Momumentalskulpturen am Hauptportal des Paderborner Domes. (Foto: Werner Häußner)

Die Ausstellung verdeutlicht auch, dass die Gotik „mit einer völlig neuen Wirklichkeitserfahrung“ (Stiegemann) einhergeht. Sehen und Schauen als wesentliche Träger von Erfahrung spielen dabei ebenso eine Rolle wie die beginnende Individualisierung des Menschen, die sich in der Konzeption etwa von Heiligenfiguren ablesen lässt. Der berühmte „Kopf mit der Binde“ des Naumburger Meisters, eine der 15 herausragenden Leihgaben aus dem Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum Mainz, zeigt lebensnahe Mimik: Das um 1240 entstandene steinerne Antlitz lässt sich als verhaltenes Lächeln, aber auch als wehmütiger Blick deuten und gibt der Bedeutungsforschung bis heute Rätsel auf.

Anders der Ausdruck des Engels aus dem Pariser Louvre: Sein entspanntes Lächeln vermittelt einen Eindruck von ruhevoller Heiterkeit, ohne einen Zug ins jenseitig Verklärte anzunehmen. Auch die monumentalen Apostel am Hauptportal des Paderborner Doms nehmen die Züge der neuen Individualität und einen emotionalen Ausdruck an. Sie treten dem Betrachter überlebensgroß als Person, nicht mehr nur als Repräsentanten einer Idee entgegen, wurzeln aber in ihrer Gestaltung aus der Fläche noch in älteren Traditionen: auch sie ein Beispiel selbstbewusster Eigenständigkeit.

Stein und Holz werden nebeneinander verwendet, da die Farbfassung das Material der Skulpturen verborgen hat. Eine jüngst durchgeführte dendrochronologische Untersuchung hat ergeben, dass die Eiche, aus der die beiden Figuren der Bistumspatrone Kilian und Liborius über den Portaltüren geschnitzt wurden, zwischen 1212 und 1224 gefällt wurde – ein wichtiges Datum für die ansonsten quellenmäßig nur dürftig abgedeckte Baugeschichte des gotischen Doms.

Projektleiterin Petra Koch-Lütke Westhues hat die Schau in sechs Stationen aufgeteilt. Sie beginnt mit dem Vorgängerbau, dem 1068 fertiggestellten romanischen Dom von Bischof Imad. Die Wandlungen von der ältesten Paderborner Bistumskirche aus der Zeit Karls des Großen bis hin zum heutigen Dombau veranschaulichen dreidimensionale Animationen. In den Blick rücken die baufreudigen Oberhirten aus der einflussreichen Familie Bernhards II. zur Lippe. Veranschaulicht werden die technischen Innovationen, die den Bau der Kathedralen erst ermöglichten, und die rationalisierten Abläufe an der Großbaustelle mit der Organisation der verschiedenen Gewerke.

Für die Liturgie der Zeit und die Funktion der Kathedrale als Haus Gottes, für das Wechselspiel zwischen öffentlich-repräsentativer Feier der Eucharistie und privater Frömmigkeit stehen exemplarische Leihgaben, aber auch die digitale Rekonstruktion des im 17. Jahrhundert abgebrochenen gotischen Lettners des Paderborner Doms. Eines der Kunstwerke ist ein um 1250 entstandenes Elfenbeindiptychon aus dem Museum für byzantinische Kunst in Berlin mit Szenen aus Passion und Auferstehung Jesu Christi; ein anderes ist die erlesene Goldschmiedearbeit aus der Domschatzkammer Essen, das Armreliquiar des heiligen Cosmas. Dieses Stück in Form eines silbernen Arms trägt auf den Spitzen der Finger einer eleganten Hand ein Türmchen mit gotischen Zierformen. Die um 1300 entstandene Kostbarkeit belegt, wie gotische Architekturelemente als Dekor in zum Teil winzigen Maßstäben in die Kunst übertragen wurden.

Doch die gotische Kathedrale war nicht nur steingewordenes Zeugnis des Glaubens und Abbild des himmlischen Jerusalem. Ein pointierter Katalogbeitrag von Bruno Klein verdeutlicht, in welch komplexe Deutungszusammenhänge die gotische Kathedrale im Lauf der Jahrhunderte eingebunden war. Er geht auch auf ihre Funktion im Rahmen der erblühenden städtischen Gesellschaften ein, in der sie eine dynamische Rolle als „Projektionsfläche besonders vieler und keineswegs einheitlicher Erwartungen“ fungierte. Darin sieht Klein den eigentlichen Grund für die Entwicklung dieses markanten Bautyps.

Die Dombauten als große Gemeinschaftsleistungen erfüllten eine aktive Funktion in religiösen, sozialen, politischen und künstlerischen Aushandlungsprozessen – und ihre Zeit ging, so die These, zu Ende, als sich die Gesellschaften zu weit ausdifferenzierten und „ein einzelnes Bauwerk nicht mehr die Interessen aller zum Ausdruck zu bringen vermochte“. Ein Aspekt, den eine Ausstellung nur sehr abstrakt darstellen kann, der aber in der Betrachtung der gezeigten Kunstwerke nicht aus dem Blick geraten sollte.

„Gotik. Der Paderborner Dom und die Baukultur des 13. Jahrhunderts in Europa“. Bis 13. Januar 2019 im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn. Geöffnet Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt kostet neun, ermäßigt sechs Euro. Der Katalog mit 800 Seiten und 740 Abbildungen kostet in der Ausstellung 39,95 Euro. Info: www.dioezesanmuseum-paderborn.de/gotik

 




Dortmunder Grafit-Verlag geht an Kölner Konkurrenz

Die Dortmunder Verlagslandschaft war nie sonderlich imposant, doch gab es über viele Jahrzehnte hinweg immerhin zwei große Tageszeitungen, die ihre Zentralen in dieser Stadt hatten. Zudem war es 1989 ein kleines Hoffnungszeichen, als Rutger Booß hier den Grafit-Verlag gründete, der sich nach und nach zu einer beachtlichen Adresse namentlich für damals noch nicht allgegenwärtige Regionalkrimis entwickelte.

Zwei neuere Bücher mit dem Logo des Grafit-Verlages. (© Grafit)

Zwei neuere Bücher mit dem Logo des Grafit-Verlages. (© Grafit)

Mit der Zeit schrieben – um nur wenige zu nennen – beispielsweise Lucie Flebbe, Gabriella Wollenhaupt, Jürgen Kehrer („Wilsberg“), Reinhard Junge oder Thomas Schweres für Grafit. Ein Schwerpunkt waren Krimis aus dem Ruhrgebiet, doch auch in anderen Landschaften und gelegentlich auch jenseits der deutschen Grenzen ging’s grafitmäßig hinterhältig und blutig zu.

Rutger Booß erwies sich dabei zusehends als gewiefter, gewitzter und mit ziemlich vielen Wassern gewaschener Verleger. Die Zeiten sind indes noch härter geworden und Booß‘ Nachfolgerin Ulrike Rodi, seit 2010 am Ruder, fühlte sich nach eigenem Bekunden zuletzt immer weniger „motiviert“, gegen widrige Umstände des Buchmarktes anzukämpfen. Also endet zum Jahreswechsel die eigenständige Geschichte des immer noch verhältnismäßig kleinen Verlags. Der größere, ebenfalls mit Regionalkrimis befasste Emons-Verlag in Köln übernimmt das Dortmunder Programm und wird es (mutmaßlich unter der eingeführten Marke Grafit) weiterführen. Man wird sehen, ob und wie das funktioniert.

Nachdem schon die Dortmunder Presselandschaft im Vergleich zu früher furchtbar ausgedünnt ist und etwa auch der zeitweise recht agile örtliche Harenberg Verlag längst nicht mehr besteht, ist dies ein weiterer Verlust für die Stadt, was Printprodukte angeht. Eine betrübliche Nachricht am Vorabend der Frankfurter Buchmesse.

Grafit-Gründer Rutger Booß (Jahrgang 1944), der bereits seit neun Jahren nicht mehr auf die Dinge einwirken konnte, dürfte all dies mit etwas Wehmut, aber eben auch aus gewachsener Distanz mit Gelassenheit sehen. Längst ist er als Autor mit eigenen Buchprojekten beschäftigt. 2017 machte er sich in „Immer diese Senioren“ über ältere Mitbürger her, demnächst soll ein Buch über aberwitzigen Wunderglauben „seit der Steinzeit“ erscheinen. Aber selbst Wunder werden dem Grafit-Verlag wohl nicht mehr helfen.




Wie eine späte Heimkehr: Essener Ruhr Museum zeigt stilbildende Revier-Fotografien von Albert Renger-Patzsch

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Über Jahrzehnte hinweg hat dieser Mann den Blick geprägt, mit dem viele Menschen die Landschaft des Ruhrgebiets wahrgenommen haben: Albert Renger-Patzsch (1897-1966) ist wahrhaftig ein stilbildender Fotograf gewesen. Jetzt widmet ihm das Essener Ruhr Museum auf dem Gelände der Zeche Zollverein eine Ausstellung, die just hierher gehört: „Die Ruhrgebietsfotografien“ waren ab Ende 2016 zunächst in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen, jetzt ist die Ausstellung – in stark erweiterter Form – gleichsam heimgekehrt.

Renger-Patzsch, sonst vorwiegend als Auftrags-Fotograf unterwegs, hat die Ruhrgebietslandschaften als sein größtes freies Projekt in Angriff genommen. Es sind keine Ansichten eines kurzfristig Zugereisten. Renger-Patzsch war mit dem Revier vertraut. Der Fotograf lebte von Ende 1929 bis zum Oktober 1944 (als sein Haus bei Luftangriffen zerstört wurde) in der Essener Künstlersiedlung Margarethenhöhe.

Schon vor seiner Umsiedlung ins Ruhrgebiet war der gebürtige Würzburger prominent gewesen, insbesondere durch seinen vielbeachteten Bildband „Die Welt ist schön“ von 1928, der mit Pflanzen-, Tier- und vor allem Objektaufnahmen bereits die neusachliche Sicht auf die Welt kultivierte.

Entdeckung der „Zwischenstadt“

Die jetzt in Essen gezeigten Serien seiner Ruhrgebiets-Aufnahmen sind vorwiegend zwischen 1927 und 1935 entstanden. Im Kontrast zwischen noch ländlichen Stadträndern und gewaltig aufkommenden Industrie-Giganten hat er völlig neuartige Räume bzw. Raum(un)ordnungen entdeckt und festgehalten. Viel später hat man für derlei schwer beschreibliches Niemandsland den Begriff „Zwischenstadt“ verwendet.

Und tatsächlich: Seine Bilder von Zechengebäuden und Halden-Landschaften, Vorstadt-Siedlungen und Schrebergärten zeigen ein damals atemberaubend neues Amalgam aus schwindender Natur und ungeheuerlich wachsender Industrie. Das hat es in dieser Form in ganz Deutschland nicht so beispielhaft monumental gegeben, auch in Europa suchten solche Konglomerate ihresgleichen.

„Fotograf der Dinge“ – wertfrei und objektiv?

Als Fotograf im Umkreis der Neuen Sachlichkeit hat sich Renger-Patzsch (ganz anders als etwa Erich Grisar, dem das Ruhr Museum und im Gefolge die Dortmunder Zeche Zollverein zuvor eine Ausstellung gewidmet haben) absolut nicht für Arbeitsbedingungen oder gar für Klassenkämpfe interessiert. Seine Bilder sind denn auch menschenleer, er ist ein „Fotograf der Dinge“.

Wohl erst mit heutigem Blick sieht man die Trostlosigkeit und die argen Verletzungen, die der Landschaft zugefügt wurden. Renger-Patzsch hingegen hat offenkundig noch den bizarrsten Industrie-Wüsteneien ästhetische Valeurs abgewonnen. Auch das macht diese Bilder so scheinbar zeitenthoben und klassisch. Ja, seine Sichtweise mutet weitgehend emotionslos, „objektiv“ und „wertfrei“ an, doch könnte man gegen die letzten beiden Zuschreibungen eine ganze Menge einwenden.

Ruhrgebiet früherer Zeiten

Es ist dies eine Wiederbegegnung mit dem „alten“ Revier, wie es bis in die 1960er Jahre hinein Bestand hatte, insofern liegen die 20er und 30er gar nicht so immens weit zurück. Die Ansammlungen von Schloten zwischen einer kahlen Baumreihe oder direkt hinter einer Arbeitersiedlung im Essener Nordend wirken durchaus imposant, die zuweilen monströsen Halden haben etwas von großer Geste.

Wertungen sind diesen Bildern allerdings fremd, auch die gewiss dürftigen Häuser wirken wie selbstverständlich hingestellt. Und wenn sich ein Zechenturm samt Schornsteinen direkt hinter einem geduckten Fachwerkhaus erhebt oder einige Kühe vor Schlotkulisse stehen, so sind das beileibe keine kritischen Stellungnahmen, sondern: Es ist, wie es ist.

Keine sonderlichen Schwierigkeiten nach 1933

Jedenfalls war sein bildkünstlerisches Werk auch nach 1933 sozusagen „anschlussfähig“, er scheint in der Nazi-Zeit keine sonderlichen Schwierigkeiten gehabt zu haben und konnte sogar für die paramilitärische NS-Organisation Todt tätig werden. Andererseits hatte er lediglich im Winter 1933/34 einen Lehrauftrag an der Essener Folkwang-Schule für Gestaltung. Hat er sich bewusst entzogen?

Ergänzt werden die zentral präsentierten Ruhrgebietslandschaften mit rund 200 weiteren Fotografien von Albert Renger-Patzsch, die sich in einigen Seitenkabinetten gruppieren und ebenfalls mehrheitlich Vintage-Prints, also Originalabzüge sind. Es handelt sich überwiegend um Auftragsarbeiten, entstanden ab den 1920ern bis in die 1960er Jahre, beispielsweise für die Bochumer Edel-Tischlerei Dieckerhoff oder fürs Museum Folkwang, wo Renger-Patzsch seinerzeit ein eigenes Atelier hatte.

Rare Porträtaufnahmen

Hinzu kommen Aufnahmen der Villa Hügel, des Essener Münsters (Domkirche), der Gartenstadt Margarethenhöhe und von markanten Zechenbauten, nicht zuletzt vom jetzigen Ausstellungsort, der Zeche Zollverein – und aus der kriegszerstörten Stadt Essen. Als sein Haus in der Margarethenhöhe zerstört wurde, zog die Familie zum Künstler Hermann Kätelhön nach Wamel (Möhnesee) bei Soest.

Die Ausstellung, gemeinsam kuratiert von Stefanie Grebe (Essen) und Simone Förster (München), hält noch eine weitere Spezialität bereit: Überraschend für den sonst so sehr auf Dinge fixierten Renger-Patzsch, finden sich auch einige Porträtaufnahmen, die zwar gleichfalls von meisterlichem Handwerk und von Kunstfertigkeit zeugen, aber bei weitem nicht so stilbildend sind wie eben seine (Zwischen)stadtlandschaften. Interessant auf jeden Fall einige der Dargestellten: Die Skala reicht vom berühmten Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus (Hagen, 1920) über Großindustrielle wie Hugo Stinnes (Mülheim/Ruhr, 1930) bis zum 1935 porträtierten jungen Juristen bei den Rheinischen Stahlwerken in Essen. Er hieß übrigens Gustav Heinemann und wurde Jahrzehnte später Bundespräsident.

Kölner Galerie und Münchner Stiftung

Nun soll noch geklärt werden, wer all die fotografischen Schätze gesammelt und bewahrt hat. Es waren Ann und Jürgen Wilde, die schon sehr zeitig Fotografie als Kunst betrachtet und präsentiert haben, als die Marktpreise noch nicht verrückt gespielt haben. Bereits 1974 zeigten sie in ihrer Kölner Galerie Ruhrgebietsbilder von Albert Renger-Patzsch, dessen Werk sie auch hernach gepflegt haben. Seit 2010 ist die Stiftung Ann und Jürgen Wilde der Münchner Pinakothek der Moderne angegliedert, womit sich auch der Ort der Erstausstellung erklärt. Im Ruhrgebiet freilich wird man diese Ausstellung ganz anders rezipieren als an der Isar.

Albert Renger-Patzsch: Die Ruhrgebietsfotografien. Essen, Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181 (Navigation: Fritz-Schupp-Allee, 45141 Essen). 8. Oktober 2018 bis 3. Februar 2019. Geöffnet Mo bis So 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 sowie für Studierende unter 25. Katalog (336 Seiten, ca. 200 Schwarzweiß-Abb.) 29,80 €. Weitere Infos: www.ruhrmuseum.de und Tel.: 0201 / 24 681 444.

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Nachbemerkung:

Aus Urheberrechtsgründen mussten die Fotos einzelner Werke zu dieser Ausstellung leider sechs Wochen nach Ende der Schau gelöscht werden. Somit steht jetzt nur noch der Text fast ohne bildliche Anschauung hier – bis auf einen einzige, sehr ungenauen Blick auf Stellwände. Ob wohl auch die Print-Medien Bilder in ihren Online-Auftritten getilgt haben?




Erinnerungen an die letzte Diva des Belcanto: Zum Tode von Montserrat Caballé

Herzlich und humorvoll war die Caballé im Umgang auf und hinter der Bühne. Foto Agentur Schmerbeck

Herzlich und humorvoll war die Caballé im Umgang auf und hinter der Bühne. Foto Agentur Schmerbeck

Ihre balsamischen Piani, ihre schwerelos gebildeten musikalischen Linien, die enorme Beweglichkeit ihrer Stimme sind unerreicht: John Steane, einer der bedeutendsten Sänger-Kritiker überhaupt, zählt Montserrat Caballé gemeinsam mit Lilli Lehmann, Rosa Ponselle und Maria Callas zu den vier besten auf Tonträger dokumentierten Sängerinnen des verzierten lyrisch-dramatischen Fachs. Am 6. Oktober kam die traurige Nachricht: Montserrat Caballé, die letzte große Belcantistin der Callas-Ära, ist im Alter von 85 Jahren in Barcelona gestorben.

Der Weg zur Hohepriesterin des schönen Gesangs war ihr nicht in die Wiege gelegt: Die Katalanin stammt aus einfachen Verhältnissen, wurde – wie sie einmal erzählte – wegen ihres ärmlichen Kleides von anderen Kindern in der Schule verlacht.

Das Studium am Conservatorio del Liceo in Barcelona vermittelte ihr die phänomenale Atemtechnik, die ihr ermöglichte, flutenden Piani ebenso zu singen wie die endlosen Melodiebögen Bellinis oder die Attacken eines Richard Strauss. Nach ersten Erfahrungen mit Zarzuelas, den unterhaltenden Operetten ihrer Heimat, bekam sie 1956 ihr erstes Engagement in Basel. In Italien, wo man damals hochdramatisch dröhnende Organe bevorzugte, wollte sie niemand haben.

In der Schweiz und bei einzelnen Gastauftritten an deutschen Bühnen sang sie das Repertoire, das sie zunächst für sich bevorzugte: Mozart, Verdi, Strauss. Pamina und Donna Elvira gehörten dazu, Salome, Aida, aber auch Marta in Eugen d’Alberts „Tiefland“, Renata in Prokofjews „Der feurige Engel“ und Marie in der szenischen Uraufführung der Oper „Tilman Riemenschneider“ von Casimir von Paszthory. Zwei Mal sang sie 1959 an der Wiener Staatsoper, hinterließ aber offenbar keinen Eindruck: als Donna Elvira in Mozarts „Don Giovanni“ und in der Titelpartie von Richard Strauss „Salome“.

Als sie 1971 nach Wien zurückkehrte, war das anders. Inzwischen hatte sie ihre „Galeerenjahre“ hinter sich. Ihre Auftritte an deutschen Theatern wie Saarbrücken und Bremen haben sie, wie sie selbst sagte, musikalisch geformt. 1965 kam der überraschende internationale Durchbruch, als sie für Marilyn Horne in New York in Gaetano Donizettis damals kaum gespielter Oper „Lucrezia Borgia“ einsprang. Für die damals 32jährige Sängerin war das zunächst auch nur ein – wenn auch erfolgreicher – exotischer Ausflug neben ihrer „Figaro“-Gräfin und einer Rosenkavalier-Marschallin in Glyndebourne oder der Marguerite in Gounods „Faust“ in New York.

Triumphe – aber nicht in Deutschland

Als sie 1970 ihre erste Norma sang, hatte Caballé sich auf der Schallplatte als Bellini-, Rossini- und Donizetti-Sängerin einen Namen gemacht, also in jenem Repertoire, das außer Maria Callas in den Nachkriegsjahren nur sehr wenige Sängerinnen adäquat beherrschten. Hinfort, so beklagte Caballé einmal in einem Interview, wurde sie auf dieses Genre festgelegt.

Nach Wien kehrte sie 1971 zu einer ihrer 44 Vorstellungen an der Staatsoper zurück – als Leonora im „Troubadour“ und als Elisabetta in „Don Carlo“. Man hatte nicht das Repertoire für eine Sängerin, die sich den Belcantisten des 19. Jahrhunderts verschrieben hatte; Opern wie Donizettis „Anna Bolena“ oder gar Raritäten wie Giovanni Pacinis „Saffo“ waren damals im deutschsprachigen Raum nahezu undenkbar. So sang Caballé in Wien Partien wie Leonora („Il Trovatore“ und „La Forza del Destino“), Tosca, Maddalena („Andrea Chenier“) und ihre Belcanto-Paraderolle, die „Norma“ Vincenzo Bellinis. In ihrer Heimatstadt Barcelona, in USA und in Mailand dagegen triumphierte sie als Maria Stuarda, als Lucrezia Borgia, als Adriana Lecouvreur in Francesco Cileas Oper oder als Lina in Verdis „Aroldo“.

Eine der zahlreichen "Best of"-Platten der Caballé (EMI Classics)

Eine der zahlreichen „Best of“-Platten der Caballé (EMI Classics)

Caballés Repertoire war bewundernswert breit. Über 90 Rollen hat sie in über 4.000 Auftritten verkörpert. Ein Pensum, von dem man bei den heutigen hochgezüchteten Rennpferdchen im internationalen Opernzirkus nur träumen kann. Das britische Fachmagazin „Gramophone“ hat in einer Würdigung als Beispiel ihre Bühnenrollen des Jahres 1979 aufgezählt: von den großen Verdi-Partien in der „Macht des Schicksals“, „Don Carlo“ und „Aroldo“ über die Belcanto-Herausforderungen Norma und Donizettis Elisabetta in „Roberto Devereux“ und „Maria Stuarda“ geht es bis zu den Materialschlachten einer „La Gioconda“ von Amilcare Ponchielli und einer Maddalena in Umberto Giordanos „Andrea Chenier“. Dazu trat Richard Strauss‘ „Salome“ und für die Platte die höchst diffizile Rolle der Elvira in Bellinis „I Puritani“ und – ganz gegensätzlich – Santuzza in Pietro Mascagnis „Cavalleria rusticana“. Das alles aber in einer Qualität, die – von prinzipiellen Auffassungsfragen oder Details der Interpretation einmal abgesehen – stupend und technisch unanfechtbar gesungen ist.

An deutschen Bühnen trat Montserrat Caballé in ihren erfolgreichen Jahren kaum auf – außer in Hamburg. Ihr Debut in der Hansestadt gab sie am 30. Mai 1973 als Elisabeth in „Don Carlos“. Weitere Rollen waren u. a. Elisabeth in „Roberto Devereux“, Tosca, Norma und Gioachino Rossinis Semiramide. Zuletzt hatte sie am 20. Dezember 1997 einen Gastauftritt in der „Fledermaus“.

Archivbild von einer konzertanten Aufführung von Gioachino Rossinis "Semiramide" in Hamburg mit Montserrat Caballé. Augf dem Foto (von links): Ferruccio Mazzoli, Francisco Araiza, Montserrat Caballé, Marilyn Horne und Samuel Ramey. Archivbild: Hamburgische Staatsoper.

Archivbild von einer konzertanten Aufführung von Gioachino Rossinis „Semiramide“ in Hamburg mit Montserrat Caballé. Augf dem Foto (von links): Ferruccio Mazzoli, Francisco Araiza, Montserrat Caballé, Marilyn Horne und Samuel Ramey. Archivbild: Hamburgische Staatsoper.

Erst im Herbst ihrer Bühnenkarriere nahm sie das breite Publikum in Deutschland wahr. Mit der Hymne „Barcelona“ an ihre Heimat wurde sie 1992 auch außerhalb der Opernszene weltbekannt: Das Stück hatte sie mit dem Queen-Frontman Freddy Mercury aufgenommen. In Wien sang sie 1988/89 eine Serie von Vorstellungen der damals wiederentdeckten Rossini-Spezialität „Die Reise nach Reims“ und brillierte mit ihrem komischen Talent als Duchesse de Crakentorp in Donizettis „Regimentstochter“ (2007). Längst hatte sie die anspruchsvollen Belcanto-Partien aufgegeben und sich – nach Herzproblemen 1985 und der Entdeckung eines gutartigen Hirntumors ein Jahr später – auf Konzerte konzentriert. Ihre Auftritte mit Marilyn Horne waren Publikumsmagneten, aber auch stets in Gefahr, große Belcanto-Nummern als das zu verkaufen, was sie gerade nicht sein wollen: Primadonnenzirkus.

Ein Instrument von „superber Qualität“

Maria de Montserrat Bibiana Concepción Caballé i Folch – der erste Vorname verweist auf eine berühmte schwarze Madonnenstatue in der Benediktinerabtei Santa Maria de Montserrat bei Barcelona – wollte keine Diva sein, obwohl sie Maria Callas selbst wenige Tage vor ihrem Tod in einem Interview zu ihrer einzigen legitimen Nachfolgerin gekürt hatte. In der Tat war die Stimme der Caballé prädestiniert für den Belcanto: perfekt ausbalanciert in den Registern, weich und flutend in der Tongebung, schmelzend in den leisen Tönen. Ihre Atemtechnik ist stupend. Die Töne strömen schier endlos. Ihr Atemholen ist fast unmerklich, stört das Ausschwingen der Phrasen in keinem Moment.

In ihren besten Jahren zwischen 1965 und 1985 verband Caballé diese vokalen Tugenden auch mit ausdrucksvoller Eloquenz, mit brillanter, aber nie übertriebener Attacke und mit einem nuancenreichen Vortrag. Ihr dunkel schimmerndes Timbre, das erst in späteren Jahren zu einzelnen Schärfen neigte, wurde gerühmt. Keine geringere als Giulietta Simionato sagte ihr „superbe Qualität“ nach.

Es gab aber auch harsche Kritik: Cathy Berberian, Gesangs-Ikone der modernen Musik, die nicht im entfernten über die Technik der Caballé verfügte, warf ihr vor, nicht darüber nachzudenken, was sie singe und sich auf den reinen Klang zu konzentrieren. Für Berberian bedeutete eine schöne Stimme nichts – Reflex der aus dem Verismo kommenden Kritik an den Stimmen der Ära vor Caruso und dem distanzierten Stil eines Singens, das Ausdruck durch Klang statt durch Rhetorik erzielen will.

Fröhliche Genussfreude und Lust auf Familie

In Deutschland sprach Ulrich Schreiber von einem „fossilartigen künstlerischen Zustand“ und beschrieb damit den Geschmack, der offenbar an deutschen Opernhäusern vorherrschte und der zuließ, dass italienisches Repertoire von Sängern interpretiert wurde, die weit von den stilistischen und vokalen Anforderungen der Partien entfernt waren. Jürgen Kesting gibt sich milder, konstatiert ein Fehlen „entscheidender Momente einer kommunikativen Kraft“ in Caballés sängerischem Ausdruck. Dass die Sängerin in Deutschland so selten auf der Bühne stand, hatte also nicht nur mit dem Regietheater der achtziger Jahre zu tun.

Was Caballés „kommunikative Kraft“ betrifft, konnte sich jeder, der sie persönlich erlebt hat, vom Gegenteil überzeugen. Als entschiedener Familienmensch lebte die wohl auf den Hunger ihrer Kindheit mit fröhlicher Genussfreude reagierende Sängerin ihre Lust auf Gemeinschaft aus. Im Umgang warmherzig, offen, nicht selten schalkhaft humorvoll, war sie so gar nicht der Typ der unnahbaren Diva oder Kunstpriesterin. Als sie ihren 75. Geburtstag im April 2008 mit einem Konzert in der Philharmonie Essen beging, scherzte sie ungeniert mit dem Publikum von der Bühne herab und nahm ihre unüberhörbaren stimmlichen Verschleißerscheinungen mit selbstironischem Humor.

Nach einem Schlaganfall und Sturz 2012 wurde es still um Montserrat Caballé. Jahrelang hatte sie versucht, mit den Resten ihrer Stimme und mit charmantem Humor Konzerte zu geben; viele Menschen kamen, weil sie sich bewusst waren, die letzte Protagonistin einer vergehenden Ära zu erleben. Abschiedsauftritte wurden angekündigt und abgesagt; zuletzt – wie bei ihrem letzten Auftritt zu ihrem 85. Geburtstag in Kiew im April – konnte sie nur noch sitzen. Ihr Vorhaben, „auf der Bühne zu sterben“, konnte sie nicht erfüllen: Am Morgen des 6. Oktober 2018 hat sie im Krankenhaus ihr Leben in die Hände ihres Schöpfers zurückgegeben.




Wie entsteht eigentlich eine Ausstellung? Wuppertaler Museum gibt hochinteressante Einblicke

Man wird ihn vermissen: Wuppertals scheidender Museumsdirektor Dr. Gerhard Finckh hinter seinem (arrangierten) Schreibtisch, der diesmal zum Ausstellungsstück geworden ist. (Foto: Bernd Berke)

Man wird ihn vermissen: Wuppertals scheidender Museumsdirektor Gerhard Finckh hinter seinem (arrangierten) Schreibtisch, der diesmal zum Ausstellungsstück geworden ist. Im Hintergrund: Zeugnisse der Bürokratie und Fotoschnipsel der Exponate. (Foto: Bernd Berke)

Seltsame Ausstellung! Da findet man etliche unausgepackte Bilderkisten, hie und da liegen Sägespäne auf dem ansonsten sorgsam gereinigten Museumsboden. Als Besucher kommt man zudem an einem unaufgeräumten Schreibtisch (Stichwort „kreatives Chaos“) vorbei – und in einem Raum lehnen leere Bilderrahmen an den Wänden. Nanu? Sind die Museumsleute nicht fertig geworden?

Nun, es ist nur die eine Seite dieser Schau, mit der es eine spezielle, hochinteressante Bewandtnis hat. Die andere ist durchaus von gewohnter Opulenz und zeigt vielfach famose Kunst aus den reichen Beständen des Wuppertaler Von der Heydt-Museums. Anhand von herausragenden Beispielen aus der eigenen Sammlung, aber eben auch mit zwangsläufig eher schmucklosen Blicken hinter die Kulissen des Hauses führt das Museum vor, wie eigentlich eine Ausstellung entsteht.

Pablo Picasso: „Liegender Frauenakt mit Katze", 1964 (Succession Picasso / Von der Heydt-Museum, Wuppertal / © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Pablo Picasso: „Liegender Frauenakt mit Katze“, 1964 (Succession Picasso / Von der Heydt-Museum, Wuppertal / © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Da schau her! Ich kann mich nicht entsinnen, schon etwas Vergleichbares zum Hintergrund des Metiers gesehen zu haben wie in „Blockbuster – Museum“. Dieser nicht allzu glücklich gewählte Titel ist gewiss eine ironische Anspielung auf Erwartungen, die etwa von Städten an Museen gerichtet werden. Die Häuser sollen gefälligst immerzu Events produzieren und damit Hunderttausende anlocken. Oft genug gelingt es ja auch.

Abschied von Gerhard Finckh

Gerhard Finckh scheidet mit dieser originellen Unternehmung als Direktor des Von der Heydt-Museums, das er seit 2006 geleitet hat. Zum Abschied lässt er sich (und anderen Leuten vom Fach) ein wenig in die Karten schauen. Ein Plakat über dem Entree der Schau zeigt ihn selbst als Eineinhalbjährigen, der mit Klötzchen quasi seine eigene Welt baut. So früh hat es also angefangen? Finckh hält dafür, dass es auch für Ausstellungsmacher darum gehe, vorhandene Dinge zu sortieren und zu ordnen.

Claude Monet: „Blick auf das Meer", 1888 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Claude Monet: „Blick auf das Meer“, 1888 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Diese doppelgesichtige Ausstellung ergeht sich nicht nur in Kulissenschieberei, sondern hat – wie gesagt – ihre sinnlichen Schauwerte, die sich in 130 Arbeiten aus Eigenbesitz verwirklichen. Da sieht man etwa einen großartigen Raum mit Bildern von Max Beckmann. Man begegnet grandiosen Werken von Claude Monet, Otto Dix, Pablo Picasso, Francis Bacon oder Gerhard Richter; um nur einige zu nennen. Das Wuppertaler Haus kann aus einem Fundus von allein rund 3000 Gemälden schöpfen, hier sieht man einige der wohl allerbesten. Und sie dienen nicht bloß zur Illustration von Thesen, sondern sind in ihrem ästhetischen Eigenwert präsent.

Erste Ideen beim Wein mit Freunden

Nun jedoch zum nicht nur heimlichen Hauptthema, dem Wachsen und Werden eines musealen Projekts. Nüchterne Feststellung: Wo eine Ausstellung hinkommen soll, muss zunächst die vorherige abgehängt, weggestellt, ins Depot gebracht und/oder an Leihgeber zurückgeschickt werden. Welche Unordnung dabei vorübergehend im Museum entsteht, lassen rabiate Abrissspuren einer einzigen Stellwand ahnen. Ein Tisch mit Weinflaschen steht sodann für allererste Ideen zu einem neuen Projekt, die (wie Finckh glaubhaft versichert) unter Kunstexperten nicht selten beim Plaudern in gemütlicher Freundes- und Kollegenrunde aufkommen – oder z. B. auch im Urlaub, wenn sie sinnend aufs Meer blicken und plötzlich eine Eingebung haben…

Die anfangs keimenden Einfälle übertreffen womöglich schon jede spätere Realisierung, welche allzu oft mit realen Hindernissen zu kämpfen hat. Darauf deutet jedenfalls eine Wandaufschrift mit Hölderlins berühmten Worten aus dem „Hyperion“ hin: „O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt…“ Am Schluss des Rundgangs wird man mit einem weiteren, nicht minder berühmten Zitat Hölderlins verabschiedet: „Komm! ins Offene, Freund!“  Da schreitet man doch schließlich ganz anders aus dem Institut heraus.

Raumaufnahme der Ausstellung „Blockbuster – Museum": Die Rahmen sollen verdeutlichen, dass eine Bildwirkung eben auch von der Rahmung abhängt. (Foto: Antje Zeis-Loi/Medienzentrum Wuppertal)

Raumaufnahme der Ausstellung „Blockbuster – Museum“: Die Rahmen auf dem Boden sollen verdeutlichen, dass eine Bildwirkung eben auch von der Rahmung abhängt. (Foto: Antje Zeis-Loi/Medienzentrum Wuppertal)

Doch zunächst geht es auf den Parcours und an die eigentliche Umsetzung einer Ausstellung. Der erwähnte Chaos-Schreibtisch gehört dem verantwortlichen Kurator, in diesem Falle also Gerhard Finckh. Dahinter hängen als kleine, jederzeit verschiebbare Foto-Bilderschnipsel die Werke, die just in dieser Schau zu sehen sind.

Klima- und Sicherheits-Fragen

An einer weiteren Wand finden sich beispielhafte Briefe, mit denen andere Museen oder auch Privatbesitzer um Leihgaben gebeten werden. Natürlich nicht einfach so (da könnte ja jeder kommen!), sondern mit peniblen Angaben zu klimatischen Bedingungen, Wachpersonal, Alarm rund um die Uhr und sonstigen Sicherheits-Aspekten. Bild für Bild ein oft langwieriger bürokratischer Vorgang, von dem Museumsbesucher keine Notiz nehmen. Schon zu Beginn der Bildersuche sind ja Werkverzeichnisse und sonstige Bücher durchforstet worden. Bereits die hauseigene Bibliothek umfasst immerhin etwa 100.000 Bände.

Nicht jedes Kunstwerk ist in gutem Zustand. Manche Bilder oder Skulpturen müssen vor der Präsentation gründlich ausgebessert werden. Auch in eine Restaurierungswerkstatt bekommt man hier Einblick. Man lernt: Vor einer Ausstellung, erst recht vor einem Leihvorgang muss der Zustand aller Exponate exakt protokolliert werden, sozusagen bis zum haarfeinen Kratzerchen. Damit nachher keine Klagen kommen…

Für den Kulturtourismus: Erste Flyer schon zwei Jahre vorher

Und so geht es nach und nach um gar viele Wechselfälle im Museums- und Kunstbetrieb – von den leidigen Finanzen (einschlägige städtische Haushalts-Aufstellungen als Exponate) über die „Pflege“ von Mäzenen und Sponsoren (Finckh: „Viele Abendessen mit reichen Leuten“), um die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, um die ersten Flyer, die schon rund zwei Jahre vor einer Schau herauskommen, damit z. B. bei Busunternehmen kulturtouristische Früh- und Langzeitwirkung erzielt wird. Apropos Finanzen: Ursprünglich wollte Gerhard Finckh eine Kunstausstellung übers 18. Jahrhundert, also die Zeit der Aufklärung in Frankreich gestalten. Die Vorbereitungen waren schon weit gediehen, da musste sie aus Finanzgründen (es fehlten rund 200.000 Euro) abgesagt werden. Allein schon all die bedauernden Absagen an Leihgeber zu schreiben…

Gerhard Richter: „Scheich mit Frau", 1966 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Gerhard Richter: „Scheich mit Frau“, 1966 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Nur scheinbar banal oder nebensächlich sind auch Fragen der Rahmung, Beleuchtung und Beschriftung. Selbst die Wahl der Wandfarbe, die erst einmal probehalber aufgetragen wird, spielt eine gebührende Rolle. Da stehen ein paar Farbeimer herum und mehrere Bilder sind testhalber von verschiedenen Farben hinterfangen. Passt der Farbton zu den Bildern, nimmt er etwas von der Wirkung oder unterstützt er sie dezent? Da kann man jeweils lange diskutieren. Finckh glaubt übrigens, dass inzwischen nahezu 50 Farbschichten auf den Wänden sein müssten. Wenn die eines Tages abblättern, wird’s problematisch.

Ungeahnter Arbeitsaufwand

Und überhaupt: Wie eigentlich bei jeder Tätigkeit, von der man Näheres erfährt, staunt man über den immensen Arbeitsaufwand, der hinter all dem steckt. Insgesamt hat das Von der Heydt-Museum in allen Abteilungen zwar fast 200 Mitarbeiter(innen), darunter viele Ehrenamtliche, doch das Kuratorenteam besteht gerade mal aus drei Frauen und einem Mann, die stets mehrere Ausstellungen parallel planen. Man ahnt, dass sie mehr als genug zu tun haben.

In einem Raum wird eine besondere Zusatz-Arbeit skizziert, nämlich die manchmal ungemein aufwendige Forschung in Sachen Restitution, die selbstverständlich eine Pflichtaufgabe ist. Dabei geht es vornehmlich um die Rückgabe von Werken, die jüdischen Bürgern zur NS-Zeit unrechtmäßig weggenommen wurden. Die genaue Klärung eines Sachverhalts ist mitunter dermaßen kompliziert, dass die Dokumentation für ein einziges Bild Jahre dauert und viele Aktenordner füllt.

Was darf ein Museum zeigen – und was nicht?

Zwischendurch haben wir durch eigens geöffnete Ausgucke ins Depot und in die Klimaschächte schauen dürfen, da geht es unversehens auch noch um Politik und Ethik. Schwierige Frage: Was darf ein Museum zeigen und was nicht? Beispielsweise eine Porträtskulptur von Adolf Hitler, erstellt vom berüchtigten NS-Bildhauer Arno Breker, einem gebürtigen Wuppertaler?

Von einer Kriegsgranate durchlöchert und bewusst achtlos hingelegt: Hitler-Kopf des NS-Bildhauers Arno Breker. Im Hintergrund ein Gemälde von Karl Hofer. (Foto: Bernd Berke)

Von einer Kriegsgranate durchlöchert und bewusst achtlos hingelegt: Hitler-Kopf des NS-Bildhauers Arno Breker. Im Hintergrund ein Gemälde von Karl Hofer. (Foto: Bernd Berke)

Man zeigt ein solches Machwerk tatsächlich, freilich mit deutlich distanzierendem Gestus, der angemessen ist. Der symbolträchtig von einer Kriegsgranate getroffene und großflächig durchlöcherte Kopf liegt fast wie ein vergessenes Objekt herum. Auch ist er von Kunst aus aufrechtem Geiste umgeben und somit konterkariert. Mag sein, dass man ihn auf solche Weise zeigen darf. Und möglichst nur auf solche Weise.

Doch schon stellt sich die nächste, ganz anders gelagerte Frage: Ist Martin Kippenbergers gekreuzigter Frosch dort oben, gleichsam im „Herrgottswinkel“, nicht eine üble Beleidigung christlicher Empfindungen? Nun ja, diese einst virulente Provokation hat sich mittlerweile wahrscheinlich etwas verbraucht. Herrje, fast hätte ich jetzt „Gott sei Dank“ gesagt.

„Blockbuster – Museum“. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Vom 7. Oktober 2018 bis Ende Februar 2019. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Eintritt 12 €, ermäßigt 10 €, Familie 24 €. Kein Katalog.

Online-Tickets, jeweils gültig für einen Tag und weitere Infos zum Museum und zur Ausstellung: www.vdh.netgate1.net

Museums-Tel.: 0202 / 563 62 31




Alles wird zur Inszenierung: Leverkusener Museum Schloss Morsbroich zeigt „Das Rokoko in der Gegenwartskunst“

Glenn Brown: The Shallow End, 2011. Öl auf Tafel (oval), 128 x 96 cm, Collection of the artist. Courtesy Galerie Max Hetzler, Berlin/Paris/London. © Glenn Brown

Glenn Brown: The Shallow End, 2011. Öl auf Tafel (oval), 128 x 96 cm, Collection of the artist. Courtesy Galerie Max Hetzler, Berlin/Paris/London. © Glenn Brown

Natur, Theater und Lebenskunst, rationale Aufklärung und verfeinerte Décadence, schäumende Formen und frivoles Spiel: Das Rokoko ist eine kurze, eminent kreative und bis heute so schwärmerisch geliebte wie herzlich verachtete Epoche in der Geschichte der Kunst. Rokoko und Gegenwart lassen sich dabei kaum zusammendenken: Zu unterschiedlich scheinen die künstlerischen Mittel und die denkerischen Ansätze. Oder doch nicht?

Das Leverkusener Museum Schloss Morsbroich jedenfalls will mit der Ausstellung „Der flexible Plan. Das Rokoko in der Gegenwartskunst“ demonstrieren, wie diese Epoche in der Kunst der Gegenwart fortlebt. Dabei geht es um Form- und Ideengeschichte, vor allem aber um den – mehrfach medial und intellektuell – gebrochenen Blick heutiger Künstlerinnen und Künstler auf die höchst differenzierte Kunst- und Geisteslandschaft von vor 250 Jahren.

Schloss Morsbroich, 1775 als „Maison de plaisance“ errichtet, ist für eine solche Schau der richtige Ort. Die Kunstwerke treten dort mit dem historischen Bau in einen spielerischen Dialog, der schon eines der Merkmale der Rokoko-Kultur hervorbringt – nämlich alles zur Inszenierung, zum kunstvollen Spiel werden zu lassen.

Rachel Kneebone, Act III, 2016. Porzellan, 78,9 × 60,3 × 56,6 cm, © Rachel Kneebone Courtesy White Cube. Foto: © White Cube (Ben Westoby)

Rachel Kneebone, Act III, 2016. Porzellan, 78,9 × 60,3 × 56,6 cm, © Rachel Kneebone Courtesy White Cube. Foto: © White Cube (Ben Westoby)

Die Natur, die im Zeitalter des Rokoko eine zentrale Rolle spielt, überführt beispielsweise Alice Channer in ihren Muschel- und Krabbenarbeiten in post-industriell produzierte, hybride Objekte. Lois Renners Fotografien der Stiftsbibliothek Admont wie auch Markus Schinwalds zeitgenössische Fragonard-Adaption, Jeppe Heins Lichtinstallation „Enlightenment“ (2002) und Pia Stadtbäumers opulent-freizügige Rokoko-Figuren bringen die divergierenden Pole des 18. Jahrhunderts zusammen, welche die Spannbreite der Ausstellung bestimmen: Aufklärung trifft sich mit frivoler Unterhaltung, vergnüglicher, inhaltloser Dekor mit einer Explosion des geordneten Wissens, die sich damals im Projekt der Enzyklopädie, heute im Internet ereignet.

Die ausgestellten Werke spielen etwa virtuos mit der Idee des Frivolen, wie die Arbeiten von Alexej Koschkarow, inszenieren auch Räume und laden sie atmosphärisch auf. So steigert etwa Anri Sala das räumliche Erlebnis durch das Akustische. Thierry Boutemy verwischt in seinen floralen Installationen die Grenzen zwischen Außen und Innen. Katharina Grosse erweitert die Malerei in den Raum. Weitere ausgestellte Künstler sind Leonor Antunes, Cornelia Badelita, Karla Black, Glenn Brown, Edith Dekyndt, Anke Eilergerhard, Rachel Kneebone, Markus Schinwald und Anj Smith.

Anke Eilergerhard: Annastasia, 2018; Annalotta, 2018: Annabeth, 2018; alle hochpigmentiertes Silikon, Weimar Porzellan, Nero Marquina Marmor, Edelstahl, Höhe 185 cm x ø 90 cm. Courtesy Anke Eilergerhard.

Anke Eilergerhard: Annastasia, 2018; Annalotta, 2018: Annabeth, 2018; alle hochpigmentiertes Silikon, Weimar Porzellan, Nero Marquina Marmor, Edelstahl, Höhe 185 cm x ø 90 cm. Courtesy Anke Eilergerhard.

Die Ausstellung „Der flexible Plan. Das Rokoko in der Gegenwartskunst“ ist bis 6. Januar 2019 im Museum Schloss Morsbroich in Leverkusen-Alkenrath zu sehen. Begleitend zur Ausstellung erscheint eine Publikation, die Installationsansichten aller Kunstwerke, eine Einführung von Stefanie Kreuzer und einen Essay von Heike van den Valentyn enthalten wird.

Das Museum ist Dienstag bis Sonntag von 11 bis 17 Uhr geöffnet, an Sonntagen findet um 15 Uhr eine öffentliche Führung statt. Der Eintritt kostet acht, ermäßigt vier Euro. Info: http://www.museum-morsbroich.de




Lachen und lernen vom Weinberg bis in den Weltraum – ein kleines Loblied auf die unverwüstliche „Sendung mit der Maus“

Ich gestehe es freimütig: Auch im nicht mehr ganz jugendlichen Alter weiß ich die „Sendung mit der Maus“ sehr zu schätzen. In Sachen TV-Klassiker-Status kann es der orangefarbene Nager nahezu mit „Tatort“ und „Tagesschau“ aufnehmen.

Ob groß, ob klein, die Maus muss sein... (Foto: Bernd Berke / © an der Maus-Figur: WDR)

Ob groß, ob klein, die Maus muss sein… (Foto auf der heimischen Fensterbank: Bernd Berke / © an der Maus-Figur: WDR)

Die seit 1971 regelmäßig ausgestrahlten Lach- und Sachgeschichten sind halt kaum wegzudenken. Wie zu lesen ist, sind die Zuschauer(innen) im Schnitt 40 Jahre alt. Eltern, Großeltern und Kinder schauen eben gerne gemeinsam zu.

Allein schon die finalen Bestandteile der gegenwärtigen „Maus“-Ära sind aller Ehren wert, denn zum Schluss der Ausgaben sieht man entweder Shaun das Schaf, seine wolligen Gesellen, den dusseligen Farmer und den so oft gebeutelten Hund Bitzer o d e r – (Luft holen) – oder den famosen Lügenbold Käpt’n Blaubär, dessen freche Enkel und den Tolpatsch Hein Blöd. Beide Reihen sind auf je eigene Weise genialisch.

Auch die Animationsfilme in den Zwischenakten haben es oft in sich. Meine Lieblingsserie, die leider viel zu selten zum Zuge kommt, heißt „Trudes Tier“ und erzählt sehr liebevoll die etwas bizarren Geschichten einer jungen Frau, die mit einem zotteligen Monster zusammenlebt, das ihr mit seinen Eskapaden immer wieder Schweißperlen auf die Stirn treibt.

Maus, Elefant und Ente erleben derweil so elementare kleine Abenteuer, dass es mitunter ans Existenzielle oder Philosophische grenzt. Und die gar zittrig gezeichneten „Krawinkel und Eckstein“ (chaotischer Herr und sein Hund) folgen einer recht eigenen ästhetischen Spur. Das ist Staun- und Denkstoff, längst nicht nur für Kinder.

Nun aber natürlich keineswegs zu vergessen: die Sachgeschichten! Wo sonst bekäme man über Monate hinweg haarfein erläutert und vorgeführt, was sich im Jahreskreislauf in einem Weinberg begibt? Wo sonst erführe man, gleichsam Schräubchen für Schräubchen, wie ein ICE-Zug oder ein Feuerwehrwagen zusammengebaut werden? Wo sonst lernt man, wie ein Croissant gebacken wird oder wie die Löcher im Käse entstehen? Völlig andere Gewichtigkeit: Vor Jahren hat sich die Maus auch schon mit Atomkraft befasst. Die traut sich was.

Und wo sonst könnte der deutsche Astronaut Alexander Gerst so alltagsnah erläutern, was er so in der Weltraumstation ISS erlebt – vom wissenschaftlichen Experiment bis zum schwerelosen „Gang“ aufs Klo. Ein Exemplar der Maus ist (nach ungemein peniblen Schadstoff-Überprüfungen) im All dabei – und sie hat sogar einen maßgeschneiderten Astronautenanzug an…

Ebenfalls zugegeben: Ich habe die Macher der „Maus“ immer mal wieder beneidet, denn sie (vor allem Ralph Caspers) gönnen sich immer mal wieder überaus nette Dienstreisen. So haben sie etwa Schulkinder in Island, Indien, Japan oder Brasilien besucht, um zu zeigen, wie es denen so ergeht. Dabei geht es stets angemessen fröhlich und freundlich zu, niemals allzu kritisch. Doch die Kinder bekommen schon mit, wie verschieden ihre Altersgenossen auf diesem Planeten leben.

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Anhang

Moderator(innen) der „Maus“ (Erstausstrahlung 7. März 1971):

Armin Maiwald (Jahrgang 1940 – seit 1971 dabei)
Christoph Biemann (Jahrgang 1952 – seit 1983)
Ralph Caspers (Jahrgang 1972 – seit 1999)
Malin Büttner (Jahrgang 1975 – seit 2008)
Siham El-Maimouni (Jahrgang 1985 – seit 2014)

Beispielhafte Animationsreihen im Rahmen der „Maus“-Sendungen:

Janosch: „O wie schön ist Panama“ (ab 1979)
Walter Moers: „Käpt’n Blaubär“ (ab 1991)
Wouter van Reek: „Krawinkel und Eckstein“ (ab 2004)
Gunilla Bergström: „Willi Wiberg“ (ab 2004)
Richard Goleszowski: „Shaun das Schaf“ (ab 2007)
Andreas Strozyk: „Ringelgasse 19″ (ab 2010)
Marcus Sauermann: „Trudes Tier“ (ab 2014)

Eine Institution ist mittlerweile auch der Maus-Türöffner-Tag, der just wieder am jetzigen Feiertag (3. Oktober) bundesweit begangen wird und Kindern den Zugang zu Einrichtungen oder Firmen ermöglicht, die für gewöhnlich verschlossen bleiben. Vielleicht sind ja noch ein paar Plätze in der Nähe frei?