Paris zum Ersten, Zweiten und Dritten: Kent Nagano dirigiert das Orchestre Symphonique de Montréal in Essen

Kent Nagano, seit 13 Jahren Chef des Orchestre Symphonique de Montréal, bleibt den Kanadiern noch bis 2020 verbunden. (Foto: Wilfried Hösl)

Bis heute scheint das Orchesterstück „Jeux“ von Claude Debussy überschattet von dem beispiellosen Skandal, den Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ auslöste. Nur zwei Wochen lagen zwischen den beiden Uraufführungen im Mai 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées. Beide Stücke entstanden für das berühmte Tanzensemble „Ballet Russes“, beide wurden von Pierre Monteux dirigiert, beide gelten auf ihre Weise als Schlüsselwerke der Moderne. Gleichwohl hat Debussys einaktiges Tanzpoem bislang nicht ins gängige Konzertrepertoire hineingefunden.

Ob dies allein am unglücklichen Zeitpunkt der Premiere liegt oder auch am Ballettlibretto von Vaslav Nijinsky, dessen ästhetische Vorlieben weit entfernt waren von den Ansichten und dem Geschmack Debussys, sei dahingestellt. Doch bildeten „Jeux“ und „Sacre“ jetzt die Klammer für ein Konzert in der Philharmonie Essen, das trotz starker Konkurrenz als Höhepunkt der Saison durchgehen kann. Erhellend, ja in höchstem Maße aufschlussreich war die Programmfolge, die das Orchestre Symphonique de Montréal unter seinem langjährigen Chefdirigenten Kent Nagano im Gepäck hatte.

Debussys Partitur, von Komponisten wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez ob ihrer Fortschrittlichkeit hoch geschätzt, erfährt dabei eine späte, aber wunderbare Würdigung. Bereits die ersten Takte von „Jeux“ lassen aufhorchen. Es kann kein Zufall sein, dass hier eine archaische Atmosphäre anklingt, die Strawinskys „Sacre“ ungeheuer verwandt wirkt. Die frühlingshaft lichten Holzbläsersoli, die rätselhaft-raffinierten Klänge und Harmonien erscheinen wie eine Vorwegnahme dessen, was zwei Wochen später in die Welt hinaus dröhnen sollte.

Gewiss, es fehlen die schockierenden Schlagzeug-Eruptionen, die dem „Sacre“ rasch zur Unsterblichkeit verhalfen. Aber Kent Nagano und die Musiker aus Montréal machen Debussys Partitur zu einem ungeheuer vielschichtigen Ereignis, das harmonisch und auch seiner Form nach kaum weniger mutig erscheint als das Skandalstück des Exil-Russen.

Der Franzose Jean-Yves Thibaudet spielte das „Ägyptische Konzert“ von Camille Saint-Saëns. (Foto: Decca/Kasskara)

Es folgt eine Sternstunde des Pianisten Jean-Yves Thibaudet, der als einer der profiliertesten Saint-Saëns-Interpreten gilt. Diese Kompetenz kommt dem fünften Klavierkonzert des Franzosen („das Ägyptische“) in höchstem Maße zugute. Thibaudet trumpft mit Fingerfertigkeit und brillanter Virtuosität auf, ohne jemals in den Verdacht zu geraten, sich in bloßem Tongeklingel zu gefallen. Mit großem Feingefühl spürt er dem poetischen Tiefgang dieses farbenreichen Klavierkonzerts nach: seinen schillernden Exotismen, gipfelnd in arabischen Tonleitern und einem nubischen Liebeslied, das Saint-Saëns in Kairo den Schiffern auf dem Nil ablauschte.

Unter Thibaudets Zugriff hält zusammen, was weniger kundigen Interpreten leicht zu zerfallen droht: Passagen von Schubertgleicher Schlichtheit, kraftvolle Ausbrüche à la Rachmaninow, Liszt’sche Campanella-Glöckchen im Diskant. Der Franzose, seit langem eine feste Größe in der internationalen Pianistenszene, stellt sich mit dieser exzellenten Interpretation ein blitzsauberes Zeugnis aus.

Strawinskys Frühlingsopfer („Le Sacre du Printemps“), das im Untertitel „Bilder aus dem heidnischen Russland“ beschwört, lässt mindestens ebenso aufhorchen wie der Beginn dieses erstaunlichen Abends. Denn zunächst hämmert uns keineswegs der harte Sound des anbrechenden Maschinenzeitalters um die Ohren. Die Ostinati klingen vergleichsweise weich, die Klangflächen sind geprägt von französischer Clarté. Das mag zunächst verblüffen, hält den Fokus dieses Abends aber mit äußerster Konsequenz auf Paris. Die Wahlheimat des Exil-Russen drückt dieser Interpretation ihren Stempel auf.

Da Nagano auf erhöhte Podeste für die Bläser verzichtet, mithin alle Musiker auf der gleichen Ebene sitzen, entsteht zwischen den Gruppen eine erstaunliche Balance. Die gestopften Trompeten bringen im zweiten Teil Fernklänge mit purem Gänsehaut-Effekt. Manches Instrument scheint sich beinahe zu verstecken, und doch knüpfen Englischhorn und Bassflöte plötzlich an das ägyptische Kolorit des zuvor gehörten Klavierkonzerts an.

Hartes und Barbarisches muss der „Sacre“-Freund übrigens keineswegs ganz vermissen: Wenn die Pauken simultan losdröhnen, fährt es dem Hörer regelrecht in die Magengrube. Den Tanz des Opfers steigert Nagano bei vollkommener Kontrolle zu einem Hexenkessel, aus dem die Piccoloflöte heraus schrillt. So endet ein grandioser Abend mit einem zutiefst russischen Stück aus dem Geiste französischer Tonkunst.

(Die Reihe „Sinfonische Höhepunkte“ endet am 6. April 2019 mit dem Russian National Orchestra unter Dirigent Alain Altinoglu. Auf dem Programm stehen die „Chowantschina“-Ouvertüre von Modest Mussorgsky und Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie. Der Pianist Mikhail Pletnev spielt Sergej Rachmaninows 2. Klavierkonzert. Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/mikhail-pletnevrussian-national-orchestrarac-81418/2531/)




„Kein Wunder“ – ein enttäuschender Roman von Frank Goosen

Sommer 1989: Nichts ist mehr so, wie es mal war und doch hat sich (noch) nicht allzu viel verändert. Die Schulfreunde Förster und Brocki studieren vor sich hin, gehen altvertraute Wege, besuchen altvertraute Kneipen und wagen sich nur zaghaft an Neues. Weniger aus Angst vor dem Unbekannten als aus einem diffusen „Ist doch alles ganz nett so“-Gefühl heraus.

Ganz anders ihr alter Kumpel Fränge. Der hat immerhin einen kleinen Aufbruch gewagt. Nach Berlin hat er sich aufgemacht, angeblich vor der Einberufung „geflüchtet“. In Wahrheit wurde er ganz unprosaisch ausgemustert, aber auch sonst strickt er gerne an seiner eigenen Mär eines coolen und aufregenden Lebens. Fränge ernennt sich zum Weltenwanderer der Liebe, im Westen der geteilten Stadt unterhält er eine Beziehung zu Marta, im Osten zu Rosa.

Den ungleich größeren Aufbruch im Osten bekommt er dennoch lange nur am Rande mit. Erst als die Mauer durchlässig und seine Jonglage schwieriger wird, realisiert Fränge, dass er eigentlich mittendrin statt nur dabei war. Selbst die schwer auf sich konzentrierten Förster und Brocki bekommen bei ihrem Berlin-Besuch mehr von der Ost-Berliner Dissidenten-Szene mit.

Förster? Brocki? Fränge? War da nicht mal was? Die kennen wir doch? Richtig, die drei Spezialisten turnten schon mehr oder weniger unbedarft durch Goosens (nicht besten) Roman „Förster, mein Förster“. Da waren sie 30 Jahre älter, wenn auch nicht unbedingt weiser als in Frank Goosens neuem Roman „Kein Wunder“.

Praktisch für den Autor: keine Arbeit mit neuen Figuren

Praktisch für den Leser, da braucht er sich nicht schon wieder an neue Figuren zu gewöhnen. Noch praktischer für den Autor, braucht er doch keine neuen Figuren zu entwickeln. Noch praktischer für den Autor, in der Zeit zurückzugehen, hat man nicht soviel Arbeit mit der Weiterentwicklung von Charakteren. Führt unpraktischerweise nur leider beim Leser schnell zu Langeweile. Wieder von denselben Befindlichkeiten im einmal geschaffenen Mikrokosmos zu lesen, hat etwas zutiefst Ermüdendes. Vor allem, wenn man weiß, dass sie dreißig Jahre später immer noch nicht so viel weiter sind.

Die Werke des Bochumer Schriftstellers und Kabarettisten Frank Goosen werden gerne als eine Art Chronik des Ruhrgebiets u n d der Babyboomer-Generation verstanden. Möglicherweise fiel Goosen auf, dass in dieser Chronik die Zeit des Mauerfalls fehlte, möglicherweise war ihm die Zeit der Post-Pubertät mit seinem ersten Roman „liegen lernen“ noch nicht genügend abgearbeitet – was auch immer sein Motiv war, klar wird es nicht in „Kein Wunder“.

Sonst reicht es bei Goosen, wenn er wie sein Protagonist Förster agiert: „Zuschauen. Und sich alles merken. Und irgendwann aufschreiben“. Diesmal ganz und gar nicht. Es ist ohnehin selten eine gute Idee, wenn Menschen mittleren Alters sich am Coming of Age versuchen.

Wo ist die lockere Art von früher geblieben?

Goosen ist weit weg von seinem Mittzwanziger-Ich. Mehr als ein paar extrem bemühte Kratzer an der Oberfläche schafft das Buch nicht. Scheinbare Mühelosigkeit war sonst immer ein Markenzeichen des Autors. Ein Blick in das locker runtergeschriebene Nachwort reicht, um die Diskrepanz zwischen bisherigen Goosenschen Texten und der bemühten Krampfigkeit von „Kein Wunder“ zu erkennen.

Nicht einmal für einen nennenswerten Wiedererkennungswert reicht es. Beschreibt er einen reviertypischen Arbeiterhaushalt, sieht man sofort die Ekel-Alfred Kulisse vor sich, der frankophile Akademiker-Haushalt ist auch nicht mehr als eine platte Karikatur. Und die Befindlichkeiten der Freunde? Sorry, aber so oberflächlich waren die wenigsten in den 80ern. Dieses hingeschnodderte „Krupp/Thyssen – war da nicht mal was?“ – ein Armutszeugnis. Hat wirklich keiner in Bochum etwas von den Demos in Duisburg auf der Brücke der Solidarität mitbekommen?

Als die Ruhris nach Berlin aufbrachen

Genauso die Szenen aus der Nacht des Mauerfalls. Was will uns der Autor damit sagen? Neue Wege im Osten, neue Böden im Westen? Betroffenheit kommt erst auf, als Förster merkt, dass aus seinem Filmprojekt über den Niedergang des Ruhrgebiets nichts mehr wird. Die intellektuelle Avantgarde hat sich bereits vom Revieracker gemacht in Richtung Berlin.

Sollte es Goosen darum gegangen sein, die Chronik der Babyboomer um die Zeit des Mauerfalls zu vervollständigen, kann man nur sagen: das hat Sven Regener bereits deutlich berührender erledigt. Sollte es Goosen darum gegangen sein, den Stellenwert des Ruhrgebiets zu heben und den Hype um Berlin zu relativieren, dann sei ihm gesagt: Wissen wir schon. Ein alter Hut. Frag‘ er seine Omma: „Woanders ist eben auch Scheisse“.

So bleibt nach Lektüre der einzige Erkenntnisgewinn, dass die Aussage „reisen nach dem Ausland sind ….“ grammatikalisch falsch war. Prima, dass endlich einer darauf hinweist.

Frank Goosen: „Kein Wunder“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 352 Seiten, €20,00