Nächste Spielzeit in der Düsseldorfer Tonhalle: Junge Dirigenten, Finale beim Mahler-Zyklus, musikalischer Humor

Die Tonhalle Düsseldorf. Foto: Werner Häußner

Die Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Werner Häußner)

Das Abo lebt. Davon ist jedenfalls Tonhalle-Intendant Michael Becker überzeugt. Mit einem gründlich renovierten System von Abonnements ist es den Düsseldorfern gelungen, innerhalb von vier Jahren die Zahl ihrer Abo-Kunden mehr als zu verdoppeln und in dieser Spielzeit mit 5.200 noch einmal gut 200 mehr als im letzten Jahr zu gewinnen.

Möglich wird dieser Aufschwung durch flexiblere Angebote: Wer sich für einen Dauerplatz entscheidet, muss nicht zwölf Mal im Jahr ins Konzert gehen, sondern kann sich mit dem Sieben- oder dem Fünf-Sterne-Abo auf die entsprechende Zahl musikalischer Abende beschränken. Auch die Kammermusik – inzwischen regelmäßig im großen Mendelssohn-Saal – und das lockere Format „Ehring geht ins Konzert“ mit dem Kabarettisten gleichen Namens sind im Abo zu buchen.

Christian Ehring übrigens, so wurde angekündigt, nimmt ein Sabbatical und schickt dafür gute Freunde in den Ring: Marco Tschirpke, René Heinersdorff, Martin Zingsheim, Torsten Sträter und Anke Engelke werden die Konzerte moderieren – für Freunde des Genres also eine Gelegenheit, den jeweiligen Musik-Humor der Protagonisten zu genießen.

Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Programms der Tonhalle und der Düsseldorfer Symphoniker 2019/20 (von links): Uwe Sommer-Sorgente (Dramaturg Tonhalle), Hans-Georg Lohe (Kulturdezernent Landeshauptstadt Düsseldorf), Alexandre Bloch (Dirigent), Michael Becker (Intendant Tonhalle). Foto: Susanne Diesner

Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Programms der Tonhalle und der Düsseldorfer Symphoniker 2019/20 (von links): Uwe Sommer-Sorgente (Dramaturg Tonhalle), Hans-Georg Lohe (Kulturdezernent Landeshauptstadt Düsseldorf), Alexandre Bloch (Dirigent), Michael Becker (Intendant Tonhalle). (Foto:  Tonhalle / Susanne Diesner)

Bei allen Erfolgen: Kunst lebt nicht von Zahlen, und so verwies Tonhallen-Dramaturg Uwe Sommer-Sorgente auf einige spannende Linien und Ereignisse der kommenden Spielzeit 2019/20. Das Orchester zeigt sich offen für junge und (noch?) nicht am Jet-Set-Karussell beteiligte Dirigenten.

David Reiland etwa dirigiert beim Konzert mit dem Chor des Städtischen Musikvereins mit Alexander von Zemlinskys 13. Psalm und Robert Schumanns Zweiter Symphonie am 4./6./7. Oktober. Reiland ist Chefdirigent in Metz und Lausanne und regelmäßig an der Opéra in Saint Etienne tätig und hat eine beeindruckende Liste von Assistenzen anzuführen, u.a. bei Pierre Boulez, Dennis Russell Davies, Mariss Jansons, Simon Rattle und Sir Roger Norrington. Sein Interesse an Ungewöhnlichem zeigt sich etwa in einer Aufnahme in Zusammenarbeit mit dem Entdeckungs-Zentrum für die französische Romantik Palazzetto Bru Zane mit sinfonischen Werken von Benjamin Godard.

Aber auch andere Namen stehen auf der Liste: Jesko Sirvend etwa, einst Student in Köln, jetzt am Orchestre National de France und in Düsseldorf kein Unbekannter dirigiert Jean Sibelius‘ Fünfte und zwei Rhapsodien – die berühmte in Blue von George Gershwin und die auf ein Paganini-Thema von Sergej Rachmaninow mit Kirill Gerstein am Flügel (13./15./16. Dezember). Oder Joana Mallwitz, GMD in Nürnberg, eine in letzter Zeit stark beachtete Dirigentin. Sie kommt am 10./12./13. Januar 2020 mit Franz Schuberts „Unvollendeter“ und dem Zweiten Violinkonzert von Dmitri Schostakowitsch mit dem Geiger Vadim Gluzman.

Alpesh Chauhan, der im April 2018 ein „fulminantes“ Deutschland-Debüt bei den Düsseldorfer Symphonikern gegeben hatte, kehrt zurück und dirigiert Antonín Dvořáks Siebte und das Cellokonzert. Chauhan, Chefdirigent der Filarmonica Arturo Toscanini im italienischen Parma, ist selbst Cellist – so dürfte die Zusammenarbeit mit dem Solisten Pablo Ferrández ein spannendes Ergebnis zeitigen (31. Januar/2./3. Februar 2020). Chauhan leitet auch das Neujahrskonzert der Düsseldorfer Symphoniker am 1. Januar 2020.

Adam Fischer. (Foto: Tonhalle / Susanne Diesner)

Seinem Abschluss strebt der Haydn-Mahler-Zyklus mit Adam Fischer entgegen: Am Ende steht Haydns Hommage an die Offenbarung Gottes in der Natur. „Die Jahreszeiten“ erklingen am 15./17./18. Mai 2020. Mit der Sechsten wird am 28. Februar und 1./2. März 2020 die Serie der Mahler-Symphonien abgeschlossen; dazu gesellt sich Haydns Nr. 49.

Eine Rarität präsentiert Axel Kober am 24./26./27. April gemeinsam mit Felix Mendelssohn Bartholdys „Schottischer“ Symphonie und Brittens „Sea Interludes“: ein Konzert für zwei Harfen des 1808 in Devonshire/England geborenen Harfenvirtuosen Elias Parish Alvars. Der bereits 1849 in Wien gestorbene Alvars war Kaiserlicher Kammervirtuose und Solist an der Wiener Hofoper und genoss in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts einen internationalen Ruf als Harfenist, der die moderne Spieltechnik auf dem Instrument mit entwickelte.

Auch ein Blick auf die Kammermusik lohnt: Zur Eröffnung der „Raumstation“-Reihe treffen sich am 30. Oktober so glanzvolle Solisten wie Bertrand Chamayou (Klavier), Daniel Müller-Schott (Cello) und Sabine Meyer (Klarinette) und spielen Beethoven und das d-Moll-Trio Alexander von Zemlinskys. Am 2. Dezember musizieren Elisabeth Leonskaja und das Jerusalem Quartet Werke von Mozart, Dvořák und die Fünf Stücken für Streichquartett von Erwin Schulhoff. Seltenes aus der Feder des Jahresjubilars Ludwig van Beethoven spielen am 4. Februar 2020 „Les Vents Français“, ein Quintett mit so klingenden Namen wie Francois Leleux (Oboe), Paul Meyer (Klarinette), Gilbert Audin (Fagott) Radovan Vlatković (Horn) und Eric Le Sage (Klavier).

Eine „Sternstunde“ will das Bach Collegium Japan bereiten, das am 14. März 2020 die Johannes-Passion des Thomaskantors aufführen wird. Und unter dem Titel „X-Mas Contemporary“ haben sich der Bariton Dietrich Henschel und das ensemble unitedberlin etwas Originelles einfallen lassen: Zwölf Komponistinnen und Komponisten aus unterschiedlichen kulturellen und religiösen Traditionen haben Weihnachtsstücke geschrieben, die am 17. Dezember erklingen.

Infos auf der Seite www.tonhalle.de unter den Reitern Reihen und Abos.




Viele Gründe zum Entsetzen: Dortmunder Ausstellung „Der Alt-Right Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“

Bibliothek des Hasses: Nick Thurston „Hate Library“, 2017 © the artist.

Eine Bibliothek des Hasses: Nick Thurston „Hate Library“, 2017 © the artist

Ungeheure Naturgewalten brechen über die Menschheit herein. Wilde Raubtiere zerreißen ihre Beute. Innere und äußere Feinde zersetzen die ganze Gesellschaft. Immer und immer wieder stürzen solche Szenen einer allseits bedrohten Welt auf die Betrachter ein. Woher stammen sie, was soll das alles? Wer will uns da fürchterlich Angst machen?

Nun, wir sehen auf etlichen Bildschirmen, wie sich ein gewisser Steve Bannon (weltberüchtigter Rechtsaußen und zeitweise höchster Berater von Donald Trump) die Apokalypse vorstellt oder besser: Dieser Mann will durch filmischen Dauerbeschuss erreichen, dass sich möglichst viele Leute das nahende Ende so vorstellen und nach brutal starken Ordnungsmächten rufen. Der niederländische Künstler Jonas Staal hat derlei Untergangs-Phantasien auf ihre optischen Begriffe gebracht, indem er die wiederkehrenden „rhetorischen“ Muster kenntlich macht, mit denen Bannon seine Propaganda betreibt. Ein Lehrstück, fürwahr. Und es bleibt nicht das einzige.

Inke Arns, Leiterin des Dortmunder Hartware MedienKunstVereins (HMKV), hat die neue Ausstellung kuratiert, welche sich anhand von 12 internationalen Kunstprojekten ebenso intensiv wie abwechslungsreich mit dem „Alt-Right Komplex“ befasst.

Ausstellungsplakat zu „Der Alt-Right-Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“ (Design: e o t . essays on typography)

Dröhnende Stimmen: Ausstellungsplakat zu „Der Alt-Right Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“ (Design: e o t . essays on typography)

Eine „Bibliothek“ voller Hasstiraden

So oder so ist gar manches erklärungsbedürftig, sofern man bislang noch nicht tiefer durch jenen globalen Ideologie-Sumpf gewatet ist. „Alt-Right“ steht für die vielfältigen Formen und Auswüchse einer „alternativen Rechten“, insbesondere in den USA. Mehr als nur ein paar Ausläufer reichen freilich auch nach Europa, wo rechte Netzwerke sich in einer Art Kulturkampf anschicken, Demokratie und europäische Einigung zu unterminieren. Auch das virulente Gezerre um den Brexit gehört letztlich in diesen Zusammenhang. Was sich da, vorwiegend im Internet, überaus giftig zusammengebraut hat, lässt den Untertitel der Ausstellung („Über Rechtspopulismus im Netz“) beinahe schon untertrieben erscheinen.

Man blättere nur in den ringsum auf Notenständern verteilten, dickleibigen Büchern der „Hate Library“ (Hass-Bibliothek), die Nick Thurston (England) aus europäischen Netzfunden zusammengestellt hat. Das Elend setzt sich auf Wandtafeln fort. Hier zeigen sich vieltausendfach die Abgründe der so genannten „freien Rede“ im Internet. Selbstredend anonym werden da die niedersten Instinkte ausgekotzt, seien sie rassistisch, sexistisch, antisemitisch, nazistisch oder sonstwie gewaltsam. Der Kontrast dieser Inhalte zu einer kultivierten Gesangs-Partitur ist natürlich schreiend; wenn auch nicht schreiend komisch.

Man fragt sich, warum solche Hetz-Portale und Seiten über Jahre hinweg weitgehend ungehindert bestehen dürfen. Und man könnte schon ob der schieren Menge solcher Entäußerungen depressiv werden – hier sehen wir zwar viele Beispiele, aber doch nur einen kleinen Ausschnitt der wahren Ausmaße. In solchen Foren haben sich auch die Massenmörder von Norwegen und Neuseeland (deren Namen bewusst weggelassen seien) umgetan. Dort haben sie sich mehr und mehr radikalisiert.

Schiere Überwältigung durchs Video-Gewitter

Einen anderen, geradezu entgegengesetzten Weg der Beschäftigung mit rechtsextremen Netz-Phänomenen hat das schweizerisch-österreichische Künstlerduo namens „Ubermorgen“ (sic! – mit „U“) gewählt. Sie setzen auf blanke Überwältigung mit einem rasenden Video-Gewitter aus rechtsradikalen Netz-Quellen. Das ist schwer auszuhalten – und auch die Möglichkeit, das Ganze per Mausklick zu verzerren und zu verlangsamen, schafft keine sonderliche Abhilfe. Die beiden Künstler nennen die Gruppe „Rammstein“ (in diesen Tagen wegen eines Musikvideos mit KZ-Anspielungen viral im Marketing) als einen Haupteinfluss. Diese Gruppe mit ihrem ständigen Reichsparteitags-Gehabe steht ebenfalls für ein Überwältigungs-Konzept. Kann es sein, dass die Gefahr, vom gesammelten Rechtsaußen-Stoff selbst fasziniert zu werden, auch bei „Ubermorgen“ nicht allzu fern liegt? Und zwar nicht erst (über)morgen, sondern schon heute.

Für den Rundgang sollte man sich Zeit nehmen. Hie und da gilt es, Videos möglichst ausgiebig anzuschauen. Selbst ohne Wartezeit in einer etwaigen Schlange dauert das ziemlich. Dieser Hinweis betrifft auch die Arbeit des Schweizer Theaterregisseurs Milo Rau, der die schrecklich ausführliche Gerichtsprozess-Erklärung des erwähnten norwegischen Attentäters ungerührt und geradezu „cool“ (Kaugummi kauend) von einer türkischstämmigen Schauspielerin lesen lässt – 78 quälende Minuten lang. Es erhebt sich die Frage, ob es hier wirklich um einen Wahnsinningen geht – oder nicht vielmehr um einen Überzeugungstäter. Einer von vielen Gründen zum Entsetzen: Hier kehren etliche Vorstellungen wieder, die auf breiter Front im Netz kursieren. Und man kann, ja muss sich ganz auf den Wortlaut konzentrieren. Eine heftige Herausforderung.

Wie nationalistische Aggression konstruiert wird

Paula Bulling und Anne König haben – mit den Mitteln eines Comics oder einer Graphic Novel – die Rolle dreier Frauen im Umkreis des NSU-Prozesses thematisiert. Dazu haben sie auch mit Gamse Kubaşık gesprochen, der Tochter des Dortmunder NSU-Mordopfers Mehmet Kubaşık. Die Arbeit, die bildlichen Spuren des eigentlich Unbegreiflichen folgt, ist eigens für die Dortmunder Ausstellung erweitert worden.

Auf den Spuren eines sonderbaren Flaggenkults: Die serbische Künstlerin Vanja Smiljanic hat sich zu Demonstrations-Zwecken eine Fahnenschwenk-Apparatur umgeschnallt. (Foto: Bernd Berke)

Auf den Spuren eines sonderbaren Flaggenkults: Die serbische Künstlerin Vanja Smiljanic hat sich zu Demonstrations-Zwecken ihre Fahnenschwenk-Apparatur umgeschnallt. (Foto: Bernd Berke)

Auch osteuropäische Positionen sind vertreten: Szabolcs KissPál (Ungarn) untersucht mit Fotografie, Video und Vitrinen-Objekten die Konstruktion eines aggressiven ungarischen Nationalismus‘, dessen Vertreter anno 1919 verlorene Gebiete wie Transsilvanien zurückerobern wollen. Erraten: Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei zählen zu den Protagonisten dieser Richtung.

Die Serbin Vanja Smiljanic tritt derweil als „Ministerin“ der Cosmic People (religiös sich gebende UFO-Bewegung) für Ex-Jugoslawien, Portugal und dessen frühere Kolonien auf. Auch spürt sie der Flaggenverehrung in der christlich inspirierten „Flag Nation Society“ nach. Klingt etwas abgedreht? Tja. Was soll man da sagen? Seht selbst.

Die sich aufs Schlimmste gefasst machen

Der neuseeländische Künstler Simon Denny hat sich unterdessen Brettspiele auf den Spuren rechter Welteroberungs-Wünsche ausgedacht. Apropos: In der internationalen „Prepper“-Szene (von to prepare = sich vorbereiten / Leute, die sich aufs Schlimmste gefasst machen, so auch mit Waffenübungen) galt Neuseeland bislang als eine letzte Zuflucht, wenn alles zusammenbricht. Diese eh schon irrwitzige Hoffnung ist nach Christchurch auch gestorben. Die wutschnaubenden „Prepper“-Zurüstungen sind auch Thema im Video „RIP in Pieces America“ des Kanadiers Dominic Gagnon – ebenfalls eine im Grunde unfassbare Ansammlung aus Filmschnipseln, die inzwischen im Netz zumeist gelöscht sind. Aber es kommen ja immer wieder neue Ungeheuerlichkeiten nach.

Das alles verlangt nach übersichtlicher Einordnung. Einen solchen Versuch hat – allerdings wohl nicht im vollen Ernst – das Duo disnovation.org unternommen: Auf einer Art Landkarte haben Maria Roszkowska und Nicolas Maigret (Frankreich/Polen) ideologische (und quasi auch psychologische) Positionen auf den Achsen rechts-links und autoritär-libertär bildlich eingetragen, also verortet. Das reiche Spektrum umfasst auch Memes wie etwa Pepe, den Frosch, das Symboltier der Trump-Anhänger. Dumm nur, dass die wirkliche Welt nicht so ordentlich eingeteilt und somit berechenbar ist. Übrigens darf man einen Plakatdruck der „Landkarte“ kostenlos mit nach Hause nehmen.

Weiterer Erklärungs-Ansatz ist ein hochinteressantes Glossar, das eingangs der Ausstellung einige Begriffe, Plattformen, Symbole, Phantasien, Praktiken und Personen aus dem Alt-Right-Kontext erläutert. Auch da erfährt man Dinge, die man am liebsten gar nicht wissen möchte – wohl aber wissen sollte…

„Der Alt-Right Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“. Vom 30. März bis zum 22. September 2019 (Eröffnung: Freitag, 29. März, 19 bis 22 Uhr). Hartware MedienKunstVerein (HMKV), 3. Etage im „Dortmunder U“, Leonie-Reygers-Terrasse. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt frei. Internet: www.hmkv.de

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Bestandteil der Ausstellungs-Eröffnung: die Verleihung des angesehenen Justus Bier Preises für herausragende kuratorische Leistungen. Ausgezeichnet werden Inke Arns, Igor Chubarow und Sylvia Sasse – für die HMKV-Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast – Forensik eines Bildes“.

 

 

 

 




Steinbruch und Hölle: Yannick Nézet-Séguin dirigiert in Dortmund Werke von Mahler und Schostakowitsch

Gern gesehener Gast im Dortmunder Konzerthaus: Der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin am Pult des Rotterdam Philharmonic Orchestra. Foto: Hans van der Woerd

Am Beginn stand der fast manische Tatendrang, die hemdsärmelige Attitüde, eine Leidenschaft zudem, die sich in gewaltiger Körperlichkeit ausdrückte. Das war im Jahr 2008, als der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin erstmalig im Dortmunder Konzerthaus gastierte und wirkte, als sei das Agieren am Pult Schwerstarbeit, um eine wuchtige Orchestermaschinerie in Gang zu setzen und unter Dampf zu halten.

Schnell, in seiner unverwechselbaren Mischung aus Dynamik und Charme, wurde der Musiker zu Publikums Liebling. Unter den Fittichen von Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa hat Yannick, wie er im Stile der Dortmunder Kumpelmentalität gern genannt wird, indes eine ziemlich spannende Entwicklung vollzogen: vom jungenhaften musikalischen Bilderstürmer zu einem ernsteren, ja abgeklärteren Orchestermotivator. Natürlich lodert da noch das alte Feuer, gleichzeitig jedoch hat sich sein Blick für Details geschärft, setzt er mehr auf Transparenz denn auf vordergründige Knalleffekte.

Nézet-Séguin kam 2008 mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra, dessen Chef er damals gerade geworden war. Im Gepäck hatte er Musik von Händel, Beethoven, Ravel und Strawinsky – eine über drei Jahrhunderte gespannte Mixtur ohne strengen dramaturgischen Überbau. Nun aber sind Dirigent und Orchester nach Dortmund zurückgekehrt, um die sinfonischen, spätromantischen Muskeln spielen zu lassen. Mit Gustav Mahlers „Totenfeier“ und Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie („Babi Yar“) zieht das Düstere, Melancholische, Sarkastische ins Konzerthaus ein, zudem eine gewisse monströse Übersteigerung. Mahler, der große Weltenzimmerer, trifft auf Schostakowitsch, den politisch verstrickten Meister des Kommentierens aus dem Geiste der Musik.

Gleichwohl fehlt bei diesem Programm die klare Verklammerung. Richtig ist zwar, dass der Russe den tönenden Kosmos des aus Böhmen stammenden Österreichers überaus schätzte, doch zu verschieden sind eigentlich beider Sprachen. Mahlers Naturlaute, Durchbrüche, Raumklänge, derbe Folklore und seine Hinwendung zum Transzendenten sind etwas anderes als Schostakowitschs rhythmische Bruitismen, gefahrvolle dunkle Streicherlinien oder die markigen Schreie in gleißend hoher Lage. Darüberhinaus ist mit „Totenfeier“ nichts anderes gemeint als eine Frühfassung des ersten Satzes der „Auferstehungssinfonie“.

Großer Applaus für eine tolle Interpretation von Schostakowitschs groß besetzter 13. Sinfonie. Foto: Konzerthaus Dortmund

Wir befinden uns also in Mahlers Steinbruch, etwa 20 Minuten lang, um dann in die Konzertpause entlassen zu werden. Was folgt, umschreiben wir mutig mit dem Begriff Schostakowitschs Hölle: „Babi Yar“ erzählt von (russischem) Antisemitismus, vom Witz, der den Mächtigen ein Dorn im Auge ist, von Armut und (Kriegs)-Angst, schließlich von unfähigen Karrieristen. Jewgeni Jewtuschenko, kritischer und von der Obrigkeit drangsalierter Kopf zu Sowjetzeiten, verfasste die lyrischen Texte. Der Komponist schrieb dazu ein massiges Werk in fünf Sätzen, für Bass-Männerchor, solistischem Bass und Orchester. „Babi Yar“, der Kopfsatz, reflektiert das Massaker in der gleichnamigen Schlucht nahe Kiew, bei dem 1941 etwa 34 000 jüdische Menschen von der Gestapo und ukrainischen Kollaborateuren ermordet wurden.

Schostakowitsch wusste, was er hier komponiert hatte. Vor allem sein Leben unter Stalins Herrschaft war geprägt von Ängsten, materieller Not, vom Zwang, sich zumindest in gewissem Umfang anzupassen. In der „Babi Yar“-Sinfonie spiegeln sich diese Nöte, mithin Schostakowitschs Hölle, beinahe exemplarisch wieder. Entsprechend emotional aufgeladen gerät die Interpretation des Werks im Konzerthaus, mit dem fulminanten (Männer)-Chor des Bayerischen Rundfunks und dem Bassisten Mikhail Petrenko. Schnell finden sie den richtigen Ton, in markiger, wuchtiger, äußerst plastischer Artikulation, pendelnd zwischen Grabesstimmung, Melancholie und beißendem Spott (in teils idyllischer Tarnung).

Mikhail Petrenko, ein markiger Bass von Format. Foto: Alexandra Bodrova

Das Rotterdamer Orchester wiederum lässt das Schlagwerk nach russischer Revolution klingen, unterfüttert vom Furcht transportierenden, nervösen Raunen der (tiefen) Streicher, lässt die Bläser schreien oder elegisch klagen, findet dabei dennoch zu einem ziemlich transparenten Klangbild. Yannick Nézet-Séguin hält alle Fäden des musikalischen Verlaufs gut zusammen, mit Übersicht und Energie. Mikhail Petrenkos Stimme ist in der Tiefe so schwarz wie in hoher Lage geschmeidig. Und der Chor singt mit großer Kraft und feinem rhythmischen Gespür. Die Aufführung ist ein beeindruckendes Erlebnis, hinter dem Mahlers „Totenfeier“ klar zurückfällt. Sperrig und etwas spröde in seiner Formsprache, fehlt in diesem Sinfoniesatz-Vorläufer zudem die Farbe der tiefen Harfen, die perkussive Wucht und die räumliche Dimension der Klangexplosionen. Vielleicht wäre die Verzahnung beider Komponisten besser gelungen mit den unsagbar traurigen Kindertotenliedern zu Beginn.

 




Der Kindsmord als klingende Tragödie: Aribert Reimanns Oper „Medea“ im Aalto-Theater

Medea (Claudia Barainsky) hütet das goldene Vlies. (Foto: Karl Forster)

Medea (Claudia Barainsky) hütet das goldene Vlies. (Foto: Karl Forster)

Medea. Die Frau, die ihre Söhne ermordet. Die schöne, stolze, mythenumwobene Priesterin und Zauberin aus Kolchis (heute Georgien), Hüterin des goldenen Vlieses, die zu Göttern und Naturgewalten Kontakt hat. Wer erfasst ihre Tragödie, das schlimme Schicksal der liebenden Königstochter, die vom Argonautenführer Jason erst ausgenutzt, dann in die Fremde verschleppt, allein gelassen, betrogen und schließlich sogar verstoßen wird? Wer vermag die entsetzliche Tat zu begreifen, mit der sie sich am treulosen Gatten rächt?

Viele haben es über Jahrtausende hinweg versucht. Beginnend bei Euripides, der den Stoff 431 vor Christus in seinem Trauerspiel „Medea“ aufgriff, befassten sich zahlreiche Schriftsteller, Dichter, Maler, Komponisten, bildende Künstler, Filmregisseure und Tänzer mit diesem Mythos. Untrennbar mit ihm verbunden ist der Name der Sängerin Maria Callas, die Luigi Cherubinis Oper durch ihre grandiose Gestaltung der Titelpartie dem Vergessen entriss.

Einer der namhaftesten Komponisten unserer Zeit fühlte sich von Franz Grillparzers Drama „Medea“ inspiriert: Aribert Reimann, geboren 1936 in Berlin, einst Schüler von Boris Blacher, Träger des Ernst von Siemens Musikpreises sowie des „Faust“-Theaterpreises für sein Lebenswerk. Für seine gleichnamige Oper in vier Bildern, uraufgeführt am 28. Februar 2010 an der Wiener Staatsoper, extrahierte er selbst das Libretto.

Kampf um die Liebe, Kampf um die Kinder: Medea (Claudia Barainsky) und Jason (Sebastian Noack). (Foto: Karl Forster)

Im Essener Aalto-Theater, das Reimanns Werk jetzt neu in Szene setzt, erzählt der Komponist vor Beginn der Premiere höchstselbst von der Faszination am antiken Stoff. Er schwärmt von der Sprache Grillparzers, die ihn unmittelbar zu Musik inspiriert habe, und schildert seine langjährige Zusammenarbeit mit der Sängerin Claudia Barainsky, die am 28. Februar 2010 mit großem Erfolg die Uraufführung an der Wiener Staatsoper sang. Nach Produktionen in Frankfurt, Tokio und Berlin hat Essen nun erneut Claudia Barainsky für die Titelpartie engagiert.

Weiß Gott keine schlechte Entscheidung, wie sich am Premierenabend rasch zeigt. Barainsky, die bei der Ruhrtriennale 2006 als Marie in Bernd Alois Zimmermann „Die Soldaten“ glänzte, kennt keine Furcht vor dem aberwitzigen Koloraturgewitter, in das sie als Medea immer wieder ausbrechen muss. Sie schafft es, die für Reimann charakteristischen zackigen Gesangslinien mit Emotion anzufüllen, die Koloratur wie eine Waffe einzusetzen, wann immer die Figur der Medea sich in die Enge getrieben sieht.

Obgleich selbst von eher geringer Körpergröße, verleiht die Barainsky der Titelheldin ein staunenswertes Format. Sie wirft sich mit voller Wucht ins Spiel: nicht etwa als augenrollende Furie, sondern als leidenschaftliche Frau, die wieder und wieder gedemütigt wird. In der Regie von Kay Link, der in Essen bereits „Into the little Hill“ von George Benjamin in Szene setzte, erscheint sie schließlich wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

Medeas Söhne werden rasch von den Korinthern vereinnahmt. (Foto: Karl Forster)

Dazu tragen auch die Kostüme bei. Ganz in Rot gewandet, ist Medea die Fremde, die Außenseiterin gegenüber den Korinthern, die ihr in kühlem Aalto-Blau entgegentreten. Oft lauert sie wie ein Tier unter dem Königspalast des Kreon, ein asymmetrischer, einsehbarer Kubus, der auf hohen Stelzen steht und nur über Treppen zu erreichen ist (Bühne, Kostüme und Video: Frank Albert). Kay Link bewegt die Figuren so, dass Rangordnungen sofort augenfällig werden.

Bis Medea im ersten Teil des Abends das goldene Vlies vergraben und Bekanntschaft mit den Korinthern geschlossen hat, bleibt das Geschehen auf der Bühne oft statisch. Aber der zweite Teil nimmt Fahrt auf: Beim Versuch einer Aussprache mit Jason und beim Kampf um die Kinder spitzt sich das Drama zu. Das Ensemble rund um die Barainsky muss stimmlich kaum weniger Virtuosität beweisen. Es hält sich höchst ehrbar: Als Kreons Tochter Kreusa brilliert Liliana de Sousa mit Melismen in klarer, absichtsvoll kalter Höhe. Empathie findet Medea bei ihrer Amme Gora, der Marie-Helen Joël Großherzigkeit und Wärme verleiht. Hagen Matzeit führt seinen Countertenor in nachgerade artistischer Manier, um die vertrackten Intervallsprünge zu meistern.

Ein kurzer Moment der Annäherung: Medea (Claudia Barainsky, l.) versucht sich zu adaptieren (Liliana de Sousa als Kreusa, r. ) (Foto: Karl Forster)

Auch Sebastian Noack (Jason) und Rainer Maria Röhr (Kreon) engagieren sich auf Äußerste, zumal der Komponist unter den Premierengästen ist. Aber gegen die starken Frauenfiguren wirken die beiden Sänger beinahe etwas blass. Der Tscheche Robert Jindra dirigiert die Essener Philharmoniker mit großer Kompetenz durch Aribert Reimanns dicht gewobene, dem Ohr oft sperrige Partitur. Eine Dauer-Nervosität, eine beinahe nervenzerrüttende Spannung tönt da aus dem Orchestergraben. Schockierend wirken die blockhaften Einsätze der Instrumentengruppen, insbesondere die brutalen Blech-Cluster, die das Bühnengeschehen häufig kommentieren. Die Essener Philharmoniker übernehmen eine sehr aktive Rolle in dem Drama, sind quasi der siebte Hauptdarsteller, der ständig mit den Sängern interagiert.

Am Ende erhebt sich das Publikum zu Ehren von Aribert Reimann von den Sitzen. An seinen „Lear“, den das Aalto-Theater vor 18 Jahren in der Inszenierung von Michael Schulz zeigte, mag mancher sich an diesem Abend auch erinnern.

(Termine und Informationen:https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/medea/)




Wir-Gefühl durch die Musik? Dortmunder Festival „Klangvokal“ will sich am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen

Titelmotiv des Klangvokal-Programmbuchs (©Sandra Spitzner_gerasimov174_shutterstock_1019676943)

Titelmotiv des „Klangvokal“-Programmbuchs (© Sandra Spitzner_gerasimov174_shutterstock_1019676943)

Ohne Motto geht es nicht mehr. Ein solches signalisiert Gedankentiefe, höhere Zusammenhänge, dramaturgische Kompetenz. Das Festival „Klangvokal“ in Dortmund mag da nicht zurückstehen: „Wir!“ steht in diesem Jahr über der elften Ausgabe vom 16. Mai bis 16. Juni.

Wo allerdings die Bedeutung dieses selbst bei wohlwollender Betrachtung ziemlich lapidaren Leitthemas liegen soll, wird nicht klar. Man wolle sich am aktuellen gesellschaftlichen Diskurs über Gemeinschaft und Solidarität beteiligen, heißt es. Nun denn! Die innere Spannung zwischen Ich und Wir, zwischen Uns und Euch, steckt in so ziemlich jeder Musik, von der virtuosen Bravourarie bis hin zum üppigen Klangfeld, in dem Einzelnes nicht mehr wahrnehmbar ist.

Entsprechend bunt gemischt sind auch die knapp zwei Dutzend Veranstaltungen. Wer der Oper den ersten Rang einräumt, wird sich auf Georges Bizets „Les Pêcheurs de Perles“ am 31. Mai im Konzerthaus freuen – eine Oper, die derzeit noch am Musiktheater im Revier in einer ambitionierten szenischen und musikalischen Realisation zu sehen ist.

Ekaterina Bakanova singt in George Bizets "Perlenfischern". Foto: Georg List

Ekaterina Bakanova singt in George Bizets „Perlenfischern“. (Foto: Georg List)

Ob die „internationale Topbesetzung“ mit der Russin Ekaterina Bakanova (Sopran), dem Italiener Francesco Demuro (Tenor) und dem US-Amerikaner Lucas Meachem (Bariton) der Musik Bizets stilistisch gewachsen ist, wird man hören.

Auftakt am 16. Mai gehört der Oper

Auch der Auftakt des Festivals gehört der Oper. Am 16. Mai singen Anna Pirozzi (Sopran), in Deutschland selten zu erleben, dafür im Sommer in der Arena di Verona und im Herbst als Lady Macbeth an der Met, und Teodor Ilincai (Tenor), zuletzt in „Madama Butterfly“ an der Wiener Staatsoper, „unsterbliche“ Arien und Duette – und man darf davon ausgehen, dass die üblichen Reißer das Publikum im Konzerthaus in Raserei versetzen.

Weniger populär, dafür mit subtileren Noten, verspricht die konzertante Aufführung von Georg Friedrich Händels früher Oper „Agrippina“ am 8. Juni im Orchesterzentrum NRW ein Genuss für Liebhaber zu werden: Christophe Rousset bringt das exzellente Ensemble Les Talens Lyriques mit; in der Titelrolle debütiert die spanische Mezzosopranistin Maite Beaumont.

Noch zwei Mal Händel hat das „Klangvokal“-Festival im Programm: Die Mezzosopranistin Vivica Genaux – 2017 mit dem Händel-Preis ausgezeichnet – präsentiert am 30. Mai mit der Lautten Compagney Berlin und Countertenor Lawrence Zazzo im Orchesterzentrum NRW ein Programm mit dem zeitgeistigen Titel „Gender Stories“: Das 18. Jahrhundert hatte die „künstliche“ Gestaltung von Geschlecht und Rolle zum Prinzip erhoben und so ergeben sich erstaunliche Parallelen zu den „konstruierten“ Geschlechtern von heute und den mit ihnen verbundenen Rollen. Händel und seine Zeitgenossen setzten Kastrat, Frau und Mann nach Konventionen ein, die am natürlichen Geschlecht der Darsteller kein Interesse hatten.

Chormusik vom Feinsten

Den Abschluss der Händel-Trilogie bildet eine „Barockfeier de luxe“ mit illustren Gästen aus Großbritannien: Das britische Topensemble „The King’s Consort“ und die Sopranistin Carolyn Sampson lassen am 14. Juni in der Maschinenhalle der Zeche Zollern Händels Heroinen lebendig werden.

Der Lettische Rundfunkchor. Foto: Bülent Kirschbaum

Der Lettische Rundfunkchor. (Foto: Bülent Kirschbaum)

Auch wer die Chormusik – geistlich oder weltlich – liebt, wird beim „Klangvokal“ auf seine Kosten kommen: Das Konzert mit dem Chor des Lettischen Rundfunks in der St. Reinoldikirche verspricht am 16. Juni Gesangskultur vom Feinsten. Davor schon singt am 26. Mai das Vocalconsort Berlin in der Marienkirche unter dem Titel „Psalmen Davids“ die entsprechenden Vertonungen des flämischen Renaissance-Meisters Orlando di Lasso.

Mit geistlicher Musik aus Europa präsentiert sich am 1. Juni in der Propsteikirche der Jugendkonzertchor der Chorakademie Dortmund unter Felix Heitmann. Am 9. Juni ist in der St. Nicolaikirche mit dem von Hans-Christoph Rademann gegründeten und geleiteten Dresdner Kammerchor ein Spitzenensemble mit A-cappella-Chorwerken von Johannes Brahms über Gustav Mahler bis John Cage zu Gast.

Am Samstag, 15. Juni, zeigen mehr als 150 Chöre und Vokalensembles aus Dortmund und Umgebung zum elften Mal auf Open-Air-Bühnen, an Singhaltestellen, in Kirchen, in der U-Bahn und in Geschäften zwischen der St. Reinoldikirche und der St. Petrikirche ein breites Spektrum vokaler Ausdruckformen vom klassischem Volkslied und Chorsatz bis zu Schlager, Shanty, Jazz- und Popsong. Das 11. „Fest der Chöre“ ist nach Auskunft der Veranstalter Deutschlands größtes städtisches Chorfest.

Daneben offeriert das Festival von Jazz- bis Weltmusik ein breites Spektrum an Musikveranstaltungen für jeden Geschmack: Ob Jordi Savall mit seiner „Hommage an Syrien“, einem „Klangdialog zwischen Juden, Christen und Muslimen“ am 19. Mai im Konzerthaus, ob alte und neue Gospels mit der afro-amerikanischen Sängerin Michelle David und ihrer Gruppe „The Gospel Sessions“ am 24. Mai in der Pauluskirche, ob Soul aus den Niederlanden mit der Sängerin Kovacs am 6. Juni im Freizeitzentrum West in der Ritterstraße am Dortmunder U oder arabisch-andalusischer Jazz aus Valencia mit dem Trio NES im Jazzclub Domicil am 7. Juni.

Vorverkauf über das Internet-Portal www.klangvokal.de, telefonisch unter 01806/57 00 70, bei allen bekannten VVK-Stellen und bei Dortmund-Tourismus, Kampstr. 80, 44137 Dortmund.




Antlitz aus Fleischwurst, Schulter aus Birne: „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ und viele andere Kunstwerke als Brotbelag

Es war wirklich eine originelle Idee: berühmte Werke der Kunstgeschichte als Brotbelag nachzugestalten. Kaum unter einem #Hashtag lanciert, erwies sich der harmlose Spaß als „viraler Twitter-Trend“, wie man so palavert. Und wie das im Netz manchmal so geht, beteiligten sich alsbald Hunderte mit ihren Kreationen daran. Jetzt ist ein Buch daraus geworden; noch dazu im seit jeher kunstsinnigen Dumont-Verlag.

Den ersten Einfall hatte Marie Sophie Hingst, die nun als Herausgeberin des Bändchens fungiert. Ihr Debüt gab sie mit der vergleichsweise einfachen Übung, ein Bild von Piet Mondrian auf Brot nachzuahmen. Da mussten Käse- und Tomatenstücke halt nur rechteckig geschnitten werden, darunter lugte (gleichfalls als Rechteck) weißer Frischkäse hervor – und fertig war die essbare Chose. Der Impuls dürfte ähnlich lustvoll gewesen sein wie der eines Kindes, das beim Frühstück z. B. Tier-Umrisse aus Käse legt.

Nach und nach arbeitete und aß sich Hingst mit ihren zahlreichen Followern kulinarisch durch die Kunstgeschichte hindurch – von den Höhlenzeichnungen in Lascaux (man nehme dazu: Nuss-Nougat-Creme, Marmelade und Frischkäse auf Vollkorntoast) bis hin zu Verhüllungen à la Christo & Jeanne-Claude (Roggenmischbrot in der knittrigen Tüte).

Nicht alle Schöpfungen sind von gleicher Güte. Manche Belag-Kompositionen (etwa die „Mona Lisa“ aus Champignons, Brokkoli und Zucchini auf Graubrot) sind denn doch kläglich weit vom Vorbild entfernt. Es war aber auch eine schier übermenschliche Herausforderung.

Mitunter reicht ein Messerschnitt

Gar leichtes Spiel hatten hingegen die Adepten eines Lucio Fontana (einfach der unbelegten Toastscheibe einen Messerschnitt zufügen) oder Günther Uecker (Nägel ins Graubrot stecken – fertig!). Desgleichen simpel mutet Beuys‘ Fettecke an (richtig geraten: kantige Butterecke aufs Brot, sonst nix). Für Yves Kleins blaues Quadrat hätte man unterdessen lieber eine anders nuancierte Lebensmittelfarbe nehmen sollen…

Dürers „Betende Hände“ notdürftig in die Margarine zu ritzen, ist ebenfalls nicht gerade die Hohe Schule. Für Leonardo da Vincis „Das letzte Abendmahl“ Jesus und die Apostel mit (lediglich elf) bunten Gummibärchen auf Knäcke zu paraphrasieren, erscheint nahezu lästerlich. Viele Einfälle leben also quasi von der Chuzpe, mit der sie kurzerhand umgesetzt wurden.

Okay, man kann ja versuchen, das alles selbst besser zu machen. Öhm… tja. Ach, dazu fehlt einem einfach die Zeit.

Meerjungfrau mit Kieler Sprotte

Beginnen wir also zu loben: Liebevoll nachgebildet finden sich beispielsweise Dalís erschlafft hängende Uhren (hauchdünne Gurkenscheiben), Monets „Seerosenteich“ (Gurke, Frühlingszwiebeln, Spinat etc.) oder jene Meerjungfrau von John William Waterhouse, deren Fischschwanz just aus einer nonchalant hingelegten Kieler Sprotte besteht. Picasso geht in bestimmten Phasen immer: Man wirft die Zutaten einfach beherzt aufs Brot. Nein, nein, Scherz beiseite, auch das will gekonnt sein.

Meine beiden Lieblingsbilder sind jedenfalls: Erstens C. D. Friedrichs „Das Eismeer“, dessen Nachbildung freilich aufgrund ziemlich großer Salzmengen kaum genießbar sein dürfte. Und zweitens das Werk auf der Titelseite, Vermeers auch schon im Kinofilm ausgiebig gewürdigtes „Mädchen mit dem Perlenohrring“. Farblich kommt das Antlitz aus Fleischwurst zwar nicht so recht hin, aber allein das – Achtung, Schleichwerbung! – „Tic Tac“ als kostbare Perle hat schon ‚was.

Eins steht jedenfalls von vornherein fest: Brotlose Kunst ist das nicht.

Marie Sophie Hingst (Hrsg.): „Kunstgeschichte als Brotbelag“. Dumont Verlag. 112 Seiten, 100 farbige Abbildungen. 15 €.

 

 

 




Die Flöte als „Faden im Webstoff“: Thomas Hengelbrock und das Royal Concertgebouw Orchestra in Dortmund

Thomas Hengelbrock zählt zu den Stammgästen im Konzerthaus Dortmund (Foto: Pascal Amos Rest)

Thomas Hengelbrock zählt zu den Stammgästen im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Pascal Amos Rest)

Als Opernkomponist fand Franz Schubert zeitlebens nicht die ersehnte Anerkennung. Acht vollendete Bühnenwerke und acht Fragmente hinterließ er der Nachwelt, darunter die Oper „Alfonso und Estrella“, die es zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung nicht aus dem Schatten von Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ herausschaffte. Erst 26 Jahre nach Schuberts Tod verhalf Franz Liszt „Alfonso und Estrella“ zur Uraufführung.

Mit der Ouvertüre zu diesem selten gespielten Werk eröffnete der Dirigent Thomas Hengelbrock jetzt einen Abend im Konzerthaus Dortmund, zu dessen Stammgästen er bereits seit 2003 zählt. Er hat sich hier ein treues Publikum erobert, nahezu eine Fangemeinde: Das ist bei seiner erneuten Rückkehr mit dem Royal Concertgebouw Orchestra deutlich zu spüren. Der Dirigent seinerseits schwärmt von der Frische, der Neugier und der aktiven Musizierlust der Musiker aus Amsterdam, wie einem Interview auf der Internetseite des Konzerthauses zu entnehmen ist.

Tatsächlich ist diese Musizierlust sofort präsent, wenn auch in auffallend starker Besetzung. 13 erste Geigen und sechs Kontrabässe bietet Hengelbrock für Schuberts Ouvertüre auf, die ganz konventionell mit langsamer Einleitung und schnellem Hauptteil daherkommt. Alles tönt sprühend vital, strahlend hell, aber mit recht knalligem Forte. Während manch stürmische Passage überraschend nach Felix Mendelssohn klingt, scheint der Schluss nahezu unverblümt Mozarts „Zauberflöte“ zu kopieren. Wer Schuberts Genie kennt und verehrt, registriert es mit leiser Enttäuschung.

Der deutsche Flötist Kersten McCall wuchs als Sohn des Komponisten Brent McCall in Donaueschingen auf. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nach verschiedenen Stoffarten sind die drei Sätze des Flötenkonzerts „Soie“ („Seide“) von Lotta Wennäkoski benannt. Fasziniert von der Analogie zwischen gewebten und komponierten Meisterwerken, hat die 1970 in Helsinki geborene Finnin ein hoch virtuoses Konzert geschrieben, das zu einem Höhepunkt des Abends wird. Atmosphärische Dichte, raffinierte Instrumentation, reiche Detailarbeit und das souveräne Spiel mit den klanglichen Möglichkeiten eines Orchesters sind so staunenswert und packend, dass das Ohr nicht eine Sekunde von den akustischen Ereignissen auf der Bühne loskommt.

Einen mit allen Wassern gewaschenen Solisten benötigt dieses Konzert natürlich auch. Kersten McCall, erster Soloflötist des Royal Concertgebouw, beherrscht Instrument und Partitur, dass es jeder Beschreibung spottet: von rasend schnellen Figurationen bis zu intensiv ausgehaltenen Tönen, vom seidenweichen Piano bis zum schrillen Pfiff, von der heftig überblasenen Attacke bis zu Effekten wie der Flatterzunge. Mal intensiv mit dem Orchesterklang verwoben, mal solistisch hervortretend, stellt er seine überragende Kompetenz kompromisslos in den Dienst des Werks. Das ist große Kunst, frei von Star-Allüren.

Aus dem Off lässt Thomas Hengelbrock das eröffnende Hornmotiv von Schuberts 8. Sinfonie C-Dur („Die Große“) spielen. Ein Vorgriff auf die Fernklänge von Gustav Mahler mag dies sein, denn Hengelbrocks Interpretation macht auch in der Folge musikhistorische Bezüge deutlich. Diese sprechen von der Vergangenheit, wenn sich im Andante plötzlich ein Abgrund à la Don Giovanni öffnet, oder wenn Beethovenscher Ingrimm durch das Scherzo zittert. In die Zukunft weisen von Wehmut vergiftete Holzbläsersoli (Mahler) und blockhafte Tempowechsel (Bruckner). Hengelbrock hält alles wunderbar leicht und tänzerisch in Schwung. Silbern wirbeln und flirren die Triolenketten der Geigen im Finale dahin. Großer Beifall.

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Ein Autor, der das Publikum spaltet: „Und der Himmel so blau“ – ein Lesebuch zu Einar Schleef

An Einar Schleef scheiden sich die Geister. Die einen halten ihn für eine Urgewalt, einen „Nonstop-Visionär“ – „ein unschuldiger Mensch mit einem Genius, dem sein Kopf kaum standhielt, geworfen in eine Welt, die jede Vorstellung von Unschuld verloren hat. So etwas werden wir wohl nicht noch mal erleben“, schreibt Etel Adnan im Nachwort des Einar-Schleef-Lesebuchs aus dem Elfenbein Verlag.

Andere lehnten ihn ab, fühlten sich angesichts seiner Inszenierungen an eine Wehrsportgruppe erinnert, sprachen von  Überwältigungsästhetik und zogen historische Vergleiche wie etwa Peter Iden in seiner Besprechung von Schleefs „Mütter“ in der Frankfurter Rundschau vom 24.2.1986: „So aufwendig ist am Theater schon lange nicht mehr von einem Theatertext abgelenkt worden, wohl auch seit dem Nazi-Theater nicht mehr so stupide.“

Große Chöre, rhythmisiertes Sprechen, Rituale

Spätestens mit seiner Verpflichtung ans Frankfurter Schauspielhaus ab 1985 mischte Schleef das bundesrepublikanische Regietheater gehörig auf. Vielmehr ungehörig. Gefielen sich die Regiegrößen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren politisch aufrührerisch begonnen hatten, zunehmend in nuancenreicher Psychologisierung literarischer Vorbilder, setzte Schleef auf große Chöre, rhythmisiertes Sprechen, Rituale.

Hinzu kommt die unfassbare Länge seiner Inszenierungen; ein Theater der Superlative. Elfriede Jelineks „Sportstück“ war in der Kurzfassung mit 5 Stunden veranschlagt, die Schleef aber nicht ausreichten; in der Langfassung dauerte das Stück 7 Stunden, und da waren nur drei der sieben für die Aufführung gedrehten Videos enthalten. Die von Schleef für Berlin beabsichtigte ultimative Langlangfassung ist nicht zustande gekommen.

Im Vergleich zu den Anfeindungen, denen sich Schleef stärker noch von der Kritik als aus dem Publikum ausgesetzt sah, klingt Verena Auffermanns Besprechung des „Ur-Götz“ in Frankfurt geradezu sachlich: „Einar Schleef hat das Talent, Szenen über den Gipfel ästhetischer Normen in das Tal der Qualen zu ziehen, immer überzieht er, sein Theater ist für alle eine Tortur, Schleef zeigt vor nichts Respekt.“ (Süddeutsche Zeitung vom 21.04.1989). Als ein Beispiel solcher „Respektlosigkeit“ vor klassischen Texten sei aus dem „Programmblatt Handlung“ der Frankfurter Inszenierung, das im vorliegenden Lesebuch abgedruckt ist, zitiert: „Weislingen hat von seiner Frau die Schnauze voll, sie von ihm, ihr Plan, erst soll er Berlichingen aburteilen und dann wird sie ihn aburteilen.“ („Ur-Götz“)

„Ur-Götz“ auf und unter dem Laufsteg

Wollte Goethe mit seinem Götz die Kraft des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft verherrlichen, macht Schleef das Gegenteil. Den Raubritter besetzt er mit einem schmächtigen Martin Wuttke mit Punk-Frisur. Die Chöre verschlucken die Stimmen der Darsteller. Selten, dass ein Schauspieler wie David Bennent, der in der Aufführung im Bockenheimer Depot eine, je nach Standort, 30- bis 45-minütige Prozession anführt, glockenhell herausklingt.

Einar Schleef, dessen Theaterkarriere als Bühnenbildner begann, baut einen 43 Meter langen Laufsteg längs durchs Bockenheimer Depot und teilt das Publikum. Die Begrenztheit der Perspektive wird den Zuschauern, die selten die gesamte Bühne überblicken können, räumlich vor Augen geführt. Schleef lässt auf und unter dem Steg spielen; Gitter dienen mal dem Schutz der Flüchtenden, mal als Gefängnis; aus einer Luke reckt sich die nackte, nicht eiserne Faust des Götz von Berlichingen. Schleef zeigt das Zusammenwirken gesellschaftlicher Mächte: Kaiser, Klerus, die Fürsten, Bauern, und einen Berlichingen, der zwischen den Fronten zerrieben wird. Die Simultaneität der Handlung kommt besonders in den Kampfszenen zum Ausdruck, wenn die Fronten und Gegnerschaften – dem Kriegsgeschehen angemessen – undurchschaubar bleiben.

Unbändige Prosa

Den Verrissen der Schleefschen Inszenierungen entsprechen die Verrisse seiner unbändigen Prosa. Als 1984 der zweite Band des monumentalen Romans Gertrud über Schleefs Mutter erschien, urteilte Martin Lüdke im „Spiegel“: „Eine Zumutung. Was dieser Autor (und ebenso sein Verlag) dem Leser zumutet, geht weiß Gott auf keine Kuhhaut. Es ist unverschämt und rücksichtslos. Achthundertsechsundneunzig engbedruckte, großformatige Seiten, doch kaum ein vollständiger Satz, der nicht verkrüppelt, verstümmelt daherkommt. Sprachmüll.“

Für das Lesebuch aus dem Elfenbein Verlag wurden kürzere Kostproben ausgewählt, Passagen im Telegramm-Stil. Oft werden Sätze nicht beendet, fehlt das Verb, stehen Dialoge ohne Absätze und Anführungszeichen. „Hat gut geschmeckt Trude. Noch Wein? Muß erst mal wohin. Kaum ist die Tippel draußen, hecheln Trude und Elly: Die spinnt doch. Woher das viele Geld. Das siehste doch, der ihr Kerl. Was die in ihrem Alter? Aber feste. Nein. Ja.“ (aus dem Text „Mutter und Sohn“)

Lehren aus dem Stottern

Schleef litt ein Leben lang unter seinem Stottern. Mit der Schauspielerei versuchte er, die Sprechstörung zu bekämpfen, und musste einige Male erleben, wie auch auf der Bühne vor Publikum die Wörter nicht hinauswollten. „Trotzdem bin ich nicht abgetreten, versuchte das, was die Figur vermitteln soll, an den Mann zu bringen. Nicht sprechen hilft nicht, eher lauter schreien, das sagte ich zu Teilnehmern der Westberliner Stotterer-Selbsthilfe […]. Jetzt schreie ich bis zum 4. Rang des Burgtheaters, ich habe was gelernt bei den Stotterern“, heißt es im „Vorwort zu einem Buch über Stotterer“, das im vorliegenden Band enthalten ist.

Als Stotterer erfuhr er: Sätze müssten nicht unbedingt zu Ende gesprochen sein, um die Nachricht rüberzubringen. „Impuls und Wortverständlichkeit sind 2 völlig verschiedene Dinge“, zitiert er die Schauspielerin Joana Maria Gorvin. („Sprechen“) Diese Erkenntnis machte er sich auch bei seiner Prosa zunutze. Beispiel: „Sie sprechen über verschiedenes, mit wem sie jetzt, er, was so passierte, den gesehen oder so.“ Kommt mal ein langer Satz, dann ein richtig langer, über 1 ½ Seiten, wie in der Bildbeschreibung „Blendung des Samson“.

Als 1997 sein verstörender 500-Seiten-Essay „Droge Faust Parsifal“ erschien, waren große Teile der Kritik ebenfalls ratlos. Rainald Goetz gehörte zu denen, die Schleef verteidigten. Auf eine halbherzige Würdigung in der „Zeit“ antwortete er in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 9.6.1997: „Daß in ,Droge Faust Parsifal‘ ein völlig neuer Schleef auftritt, eine völlig neue Sprache, eine einzigartige, noch nicht dagewesene und zugleich in sich auf Anhieb plausible Form, theoretisch-praktisch über Literatur, Theater, Texte, Musik und Existenz zu reflektieren und zu reden […] Warum freut sich eigentlich nicht alle Welt ganz laut darüber, so richtig, begeistert, öffentlich?“

Künstlerischer Furor

Insgesamt ist es eine Menge Text, die Einar Schleef uns hinterlassen hat. Wer wäre zu einer Auswahl aus Schleefs künstlerischem Furor besser geeignet als Hans-Ulrich Müller-Schwefe, sein langjähriger Lektor im Suhrkamp Verlag, den er bereits 1977 in Frankfurt kennenlernte? Er stellte die Texte zu „Und der Himmel so blau“ zusammen.

Was Schleef als letztes literarisches Werk mit dem Arbeitstitel „Kontainer“ oder „Kontainer Berlin“ beabsichtigt haben mochte, eine Sammlung heterogener Textsorten wie Erzählungen, Tagebuchausschnitten, Autobiographisches, Essays, Theatertheorie, ist auch in dem komprimierten Lesebuch als Konzept aufgegriffen.

Bemerkenswert der Besuch bei Golo Mann in Kilchberg am Zürichsee, 1978, wo Schleef wegen einer Förderung durch die Jürgen Ponto-Stiftung vorsprach, für die Golo Mann den Bereich Literatur betreute. Und während Golo den Gast umständlich mit Tee und Keksen bewirtet, spukt auf der Galerie im Innern des Hauses geisterhaft die – was nicht gesagt, nur durch ein Medikamentenpaket vor der Haustür angedeutet wird – bereits von Demenz betroffene Mutter Katja, Thomas Manns Witwe. Ein durch seine atmosphärische Beschreibung einzigartiger Text.

Tier- und Menschenliebe

Oft nähren sich die Texte aus dem eigenen Erleben, wenig scheint erfunden. Von einer verletzten Möwe, die Schleef von der Straße aufhob und über ein Jahr lang in seinem Badezimmer, geborgen vor der Katze, pflegte, handelt die Erzählung „Arthur“. Liebevoll kümmerte er sich um das Tier, das sich immerzu Federn herausrupfte. Der Text war zuerst 1985 mit Zeichnungen des Autors in einer Auflage von 130 Exemplaren in der Mariannenpresse in West-Berlin erschienen. Jetzt ist er dank des vorliegenden Bands wieder verfügbar.

Dem Tagebuch 1978 ist die Erzählung von dem Pferd entnommen, das eine Frau auf ihre Etagenwohnung mitnimmt, nachdem man im Garagenhof den Stall abgerissen hat, damit sich Pferd und Autos nicht in die Quere kommen („Obstzentrale“). Mehrere Textauszüge stammen aus den Tagebüchern, die in mehreren Bänden im Suhrkamp Verlag erschienen sind. Und immer wieder geht es um Gertrud, die Mutter. Einar Schleef nimmt die Stelle des toten Vaters ein, schläft im Doppelbett auf der Seite des Vaters, während die Mutter auf der Couch schläft, auf der der Vater gestorben ist. („Heimkehr“)

Dreißig sehr unterschiedliche Texte, Erzählungen, autobiographische Aufzeichnungen, Tagebuch, Texte aus Programmheften oder zur Schauspielkunst spiegeln die einzelnen Lebensstationen – Kindheit und Jugend in Sangerhausen, Anfänge in Ost-Berlin, die Verpflichtung ans Burgtheater, die fünf Frankfurter Jahre, Berlin-West, Schleefs große Inszenierungen und seine Schriften.

Jelineks dringliche Lese-Empfehlung

Der Band wird abgeschlossen durch den Prosatext „Die Flüchtlinge“, den wir uns aus heutiger Sicht auch unter den Eindrücken der großen Zuwanderung im Sommer 2015 entstanden vorstellen können. Da war Schleef aber, der während der Proben zu Elfriede Jelineks Stück „Macht nichts“ 2001 einen Herzinfarkt erlitten hatte, bereits seit vierzehn Jahren tot. „Die Flüchtlinge“ stammt von 1999, ist dem Programmbuch des Wiener Burgtheaters zu Schleefs Umarbeitung und Inszenierung eines Goldoni-Stücks unter dem Titel „Wilder Sommer“ entnommen und schließt thematisch an Aischylos‘ „Die Schutzflehenden“ (Hiketides) an. Er beginnt: „Wir bitten nicht, wir fordern von euch Wohnung, Brot, Kleidung und Fleisch. Der Gast ist König am Tisch des Fremden, König in seinem Bett. Eingedenk, daß euch das träfe, was uns trifft, folgt dem alten Brauch.“ Die antike Schönheit des beinah jambischen Versmaßes erschließt sich vor allem durch den Vortrag im Chor.

„Bitte lesen Sie seine Bücher! Das muß sein!“, schrieb Elfriede Jelinek am 7.8.2001 nach Bekanntwerden von Schleef Tod in der „Frankfurter Rundschau“: „Es hat nur zwei Genies in Deutschland nach dem Krieg gegeben, im Westen Faßbinder, im Osten Schleef. Sie waren beide unersättlich, aber nur, um umso mehr geben zu können. Am Schluß haben sie sich selbst gegeben.“

Die vorliegende Auswahl ist ein idealer Einstieg, um Schleefs Bücher zu lesen. Es sollte nicht bei diesem einen bleiben.

Einar Schleef: „Und der Himmel so blau“. Ein Lesebuch. Zusammengestellt von Hans-Ulrich Müller-Schwefe, Elfenbein Verlag. Hardcover, 184 S., 22,00 Euro.

 

 




„Alles nur geklaut?“ – Dortmunder Schau auf Zeche Zollern zeichnet „abenteuerliche Wege des Wissens“ nach

Vorführung des von Karl Drais erfundenen Laufrades anno 1818 in Paris. (LWL/Repro: Hudemann)

Wichtige Station in der Erfindungsgeschichte des Rades: Vorführung des vom Karlsruher Karl Drais erfundenen Laufrades – anno 1818 in Paris. (LWL/Repro: Hudemann)

Das gibt’s beileibe nicht in jeder Ausstellung: In der Dortmunder Schau mit dem flotten Fragezeichen-Titel „Alles nur geklaut?“ (ebenfalls geklaut: beim gleichnamigen Song der „Prinzen“) wird das Rad gleichsam noch einmal neu erfunden.

Auch sonst werden „Die Abenteuerlichen Wege des Wissens“ (Untertitel) beschritten. Es geht um Entstehung und Weitergabe des Wissens, aber auch um Geheimhaltung und Spionage – mit historischen und aktuellen Weiterungen bis zum Datenschutz. Ein weites Feld, fürwahr, das da mit 370 Exponaten auf 1000 Quadratmetern ausgeschritten wird.

Symboltier der Ausstellung für „geklautes" Wissen: die diebische Elster. (Grafik: baier + wellach projekte / Golasch)

Steht als Symboltier der Ausstellung für „geklautes“ Wissen: eine diebische Elster. (Grafik: baier + wellach projekte / Golasch)

Kurz zurück zum Rad. Das älteste Exponat im Dortmunder LWL-Industriemuseum Zeche Zollern ist ein jungsteinzeitliches hölzernes Scheibenrad, aufgefunden im Moor bei Aurich und daher staunenswert gut konserviert. Es stammt aus der Zeit um 2350 v. Chr.

Sodann kann man wesentliche Entwicklungsschritte bis hin zum heutigen Formel-1-Reifen verfolgen. Zwischendurch hat eine holographisch erzeugte „Geistererscheinung“ ihren Auftritt. Da spricht im Kleinformat ein dreidimensionaler Schauspieler zu uns, stilecht gewandet als Freiherr Karl von Drais, welcher anno 1817 das Laufrad („Draisine“) erfunden hat. Gleich daneben kann man Drais‘ Antlitz als Lebendmaske bewundern, zusätzlich versehen mit echten Wimpern des Mannes. Ein Stück wie aus der Wunderkammer.

Diese Ausstellung arbeitet mit verschiedensten Medien und Methoden, um eben auch möglichst viele Menschen anzusprechen. Herkömmliche museale Exponate und Vitrinenstücke werden vielfach flankiert von künstlerischer „Intervention“ (mit einer Arbeit von Jean Tinguely bis hin zur Performance) und vor allem (multi)medialer Aufbereitung. Wo irgend möglich, geht es betont spielerisch zu, im nicht gar so schönen Neusprech gesagt: „Gamification“ genießt im Zweifelsfalle Vorrang.

Wer knackt die Codes in den Geheimkammern?

Ein Clou sind die sechs „geheimen Kammern des Wissens“. Nach dem Muster der schwer angesagten Escape Rooms (man darf ins Freie, wenn man vorher Rätsel gelöst hat) soll man in diesen abgetrennten Räumen knifflige Fragen beantworten und Codes knacken; natürlich alles auf freiwilliger Basis. Wer es schafft, wird in die „Loge des Wissens“ aufgenommen. Und selbstverständlich bleibt niemand, der die Antworten nicht findet, hilflos in der Raumzelle gefangen…

Die Loge in allen Ehren. Aufschlussreich ist aber schon der ganz normale Rundgang durch die Schau. Eingangs wird der Prometheus-Mythos aufgegriffen, demzufolge alles Wissen ursprünglich von den Göttern herrührt, das ihnen jedoch vom Menschen entwunden („geklaut“?) wurde.

Diese Installation bezieht sich auf den frühen Ruhrgebiets-Industriellen Friedrich Harkort, der sein Fachwissen auf Reisen nach England entscheidend erweiterte. War er Pionier oder Spion? Scherzhaft hat man gesagt: ein „Spionier". (Foto: LWL/Hudemann)

Diese Installation bezieht sich auf den frühen Ruhrgebiets-Industriellen Friedrich Harkort, der sein Fachwissen auf Reisen nach England erwarb. War er Pionier oder Spion? Scherzhaft hat man die Worte kombiniert: ein „Spionier“. (Foto: LWL/Hudemann)

Doch allmählich wurde offenbar, dass der Mensch auch selbst neues Wissen generieren konnte. Und zwar mit der Zeit dermaßen viel Wissen, dass es irgendwie gespeichert werden musste: Da steht man unversehens zwischen einem 243 Bände umfassenden Lexikon des Universalgelehrten Johann Georg Krünitz und einem Bildschirm mit Wikipedia-Zugriff. Vertreter dieser Online-Enzyklopädie wollen die Schau besuchen, Workshops veranstalten – und dabei auch um potenzielle Mitarbeiter werben, an denen es zunehmend mangelt; womit auch eine Frage zur Weitergabe des Wissens berührt wäre.

Wissen schützen, Wissen stehlen

Weitere Themen-Facette: der Schutz des Wissens und die Verletzung dieses Schutzes. Als sinnfälliges Beispiel dient die ehedem äußerst lukrative Porzellanherstellung, die über lange Zeit ein bestens gehütetes chinesisches Geheimnis blieb. Erst 1710 kam man im sächsischen Meißen auf den „Trichter“ (Kaolin hieß das Zauberwort), führend daran beteiligt war Samuel Stöltzel. Sein Expertenwissen galt unter August dem Starken quasi als Staatsgeheimnis. Stöltzel freilich übte Verrat. Er ließ sich vom Kaiser in Wien das wertvolle Wissen abkaufen – und kehrte hernach wiederum mit frischen Erkenntnissen um Porzellan-Bemalung nach Sachsen zurück. Ein Doppelagent also. Auch er begegnet uns als sprechendes Hologramm und versucht, seine Beweggründe zu erklären.

Besonderes Exponat: In sauerstoffarmem Wasser konservierte Turbopumpe einer V2-Rakete. (Foto: Bernd Berke)

Heikles Exponat: im sauerstoffarmen Wasser konservierte Turbopumpe einer V2-Rakete. (Foto: Bernd Berke)

An etlichen Stellen stößt man in der Schau auf Ambivalenzen und Widersprüche, manchmal auch auf schreckliche Untiefen: Wernher von Braun war mit seiner Raketenforschung zunächst den Nazis zu Diensten. In Dortmund sind Teile einer V2-Rakete, der in Peenemünde entwickelten, so genannten „Wunderwaffe“ zu sehen, bei deren Fertigung mindestens 12.000 Zwangsarbeiter aus dem KZ Mittelbau-Dora (Thüringen) ums Leben gekommen sind. Wissens-Weitergabe der überaus wendigen Art: Später war von Braun eine treibende Kraft der Raketenentwicklung und des Weltraumprogramms in den USA. Sein Weg führte sozusagen von Hitler zu Kennedy, was in Dortmund durch ein irritierendes Kippbild veranschaulicht wird. Allemal ist es ein Denk- und Lehrstück zur angeblich wertneutralen Wissenschaft.

Kein Patent auf Röntgenstrahlen

Manche Leute waren aufs Eigentum an Wissen bedacht, andere zeigten sich freigebig: Wilhelm Conrad Röntgen verzichtete tatsächlich auf ein Patent für seine bahnbrechende Entdeckung der Röntgenstrahlen (Ausstellungsstück: durchleuchteter Schädel Sigmund Freuds), er befand, solches Wissen gehöre der ganzen Menschheit. Konrad Adenauer kämpfte hingegen vergebens um ein Patent für eine ungleich geringere Erfindung. Der nachmalige Bundeskanzler hatte sich einen beleuchteten Stopfpilz ausgedacht…

Ein Exemplar der legendären deutschen Verschlüsselungs-Maschine „Enigma" aus dem Zweiten Weltkrieg. (LWL/Nixdorf-Museum/ Foto: Bernd Berke)

Ein Exemplar der legendären deutschen Verschlüsselungs-Maschine „Enigma“ aus dem Zweiten Weltkrieg. (LWL/Nixdorf-Museum/ Foto: Bernd Berke)

Um Geheimhaltung und Entschlüsselung geht es an einer anderen Station: Ein Exemplar des legendären, weil weltweit beispiellosen deutschen Verschlüsselungs-Apparats „Enigma“ steht für den Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg. Rund 10.000 Menschen arbeiteten in London an der Entschlüsselung deutscher Militär-Nachrichten, lediglich vier deutsche Fachkräfte waren als „Enigma“-Abwehr eingeteilt, wie Ausstellungs-Kurator Georg Eggenstein zu berichten weiß.

Bochum mit James Bond und Stasi

Natürlich konnte man auch diesen populären Aspekt nicht verschenken: In Sachen Spionage wirft man einen kecken Seitenblick auf James Bond, der ja bekanntlich aus dem heutigen Bochumer Stadtteil Wattenscheid stammt. Zudem wird die abenteuerliche Geschichte des Bochumer Stasi-Spitzels Karl Heinz Glocke angerissen, wie es denn überhaupt einige frappierende regionale Bezüge gibt.

Spionage-Chefin aus Dortmund setzte Mata Hari ein

Am erstaunlichsten vielleicht diese Verbindungslinie nach Westfalen: Haben Sie schon einmal den Namen Elsbeth Schragmüller gehört? Ihre Geschichte ist ein Thema für sich, sie ist wohl noch lange nicht auserzählt und dürfte weitere Recherchen lohnen. Die Frau wurde im später zu Dortmund gehörenden Vorort Mengede geboren und besaß offenbar einen scharfen analytischen Verstand. In Berlin brachte sie es im Ersten Weltkrieg zur Leitung der Spionage-Aktivitäten gegen den „Erzfeind“ Frankreich. Mancherlei Legende rankte sich um „Mademoiselle Docteur“. Genaueres wusste kaum jemand. Sie selbst hat sich – erst 1929 – nur ein einziges Mal öffentlich zu ihrer Funktion geäußert.

Verantwortliche Akteure des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (v. li.): LWL-Direktor Matthias Löb, Projektleiterin Anja Hoffmann, Dirk Zache (Direktor der Zeche Zollern) und Kurator Georg Eggenstein). (Foto: Bernd Berke)

Akteure des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), von links: LWL-Direktor Matthias Löb, Projektleiterin Anja Hoffmann, Dirk Zache (Direktor des Industriemuseums Zeche Zollern), Kurator Georg Eggenstein. (Foto: Bernd Berke)

Frau Schragmüller setzte auch die berühmte Mata Hari ein, die vormals halbseidene Tänzerin, die nach ihrer Bühnenkarriere weiter ein glamouröses Leben führen wollte und sich daher auf Spionage einließ. Hilfreich waren dabei ihre teils hochrangigen Nachtclub-Bekanntschaften. Auch dazu gibt es neue Einsichten, weil erst seit Ende 2017 die französischen Prozessakten gegen Mata Hari eingesehen werden dürfen. 1917, also 100 Jahre zuvor, hatte das Verfahren zur Hinrichtung der Spionin geführt.

Gar vieles könnte man noch erwähnen: Besucher-Selfies, die in einer Cloud auf Stoffbannern auftauchen; einschlägige Objekte zu „Fake News“ und sonstigen Fälschungen von Schülern aus Irland, Polen und Deutschland; eine ebenso niedliche wie gruselige Spielzeugpuppe, die ins Kinderzimmer hinein lauscht und in Deutschland verboten ist. Und, und, und. Nun ist’s aber auch genug der Vorrede: Ein Besuch der schlauen Schau ist schlichtweg ratsam.

„Alles nur geklaut? Die abenteuerlichen Wege des Wissens“. Vom 23. März bis zum 13. Oktober 2019. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund, Grubenweg 5. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 8 Euro, Kinder/Jugendliche (bis 17) frei. Katalog 29,95 Euro. Tel. Führungen/Museumspädagogik: 0231/6961-211. Internet: allesnurgeklaut.lwl.org




Ein Sprecher für die Sprachlosen sein – zum 90. Geburtstag des Dortmunder Schriftstellers Josef Reding

Unser Gastautor, der in Kamen lebende Erzähler, Lyriker und Maler Gerd Puls, würdigt den Dortmunder Schriftsteller Josef Reding zu dessen 90. Geburtstag am 20. März 2019. Es handelt sich um Auszüge des Nachworts zu einem Reding-Lesebuch, das Gerd Puls herausgegeben hat. Wir veröffentlichen den (stark gekürzten) Text mit freundlicher Genehmigung des Urhebers:

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch, aus dessen Nachwort Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch (2016 erschienen im Aisthesis-Verlag), aus dessen Nachwort die Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Josef Redings Erzählband „Nennt mich nicht Nigger“ war 1957 ein bemerkenswertes, erstaunliches Buch. Auch, weil es den Blick der deutschen Leser über den eigenen Tellerrand hinaus lenkte, in diesem Fall auf die Nöte und Bedrängungen der schwarzen Bevölkerung in den USA.

Sechzig Jahre später halte ich es immer noch für bemerkenswert, weil es nach wie vor ein realistisches Werk von hohem literarisch-sozialen Wert ist, moralisch und allgemein gültig; nicht nur für die 1950er Jahre, nicht nur in der Beschreibung US-amerikanischer Zustände. Ein Buch, das Partei ergreift für Erniedrigte und Ausgegrenzte, für Schwache und Bedürftige, für Opfer und Verlierer überall auf der Welt.

Josef Redings erster Kurzgeschichtenband liefert „24 realistische Erzählungen aus USA und Mexiko, die in moderner mitreißender Sprache das Problem des leidenden, verachteten Menschen behandeln“ – so der Klappentext des im Recklinghausener Paulus-Verlag erschienenen Buches. Es waren 24 short stories in der Tradition von Herman Melville, Marc Twain, Jack London, John Steinbeck, Ernest Hemingway oder Truman Capote.

Der in Castrop-Rauxel geborene (heute seit vielen Jahren in Dortmund lebende) Stipendiat Josef Reding schrieb die Kurzgeschichten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre während seines Studiums an einer Universität im mittleren Westen der USA. Nach eigenem Bekunden hatte er es schwer, seinen Verleger zu überzeugen, das Buch, das ein großer Erfolg und Redings literarischer Durchbruch wurde, überhaupt auf den Markt zu bringen.

Als die short story in Deutschland Einzug hielt

Die ursprünglich typisch amerikanische Textsorte short story hatte in den frühen 1950er Jahren in Deutschland Einzug gehalten, und unter den deutschen Autoren war der junge Josef Reding längst nicht der einzige. Kurzgeschichten und Erzählungen von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Wolfdietrich Schnurre fanden in den Nachkriegsjahren rasch ein großes Publikum. Doch die jungen deutschen Autoren kamen in den Schulen nur selten vor.

Als amerikanische Besatzungssoldaten Kurzgeschichten in ihrem Gepäck nach Deutschland brachten, fand vor allem die junge Generation nach ihrer von den Nazis verratenen und missbrauchten Kindheit rasch Zugang zu dieser neuen Form. So auch der aus einer Arbeiterfamilie stammende Josef Reding, der 1945 als 16jähriger Schüler im Ruhrgebiet noch im Kriegseinsatz war und als „Wehrwolf“ in amerikanische Gefangenschaft geriet.

Sprachliche Knappheit – typisch fürs Ruhrgebiet

Über seine Haltung zur Kurzgeschichte schrieb Reding: „Mich begeisterte die Ökonomie der Kurzgeschichte, die Einfachheit, die Klarheit der Sprache. Mich faszinierte der Anspruch, dem Leser nur zwei Daten zu überlassen in der Zuversicht, dass er genug Kreativität besitzt, um selbst zum Datum drei bis neun zu kommen. Heute bin ich sicher, dass mein spontaner Aufgriff der Kurzgeschichte auch mit der Ausdrucksweise der Menschen zu tun hat, unter denen ich aufgewachsen bin: den Menschen des Ruhrgebiets. In dieser Landschaft herrscht im sprachlichen Umgang das Knappe vor, eine anziehende Sprödigkeit des Ausdrucks. Der Gesprächspartner, der Kumpel, bekommt nur weniges mitgeteilt und muß sich auf manche karge Anspielung seinen ,eigenen Reim‘ machen, muß also mitdenken, mitdichten.“

Seine Themen waren vorgegeben durch den NS-Faschismus. Seine Erfahrungen als „Kind in Uniform“ und als „Wehrwolf“ veröffentlichte er bereits in den 1940er Jahren in Schülerzeitungen.

Den Blick für die Welt ringsum öffnen

Die Titelgeschichte und die meisten anderen Texte des Bandes „Nennt mich nicht Nigger“ schrieb er als Student in den USA, wo er mit Farbigen zusammenlebte und auch engen Kontakt zur Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King hatte. Über den Titel bemerkte er 1978: „Aber es wäre ein Mißverständnis, wollte man ihn nur auf die Situation der rassischen Minderheiten in den USA beziehen. Der Titel steht auch für andere Mitmenschen, die um ihrer Rasse, um ihres politischen Bekenntnisses, ihrer Herkunft, ihrer Religion willen verfolgt werden.“

Josef Reding blieb dem Genre der Kurzgeschichte bedingungslos verbunden, man darf ihn darin getrost einen wahren Meister nennen. Er wusste seine Haltung auch in späteren Texten, die nicht mehr in den USA, sondern in Lateinamerika, Asien, Afrika und natürlich in Deutschland und vor allem im Ruhrgebiet spielen, immer eindringlich und ehrlich zu vermitteln.

Gleichzeitig weisen die Geschichten aus der Beschränkung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der frühen Nachkriegsjahre hinaus, öffnen den Blick deutscher Leser wieder neu auf die Welt ringsum und werden zu literarischen Zeugnissen für die einfache Einsicht, dass Missachtung und Unterdrückung viele Farben und Facetten hat und dass zu allen Zeiten an allen Orten „der Sprachlose des Sprechers bedarf“, wie Josef Reding es formuliert hat.

Auch ein Chronist von Flüchtlings-Schicksalen

Nach dem Aufenthalt in den USA arbeitet er 1955/56 ein Jahr freiwillig im Grenzdurchgangslager Friedland, wo er zum Chronisten der Schicksale der Flüchtlinge und Spätheimkehrer wird, danach drei Jahre in Lepragebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Später wird er Mitglied der Synode der Bistümer der Bundesrepublik.

Für sein literarisches Gesamtwerk erhielt Josef Reding zahlreiche Preise, u.a. den Rom-Preis Villa Massimo, den Annette von Droste-Hülshoff-Preis, den Preis der europäischen Autorengemeinschaft KOGGE, den Preis für die beste Kurzgeschichte und den Literaturpreis Ruhrgebiet. Dass eine Hauptschule in Holzwickede im östlichen Ruhrgebiet bereits zu Lebzeiten seinen Namen trägt, sieht er als Auszeichnung, gleichzeitig als Verpflichtung.

Werner Schulze-Reimpell würdigte Redings Verdienste um die Kurzgeschichte in der „Deutschen Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Ein in unserer Gegenwartsliteratur schier vergleichsloser Meister dieser Form ist der Westfale Josef Reding. Redings Short-Stories werden gänzlich unprätentiös erzählt, ohne formale Verfremdung und aufdringliche Literarisierung, dafür mit einem hohen Maß von Authentizität, wie unmittelbar vor Ort recherchiert. Vor allem stimmen seine Menschen, ihre Sprache, ihre Art, sich zu geben und zu reagieren…“

Dabei dürfen spätere Erzählbände – und darüber hinaus – nicht unberücksichtigt bleiben. „Wer betet für Judas?; Allein in Babylon; Papierschiffe gegen den Strom; Reservate des Hungers; Ein Scharfmacher kommt“ lauten die Titel weiterer Bände im Bitter Verlag, in denen er für sein großes Thema immer wieder neue Schauplätze, Konstellationen und Varianten findet. So spielen viele der 25 Erzählungen der 1967 erschienenen Sammlung „Ein Scharfmacher kommt“ im Ruhrgebiet. Eindringlich prägnant und unverwechselbar spiegelt Reding in ihnen Menschen und gesellschaftliche und politische Verhältnisse in der im Umbruch befindlichen Industrieregion.

Christliche Ethik als moralisches Fundament

Christliche Ethik als moralisches Fundament, dazu das Ruhrgebiet als geografische Heimat, sind die wesentlichen Wurzeln, Fixpunkte und Richtschnüre, mit denen Redings Schreiben verknüpft ist. Die Menschen des Ruhrgebiets – genau wie die Flüchtlinge und Heimkehrer in Friedland und die Bewohner der Schwarzenviertel New Yorks, der Slums und Favelas Nairobis oder Sao Paulos – liefern die Bilder und Mosaiksteine zu Redings literarischem Werk.

In wenigen Aufsätzen und Sachtexten über das Ruhrgebiet (wie „Bauen allein genügt nicht“ oder „Faszination einer Werkstättenlandschaft“) kommt selbst Reding stellenweise nicht über gängige Klischees hinaus. Vielleicht auch ein Beleg dafür, wie schwer greif- und umsetzbar – und somit auch kaum allgemeingültig – Gesamtanalysen einer so komplexen Industrielandschaft mit ihren unzähligen Erscheinungsformen bleiben müssen; sogar für jemanden, der sich eigentlich bestens auskennt.

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Nachbemerkung der Redaktion:

Die Stadt Dortmund würdigt Josef Reding, der auch Mitglied der legendären Dortmunder Gruppe 61 war, am 1. April ab 17 Uhr mit einer Feierstunde im Studio B der Stadt- und Landesbibliothek (Eintritt frei). Dabei werden u. a. Autoren wie Gerd Puls, Heinrich Peuckmann, Volker W. Degener und Thomas Kade den Jubilar würdigen.




Paris zum Ersten, Zweiten und Dritten: Kent Nagano dirigiert das Orchestre Symphonique de Montréal in Essen

Kent Nagano, seit 13 Jahren Chef des Orchestre Symphonique de Montréal, bleibt den Kanadiern noch bis 2020 verbunden. (Foto: Wilfried Hösl)

Bis heute scheint das Orchesterstück „Jeux“ von Claude Debussy überschattet von dem beispiellosen Skandal, den Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ auslöste. Nur zwei Wochen lagen zwischen den beiden Uraufführungen im Mai 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées. Beide Stücke entstanden für das berühmte Tanzensemble „Ballet Russes“, beide wurden von Pierre Monteux dirigiert, beide gelten auf ihre Weise als Schlüsselwerke der Moderne. Gleichwohl hat Debussys einaktiges Tanzpoem bislang nicht ins gängige Konzertrepertoire hineingefunden.

Ob dies allein am unglücklichen Zeitpunkt der Premiere liegt oder auch am Ballettlibretto von Vaslav Nijinsky, dessen ästhetische Vorlieben weit entfernt waren von den Ansichten und dem Geschmack Debussys, sei dahingestellt. Doch bildeten „Jeux“ und „Sacre“ jetzt die Klammer für ein Konzert in der Philharmonie Essen, das trotz starker Konkurrenz als Höhepunkt der Saison durchgehen kann. Erhellend, ja in höchstem Maße aufschlussreich war die Programmfolge, die das Orchestre Symphonique de Montréal unter seinem langjährigen Chefdirigenten Kent Nagano im Gepäck hatte.

Debussys Partitur, von Komponisten wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez ob ihrer Fortschrittlichkeit hoch geschätzt, erfährt dabei eine späte, aber wunderbare Würdigung. Bereits die ersten Takte von „Jeux“ lassen aufhorchen. Es kann kein Zufall sein, dass hier eine archaische Atmosphäre anklingt, die Strawinskys „Sacre“ ungeheuer verwandt wirkt. Die frühlingshaft lichten Holzbläsersoli, die rätselhaft-raffinierten Klänge und Harmonien erscheinen wie eine Vorwegnahme dessen, was zwei Wochen später in die Welt hinaus dröhnen sollte.

Gewiss, es fehlen die schockierenden Schlagzeug-Eruptionen, die dem „Sacre“ rasch zur Unsterblichkeit verhalfen. Aber Kent Nagano und die Musiker aus Montréal machen Debussys Partitur zu einem ungeheuer vielschichtigen Ereignis, das harmonisch und auch seiner Form nach kaum weniger mutig erscheint als das Skandalstück des Exil-Russen.

Der Franzose Jean-Yves Thibaudet spielte das „Ägyptische Konzert“ von Camille Saint-Saëns. (Foto: Decca/Kasskara)

Es folgt eine Sternstunde des Pianisten Jean-Yves Thibaudet, der als einer der profiliertesten Saint-Saëns-Interpreten gilt. Diese Kompetenz kommt dem fünften Klavierkonzert des Franzosen („das Ägyptische“) in höchstem Maße zugute. Thibaudet trumpft mit Fingerfertigkeit und brillanter Virtuosität auf, ohne jemals in den Verdacht zu geraten, sich in bloßem Tongeklingel zu gefallen. Mit großem Feingefühl spürt er dem poetischen Tiefgang dieses farbenreichen Klavierkonzerts nach: seinen schillernden Exotismen, gipfelnd in arabischen Tonleitern und einem nubischen Liebeslied, das Saint-Saëns in Kairo den Schiffern auf dem Nil ablauschte.

Unter Thibaudets Zugriff hält zusammen, was weniger kundigen Interpreten leicht zu zerfallen droht: Passagen von Schubertgleicher Schlichtheit, kraftvolle Ausbrüche à la Rachmaninow, Liszt’sche Campanella-Glöckchen im Diskant. Der Franzose, seit langem eine feste Größe in der internationalen Pianistenszene, stellt sich mit dieser exzellenten Interpretation ein blitzsauberes Zeugnis aus.

Strawinskys Frühlingsopfer („Le Sacre du Printemps“), das im Untertitel „Bilder aus dem heidnischen Russland“ beschwört, lässt mindestens ebenso aufhorchen wie der Beginn dieses erstaunlichen Abends. Denn zunächst hämmert uns keineswegs der harte Sound des anbrechenden Maschinenzeitalters um die Ohren. Die Ostinati klingen vergleichsweise weich, die Klangflächen sind geprägt von französischer Clarté. Das mag zunächst verblüffen, hält den Fokus dieses Abends aber mit äußerster Konsequenz auf Paris. Die Wahlheimat des Exil-Russen drückt dieser Interpretation ihren Stempel auf.

Da Nagano auf erhöhte Podeste für die Bläser verzichtet, mithin alle Musiker auf der gleichen Ebene sitzen, entsteht zwischen den Gruppen eine erstaunliche Balance. Die gestopften Trompeten bringen im zweiten Teil Fernklänge mit purem Gänsehaut-Effekt. Manches Instrument scheint sich beinahe zu verstecken, und doch knüpfen Englischhorn und Bassflöte plötzlich an das ägyptische Kolorit des zuvor gehörten Klavierkonzerts an.

Hartes und Barbarisches muss der „Sacre“-Freund übrigens keineswegs ganz vermissen: Wenn die Pauken simultan losdröhnen, fährt es dem Hörer regelrecht in die Magengrube. Den Tanz des Opfers steigert Nagano bei vollkommener Kontrolle zu einem Hexenkessel, aus dem die Piccoloflöte heraus schrillt. So endet ein grandioser Abend mit einem zutiefst russischen Stück aus dem Geiste französischer Tonkunst.

(Die Reihe „Sinfonische Höhepunkte“ endet am 6. April 2019 mit dem Russian National Orchestra unter Dirigent Alain Altinoglu. Auf dem Programm stehen die „Chowantschina“-Ouvertüre von Modest Mussorgsky und Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie. Der Pianist Mikhail Pletnev spielt Sergej Rachmaninows 2. Klavierkonzert. Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/mikhail-pletnevrussian-national-orchestrarac-81418/2531/)




„Kein Wunder“ – ein enttäuschender Roman von Frank Goosen

Sommer 1989: Nichts ist mehr so, wie es mal war und doch hat sich (noch) nicht allzu viel verändert. Die Schulfreunde Förster und Brocki studieren vor sich hin, gehen altvertraute Wege, besuchen altvertraute Kneipen und wagen sich nur zaghaft an Neues. Weniger aus Angst vor dem Unbekannten als aus einem diffusen „Ist doch alles ganz nett so“-Gefühl heraus.

Ganz anders ihr alter Kumpel Fränge. Der hat immerhin einen kleinen Aufbruch gewagt. Nach Berlin hat er sich aufgemacht, angeblich vor der Einberufung „geflüchtet“. In Wahrheit wurde er ganz unprosaisch ausgemustert, aber auch sonst strickt er gerne an seiner eigenen Mär eines coolen und aufregenden Lebens. Fränge ernennt sich zum Weltenwanderer der Liebe, im Westen der geteilten Stadt unterhält er eine Beziehung zu Marta, im Osten zu Rosa.

Den ungleich größeren Aufbruch im Osten bekommt er dennoch lange nur am Rande mit. Erst als die Mauer durchlässig und seine Jonglage schwieriger wird, realisiert Fränge, dass er eigentlich mittendrin statt nur dabei war. Selbst die schwer auf sich konzentrierten Förster und Brocki bekommen bei ihrem Berlin-Besuch mehr von der Ost-Berliner Dissidenten-Szene mit.

Förster? Brocki? Fränge? War da nicht mal was? Die kennen wir doch? Richtig, die drei Spezialisten turnten schon mehr oder weniger unbedarft durch Goosens (nicht besten) Roman „Förster, mein Förster“. Da waren sie 30 Jahre älter, wenn auch nicht unbedingt weiser als in Frank Goosens neuem Roman „Kein Wunder“.

Praktisch für den Autor: keine Arbeit mit neuen Figuren

Praktisch für den Leser, da braucht er sich nicht schon wieder an neue Figuren zu gewöhnen. Noch praktischer für den Autor, braucht er doch keine neuen Figuren zu entwickeln. Noch praktischer für den Autor, in der Zeit zurückzugehen, hat man nicht soviel Arbeit mit der Weiterentwicklung von Charakteren. Führt unpraktischerweise nur leider beim Leser schnell zu Langeweile. Wieder von denselben Befindlichkeiten im einmal geschaffenen Mikrokosmos zu lesen, hat etwas zutiefst Ermüdendes. Vor allem, wenn man weiß, dass sie dreißig Jahre später immer noch nicht so viel weiter sind.

Die Werke des Bochumer Schriftstellers und Kabarettisten Frank Goosen werden gerne als eine Art Chronik des Ruhrgebiets u n d der Babyboomer-Generation verstanden. Möglicherweise fiel Goosen auf, dass in dieser Chronik die Zeit des Mauerfalls fehlte, möglicherweise war ihm die Zeit der Post-Pubertät mit seinem ersten Roman „liegen lernen“ noch nicht genügend abgearbeitet – was auch immer sein Motiv war, klar wird es nicht in „Kein Wunder“.

Sonst reicht es bei Goosen, wenn er wie sein Protagonist Förster agiert: „Zuschauen. Und sich alles merken. Und irgendwann aufschreiben“. Diesmal ganz und gar nicht. Es ist ohnehin selten eine gute Idee, wenn Menschen mittleren Alters sich am Coming of Age versuchen.

Wo ist die lockere Art von früher geblieben?

Goosen ist weit weg von seinem Mittzwanziger-Ich. Mehr als ein paar extrem bemühte Kratzer an der Oberfläche schafft das Buch nicht. Scheinbare Mühelosigkeit war sonst immer ein Markenzeichen des Autors. Ein Blick in das locker runtergeschriebene Nachwort reicht, um die Diskrepanz zwischen bisherigen Goosenschen Texten und der bemühten Krampfigkeit von „Kein Wunder“ zu erkennen.

Nicht einmal für einen nennenswerten Wiedererkennungswert reicht es. Beschreibt er einen reviertypischen Arbeiterhaushalt, sieht man sofort die Ekel-Alfred Kulisse vor sich, der frankophile Akademiker-Haushalt ist auch nicht mehr als eine platte Karikatur. Und die Befindlichkeiten der Freunde? Sorry, aber so oberflächlich waren die wenigsten in den 80ern. Dieses hingeschnodderte „Krupp/Thyssen – war da nicht mal was?“ – ein Armutszeugnis. Hat wirklich keiner in Bochum etwas von den Demos in Duisburg auf der Brücke der Solidarität mitbekommen?

Als die Ruhris nach Berlin aufbrachen

Genauso die Szenen aus der Nacht des Mauerfalls. Was will uns der Autor damit sagen? Neue Wege im Osten, neue Böden im Westen? Betroffenheit kommt erst auf, als Förster merkt, dass aus seinem Filmprojekt über den Niedergang des Ruhrgebiets nichts mehr wird. Die intellektuelle Avantgarde hat sich bereits vom Revieracker gemacht in Richtung Berlin.

Sollte es Goosen darum gegangen sein, die Chronik der Babyboomer um die Zeit des Mauerfalls zu vervollständigen, kann man nur sagen: das hat Sven Regener bereits deutlich berührender erledigt. Sollte es Goosen darum gegangen sein, den Stellenwert des Ruhrgebiets zu heben und den Hype um Berlin zu relativieren, dann sei ihm gesagt: Wissen wir schon. Ein alter Hut. Frag‘ er seine Omma: „Woanders ist eben auch Scheisse“.

So bleibt nach Lektüre der einzige Erkenntnisgewinn, dass die Aussage „reisen nach dem Ausland sind ….“ grammatikalisch falsch war. Prima, dass endlich einer darauf hinweist.

Frank Goosen: „Kein Wunder“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 352 Seiten, €20,00




Investigativ-Reporter Hans Leyendecker: „Wir hatten noch nie einen so guten Journalismus“

Als Gast beim Presseverein Ruhr in Dortmund: der prominente Journalist und aktuelle Kirchentagspräsident Hans Leyendecker. (Foto: Pal Delia)

Als Gast beim Presseverein Ruhr in Dortmund: der prominente Journalist und aktuelle Kirchentagspräsident Hans Leyendecker. (Foto: Pal Delia)

Dortmund. Es war quasi ein Heimspiel für Hans Leyendecker, als er bei der Jahreshauptversammlung des Pressevereins Ruhr zu Gast war. Denn der langjährige Redakteur der Süddeutschen Zeitung ist nicht nur seit Kindheitstagen bekennender BVB-Fan (mit Dauerkarte), er hat jetzt auch das Amt des Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentags inne, der vom 19. bis 23. Juni in Dortmund stattfindet.

Die ersten Begegnungen mit der Westfalenmetropole liegen aber schon über vier Jahrzehnte zurück, als er Redakteur der Westfälischen Rundschau (WR) war. Damals, so erinnerte er sich, sei es gelungen, den Mitbewerbern auf dem Medienmarkt Paroli zu bieten. Die WR habe seinerzeit publizistische Chancen genutzt und Akzente gesetzt. Lang ist’s her…

„Panama-Papers“ als Sternstunde des Berufslebens

Schon ein wenig nach Demut klang es, als Leyendecker schilderte, dass er 1979 eine Stelle beim Spiegel bekam. 1997 schied er im Streit. Mehrfach nannte Leyendecker den Namen Stefan Aust, lautstark müssen die Auseinandersetzungen gewesen sein. Sein Glück habe er dann bei der Süddeutschen Zeitung gefunden, bekannte der Journalist.

Die Recherchen und Veröffentlichungen zu den Panama-Papers waren für ihn eines der „größten Ereignisse seines Berufslebens, eine Sternstunde“. Dabei schwang auch ein bisschen Stolz mit, schließlich hatte das Investigativ-Ressort der SZ, das er lange Jahre leitete, „die Geschichte ausgegraben“.

Beeindruckend fand es Leyendecker vor allem, dass Journalisten aus 76 Ländern mitgearbeitet haben. Das Projekt gehört zu den Belegen für eine überraschende Einschätzung: „Wir haben noch nie einen so guten Journalismus gehabt“. Den Boom, den gerade der investigative Journalismus erlebe, den wiederum habe insbesondere Donald Trump bewirkt. Journalisten verfolgen, so Leyendecker, sehr genau, was denn der Mann im Weißen Haus jeden Tag treibe und twittere. In der Zeit seit dem Amtsantritt steigen die Auflagen einiger US-amerikanischer Zeitungen (u.a. New Yorker, New York, Washington Post).

Manche Verlage entwickeln sich zu „Bad Banks“

Dass in vielen anderen Zeitungshäusern die Realität durch gegensätzliche Entwicklungen geprägt ist, dürfe man nicht verkennen, meinte Leyendecker. „Die Auflagen sinken ins Bodenlose, das Anzeigengeschäft ist kaputt und das Digitale fängt das alles nicht auf“. Manchmal könne er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich Verlage zu „Bad Banks“ entwickelt hätten.

Wie sehr die Branche in Aufruhr sei, zeige der Fall Neven Du Mont. Der Verlag will Medienberichten zufolge seine Titel („Kölner Stadtanzeiger“, „Express“) zum Verkauf anbieten. Um sich für die Zukunft zu wappnen, sollten Zeitungen Print und Digital verknüpfen, meinte Leyendecker. Das werde „uns Journalisten“ schon gelingen.

Schwarzmalerei hält er – selbst angesichts der gefälschten Reportagen des ehemaligen Spiegel-Redakteurs Claas Relotius – für unangebracht. Bemerkenswert ist aus Leyendeckers Sicht vielmehr, wie es „ein begnadeter Schreiber“ und „Trophäenjäger“ geschafft habe, genau die Geschichten zu erzählen, die das Publikum auch genau so lesen wollte.

Mit Leidenschaft für die Menschenwürde

Leyendecker wünscht sich im Journalismus „mehr Zurückhaltung, weniger Zuspitzung und mehr leise und weniger laute Stimmen“. Und wenn man schon über „Basics“ spricht, dann passt es auch, auf die Bedeutung der Grundwerte und des Grundgesetzes, das die Pressefreiheit garantiert, hinzuweisen. Eindringlich forderte Leyendecker, dass sich Journalisten mit Leidenschaft für die Menschenwürde einsetzen sollten.

Er selbst bezeichnete sich als „gläubigen Menschen“ mit Gottvertrauen. Damit schlug er die Brücke zum Kirchentag, der das Motto trägt „Was für ein Vertrauen“. Vier Bundespräsidenten, der aktuelle und drei frühere Amtsinhaber, sind in Dortmund mit dabei. „Aber kein Obama wie 2017“.




Schauriges Vergnügen mit Hexen und Geistern: Aalto-Opernchor Essen singt Musik der „dunklen“ Romantik

Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Die Damen sind nicht unattraktiv: Rosige Wangen, wunderweiße Haut gleich Schwänen auf einem Teich, liebliches Nicken und Küsschen. Nur die grünen Haare sind etwas seltsam. Kein Wunder, dass der Schäferknab‘ seine Herde im Stich lässt. Das Ende ist weniger hold: Da senkt der Dichter Siegfried Kapper Grabesstille über den Wald.

Der heute kaum mehr bekannte Österreicher Robert Fuchs, bei dem von Korngold über Mahler und Schreker bis Richard Strauss viele Berühmtheiten studierten, hat das Gedicht „Die Waldinnen“ vertont. Erzählende Strophen, dichter Satz, kaum „romantische“ Effekte: Es wird hörbar, warum Fuchs (fälschlich) als Brahms-Epigone gilt. Der Essener Opernchor bringt die ins Unheimliche gebrochene Idylle geteilt in zwei Chöre: Die Stimmen der Waldfrauen sind aus der Erzählung ausgegliedert.

Ein gutes Dutzend solcher Kompositionen, dazu einige bekannte Nummern aus Opern präsentierte der Aalto-Openchor unter Leitung von Jens Bingert bei einem Konzert im ausverkauften Foyer des Theaters. Der Klangkörper hat es mehr als verdient, einmal einen eigenen Auftritt zu genießen. Denn Opernchöre haben es nicht leicht: Sie müssen ein vielfältiges Repertoire beherrschen. Abend für Abend erwartet man von ihnen präzises und klangvolles Singen, manchmal in akustisch ungünstigen Bühnenbildern.

Die Sängerinnen und Sänger brauchen viel Flexibilität für den raschen Wechsel von musikalischen und szenischen Proben zu Abendvorstellungen. Da gilt es, sich auf die Atmosphäre des Stücks einzustellen, ob skurrile Heiterkeit oder tragische Verdunkelung. Und dann geht die Kritik, wenn überhaupt, gerade mal in einem Satz auf das Ergebnis wochenlanger Arbeit ein.

Das Mägdlein folgt dem feuchten Kerl

Das Thema der 90 Minuten war Chormusik der „dunklen“ Romantik, unbegleitet oder vom Klavier (Christopher Bruckman) statt dem Orchester gestützt. In den Texten spielen Elfen, Hexen, und Wassergeister eine Rolle, so in Max Regers harmonisch anspruchsvollem „Jäger und Nixe“. In Robert Schumanns „Wassermann“ ist das Verführungs-Verhältnis auch einmal umgekehrt – da folgt das Mägdelein dem feuchten Kerl in den Neckar.

Bingert nutzt den Raum, um den Chor variabel aufzustellen und die Akustik auszureizen. Die wohl bekannteste Nummer, Friedrich Silchers „Loreley“ kommt vom Rang: Der Klang bricht sich und wird weich, während beim frontalen Singen, etwa in Heinrich von Herzogenbergs beschaulichem „Wie schön hier zu verträumen die Nacht im stillen Wald“ sich die Stimmen nicht ausreichend mischen und manch tremolierender Sopran überdeutlich heraustritt. Für den Mondchor aus Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ verteilen sich die Sängerinnen und Sänger im Raum. Der Zuhörer hat den Eindruck, vom Klang umflossen zu werden – ein Erlebnis, das die Bühne nicht bietet.

Gemessener Schauder in der bürgerlichen Stube

Deutlich wird, dass die „dunkle“ Romantik zwar mit dem Schauder spielt, ihn aber meist in wohliger Harmonie und gemessener Melodik zähmt. Zwei historische Balladen sprechen von der Sehnsucht nach vergangener Zeit, in Ludwig Uhlands „Harald“ von entrücktem Heldentum, in Friedrich Rückerts „Der alte Barbarossa“ mit einer deutlichen, damals wohl politisch virulenteren Sehnsucht von „des Reiches Herrlichkeit“. Joseph Rheinberger und Friedrich Silcher vertonen diese Texte mit einer musikalischen Imagination der Szene – dem Reiter-Rhythmus in „Harald“ etwa, oder der geisterhaften Atmosphäre und der „altertümlichen“ Tonart im „Barbarossa“ – und der Chor singt diese Momente mit Theater-Instinkt und einer klanglichen Bandbreite zwischen satter Präsenz und geisterhaftem Piano.

Grusel für die Bürgerstube; die Ausnahme schaffen Giuseppe Verdi und Richard Wagners. Die Hexen aus „Macbeth“ mögen zunächst harmlos, fast tänzerisch klingen, aber das scharfe Martellato der Begleitung und die basslosen, fahlen Stimmen machen sie zu unwirklichen Wesen einer Sphäre jenseits des Fasslichen. Und Wagners „Holländer“-Gespenster sind unheimlich-aggressive Wesen. Da teilt sich der Aalto-Chor, singt von unten, und aus dem Treppenhaus steigt Nebel des Grauens auf. Fazit: Schauriges Vergnügen mit meist kaum mehr bekannter Musik.




Genozid in den afrikanischen Kolonien: Schauspiel Köln gibt Herero und Nama eine Stimme

Foto: David Baltzer/ Schauspiel Köln

Foto: David Baltzer/ Schauspiel Köln

Es war Völkermord: Der Theatermacher Nuran David Calis, der sich in Köln mit der Keupstraßen-Trilogie, in der er die NSU-Morde thematisierte, einen Namen gemacht hat, widmet sich nun in seiner neusten Uraufführung am Schauspiel Köln einem weiteren dunklen Kapitel der deutschen Geschichte: dem Genozid an den Herero und Nama, den die Kolonialmacht des Deutschen Kaiserreiches zwischen 1904-1908 im heutige Namibia in Südwestafrika verübte.

Formal geht er dabei bewusst über die Mittel des Dokumentartheaters hinaus, derer er sich zwar für die Veranschaulichung der Thematik bedient, die er aber hin zum Diskurstheater überschreitet.

Denn in Köln sitzen die Vertreter und Nachfahren der Herero und Nama mit auf der Bühne und formulieren explizit ihr Anliegen an die deutsche Gesellschaft, in diesem Falle das Publikum: Sie fordern eine Entschuldigung für das Leid, das ihren Großeltern und Urgroßeltern angetan wurde, sie fordern die Rückgabe von Artefakten und, so makaber es klingt, von sterblichen Überresten ihrer Vorfahren, die immer noch in deutschen Museen lagern. Und sie fordern Reparationszahlungen an die Herero und Nama.

Aktuelle Politik ragt in die Aufführung hinein

In New York haben sie Deutschland jüngst deswegen verklagt, der erste Versuch war nicht erfolgreich, die Klage wurde letzte Woche abgewiesen, aber die Nachfahren wollen in Berufung gehen, wie sie sogar auf der Bühne bekräftigen – so ragt die aktuelle Politik in die Aufführung hinein.

Ein wenig aus der Zeit gefallen wirkt es allerdings schon, wie Talita Uinuses, Israel Kaunatjike und Julian Warner an einem altmodischen Kaffeetisch sitzen und ihre Geschichte erzählen. Dabei ist die Schilderung der Grausamkeiten teilweise schwer auszuhalten: Wie Menschen versklavt, gefoltert, getötet wurden, wird aus vielen historischen Dokumenten sowie Fotos und Filmen deutlich.

Beschämende Befunde

Im Hintergrund symbolisieren drei Schauspieler in die Kutten der ersten Missionare in Südwestafrika verkleidet und mit schauerlichen Masken angetan, den Umschlag von christlicher Nächstenliebe in Unterdrückung und Rassismus, je mehr die deutsche Kolonialmacht mit ihren gnadenlosen Militärs damals die Oberhand gewann.

Und, ja, es ist beschämend, wenn man so im Publikum sitzt und hört, wie Kolonialbeamte in Berlin 1906 in ihren Akten darüber schwadronieren, ob man nun zur Züchtigung der „Hottentotten“ lieber eine Nilpferdpeitsche oder ein Tauende benutzen sollte. Wer jetzt nicht über das üble Gift des Rassismus und wie es bis heute in Gesellschaften wirkt, nachdenkt, dem ist wohl tatsächlich nicht mehr zu helfen.

Wird das Leid letzten Endes ästhetisiert?

Allerdings nimmt die Inszenierung dann nochmal eine interessante Wendung, indem der Aktivist Julian Warner das ganze Unterfangen auf der Bühne in Frage stellt und die Aufführung selbst als Ästhetisierung des Leids für verfehlt erklärt. Der Schauspieler Stefko Hanushevsky widerspricht ihm heftig: Warum sollte man nicht mit theatralen Mitteln ein solches Thema verhandeln und die Zuschauer dafür sensibilisieren können? Dass darüber bis zum Schluss keine Einigkeit zu erzielen ist, ist fast folgerichtig.

Trotzdem hängen politischer Apell sowie dessen Umsetzung in bühnenwirksame Bilder irgendwie ein wenig in der Luft: Vielleicht, weil das Publikum den Diskurs letztlich nur als stumme Masse verfolgt und selbst nicht zum Akteur werden kann? Vielleicht weil die Gesellschaft, die hier angeklagt wird, nur teilweise im Zuschauerraum sitzt? Eines erreicht der Abend aber auf jeden Fall: Er lässt einen nicht kalt…

Karten und Termine: Schauspiel Köln




Buchstabierter Bruckner und „exotischer“ Ravel bei den Essener Philharmonikern

Fremde Worte, flirrende Klänge, freche Rhythmen, fließendes Melos: Der Exotismus hatte das musikalische Europa im Griff, als der junge Maurice Ravel mit den „Großstadtindianern“ der Gruppe „Les Apaches“ durchs nächtliche Paris zog.

Die Mezzosopranistin Julie Boulianne. Foto: Julien Faugère

Die Mezzosopranistin Julie Boulianne. Foto: Julien Faugère

Auch Griechenland war im Sinne des faszinierend Fernen „exotisch“: Ravel lernte durch einen Apaches-Freund, den griechischstämmigen Michel-Dimitri Calvocoressi – dem er „Alborada del gracioso“ gewidmet hat – die Melodien kennen, die von der Insel Chios stammen sollen. Er umkleidete sie mit einer zart-farbigen Instrumentierung und harmonisierte sie satt von Chromatik und prickelnd spannungsreichen Akkorden.

Die Lied-Miniaturen „Cinq mélodies populaires grecques“ eröffneten das Siebte Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker und Julie Boulianne ließ sich nicht auf vordergründig folkloristischen Ton ein: Sie hält ihren Mezzosopran neutral in der Farbe, gestenarm in der Artikulation, ohne rhetorische Effekte. Da war der distanzierte Ton zu vernehmen, wie ihn etwa Teresa Berganza pflegte, wenn sie spanische Lieder sang: eine verhaltene Glut im Stimmklang, delikates Sfumato, aber eben keine naive Erzählhaltung.

Auch Ravels „Shéhérazade“-Gesänge – Reflexe auf eine geplante Oper, von der nur eine fertiggestellte Ouvertüre zeugt – bleiben frei von Effekt. Julie Boulianne singt sie wie eine noble Arie von Cherubini, nicht wie Miniatur-Theaterszenen. Das ist letztendlich eine Frage des Geschmacks: Eine Sängerin von anderem Temperament würde sicher das Doppelbödige, die feine Ironie, auch die erotische Innenspannung von „L‘ indifférent“ schmeichlerischer, rhetorischer zum Ausdruck bringen.

Die Essener Philharmoniker sind sensible Partner in der fragilen Balance von Stimme und Instrumentalklang, ob in schwebendem Pianissimo der Streicher oder in den Dialogen von Flöte und Oboe mit der Singstimme.

Die Sinfonie findet nicht zu sich selbst

Hans Graf, Gast am Pult der Philharmoniker, hatte für Ravels ziselierte Klanglandschaft eine glücklichere Hand als für das sinfonische Hochgebirge aus seiner Heimat Österreich, Anton Bruckners Dritte Sinfonie, leider wieder einmal in der verbreiteten, für das Gastiergewerbe wohl daher idealen dritten Fassung von 1889, die dem Musikwissenschaftler Egon Voss zufolge „unübersehbar pragmatischen Charakter trägt“. Es drängte sich der Eindruck einer routiniert einstudierten Aufführung auf, die weder en detail ausgearbeitet noch gar mit einer persönlichen Signatur versehen war.

Schon der Beginn mit den punktierten Achtelgruppen der Violinen, den leisen Wellen der Bratschen, den weiten Holzbläserlinien, dem sanften Horn-Einsatz und der Solo-Trompete mit ihrer thematisch wichtigen Triole startet nicht „misterioso“, sondern so laut, dass die Crescendo-Wirkung zum fortissimo-marcato Höhepunkt lasch bleibt. Die weit geschwungenen Streicher bleiben spröde, auch wenn das „Gewirk“ der Polyphonie von Graf durchhörbar gehalten wird. Dem Rhythmus fehlt der Impetus, der ihm einen drängend-dynamischen Charakter geben könnte; erst im hymnischen Höhepunkt der Durchführung und mit der Reprise stellen sich Bezüge ein, die so etwas wie eine innere Logik hörbar machen.

Der innige Beginn des zweiten Satzes gelingt ruhevoll und durch eine behutsame Betonung der tiefen Streicher apart üppig; auch das allmähliche Anwachsen innerer Bewegung vermittelt Graf sinnig. Dann aber gerät der Satz – bei durchaus schlüssigem Tempo – zu sehr ins Buchstabieren disparat wirkender Teile. Das Scherzo hat mehr Temperament und eine von abwechslungsreicher Dynamik gestärkte Kontur; im Finale triumphiert der Wille zum Brachialen, weniger zur Beleuchtung der zerrissenen Gegensätze von Polka und Choral. Verrauchter Glanz im Blech beendet eine Sinfonie, die nicht zu sich gefunden hat.

Im April bringt das 8. Sinfoniekonzert am 4. und 5. April in der Philharmonie Essen Werke von Hans Werner Henze, Georg Muffat und Antonio Vivaldi; am 25. und 26. April stehen Carl Orffs „Carmina burana“ mit dem Collegium Vocale Gent unter Ivor Bolton auf dem Programm. Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de




Es geht noch viel: TuP-Festtage in Essen mit Aribert Reimanns „Medea“ und einer spartenübergreifenden Uraufführung

Freuen sich auf die TUP-Festtage 2019: Schauspielintendant Christian Tombeil, TUP-Geschäftsführer Berger Bergmann, der stellvertretende Ballettintendant und Ballettmanager Marek Tuma, Musiktheater- und Philharmonieintendant Hein Mulders sowie Oliver Bohnenkamp, Vorstandsmitglied der Sparkasse Essen. Foto: TuP

Freuen sich auf die TUP-Festtage 2019 (v. li.): Schauspielintendant Christian Tombeil, TUP-Geschäftsführer Berger Bergmann, der stellvertretende Ballettintendant Marek Tuma, Musiktheater- und Philharmonieintendant Hein Mulders sowie Oliver Bohnenkamp, Vorstandsmitglied der Sparkasse Essen. Foto: TuP

Rien ne va plus – das ist ein aus dem Casino geläufiger Satz, wenn im laufenden Spiel nichts mehr geht. Ein etwas gekünstelter Titel für die TuP-Festtage Kunst in Essen. Denn zum Glück geht in der Zeit vom 22. bis 31. März eine Menge: Premiere der Reimann-Oper „Medea“ am Aalto, drei beliebte Ballettproduktionen, die deutsche Erstaufführung von Robert Menasses Europa-Stück „Die Hauptstadt“ im Grillo-Theater. Und erstmals ein spartenübergreifendes Projekt.

Musiktheater, Ballett und Schauspiel realisieren in der Casa im Grillo eine gemeinsam erarbeitete Inszenierung: „Schließ deine Augen – Rien ne va plus“ heißt das Stück, in dem Tänzer, Sänger und Schauspieler gemeinsam agieren und ihre Spartengrenzen ein wenig überschreiten. Für die Uraufführung am Mittwoch, 27. März, 19 Uhr, dürfte es ratsam sein, sich rasch Karten zu sichern: Die Casa hat ein begrenztes Platzangebot. Weitere Vorstellungen: 30. März und 5. Mai.

Fünf Sparten sind am Programm beteiligt

Verdis "Luisa Miller" wird zum letzten Mal wiederaufgenommen: Szene aus der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs. Foto: Matthias Jung

Verdis „Luisa Miller“ wird zum letzten Mal wiederaufgenommen: Szene aus der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs. Foto: Matthias Jung

Für alle anderen Vorstellungen sind noch ausreichend Tickets zu bekommen. Bei manchen heißt es nach den TuP-Festtagen tatsächlich „rien ne va plus“: Dietrich Hilsdorfs Inszenierung der Verdi-Oper „Luisa Miller“ (Wiederaufnahme am 30. März) verabschiedet sich nach dieser letzten Vorstellungsserie aus dem Repertoire des Aalto-Theaters; dafür kündigt Intendant Hein Mulders die Rückkehr des einstigen Essener Stamm-Regisseurs in der Spielzeit 2019/20 an. Abschied nehmen müssen die Ballett-Fans auch von Stijn Celis‘ Choreografie von „Cinderella“. Sie steht am 31.März letztmals auf dem Spielplan des Aalto-Theaters.

Mit Spannung erwarten dürften Opern-Liebhaber die Neuinszenierung von Aribert Reimanns „Medea“, uraufgeführt 2010 an der Wiener Staatsoper und dort – wie bei der Übernahme in Frankfurt und bei einer zweiten Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, geleitet vom Bochumer GMD Steven Sloane – vom Publikum gefeiert.

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Peter Andersen

Der 83jährige Komponist hat sein Kommen angekündigt. Premiere ist am Samstag, 23. März, 19 Uhr. Am Tag zuvor, 22. März, eröffnen um 16.30 Uhr die Intendanten der fünf TuP-Sparten die Festtage; anschließend gibt es eine „Teatime“ im Aalto-Foyer mit einer Einführung in die auf Franz Grillparzers „Das goldene Vlies“ fußende Oper Reimanns.

Zerstörte Existenzen, Schicksal und Schuld als Themenkomplexe

Zerstörte Existenzen, Schicksal und Schuld, aber auch glückliche Fügungen: Um diese Themenkomplexe kreisen die Vorstellungen der TuP-Festtage. In der Uraufführung „Schließ deine Augen – Rien ne va plus“ nehmen die Regisseure Marijke Malitius und Sascha Krohn gemeinsam mit dem ehemaligen Aalto-Tänzer und Choreografen Igor Volkovskyy die Frage auf, wie es wohl wäre, ewig Kind zu bleiben, die Träume der Kindheit zu leben und die von Macht strukturierte Welt der Erwachsenen zu meiden. Die Sicht der Kinder Medeas, die Weigerung, erwachsen zu werden in „Peter Pan“ und die geheimnisvolle Marionettenwelt in Maurice Maeterlincks „Der Tod des Tintagiles“ sind die stofflichen Kreise, um die sich die von Gesa Gröning ausgestattete Produktion drehen soll.

Star-Sopran Maria Agresta singt Verdi. Foto: Alessandro Moggi.

Star-Sopran Maria Agresta singt Verdi. Foto: Alessandro Moggi.

Musikalisch bietet die Philharmonie Essen ein Jugendkonzert mit Filmmusik am 22. März mit der Neuen Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann, am 23. März eine „Hommage á Bach“ mit dem Organisten Christian Schmitt und am 24. März, 11 Uhr, das Debüt der Geigerin und Stipendiatin von Anne-Sophie Mutter, Noa Wildschut. Die 18jährige Niederländerin bringt als Klavierpartnerin Elisabeth Brauß mit, ein Klaviertalent der jungen Generation. Am Abend ist eine Geigerin mit internationaler Karriere zu erleben: Isabelle Faust spielt das Brahms-Violinkonzert, am Pult agiert Philippe Herreweghe.

Geballte Musik-Highlights gibt es auch am Sonntag, 31. März: Um 11 Uhr spielt der Trompeter Gábor Boldoczki mit der Philharmonia Prag reizvolle Konzerte aus dem böhmischen Raum, u. a. von Johann Baptist Georg Neruda, Johann Nepomuk Hummel und Johann Baptist Vanhal. Und am Abend ab 19 Uhr verzaubern Star-Sopran Maria Agresta und die Essener Philharmoniker mit Ouvertüren und Arien von Giuseppe Verdi, darunter nicht nur die üblichen Schlager, sondern etwa die Ballettmusik aus „Macbeth“ und einer Szene aus Verdis erster Oper „Oberto, Conte di San Bonifacio“.

Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de

 




Spott über Promis, Herrschende, Wundergläubige, über alles und jedes – Die Herren Gsella, Rohm und Booß legen los

So. Jetzt verderb‘ ich’s mir mal wieder mit ein paar Leuten. Wie das? Nun, gleich drei staunenswert produktive Herren haben jüngst neue Bücher herausgebracht. Mit zweien bin ich per Facebook virtuell verbunden, den dritten kenne ich aus beruflichen Zusammenhängen persönlich. Und jetzt schicke ich mich an, die Neuerscheinungen kurz vorzustellen. Oha!

Gegenstücke zur polizeilichen Maßnahme

Naja, alles halb so wild. Der erste Kandidat ist vielleicht der prominenteste (wusch, sind die beiden anderen schon vergrätzt…), er heißt Thomas Gsella und kann Gedichte reimen, bis die Schwarte kracht – wie nur je eine literarische Rampensau. Sein neuer Band trägt den quasi amtlichen Titel „Personenkontrolle“ und spießt vor allem Promis jeder Couleur auf die Gabel. So ziemlich in jedem Gedicht gibt’s eine überraschende Volte, die geeignet ist, befreiendes Gelächter auszulösen. Das muss man erst mal zuwege bringen.

Während die Personenkontrolle sonst eine polizeiliche Maßnahme ist, die sich oft genug (meist / immer) gegen die ohnehin Beherrschten wendet, richtet Gsella das verbal geschärfte Instrumentarium vornehmlich gegen Herrschende und/oder Begüterte. Seit dem Frühjahr 2013 verfolgt er das Projekt auf der Humorseite des „Stern“, im selben Jahr setzt auch das Buch ein. Der neueste Text in diesem Kompendium stammt von 2019.

Zu allermeist stehen die lyrischen Interventionen unter dem guten alten Sarkasmus-Motto „Warum sachlich, wenn’s auch persönlich geht?“ Nur mal ein kleines Beispiel unter der Überschrift „Weltfußballverband“, mal nicht einer einzelnen Person zugeeignet:

Du bist schon völlig unten und
Willst gerne noch viel tiefa?
Dann schule um auf Lumpenhund
Und gehe in die Fifa!

Du korrumpierst gern exzessiv
Auf Superluxusreisen?
Dann mache deinen Meisterbrief
Bei geisteskranken Greisen!

Na, und so giftig weiter. Aus Urheberrechtsgründen wollen wir hier nicht seitenweise zitieren. Wie bitte? Ja, gewiss, das ist kein Goethe, kein Rilke und kein Hölderlin – und will es natürlich auch gar nicht sein. Da scheppert so mancher Reim bis nah an die Schmerzgrenze, doch Gsella lässt sich eben sehr gezielt aus der Kurve tragen und kann notfalls auch gar zierliche Verse klöppeln. Letztlich beherrscht er souverän die Mittel, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, die auf möglichst entlarvende Komik hinausläuft. Und darauf kommt es an.

Thomas Gsella: „Personenkontrolle. Leute von heute in lichten Gedichten“. Verlag Antje Kunstmann. 192 Seiten. 16 €.

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Bis kein Wort mehr verlässlich ist

Auf seine Art nicht minder kreativ ist der aus der beschaulichen Domstadt Fulda stammende Guido Rohm. Doch er hat nichts „Provinzielles“ an sich. Diesem funkelnden, irrlichternden Geist ist nichts, aber auch gar nichts „heilig“.

Vor allem scheint dieser Wort-Kobold nichts ernst nehmen zu können. Auch die seinem Buch beigegebenen Allgemeinen Lesebestimmungen (ALB) und selbst die Angabe zu Satz und Druck („Gesetzt aus der Vollkorn von…“) zeugen davon.

In seinem neuen Band „Tyrannei in Senfsoße“ versammelt er abermals zahllose ultrakurze Dialog-Szenen, die sich allemal rasch in schiere Absurdität und Widersinnigkeit fräsen. Seine grotesk typisierten Personen verrennen sich immerzu in den Untiefen von Missverständnissen, verheddern sich in den Fallstricken der Logik – bis kein Wort mehr seine herkömmliche, verlässliche Bedeutung behält und kein Vorgang mehr von „Vernunft“ angekränkelt ist.

Bei Facebook kann man tagtäglich in nuce beobachten, wie solche Dramolette (oder wie soll man das Genre nennen?) entstehen, Guido Rohm kann immer wieder aus einem Füllhorn verrückter Einfälle schöpfen und bringt es sozusagen auf einen gehörigen „Ausstoß“. Die Resultate sind häufig so „abgedreht“, dass man die Lektüre in Buchform füglich rationieren sollte. Mal hier ein paar Stückchen, mal da ein paar Bröckchen. So ist’s recht und bekömmlich.

Doch fragt man sich auf Dauer, ob Rohm unentwegt bei solchen (gekonnt und geradezu routiniert ausgeführten) Etüden bleiben möchte – oder ob er sich eines Tages anderen Formen und Inhalten zuwendet. Nein, von ihm ist wohl nicht der – Trrrrremolo-Stimme – grrrroße Roman zum Stand der Dinge zu erwarten; vielleicht aber ein ausgemachtes Schelmenstück etwas weiteren Zuschnitts. Darf man hoffen?

Guido Rohm: „Tyrannei in Senfsoße. Texte für stille und laute Örtchen“. Schräg Verlag (in 86949 Windach), 260 Seiten, Taschenbuch, 13,91 € (sic!). Vertrieb vor allem über den Verlagsshop.

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Was die menschliche Torheit vermag

Rutger Booß hat bis vor ein paar Jahren den von ihm gegründeten Grafit-Verlag in Dortmund betrieben, der sich vor allem mit Regionalkrimis hervortun konnte. Inzwischen frönt er schreibend ganz anderen Vorlieben.

Vor einiger Zeit hatte er ein streckenweise hundsgemeines Ulk-Buch über Rentner („Immer diese Senioren!“) vorgelegt, jetzt macht er sich über Wunder- und Aberglauben so mancher Sorte lustig. Der Mensch hat halt so seine Steckenpferde.

Man sollte denken, dass sich das Thema „Wunderglaube“ weitgehend erledigt hat, doch in Zeiten von Verschwörungstheorien und Fake News wackelt generell das Gerüst der einst so mühsam errungenen Aufklärung.

Und so sammelt Booß unter dem spöttischen Titel „Wer’s glaubt, ist selig“ unverdrossen Beispiele für „Wunder“ in Religion, Politik und Fußball – Bereiche, die eben besonders anfällig für allerlei Zinnober sind.

Man mag einwenden, dass derlei Unternehmungen auch etwas Wohlfeiles an sich haben. Egal, hin und wieder schaut doch mancher Spaß heraus. Jedenfalls für notorische Skeptiker, die hier reichlich Material über die menschliche Torheit der wesentlichen Epochen vorfinden. Das irrwitzige Spektrum reicht von der göttlichen Vorhaut über Nostradamus bis zum fliegenden Spaghettimonster.

Und der Effekt? Nach dieser Lektüre traut man sich kaum noch, irgend etwas zu glauben…

Rutger Booß: „Wer’s glaubt, ist selig! Eine kurze Geschichte der Wunder und warum wir an sie glauben“. Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, 280 Seiten, Paperback, 12,99 €.

 




Botschaften aus Theresienstadt: Der Bariton Benjamin Appl und Liedpianist James Baillieu zu Gast im Konzerthaus Dortmund

Der Bariton Benjamin Appl stammt aus Regensburg und lebt in London (Foto: Uwe Arens)

Wer Benjamin Appl unbedingt in eine Schublade stecken möchte, wird damit Schwierigkeiten bekommen. Zwar gilt der 37-jährige Bariton aus Regensburg als exzellenter Liedsänger, aber er tritt auch in der Oper und im Konzert auf.

Das Etikett vom „hoffnungsfrohen Lied-Talent“ bleibt gleichfalls nicht recht haften an einem, der in den großen Konzertsälen Europas singt, bereits an der renommierten Guildhall School of Music & Drama in London lehrt und seit 2016 bei einem großen Plattenlabel unter Vertrag steht.

Sein Debüt im Konzerthaus Dortmund gab der letzte Privatschüler von Dietrich Fischer-Dieskau im Februar 2016 in der Reihe „Junge Wilde“. Jetzt kehrte er mit dem Pianisten James Baillieu zurück: Im Gepäck ein Programm, das wagemutig zwischen Kunstlied, Operette und Chanson balanciert. Orientalische Lyrik des persischen Dichters Hafis, vertont von den Komponisten Victor Ullmann und Johannes Brahms, trifft darin auf die opulente und todessehnsüchtige Romantik von Erich Wolfgang Korngold, auf einige „Wunderhorn“-Vertonungen von Gustav Mahler und auf Lagerlieder aus dem KZ Theresienstadt.

Für Victor Ullmanns „Liederbuch des Hafis“ stimmt Appl zunächst einen ironischen Tonfall an. Herrlich heuchlerisch klingt das, wenn er den Dichter über die Größe Allahs räsonieren lässt: Dessen vorausbestimmende Allmacht mache es ihm ja ganz unmöglich, nicht durch Wein und Weib zu sündigen. Das Zeugnis, das der Poet sich im Lied „Betrunken“ selbst ausstellt, fällt gleichwohl miserabel aus. Wut und Scham über die eigene Schwäche brechen sich Bahn. Appl findet für sie ingrimmig bebende, ja gallig gefärbte Töne.

Danach wird die Stimmung weicher, träumerischer. Frauenschönheit, Liebe und Güte klingen an, bei Victor Ullmann frei zwischen Dur und Moll schwebend, bei Johannes Brahms mit inniger, gleichwohl verhaltener Glut. Dank der Kunst des vorzüglichen Pianisten James Baillieu dringt Appl hier bis zu jenem abgeklärten Tonfall vor, wie man ihn aus den Intermezzi von Johannes Brahms kennt. Baillieu gehört zu jenen Zauberern, die ganze Seelenlandschaften entstehen lassen, sobald sie nur die Tasten berühren. Er ist einer jener wundersam diskreten Kulissenschieber, die jedem Kunstlied nahezu unbemerkt, aber äußerst wirkungsvoll die Szene bereiten.

Benjamin Appl war 2014 „New Generation Artist“ der BBC und erhielt 2016 den „Gramophone Award“ als „Artist of the Year“.(Foto: Uwe Arens)

Ein Lied von Hans Gál, einem Enkelschüler von Johannes Brahms, leitet über zur üppigen Romantik des nach Amerika emigrierten Österreichers Erich Wolfgang Korngold. Nun wird der Abend beinahe zu samtpfötig. Appls Bariton klingt schmeichlerisch sonor, aber zuweilen auch gleichförmig glatt. Der Dialog in „Der Knabe und das Veilchen“ erschließt sich dem Programmheftleser, aber nicht dem Hörer, weil Appl kaum die Stimmfarbe wechselt. Da fehlt es (noch) an charakteristischer Ausformung und Gestaltung.

Weit wirkungsvoller rühren Sänger und Pianist in Gustav Mahlers „Wunderhorn-Liedern“ die Kriegstrommel. Tieftraurig ist das Licht, das sie auf den einfachen Soldaten werfen, der Abschied nehmen muss von Heimat und Liebe. Das scheinbar fröhliche „Trallalei“, mit dem er dem Tod entgegen marschiert, schwillt bei Appl und Baillieu zu einem bitterbösen Schreckensgesang. Ferne Hornsignale, Verzweiflung, Trauermarsch. Erstaunlich, wie Appl es danach schafft, in den beinahe operettenhaften Plauderton des „Terezin Song“ zu wechseln.

Einen Stimmungswechsel bringt diese anonyme Komposition aber nicht: Sie leitet vielmehr über zu den erschütternden Theresienstadtliedern von Ilse Weber und Adolf Strauss. Mit diesen sentimentalen, zuweilen der Schnulze nahen Petitessen geht das Duo Appl/Baillieu bewundernswert feinfühlig und rücksichtsvoll um. So ist es nicht die Banalität mancher Melodie, die im Gedächtnis bleibt, sondern die Botschaft vom unermesslichen menschlichen Leid, das im Konzentrationslager Alltag war. Der Überlieferung nach soll Ilse Weber ihr berührendes Wiegenlied „Wiegala“ für die Kinder angestimmt haben, die gemeinsam mit ihr in die Gaskammer gingen.

Man wagt danach kaum weiter zu atmen. Indessen hält das Duo noch zwei Trostpflaster für sein Publikum bereit: Das „Urlicht“ von Gustav Mahler und, als Zugabe, „Morgen“ von Richard Strauss.

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Der nächste Liederabend im Konzerthaus Dortmund gilt der ungewöhnlichen Konstellation von Stimme und Harfe: Gemeinsam mit Xavier de Maistre interpretiert die Sopranistin Diana Damrau am 14. Mai 2019 unter anderem Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy und Sergej Rachmaninow.

(Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/14-05-2019-diana-damrau-xavier-de-maistre-221783/)




Ziemlich lange her, aber immer noch bedeutsam: Beklemmender Vorfall bei einer Lesung von Edgar Hilsenrath

Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath am 23. März 2010 im Salon du live, Paris. (Foto: Georges Seguin / Wikimedia Commons / Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath am 23. März 2010 im Salon du live, Paris. (Foto: Georges Seguin / Wikimedia Commons / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Ein Gastbeitrag von Heinrich Peuckmann:

In dem kleinen Städtchen Kamen, in dem ich wohne, gab es in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine beachtenswerte Literaturreihe: „Die literarische Teestunde“ hieß sie, in der bedeutende Autoren ihre neuen Romane vorstellten.

Es war trotz des kostenlos servierten Tees ein mühsames Unterfangen, denn der Zuspruch in der Bergarbeiterstadt blieb dürftig, wovon sich der damalige Volkshochschulleiter und Verantwortliche der Reihe aber nicht entmutigen ließ.

Als Uwe Johnson vor einem Dutzend Zuhörer las

Uwe Johnson las hier aus dem zweiten Band seiner „Jahrestage“ vor einem Dutzend Zuhörer. Noch heute spüre ich meine damalige Beschämung. Gelegentlich versuche ich, mich mit dieser Erfahrung zu trösten, wenn ich es bei einer eigenen Lesung im Ruhrgebiet auch nur auf ein Dutzend Zuhörer gebracht habe. Dem Uwe Johnson ist es nicht besser ergangen, denke ich, aber damit endet dann auch jeglicher Vergleich. Anmaßung liegt mir fern.

Anfang der achtziger Jahre las (der am 30. Dezember 2018 verstorbene) Edgar Hilsenrath in Kamen aus seinem umstrittenen Roman „Der Nazi & der Friseur“. Es war eine mutige Entscheidung, ihn einzuladen, denn dieser Schelmenroman wurde damals heftig kritisiert. Er war sowieso erst sechs Jahre nach seinem Erscheinen in den USA in Deutschland gedruckt worden, und das auch nur in dem kleinen Kölner Braun-Verlag.

Hilsenraths Roman „Der Nazi & der Friseut" – nicht in der Originalausgabe des Braun-Verlages, sondern in der Werkausgabe bei Dittrich. (© Dittrich Verlag)

Hilsenraths Roman „Der Nazi & der Friseur“ – nicht in der Originalausgabe des Braun-Verlages, sondern in der Werkausgabe bei Dittrich. (© Dittrich Verlag)

Hilsenrath, aus einer jüdischen Familie stammend, kritisierte darin Juden, was in Zeiten des Philosemitismus als grober Verstoß gegen die politische Sprachregelung galt. Außerdem machte er noch einen Massenmörder der Nazizeit zur Hauptfigur. Dass er ihn zum Helden machte, wäre eine unpassende Bezeichnung, aber Max Schulz, dieser Mörder, erzählt mit Witz seine Geschichte, so dass er nicht durchgängig abstoßend wirkt.

Auf einmal tauchten die Leute mit Schäferhund auf

Die Kamener Lesung begann normal, das heißt, es tauchten die üblichen zehn Verdächtigen als Zuhörer auf. Hilsenrath ließ sich dadurch nicht beirren und begann, die erste Passage aus seinem Roman vorzulesen.

Dann aber passierte etwas, das alle überraschte. Die Tür ging auf und ein Dutzend Leute, mehr Männer als Frauen, alle zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt, erschien und nahm auf den freien Stühlen Platz. Einer von ihnen hatte tatsächlich einen Schäferhund an der Leine. Eine bizarre Szene, die irgendwie, wenn ich im Rückblick darüber nachdenke, zu den deftigsten Passagen in Hilsenraths Roman passte. Satire im Buch, Realsatire, allerdings gefährliche, im Saal, denn von Anfang an war klar, dass hier keine literarisch interessierten Bürger den Raum betreten hatten, sondern Neonazis.

Früherer Bauernhof als Schulungszentrum der Neonazis

In Kamen gab es damals auf einem Bauernhof ein Schulungszentrum der Neonazis. Hintergrund war der frühe Tod des Bauern, seine Frau heiratete noch einmal und dieser zweite Ehemann war ein Neonazi. Er nutzte die Chance und baute den Bauernhof, der ihm gar nicht gehörte, zu einem Schulungszentrum  aus. Regelmäßig zum Wochenende kamen Neonazis aus ganz Deutschland angereist, teilweise in Bussen, und bekamen ihre Dröhnung in Sachen Rassismus, die sie Bildung nannten, begleitet von Erklärungen, dass Hitler und die Nazizeit nicht so schlimm gewesen wären. Regelmäßig war dieser Bauernhof Zielort unserer Demonstrationen, regelmäßig musste die Polizei anrücken, um Zusammenstöße zu verhindern.

Die Kamener Stadtverwaltung tat so gut wie nichts, es marschierte auch so gut wie nie einer von den Stadtoberen bei unseren Aktionen mit uns. Die NPD sei keine verbotene Partei, wurde uns erklärt, und was ihre Mitglieder auf  ihrem Privatgelände veranstalteten, entziehe sich der Entscheidungsgewalt der Stadt. Wer aber in seinem Gebäude Schulungen durchführt, hielten wir dagegen, muss Hygienebestimmungen einhalten, muss genügend Duschen und Toiletten vorweisen. Wir wiesen die Stadtverwaltung mehrfach darauf hin, dass dies ein Hebel sein könnte, das Unwesen zu unterbinden, aber es wurden keine Kontrollen durchgeführt.

Ein NS-Verbrecher, der sich später als verfolgter Jude ausgab

Das Schulungszentrum errang mit der Zeit traurige Berühmtheit. Max von der Grün, der ganz in der Nähe wohnte, hat es eingebaut in seinen Roman „Flächenbrand“. In seiner besorgten Schilderung vom Aufstieg der Neonazis gibt es deutliche Parallelen zu der Einrichtung in Kamen.

Beseitigt wurde dieser Schandfleck erst, als die Frau des Bauern starb und ihre Söhne den sonderbaren und offenbar verhassten Stiefvater sofort an die frische Luft setzten, so dass ich heute bei meinen Erzählungen den Namen des Hofes verschweige. Die Söhne können ja nichts dazu, dass er so übel missbraucht wurde, und als sie selber entscheiden konnten, haben sie sofort das Richtige getan.

Zur Zeit von Hilsenraths Lesung war es aber noch nicht so weit. Nach einem Moment der Irritation und nachdem der Schäferhund neben einem Stuhl Platz genommen hatte, setzte Hilsenrath seine Lesung fort. Sein Erzähler Max Schulz schilderte darin, wie er sich vom Massenmörder im KZ zum Juden wandelte und damit vorgab, nicht Täter, sondern Opfer gewesen zu sein. Die Romanfigur hat übrigens ein reales Vorbild gehabt, erfuhr ich später bei einer Recherche. Es hat tatsächlich einen Naziverbrecher gegeben, der sich nach dem Krieg als verfolgter Jude ausgab.

Eklat nach Anspielung auf Hitlers mögliche Impotenz

Trotzdem, die Konzentration unter uns Zuhörern war gestört. Immer wieder schielten wir hinüber zu den Neonazis. Würden sie dazwischenrufen, würden sie womöglich eine Schlägerei provozieren? Aber nein, sie hielten sich anfangs zurück. Heftige Zwischenrufe, vor allem von den Frauen, gab es erst, als Hilsenrath vorlas, dass Hitler impotent gewesen sein müsse. In Sachen Männlichkeit hätte er nicht viel zustande gekriegt. Die empörten Rufe vor allem der Frauen sind mir bis heute im Gedächtnis: „Also, das ist doch … unerhört ist das.“ Eine lächerliche Szene, die da vor uns ablief, die reale Situation näherte sich immer mehr der fiktiven im Schelmenroman an. Ich konnte, wie andere auch, ein Lachen nicht unterdrücken.

Zwischenfragen wurden anschließend gestellt. Woher Hilsenrath wisse, dass in den KZs gemordet wurde. Hilsenrath, antwortete, er habe selbst in einem gesessen und habe nur knapp überlebt. Dann würde ihn eben sein Gedächtnis täuschen, wurde gerufen. Der Ton wurde rauer, schließlich aggressiv, und der VHS-Leiter verließ für einen Moment den Raum. Ich ahnte den Grund, er rief die Polizei.

Dass Hitler als Vegetarier persönlich ein schwächlicher Typ (oder so ähnlich)  gewesen sei, wie Hilsenraths Erzähler weiter behauptete, empörte die Neonazis erneut. Nein, der Führer und schwächlich, das ging nun gar nicht. Während all der Unruhe war es übrigens der Schäferhund, der am ruhigsten blieb. Romane und was darin behauptet wurde, interessierten ihn nicht, er döste, den Kopf auf seinen Vorderläufen, seelenruhig weiter.

Der Autor wurde bedrängt – doch es war wohl keine „Nötigung“

Nach der Lesung, und das wurde später wichtig, wurde Hilsenrath bedrängt. Die Neonazis wollten ihm die Meinung sagen, und zwar heftig. Sie wollten ihre Abscheu über dieses angebliche Machwerk ausdrücken und redeten lautstark auf ihn ein. Hilsenrath wich immer weiter in eine Ecke des Raumes zurück, bis es ihm schließlich gelang, die Meute loszuwerden und das VHS-Haus zu verlassen. Wie weit die angerückte Polizei dabei eine Rolle spielte, habe ich nicht sehen können.

Ich schrieb einen Bericht für die Lokalpresse über diese unglaubliche Lesung, viel länger als verabredet, andere Medien reagierten, ich glaube, die Nachricht lief auch im Fernsehen. Kurz darauf bekam ich Post von der Staatsanwaltschaft Dortmund. Man wollte mich zu der Anzeige befragen, ob Hilsenrath genötigt worden war. Ich schilderte sie Situation so genau wie möglich, aber Nötigung, nein, das war es im engeren Sinne nicht gewesen. Bedrängen, Beschimpfen, das ja, aber Nötigung eher nicht. Am Ende erklärte mir der Staatsanwalt, dass sich meine Aussage mit jenen der anderen Befragten decke. Die Anzeige wurde also fallengelassen. Ob diese Situation heute auch noch so beurteilt würde? Ich weiß es nicht.

…und Literatur hat doch ihre Wirkungen

Was blieb von diesem Auftritt in der „Literarischen Teestunde“? Man hatte Hilsenrath von der Literaturkritik in die Nähe des Antisemitismus gerückt, einen Naziverbrecher als Erzähler einzusetzen, empfand man als Verharmlosung der Verbrechen in der Hitlerzeit. Ich glaube, der Großkritiker Fritz J. Raddatz, dessen Urteile mir selten gefallen haben, hat in einer Rezension auch in diese Richtung argumentiert.

Die Neonazis in Kamen wussten es besser. Den Roman haben sie als einen Angriff auf ihr faschistisches und rassistisches Weltbild begriffen. Alle satirischen Passagen, besonders jene mit der Impotenz, haben sie wörtlich genommen. Ironie konnten sie nicht erkennen. Mit Ausnahme der Schäferhundes vielleicht. Aber den konnte ich nicht mehr befragen.

Und noch ein Eindruck blieb zurück. Literatur hat Wirkung, habe ich gemerkt, wenn auch nicht immer jene, die man erwarten konnte.