Eisiges Kammerspiel mit einem Hauch Poesie – Roberto Ciullis „Othello“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen

Desdemona (Dagmar Geppert) liebt Othello (Jubril Sulaimon). Der jedoch hegt Zweifel ob ihrer Treue. Foto: Franziska Götzen

Nein, ganz ohne Verdi geht es dann doch nicht. In Roberto Ciullis „Othello“-Inszenierung, die das Shakespeare-Drama zu einem hoch verdichteten, eisigen Kammerspiel einer besseren Gesellschaft stilisiert, sorgt wenigstens Desdemonas „Ave Maria“ aus Verdis gleichnamiger Oper für Wärme und Trost, für bebendes Leidenskolorit und innigen Erlösungston.

Zu sehen war die Produktion jetzt noch einmal, nach ihrer Premiere am Mülheimer Theater an der Ruhr (September 2018), bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Zu Ehren eines großen Bühnenmagiers, dessen Deutungen oft voller Poesie sind, sich aber mit Gesellschaftskritik nicht zurückhalten.

Ciulli lässt am Beginn des Dramas Desdemonas Vater auftreten. Ein feiner älterer Herr mit Fliege, der polternd sein Kind verstößt, weil es Othello, einen Schwarzen, heiratete, im Bann von dessen Hexenmeister-Künsten. Klaus Herzog spielt diesen kaltherzigen Papa, als hochnäsigen Vertreter einer gehobenen Mittelschicht, die allerdings geradezu mafiose Züge trägt. Zu ihm gesellt sich ein aalglatter Cassio, in weißem Anzug, ständig rauchend und von Fabio Menéndez in übler Machomanier gezeichnet.

Der fieseste Schmierlappen aber ist ohne Zweifel Jago, ein Intrigant im Nadelstreif, der mit einer Floskel wie „Ich sehe schwarz“ dem Alltagsrassismus dicht auf den Fersen ist, der zum anderen eine virtuose Perfidie an den Tag legt, die bei seinen Abtritten stets in einem dahingeheuchelten „Ich empfehle mich“ gipfelt. Steffen Reuber mag in dieser Rolle nicht die große, gottabgewandte Dämonie umhüllen, doch sein sorgsam eingefädelter Plan, Othello das Monster der Eifersucht einzupflanzen, lässt das Publikum allemal frösteln.

Jagos Gattin, trotz kleidender Eleganz schon etwas abgewrackt wirkend, darf Petra von der Beek vor allem als willfährige Gehilfin spielen, eiskalt bis in die hochtoupierten Haarspitzen. Bevor sie am Ende die große Intrige aufdecken kann, wird ihr Mann sie erwürgen. Eine Tat, nicht zuletzt begangen aus einer lang gepflegten Hassliebe heraus.

Bring mir Beweise! Othello und der fiese Intrigant Jago (Steffen Reuber). Foto: Franziska Götzen

Für Othello aber hat von diesen zwielichtigen Gestalten keiner etwas übrig. Die Anfeindungen sind von gewaltiger Wirkmacht, denn die Hauptrolle ist mit einem Schwarzen besetzt. Jubril Sulaimon, vor Nigerias Militärdiktatur Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland geflohen, in der Tasche ein Schauspielexamen seiner Heimat, fand 1992 ein erstes Engagement in Essen, wirkte an mehreren Bühnen des Ruhrgebiets, und tritt nun also als Othello im Mülheimer Theater auf. Hier gibt er nicht den strahlenden Helden, vielmehr einen Menschen, der zumeist defensiv reagiert, in seinem Eifersuchtsschmerz jedoch zu großen Ausbrüchen fähig ist. Dann entfalten seine Worte vom bevorstehenden Urchaos, von einer Rache, die alle verschlingen werde, eine ungeheure Macht. Mitunter fällt er ins muttersprachliche Idiom, wenn er dem Zorn noch mehr Gewicht verleihen will.

Und Desdemona? Sie mag Othello wirklich lieben, in aller Unschuld, und in Cassio nicht mehr als einen Freund sehen. Doch Dagmar Geppert staffiert ihre Rolle mit beinahe gelangweilter Distanz aus, mit wenig Empathie. Tiefe Empfindung erwächst allein in Verbindung mit eben jener Verdi-Musik, die diesem Drama im Konversationston eine ganz eigene Färbung verleiht. Allerdings kann sie die gekünstelte Lounge-Atmosphäre von Ciullis Inszenierung nicht wirksam aufbrechen.

Die Poesie des Todes: Am Ende wird Othello mit diesem Tuch Desdemona erdrosseln. Foto: Franziska Götzen

Zum kunstvoll Kalten gehört ein rotes Sofa, das vorn den sonst ziemlich leeren Raum dominiert, den Gralf Edzard Habben gestaltet hat. Hinten befindet sich ein Punchingsack, starkes Symbol aus dem Boxermilieu, in dem es Mann gegen Mann geht, und nicht intrigant hintenherum. Erst zuletzt, mit Desdemonas und Emilias Tod, findet Ciulli einen bildgewaltigen Hauch von Poesie. Ein riesiges weißes Tuch bahnt sich, vom Gebläse getrieben, den Weg. Othello wird es, ebenso wie seine einst geliebte Frau, um sich schlingen – und sie damit erdrosseln.

Der fahle Beifall am Schluss, sich allmählich steigernd, er mag vielleicht großer Betroffenheit geschuldet sein.

„Othello“ ist am Mülheimer Theater an der Ruhr noch einmal zu sehen, am 15. Juni (19.30 Uhr).




In zwölf Minuten von Mahler zu Mahler: In Duisburg und Essen erklangen die Sechste und die Zweite Symphonie

Die Duisburger Philharmoniker. Foto: Zoltan Verhoeven-Leskovar

Die Duisburger Philharmoniker. Foto: Zoltan Verhoeven-Leskovar

Zwei Mahler-Symphonien innerhalb weniger Tage in Duisburg und Essen: Wer den alten Ruhrpott nicht als Flickenteppich diverser städtischer Zentren, sondern die Rhein-Ruhr-Region als großen Kulturraum wahrnimmt, hat nicht nur in Sachen Mahler eine weltstädtische Auswahl. Man muss nur zum Beispiel die zwölf Minuten zwischen den Hauptbahnhöfen von Essen und Duisburg in Kauf nehmen.

Und dann bekommt man demnächst Mahlers Neunte in Dortmund, in der nächsten Spielzeit die Dritte in Gelsenkirchen und Essen, die Vierte in Wuppertal, die Siebte in Dortmund, die Neunte in Duisburg und die Sechste als Abschluss des Mahler-Zyklus mit Adam Fischer in Düsseldorf.

In Essen also die Sechste, ein Werk mit Regionalbezug, wurde es doch am 27. Mai 1906 hier im Herzen des Ruhrgebiets uraufgeführt. Viele Erklärungsmuster legen sich über die Symphonie: Die einen sehen sie als die „klassischste“ der Neun, andere lesen sie mit expliziten biographischen Bezügen oder entdecken in ihr eine prophetische Vorwegnahme eines Komponisten- oder sogar Epochenschicksals. Das hat einiges für sich: Mahler spürte sicherlich die untergründige Unruhe der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, war Zeuge heftig umstrittener Aufbrüche, strebte auch selbst mit jedem Satz jeder seiner Symphonien zu bisher unerreichten Ufern. Alexander von Zemlinsky soll die Sechste Mahlers „Eigentliche“ genannt haben; er selbst hielt sie laut Alma Mahler für sein „allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein“.

Biographie und Musik bei Mahler

Dass biographische Einflüsse – wie auch schon bei Tschaikowsky – eingeflossen sind, wird man schwerlich leugnen können. Die Frage ist, was dieselben für eine Mahler-Deutung heute bedeuten. Tragische Künstlerschicksale haben 108 Jahre nach Mahlers Tod nicht mehr die hypersensible Brisanz von einst; der Weltuntergang wird uns in Breitband und allen tontechnischen Raffinessen im Kino vorgespielt. Bleibt die Musik, das „Material“, das wir, je nach Standort, distanziert interessiert oder mit innerer Emphase anhören, auf uns wirken lassen.

Eine gewisse Materialfixierung mag der Grund sein, warum Mahler-Deutungen derzeit als gut empfunden werden, wenn sie technisch makellos daherkommen – wie jüngst die Achte unter Kirill Petrenko im Bregenzer Festspielhaus (und im Januar 2020 wohl auch die Sechste in Berlin). In Essen lässt sich Tomáš Netopil nur zum Teil auf eine solche – überspitzt gesagt – technizistische Lösung ein. Er lässt Wut und Depression, Melancholie und Aufschrei zu, ohne in jedem Moment auf plastische Balance, auf das „strukturelle“ Hören zu achten.

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Da dürfen die vorzüglich disponierten Essener Philharmoniker auch einmal „loslassen“, die Magie des Moments auskosten, Klänge ausspielen und kombinieren. Mahler hat ihnen dazu genug Gelegenheit in seine Partitur geschrieben: Die böse kleine Trommel, die den Bläsern ihren Marschrhythmus aufdrückt, kaum dass die Wucht der Pauken einmal verstummt ist; die Klarinette, die sich mit den Kuhglocken aus der Ferne für wenige Takte für eine trügerische Idylle vereint; die Streicher mit ihrem verzerrten Schlager oder ihren gespenstischen Tremoli – schon der erste Satz fordert Klang- und Struktursinn heraus, und Netopil entscheidet sich, eher die Wirkung als die Ursache zu erforschen.

Das mag in diesem „Allegro energico“ hie und da zu bedauern sein, in den anderen Sätzen nicht. Denn zum Beispiel im letzten Satz erfasst der Essener Generalmusikdirektor, wie der vorher schon fast allgegenwärtige Marsch alles niederwalzt, was an thematischen Erinnerungen oder gar harmonischen Abfolgen erkennbar ist. Hier komponiert Mahler die brutale Überwältigung, den alles überflutenden Tumult, der sich in „irrer Geschäftigkeit“ (Peter Gülke) selbst verschlingt. Netopil hält diese Exuberanz allerdings so im Zaum, dass der Eindruck nicht verloren geht, der musikalische Formwille wehre sich gegen das allüberall lauernde Chaos, gegen den mit Ruten gepeitschten und mit den berühmten Hammerschlägen – in Essen partiturgerecht hölzern-trocken – übersteigerten Rhythmus. Tamtam und Harfe – welche Kombination „magischer“ Instrumente! – markieren einen wesentlichen Zusammenbruch, dem nur noch stockendes Aufflackern, finaler Donnerschlag und verzuckendes Pianissimo folgen. Verdienter Jubel.

Knöcherner Marsch und überlegtes Formbewusstsein

Ein Marsch, wenn auch weit weniger formbestimmend, findet sich auch im ursprünglich „Todtenfeier“ genannten ersten Satz der Zweiten Symphonie Mahlers, mit der sich die Duisburger Philharmoniker unter ihrem neuen GMD Axel Kober der fünf Wochen vorher erklungenen „Konkurrenz“ aus Düsseldorf stellen. In der Mercatorhalle klingt diese „Marcia“ noch fahler, knöcherner als in der Tonhalle; auch in den spannungsvollen leisen Momenten der Violinen, in dem elektrisierend unwirschen Eröffnungsakkord der tiefen Streicher, den kantabel geführten Holzbläsern und den Choralanklängen zeigen die Duisburger Philharmoniker fein abgestuften Klangsinn und ein Gespür für Spannungen und Stimmungswechsel.

Axel Kober, jetzt auch GMD der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Axel Kober, jetzt auch GMD der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Im zweiten Satz zelebriert Kober das Gemütlich-Naive des Dreiertakts, betont damit den Kontrast zu ersten, rückt ihn aber auch in die Nähe einer maliziösen Ironie. Man weiß nie, ob die properen Horn-Staccati und das leichtfüßige Stricheln der Geigen nicht eine Spur zu idyllisch gemeint sind. So fängt Kober in einem Satz, der gerne als unkompliziert dargestellt wird, die mehrdeutige Mahler-Welt ein, die sich dann im dritten Satz eindunkelt, wenn die drehenden Dreier fast dämonisch aufgeladen werden.

Kober macht – auch in den wilden Steigerungen, die noch folgen – den Formwillen klar, hebt die motivtragenden Schichten stets hervor. Bei allen fabelhaften Momenten von Horn und Klarinette, Celli, Kontrabässen und Fagott bis hin zu Harfe und Tuba: Im Lärm des ersten, in etwas zu unverbindlichen Klang des dritten und im eher zum Spröden neigenden Blechbläserklang des vierten Satzes kommen die Duisburger an ihre Grenzen; auch die Intonation scheint in der Riege der Bläser nachzulassen, wenn nicht Verwerfungen der Akustik das Ohr täuschten.

Für die vokalen Anteile der Symphonie stehen der Philharmonische Chor Duisburg und der LandesJugendChor NRW ein: ansatzrein, ausgeglichen, mit schimmernd gehaltenen Klängen, saftigen Steigerungen und einem wundervoll plastisch-mystischem „Was erstanden ist, das muss vergehen“. Hoheitsvoll lässt Ingeborg Danz im „Urlicht“ die Stimme strömen und flutet die Töne mit purer Schönheit; Anke Krabbe kündet Mahlers Glaubensbotschaft mit leuchtend präsentem Sopran. Entschweben zum Licht: Bei solcher Schönheit wird diese Vision in Tönen erfahrbar.

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Das nächste Konzert der Duisburger Philharmoniker bringt am 5. und 6. Juni in der Mercatorhalle ein Konzert für Streichquartett und Orchester des in Zürich geborenen und in New York lebenden Daniel Schnyder, György Ligetis Concert Românesc und Sergej Prokofjews Siebte Sinfonie. Karten: (0203) 283 62 100, Info: www.duisburger-philharmoniker.de

Bei den Essener Philharmonikern heißt es am 20. und 21. Juni „Vive La France“ mit Werken von Camille Saint-Saëns, Arthur Honegger und Maurice Ravel. Solist im Ersten Cellokonzert a-Moll op. 33 von Saint-Saëns ist Gautier Capuçon. Karten: (0201) 81 22 200, Info: https://www.theater-essen.de/philharmonie/spielplan/vive-la-france-77124/2570/




Alles anders am Dortmunder Schauspiel? Neue Intendantin Julia Wissert kündigt deutlichen Kurswechsel an

Dortmunds neue Schauspielchefin Julia Wissert (2. v. li.) und die Dramaturgin Sabine Reich, flankiert vom Kulturdezernenten Jörg Stüdemann (links) und dem Geschäftsführer des Fünf-Sparten-Theaters, Tobias Ehinger. (Foto: Bernd Berke)

Im Rathaus der Stadt: Dortmunds neue Schauspielchefin Julia Wissert (2. v. li.) und die Dramaturgin Sabine Reich, flankiert vom Kulturdezernenten Jörg Stüdemann (links) und dem Geschäftsführer des Fünf-Sparten-Theaters, Tobias Ehinger. (Foto: Bernd Berke)

Fürs Dortmunder Sprechtheater brechen offenbar ganz neue Zeiten an. Zwar weiß man noch nichts Genaues, doch ließ die künftige Schauspielchefin Julia Wissert (34) heute bei ihrer Vorstellung in Dortmund bereits generell durchblicken, dass sie manches anders zu machen gedenkt als das bisherige Team unter Kay Voges.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Dortmund sei schon lange vor ihrer Berufung eines der ganz wenigen Theater gewesen, für deren Inszenierungen sie eigens aus Berlin angereist sei. Hier sei ein großartiges, ja „sensationelles“ Ensemble zusammengewachsen, befand Julia Wissert, deren Berufung der Dortmunder Stadtrat mit überwältigender Mehrheit bestätigt hat. Somit wird die gebürtige Freiburgerin eine der jüngsten Intendantinnen in ganz Deutschland sein. Fast surreal schnell sei das alles gegangen, wundert sich Wissert. Sie hat jetzt relativ wenig Zeit, um ihren ersten Spielplan vorzubereiten. Wer derweil vom jetzigen Ensemble bleibt, wer geht und wer neu hinzu kommt, das wird sich in vielen Gesprächen weisen müssen.

Alles soll auf den Prüfstand kommen

Ungeachtet ihrer Wertschätzung für die jetzige Dortmunder Theaterarbeit gibt Julia Wissert schon mal Signale zum abermaligen Aufbruch. Wolle man wirklich „Theater für die Stadt“ machen, so müsse man grundsätzlich alle Inhalte, Formen und Strukturen auf den Prüfstand stellen. Dabei wird wohl auch der herkömmliche Begriff „Sprechtheater“ anders aufzufassen sein. Julia Wissert spricht von neuen Erzählformen, die immer wieder auch Performance-Projekte einschließen sollen. Beispielsweise.

Die Dramaturgin Sabine Reich, die gleichfalls der neuen Theaterleitung angehören wird, ergänzte, auch ein gemeinsames Frühstück mit Publikum könne eine utopische Anmutung haben und somit quasi ein künstlerischer Akt sein. Wer will, mag da vielleicht an Joseph Beuys‘ Begriff „Soziale Skulptur“ denken. Die im Revier aufgewachsene Reich, die u. a. in Wien, Essen und Bochum tätig war, hält dafür, dass das sich stetig wandelnde Ruhrgebiet auch ein idealer Nährboden für experimentelles Theater sei.

Mehr Frauen, mehr „queere“ Inspiration

Doch nicht nur der Kunstbegriff soll in mancherlei Richtungen erweitert werden, das hatte sich ja auch schon Kay Voges mit seinen kraftvollen Digitalisierungs-Impulsen auf die Fahnen geschrieben. Auch das Innenleben des Theaters soll sich – gesellschaftlichen Entwicklungen entsprechend – gründlich ändern. Mit Sicherheit werden auf allen Ebenen mehr Frauen zum Zuge kommen, auch müsse man endlich vielerlei „diversen“ und „queeren“ Realitäten Raum geben. Das alles sei doch in der Stadtgesellschaft vorhanden.

Die stärkere Einbeziehung etwa der LGBT-Communities wird bestimmt andere Spielformen und andere Theaterstoffe nach sich ziehen. Gleiches gilt für ein Theater, das sich im weitesten Verständnis an Formen und Folgen der Migration orientiert. Wünschenswert wär’s übrigens, wenn bei aller Ernsthaftigkeit auch dieses oder jenes ausgefeilte Stück Lachtheater dabei wäre. Darf man hoffen?

Die Klassiker ganz neu entdecken

Auf die (bange?) Frage, ob das Abo-Publikum denn auch künftig sein Schiller-Stück oder Vergleichbares erleben werde, hieß es, dass auch künftig solche Stoffe verhandelt würden, allerdings im Sinne eines unverwechselbaren Profils. Schiller neu entdecken, wäre dann die Parole. Wissert stellt klar: „Ich habe produktive Reibungen lieber als jedes Mittelmaß.“ Und ja, es könne sein, dass sie mit ihren Programmen bei manchen Leuten anecken werde. Ob wir uns schon mal auf Schiller oder Goethe als Performance gefasst machen sollen? Abwarten! Die beiden Klassiker haben ja schon manches überstanden und haben sich bei jedem Zugriff immer wieder anders gezeigt. Greift nur hinein ins volle Bühnenleben…

Über eine Anti-Rassismus-Klausel reden

Auch hinter den Kulissen, so Julia Wissert weiter, sei jedenfalls eine umfassende Selbstbefragung nötig. Allgemeine, noch zu konkretisierende Leitlinie: „Wie gehen wir im Theater miteinander um“? Hier spielt denn auch die (nach wie vor erklärungsbedürftige) Anti-Rassismus-Klausel hinein, mit der Julia Wissert zu Jahresbeginn bundesweit Aufsehen erregt hat. Ein zentraler Punkt der Regelung, die sie mit der Anwältin und Dramaturgin Sonja Laaser ausgearbeitet, aber noch nirgendwo erprobt hat: Im Falle rassistischer (oder sexistischer) Zumutungen jeglicher Art sollen Theaterangehörige demnach das Recht haben, ihr Engagement zu beenden – übrigens im Einklang mit dem Grundgesetz, wie Wissert betont. Bevor am Theater nun neue Verträge aufgesetzt werden, werde man über alles reden. Dabei lässt sie keinen Zweifel daran, dass es „viele neue Verträge“ sein werden, die sie demnächst zu unterzeichnen hat.

Was eine Anti-Rassismus-Klausel im Einzelnen (menschlich wie rechtlich) bedeutet, wäre freilich noch auszugestalten. Wissert stellt klar, dass es nicht um vorschnelle Schuldzuweisungen oder „Bestrafung“ gehe, sondern um intensive Dialoge, um lehrreiche Workshops und dergleichen. Überhaupt will sie entschieden nach vorn denken und sich nicht mit Details der oft misslichen Gegenwart aufhalten, die das Theater schwerlich weiterbringen.

„Geniekult“ um Männer ist vorbei

Dortmunds Kulturdezernent und Stadtkämmerer Jörg Stüdemann hieß die neue Intendantin willkommen und lobte die Arbeit der Findungskommission. Auch er findet, dass es an der Zeit sei, das Theater noch einmal neu aufzustellen – ganz im Sinne von Julia Wissert. Der einstmals gepflegte, allzeit männerdominierte „Geniekult“ sei vorbei. Dem müsse man Rechnung tragen. Auch Tobias Ehinger, geschäftsführender (Verwaltungs)-Direktor des Dortmunder Fünf-Sparten-Hauses, zeigte sich vorbehaltlos offen für Künftiges.

Neben obligatorischen Blumensträußen überreichte Jörg Stüdemann Präsent-Tütchen an die beiden neuen Dortmunder Theaterfrauen. Inhalt u. a.: Dortmunder Schoko-Kreationen und je eine Flasche Bergmann-Bier. Wohl bekomm’s!




Queen für ein ganzes Zeitalter: Vor 200 Jahren wurde die britische Königin Victoria geboren

Queen Victoria mit ihrem Mann Albert

Queen Victoria mit ihrem Mann, Prince Albert, im Jahre 1854. (Wikimedia – gemeinfreies Bild / Historische Fotografie von Roger Fenton – Royal Collection of the United Kingdom)

Queen Victoria gab einer ganzen Epoche ihren Namen. Von 1837 bis 1901 regierte sie das Vereinigte Königreich, länger als je ein gekröntes Haupt in England, Schottland, Wales oder Irland. Erst ihre Ur-Ur-Enkelin Elisabeth stellte 2015 diesen Rekord ein, regiert nun schon 67 Jahre und ist die dienstälteste aller lebenden Monarchen. Queen Victoria hat europäische Geschichte geschrieben und dem 19. Jahrhundert auf den britischen Inseln die Bezeichnung „viktorianisches“ Zeitalter eingebracht. Am 24. Mai 1819, vor 200 Jahren, wurde sie geboren.

Die Bilder der rundlichen Matrone mit dem mürrisch-ernsten Gesichtsausdruck, die seit dem Tod ihres über alles geliebten Ehemanns Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha nur noch schwarze Witwentracht trug, sind zu Ikonen geworden.

Als Alexandrina Victoria im Londoner Kensington Palace geboren wurde, dachten die Mutter Victoire von Sachsen-Coburg-Saalfeld und der Vater, Edward Augustus, Duke of Kent nicht daran, dass ihre Tochter jemals Königin werden könnte. Da König William IV. und seine Brüder kinderlos blieben, rückte Victoria in die Thronfolge. Das als robust und willensstark beschriebene Kind wurde bewusst nicht auf eine Rolle als Regentin vorbereitet. Nur auf ihren Onkel Leopold, König von Belgien, konnte sie sich verlassen. Er schickte einen Vertrauten, der die junge Victoria beraten und von den Einflüssen des Hofes schützen sollte.

Die Queen als kleines Kind: „The Duchess of Kent with her daughter Victoria", Gemälde von Henry Bone (1824/25) -(Wikimedia - gemeinfreies Bild / Quelle: https://www.telegraph.co.uk/culture/donotmigrate/3560626/Queen-Victoria-the-original-peoples-princess.html)

Die Queen als kleines Kind: „The Duchess of Kent with her daughter Victoria“, Gemälde von Henry Bone (1824/25) – (Wikimedia – gemeinfreies Bild / Quelle: https://www.telegraph.co.uk/culture/donotmigrate/3560626/Queen-Victoria-the-original-peoples-princess.html)

Das 18jährige, nur 1,52 Meter große Mädchen, das am 28. Juni 1838 in Westminster Abbey gekrönt wurde, war schlecht vorbereitet, aber bereit, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Julia Baird beschreibt Victoria in ihrer neuen Biografie als „ein Mädchen, das von den Menschen in seiner Umgebung so lange schikaniert worden war, bis es schließlich zu einer Persönlichkeit mit einem eigenen, unbeugsamen Willen heranreifte.

Entschlossene Regentin

So regierte Victoria auch – entschlossen, machtbewusst, manchmal autoritär, nicht immer klug und auf den richtigen Rat hörend. Auch ihren Ehemann Prinz Albert versuchte sie zuerst, aus der Politik herauszuhalten. Nach 1840 zwangen jedoch die häufigen Schwangerschaften Victoria dazu, ihrem Mann mehr Einfluss zu gewähren. Die Königin drückte in einem Brief aus, was Albert in 21 glücklichen Ehejahren für sie bedeutete: „Er war für mich alles, mein Vater, mein Beschützer, mein Führer, mein Ratgeber in allen Dingen … . Ich glaube, niemand ist so völlig verwandelt worden wie ich durch (seinen) Einfluss.“

Der Tod Alberts mit erst 42 Jahren im Dezember 1861 war ein tiefer Schock für Victoria. „Mein glückliches Leben ist beendet!“, schrieb sie in einem Brief. „Wenn ich weiterleben muss (…), so fortan nur für unsere armen, vaterlosen Kinder, für mein unglückliches Land, das durch seinen Verlust alles verloren hat …“. Für den Tod ihres geliebten Albert machte Victoria ihren Sohn Edward verantwortlich: Albert war, bereits krank, zu dem leichtlebigen „Bertie“ gereist, um ihm wegen einer Affäre ins Gewissen zu reden. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn blieb bis zum Tod der Queen getrübt; in politische Angelegenheiten hat sie den späteren König Edward VII. nie einbezogen.

Beziehungen gegen die Einsamkeit

Das Bild der schwarzverhüllten trauernden Witwe spiegelt die Wirklichkeit nicht wieder: Victoria fasste sich und regierte 39 Jahre weiter, ließ sich aber öffentlich kaum sehen und lebte bevorzugt in ihrem schottischen Landsitz Balmoral Castle oder in Osborne House auf der Isle of Wight, wo sie 1901 im Alter von 81 Jahren auch starb. Erst ihre Ur-Ur-Enkelin Elisabeth II.

Nicht einmal Regierungskrisen bewogen die Königin, ins ungeliebte London zurückzukehren. Die „wunderliche Einsiedlerin“ erledigte jedoch ihre Staatsgeschäfte weiterhin gewissenhaft und war durchaus in der Lage, eigensinnig und selbstbewusst zu entscheiden. Das zeigte sich auch in den beiden engen, nicht standesgemäßen und daher heftig kritisierten Freundschaften, die sie in ihrer Witwenzeit pflegte: Die eine verband sie mit dem ehemaligen Jagdgehilfen Prinz Alberts, John Brown, der ihr von 1865 bis zu seinem Tod 1883 als Diener und Vertrauter zur Seite stand. Ob der Klatsch über eine sexuelle Beziehung zutreffend ist, lässt sich bis heute nicht sicher sagen.

Eine andere Beziehung ab 1887 führte sie mit Abdul Karim, einem Inder, der bis zu ihrem Tod an ihrer Seite lebte. Mit ihm pflegte sie ihr Interesse an der britischen Kolonie Indien, zu dessen Kaiserin sie 1876 ernannt worden war, lernte indische Sprachen und richtete indisch ausgestattete Räume ein. Der 2017 entstandene Film „Victoria und Abdul“ schildert diese Beziehung und zeigt zutreffend, wie die alternde Queen an Einsamkeit und mangelndem Verständnis gelitten hat.

Die „Mutter Europas“, die 40 Enkel und 88 Urenkel hatte, prägte mit ihrem Namen das „viktorianische“ Zeitalter und ist bis heute ein in rund 80 Filmen verarbeiteter Mythos. Die „echte“ Viktoria hinter den Attrappen und Legenden beginnt man allerdings jetzt erst zu entdecken. Ein einziges Mal weilte die Queen übrigens auch in der hiesigen Region: Am Abend des 11. August 1858 besuchte sie Schloss Jägerhof in Düsseldorf-Pempelfort auf ihrer Reise von London nach Potsdam zu ihrer ältesten Tochter Victoria, die kurz zuvor den preußischen Prinzen Friedrich Wilhelm geheiratet hatte.




„Brüder und Knechte“: Erinnerung an den Autor Willy Kramp

Gastautor Heinrich Peuckmann über den Schwerter Schriftsteller Willy Kramp (1909-1986):

Bis zu seinem Tode 1986 wohnte in Schwerte-Villigst der Schriftsteller Willy Kramp. Ich kam mit ihm in Berührung, weil ich damals seine Enkeltochter Katharina unterrichtete, die heute unter dem Pseudonym „Kathryn Taylor“ Bestsellerromane schreibt. Zwei Bücher vor allem haben aus Kramps umfangreichen Werk bis heute Strahlkraft.

Der Schriftsteller Willy Kramp (Foto: Durkadenz / Wikimedia Commons - Link zur Lizenz: )

Der Schriftsteller Willy Kramp (Foto: Durkadenz / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Da ist einmal der Romanbericht „Brüder und Knechte“, Kramps erfolgreichstes Buch, das wochenlang auf der Bestsellerliste des „Spiegel“ stand.

Mitte der dreißiger Jahre unterrichtete er an einer privaten Mädchenschule. Nach Heirat und Geburt des ersten Kindes reichte das Gehalt aber nicht, so dass er, nicht mit dem drohenden Weltkrieg rechnend, die harmlos erscheinende Stelle eines Heerespsychologen annahm. Eine Entscheidung mit Folgen, denn es blieb kein Job in Friedenszeiten.

Heerespsychologe unter Hitler

Durch Major Hößlin, der ihn als Ordonnanzoffizier anforderte, kam Willy Kramp mit dem Widerstand rund um den Kreisauer Kreis in Berührung, wurde nach dem Scheitern des Putsches aber unter Hößlins weiser Voraussicht an die Ostfront geschickt, wo er nur noch von der Verhaftung und Hinrichtung seines Vorgesetzten hörte.

Die Gruppe Hößlin war dazu ausersehen, bei Gelingen des Putsches den Gauleiter und Oberpräsidenten Koch, der später erst zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslanger Haft „begnadigt“ wurde, zu stürzen und die Macht in Ostpreußen zu übernehmen. Kurz vor Kriegsende geriet Kramp in russische Gefangenschaft und kam erst 1950 zurück.

Innenansicht des Widerstands

Diese Kriegserlebnisse hat er in „Brüder und Knechte“ geschildert. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Widerstand, er protokolliert detailliert die internen Diskussion zwischen den Verschwörern, ihre Skrupel, ihre Hoffnungen, aber auch die Gespräche während der Offiziersabende, in denen die Verschwörer mit jenen blind gehorsamen Nazioffizieren zusammentrafen und es ihnen schwer fiel, sich bei Gesprächen über den Fortlauf des Krieges nicht selbst zu verraten. Dabei war gerade Hößlin derjenige, der am wenigsten mit seiner Abneigung gegen Hitler hinter dem Berg zu halten vermochte und der damit sich und andere gefährdete. Das Bild eines entschlossenen Offiziers mit fast jugendlicher Unbekümmertheit entsteht vor den Augen des Lesers. Die Leute des Kreisauer Kreises, getragen von ihrem christlichen Anspruch und in ihrem Bündnis mit politisch linken Kräften, hatten, dies nebenbei, eine relativ klar entwickelte demokratische Vorstellung für die Zeit nach den Nazis, anders als Stauffenberg.

Der Putsch misslang, und Hößlin vernichtete umsichtig alle Papiere, die Kramp und die anderen hätten belasten können. Wozu waren überhaupt die Listen mit den Namen der Verschwörer nötig, die es den Nazis später so leicht machten, sie zu enttarnen und hinzurichten? Sie waren es, weil sich die Verschwörer untereinander nicht kannten und im Falle eines Gelingens des Attentats sofort jene Offiziere bei den einzelnen Truppenteilen anrufen mussten, die dazu gehörten, damit sie die Macht übernahmen.

In russischer Gefangenschaft

Im zweiten Teil schildert Kramp seine Erlebnisse an der Front bis hin zur Gefangennahme und seine Zeit in russischer Gefangenschaft. Kramp vermeidet hier jede pauschale Verurteilung der Sowjets, er weiß, wer die wirklichen Verursacher waren, die ihn in diese Situation gebracht hatten. Als irgendwann ein deutscher Offizier stöhnt, so schlimm wie die Russen seien die Deutschen nicht mit ihren Gefangenen umgegangen, erzählt Kramp ihm, was er hat sehen müssen. In dem Lager, in dem sie jetzt waren, starben einige an der Ruhr, in einem Gefangenenlager mit russischen Gefangenen in Deutschland dagegen waren alle an der Ruhr erkrankt und starben bis auf wenige Ausnahmen. Eine Aussage, die den anderen beschämt.

In dieser Extremsituation geht es ihm um eines: Wie weit zwingt die Situation den Menschen, und damit auch ihm selbst, ihr Handeln auf und macht ihn zu ihrem „Knecht“? Wieweit gelingt es ihm und seinen Mitgefangenen, sich dem zu entziehen und wenigstens momenthaft „Bruder“ des anderen zu bleiben? Eine Frage, die ihre Gültigkeit nicht verliert.

Auf den Spuren des „Waldmenschen“

In der Zeit der großen Friedensdemonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Gefahr eines Atomkriegs veröffentlichte Kramp ein zweites wichtiges Buch. „Das Versteck“ heißt die Erzählung.

Mit Sohn und Enkeltochter (eben jener Katharina) verbringt der Erzähler ein paar Urlaubstage in einem Haus im Hessischen. Zufällig findet der Erzähler in einem Buch einen Zeitungsbericht über den „Waldmenschen“ Engelbert Lohmeyer, der vierzig Jahre lang einsam in hessischen Wäldern gelebt hat.  Gerade in dem Haus, in dem die drei ihre Ferien verbringen, wurde er geboren. Erste Auskünfte eines Dorfbewohners ergeben, dass Engelbert 1918 desertiert ist und nach Kriegsende keinen Anschluss mehr an das normale Dorfleben gefunden hat.

Im Gespräch mit Sohn und Enkeltochter entwickelt der Erzähler Engelberts Geschichte neu, wobei vieles, was sich der Erzähler ausdenkt, später von den Dorfbewohnern bestätigt wird. Die entscheidende Frage ist dabei natürlich, warum Engelbert nach Kriegsende nicht nach Hause zurückgegangen ist, und die Antwort darauf ist erschreckend. Für viele in Engelberts Dorf waren nämlich nicht der Kaiser, seine Militärs und die Rüstungsindustrie Schuld am Krieg und dem folgenden Elend, sondern Leute wie der Deserteur Engelbert. Er wurde verfolgt und hatte also allen Grund, nach zwischenzeitlicher Rückkehr zu seinen Eltern wieder in sein Waldversteck zu fliehen. Es war ein mutiges Buch, das Kramp da veröffentlicht hatte. In der Zeit der Kriegsangst aufgrund der Nachrüstung ergriff es Partei für die Friedensdemonstranten.

Willy Kramp ist heute unverdient weitgehend vergessen. Wer ihn liest, entdeckt eine funkelnde Prosa, denn er hat sein Handwerkszeug beherrscht. Und der Leser entdeckt literarische Texte, die um entscheidende Grundfragen des Lebens kreisen. Christliche Weltsicht ist hier, wie sie sein sollte. Sie ist einer humanen und friedlichen Gesellschaft verpflichtet.

 

 




Tschechows „Kirschgarten“ geht uns immer noch an – Eine vorzügliche Essener Inszenierung beweist es

Szene mit Silvia Weiskopf (Gutsbesitzerin), Stephanie Schönfeld (Dunjascha) und Jens Winterstein Jepichodow) (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Essen)


Firs haben sie vergessen. Der alte Diener liegt schon schlafend auf der Bühne, wenn das Publikum seinen Plätzen zuströmt. Schließlich erwacht er, sieht all die Menschen, will sie wieder nach Hause schicken. Es sei doch alles schon vorbei, sagt er, und eigentlich hat er ja Recht. Aber dann hebt sich der eiserne Vorhang doch , wird die Geschichte vom Kirschgarten erzählt, in Essen, im Grillo-Theater. Der alte Diener ist hier übrigens eine Frau, Sabine Osthoff.

Verdrängung und Selbstbetrug

Tschechows Stück, er selbst nannte es eine Komödie, was natürlich nicht stimmt, reizt zur lapidaren Inhaltsangabe: Die Gutsbesitzerin ist pleite, widersetzt sich dem Verkauf ihres schönen, aber nutzlosen Kirschgartens, schließlich kommt alles unter den Hammer. Man reist ab, nur der alte Diener bleibt zurück. Es ist eine Geschichte, wie sie ähnlich oft geschieht, für Außenstehende eigentlich ohne Bedeutung.

Wenn „Der Kirschgarten“ trotzdem bis zum heutigen Tage ein Erfolgsstück sonder gleichen ist, dann natürlich wegen des Personals, allen voran der Gutsherrin Ljubow Andrejewna Ranewskaja (Silvia Weiskopf) mit ihrer Unfähigkeit loszulassen, die Wirklichkeit anzuerkennen, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Fein gestuft stimmen die weiteren Figuren ihrer hinfälligen Entourage in diesen Choral des Verdrängens und Selbstbetrügens ein, formen einen Panzer, den Lopachin (Philipp Noack), der wohlwollende Freund des Hauses, mit seinen vernünftigen Sanierungsvorschlägen nicht zu durchdringen vermag.

Ensemble (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Essen)

Kinderklavier

All dies – die Übersetzung aus dem Russischen stammt von Elina Finkel – erlebt man auch in der Inszenierung von Alice Buddeberg, hell ausgeleuchtet, vorgetragen in sorgfältiger Artikulation, ohne Videoelemente und mit Tönen aus dem Kinderklavier, das Verwalter Jepichodow (Jens Winterstein) einige Male versiert bedient.

Doch wagt diese behutsame Inszenierung eine etwas andere Gewichtung. Wenn sich die kleine Gemeinde, der Worte sind genug gewechselt, am Ende aufmacht in Richtung Bahnhof, ist geradezu Erleichterung spürbar. Man weiß: Bei jedem wird es auf die eine oder andere Weise weitergehen, irgendwie. Und so eine Kirschgartenkatastrophe mag sich durchaus noch einmal wiederholen, auf die eine oder andere Weise, sie ist ja kein Weltuntergang. Die schlichte Weisheit, dass Weiterkommen bedeutet, einmal mehr aufzustehen als hinzufallen, geht einem angesichts des Schlussbildes durch den Kopf.

Szene mit Thomas Büchel (Gajew) und Silvia Weiskopf (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Essen)

Das Gespenst Firs

Der einzige, für den dies alles hier final ist, ist Firs. Schmuddelig weiß ist sein Outfit, das an ein Leichenhemd denken läßt, unwirklich weiß auch ist er geschminkt, ein Fremdkörper unter den anderen Akteuren in ihren schäbigen, bunten Kleiderkammer-kostümen (Köstüme: Martina Küster). Wenn er auf der Galerie (Bühne: Sandra Rosenstiel) hockt, wirkt er wie ein Gespenst, wie eine Videoprojektion, ohne wirklich eine zu sein. Die alte Zeit mit ihren rauschenden Bällen, die alte Ordnung, das alte Russland gar, mit Firs wird es zurückgelassen. Er, nicht die Kirschbäume, sind in Essen die Verlustmasse.

Wohltuende Langsamkeit

Alice Buddebergs Inszenierung erlaubt sich zeitweise eine lange so nicht mehr erlebte, wohltuende Langsamkeit und unterscheidet sich auch damit grundlegend von der lärmenden Dortmunder Studioproduktion des Tschechow-Stoffs. Sicherlich käme man in Essen auch ohne die zwei, drei Lieder aus, die Stephanie Schönfeld ins Mikrophon haucht. Auch wünschte man sich in einigen intensiven Szenen etwas mehr spielerische Zurückhaltung bei einigen Darstellerinnen und Darstellern. Doch werden kleine Unvollkommenheiten durch den respektvollen Umgang mit der literarischen Vorlage mehr als wettgemacht.

Letztlich beweist diese Inszenierung schlüssig, dass Tschechows „Kirschgarten“ auch 115 Jahre nach seiner Uraufführung noch ein hochaktuelles Stück ist. Reicher, herzlicher Applaus.




Von der Qual des ewigen Lebens gezeichnet: Die Oper Bonn zeigt Leoš Janáčeks „Die Sache Makropoulos“

Yannick-Muriel Noah (Emilia Marty) und Martin Tzonev (Dr. Kolenatý) in der Bonner Inszenierung von "Die Sache Makropoulos". Foto: Thilo Beu

Yannick-Muriel Noah (Emilia Marty) und Martin Tzonev (Dr. Kolenatý) in der Bonner Inszenierung von „Die Sache Makropoulos“. Foto: Thilo Beu

Wo endet ein ewiges Leben auf Erden? In Langeweile, Gleichgültigkeit und Suff. Elina Makropoulos, geboren 1585 auf Kreta, kann sich diese Qual nur mit einer Flasche Whisky von der unsterblichen Seele reden. So lässt Christopher Alden in seiner Inszenierung von Leoš Janáčeks „Die Sache Makropoulos“ in Bonn seine Hauptdarstellerin Yannick-Muriel Noah über die Bühne torkeln, bis sie der Tod anfasst und sie bereit ist, zu sterben.

Das ist keine überzeugende Lösung für den inneren Umschwung einer Frau, die mit einem zu Eis erstarrten Herz längst jede Empathie verloren hat und in der nur noch der unbestimmte Drang, ihrer Situation zu entkommen, emotionale Regungen auslöst. Ausgerechnet bei der Protagonistin, um die sich alles drehen soll, geht Alden in seiner für die English National Opera entstandenen Arbeit die Psychologie ab, die er für den Umkreis der 337jährigen Sängerin mit szenischem Geschick und geschliffener Routine einzusetzen hat. Ihr Existenz-Ekel und die Gründe ihrer Wandlung treffen beim Zuschauer nicht ein.

Schade, denn alle weiteren Darsteller balancieren gekonnt zwischen einer mit Ironie angeschliffenen Ernsthaftigkeit und einem schrägen Zug ins Groteske, wie er der tschechischen Literatur der (beginnenden) Moderne eigentümlich ist: Dem Anwaltsgehilfen Vítek verweigert die Regie die Anklänge des Grotesken nicht – die Vorlage von „Več Makropoulos“ ist ja eine Komödie von Karel Čapek – und Christian Georg setzt die kleine Rolle nuanciert um.

Der alte Jaroslav Prus – verlebt, aber mit einem eisernen inneren Willenskern: Ivan Krutikov – und der jüngere Albert Gregor, vernarrt und verzweifelt zugleich in allen Facetten von Thomas Piffka gestaltet, sind die unversöhnlichen Gegner in einem hundert Jahre alten Rechtsstreit. Johannes Mertes als seniler, aus seiner Zeit gefallener alter Liebhaber Hauk-Šendorf, David Lee als zu Tode entflammter jugendlicher Anbeter Janek Prus, Kathrin Leidig als junge, von der erfahrenen Diva entmutigte Künstlerin Krista und Martin Tzonev als angesichts rätselhaft überraschender Enthüllungen zunehmend ratloser Anwalt Kolenatý: Sie alle erbringen eine rundum stimmige Ensembleleistung, ergänzt von Susanne Blattert als nach wie vor stimmlich souveräner Kammerzofe und Miljan Milovic und Anjara L. Bartz als Maschinist und Putzfrau.

Dem Faszinosum der geheimnisvollen Frau erliegen die Männer

Charles Edwards‘ Bühne öffnet sich zunächst zu einer düster bedrückenden Riesen-Kanzlei mit gewaltigem Schreibtisch und einer von Licht durchbrochenen Wand. Man könnte sie zunächst für eine Registratur halten, aber sie erweist sich als eine von Türen durchbrochene Glas-Beton-Fassade, die den Stil der mährischen Moderne der Janáček-Zeit zitiert. Auch der wandfüllende Vorhang, der den Raum später zu einem alle Intimität verweigernden Wohnsalon macht, könnte in Farbe und Muster aus den Vorlagenbüchern des in die Moderne aufbrechenden 20. Jahrhunderts stammen.

Der Schreibtisch mutiert zum Liebeslager, eine Reihe von Stühlen dient Herrenchor und –statisterie als Bezugspunkt, wenn sie mit Gängen und Prozessionen den baren Handlungs-Realismus aufbrechen und zeigen, wie sich alles um das Faszinosum der geheimnisvollen Frau dreht, deren Alterungsprozess ihr Vater einst, als sie 16 war, durch ein für den Habsburger Kaiser Rudolf II. bestimmtes Lebenselixier aufgehalten hatte.

Diese Elina Makropoulos hat sich stets mit unterschiedlichen Namen, alle mit den Initialen E.M., durch die Jahrhunderte gemogelt und ist als Emilia Marty in der Jetztzeit der Oper (1922) angekommen: Yannick Muriel-Noah singt diesen weiblichen Holländer mit unverbraucht jugendlichem Timbre und einer emotionalen Glut, die in wirksamem Kontrast zum behaupteten erkalteten Inneren der Figur steht. Sue Willmington kleidet sie bewusst in nobler Robe mit gedeckten Farben, zunächst kaum unterscheidbar vom Graubraun ihrer Umgebung – ein Schatten aus der Vergangenheit.

Im Graben waltet Hermes Helfricht und betont mit dem Beethoven Orchester Bonn überraschend intensiv die kantablen Seiten der Partitur Janáčeks, weniger den aufgerauten Untergrund, die rhythmischen Irritationen, angeschrägten Akkorde, und grell schneidenden Klänge extrem geführter Instrumente. Die Streicher agieren im Vorspiel zu spröde, um die Momente warmen „böhmischen“ Blühens auszuführen.

Obwohl Helfricht offenbar das Detail sucht, den Moment gestalten lassen will, vertrüge Janáčeks Musik schärfere Konturen, mehr Härte und weniger allzu ästhetisch wirkende Ausgeglichenheit. Allerdings war die besuchte Vorstellung durch einen Zwischenfall überschattet: Ein Musiker war kurz nach dem Vorspiel in Ohnmacht gefallen; die Vorstellung musste unterbrochen werden und begann erst nach 45 Minuten von vorne.

Weitere Vorstellungen: 19., 26., 31. Mai, 19. Juni 2019. Info: www.theater-bonn.de




Trotz eher geringfügiger Titelchancen: In Dortmund grassiert mal wieder das schwarzgelbe Fußballfieber, denn vielleicht…

Vor ziemlich genau 8 Jahren wurde eine Hausfassade in Dortmund meisterschaftsgerecht umgestaltet. (Foto: Bernd Berke)

In jenem Moment noch unvollendet: Vor ziemlich genau 8 Jahren wurde diese Dortmunder Hauswand meisterschaftsgerecht umgestaltet. (Foto: Bernd Berke)

Jetzt dreht man hier in Dortmund schon wieder durch. Zumindest stehen viele Leute kurz davor. Denn rein theoretisch hat der BVB noch Chancen auf den Gewinn der Deutschen Fußballmeisterschaft. Für Schalker kurz erläutert: Dat is‘, wennze die Schale kriss‘.

BVB-Geschäftsführer Watzke wird mit dieser fast übermütigen Einlassung zitiert: „Meine Hoffnung wird jeden Tag größer. Ich bin selber ganz verwundert, weil ich eigentlich Skeptiker bin.“ Er habe, so Watzke demnach weiter, das „Gefühl, dass wir vor großen Dingen stehen“. Er könne es auch nicht erklären. Tja, wer kann das schon?

Unterdessen heißt es bereits, dass die Stadt Dortmund zu etwaigen Meisterfeiern mindestens rund 200.000 Fans erwarte (im verwöhnten München wären es wahrscheinlich gerade mal ca. 20.000 Versprengte, wenn überhaupt). Auch hat man hier bereits die Strecke für einen Autokorso ausgeguckt und abgesteckt: Start wäre am Sonntag um 14:09 Uhr, der Lindwurm der Freude würde sich vom Gelände der Westfalenhütte via Borsigplatz bis zum Ziel am Hohen Wall durch die Gegend winden. Nun gut, so etwas will ja wirklich von längerer Hand geplant sein. Aber es wirkt schon ein wenig vermessen, darüber zu reden. Man sollte es überhaupt nicht beschreien, da bin ich abergläubisch. Nicht schon vorher grölen: „Ey, hömma, Meista!“

Wenn schon, dann so richtig schweinemäßig ungerecht!

Zwischenzeitlich hat die Mannschaft des BVB ja so manches getan, um ihre Titelchancen zu vergeigen. Neun Zähler Vorsprung waren unversehens und erstaunlich rasch dahingeschmolzen. Tiefpunkte waren die grottigen Spiele ausgerechnet gegen Bayern und Schalke. Da hat Trainer Lucien Favre ganz traurig geguckt.

Doch unverhofft ist Borussia Dortmund noch einmal auf zwei Punkte an die Bayern herangekommen – bei ungleich schlechterem Torverhältnis. Bekanntlich muss man am morgigen letzten Liga-Spieltag bei der anderen Borussia in Gladbach antreten, für die es noch um etwas geht (Teilnahme an der Champions League), während Bayern die zuletzt so wechselhaften Frankfurter empfängt, die gleichfalls noch gut Punkte gebrauchen können (wg. Teilnahme an der Europa League oder gar an der Champions League). Den Münchnern reicht jedenfalls ein schnödes Unentschieden. Doch ihr etatmäßiger Torwart Manuel Neuer fällt aus – und es brodeln die Gerüchte um eine Entlassung von Trainer Kovac. Psycho!

Hoffentlich entscheidet nicht irgend ein dubioser Video-„Beweis“ über Wohl und Wehe, ein aus unerfindlichen Gründen zurückgenommener Elfmeter, ein erst aberkanntes und dann doch noch anerkanntes Törchen, ein angebliches Abseits, ein harmloses Foul mit anschließender „Schwalbe“, ein vermeintliches Handspiel („An-ge-schos-sääään! – Wo soll er denn hin mit der Hand?“). Wenn schon, dann soll’s aber so richtig schweinemäßig ungerecht zugehen, damit man hernach alles auf den Schiri schieben kann. Ganz wie früher. Hach. Und wenn wir schon bei Ungerechtigkeiten sind: Nicht unbedingt die Besseren sollen gewinnen (gähn!), sondern die Richtigen, hoho. Keine Widerrede jetzt!

Jeder Aspekt der bevorstehenden „Endspiele“ wird nun um und um gewälzt. Ungemein wichtige Sportredakteure schreiten derzeit mit breiter Brust und dicker Hose durch die Medienhäuser. Soooo spannend war das Finale der Liga seit Jahren nicht mehr. Und sie haben es schon immer gewusst.

Lindner und Özdemir setzen auf Schwarzgelb, Kühnert nicht

BVB-Kapitän Marco Reus ist nach seiner Rot-Sperre wieder dabei – und vielleicht hat Jadon Sancho erneut seine genialischen Momente. Der Junge hat in der gesamten Bundesliga die meisten erfolgreichen Dribblings bestritten. Darauf hätte man auch ohne Statistik gewettet.

Apropos wetten. Jetzt wurden wieder Politiker und sonstige Promis ‚rauf und ‚runter befragt, auf wen sie denn tippen. Für ein Boulevardblatt ist eine sinistre „Wahrsagerin“ angetreten. Außerdem gerade gelesen: Christian Lindner setzt auf „seinen“ BVB (der Mann sitzt im Wirtschaftsrat des Vereins, trotzdem hat man ein mulmiges Gefühl, wenn er Schwarzgelb so höchstpersönlich für sich vereinnahmt), Cem Özdemirs Hoffnungen gehen in dieselbe Richtung. Aber nix mit rot-gelb-grün. Denn Kevin Kühnert hält es mit Bayern München. Der soll bloß aufpassen, dass er nicht auf einmal enteignet wird! Das geht manchmal ganz flott – und schon is‘ der Ball wech…




Feuervogel spreizt farbenfrohe Federn: Das Konzerthaus Dortmund heißt „Maestra Mirga“ willkommen

Mirga Gražinytė-Tyla wurde bereits mit 29 Jahren Chefin des CBSO. (Foto: Pascal Amos Rest)

Ihre Füße stecken in schwarzen Ballerina-Schühchen. Klein, zierlich und mädchenhaft jung wirkt die Frau, die jetzt im Konzerthaus Dortmund aufs Dirigentenpodest steigt und sich verbeugt. Beinahe möchte man um sie fürchten angesichts der schieren Masse von Orchestermusikern, der sie sich an diesem Abend gegenüber sieht: verlangen doch zwei der drei aufgeführten Werke eine ausgesprochen üppige Besetzung. Aber derlei Gedanken verpuffen, sobald die Künstlerin den Taktstock hebt.

Als „Maestra Mirga“ begrüßt das Konzerthaus Dortmund seine neue Exklusivkünstlerin aus Litauen, deren komplizierter Nachname so manchen bei der Aussprache ins Schwitzen bringt. Mirga Gražinyté-Tyla (sprich: Mirga Graschiniiiite-Tilá) kehrt mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra zurück, das sie seit September 2016 als Chefin leitet. Die 32-Jährige tritt am Pult des CBSO in große Fußstapfen: vor ihr formte Andris Nelsons diesen Klangkörper, den Simon Rattle ab 1980 von eher provinziellem Niveau zu internationaler Klasse führte.

Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech heißt die neue Exklusivkünstlerin mit Blumen willkommen. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nicht zufällig eröffnet sie diesen Konzertabend mit Musik von Mieczysław Weinberg. Die Litauerin setzt sich stark für das Werk des polnisch-jüdischen Komponisten ein, das sie für nicht minder bedeutend als das Schaffen von Bach oder Beethoven hält. Weinbergs „Rhapsodie über Moldawische Themen“ gleicht unter ihrer Leitung einem temperamentvollen Ausrufezeichen voller folkloristischer Klänge. Die Dirigentin scheut sich nicht vor ausladenden Gesten, kann aber auch so knapp und präzise sein, dass kein Zweifel aufkommen kann, wie sehr sie den großen Orchesterapparat im Griff hat.

Einer spannungsreichen Einleitung, in der Kontrabässe, Celli und Bratschen im Pianissimo raunen, folgen feurig wirbelnde Tänze, die sich nahe an der Welt von Zoltán Kodály und Béla Bartók bewegen. Hinreißend verführerisch geraten die ruhigeren Passagen, in denen das Tambourin effektvolle Akzente setzt. Das CBSO breitet eine luxuriöse Klangpracht aus, als gelte es, die Salome von Richard Strauss im Tanz der sieben Schleier zu begleiten.

Für die erkrankte Yuja Wang sprang kurzfristig der Pianist Kit Armstrong ein: freilich nicht mit dem 5. Klavierkonzert von Sergej Prokofjew, sondern mit dem Klavierkonzert von Robert Schumann. Der von Alfred Brendel stark geförderte Künstler, der selbst komponiert und neben Musik auch Physik, Mathematik, Chemie und Biologie studierte, bevorzugt in seiner Interpretation kristalline Klarheit statt romantische Emotionalität. Unter seinen Fingern klingt Robert Schumann, als sei er ein direkter Nachfahre von Johann Sebastian Bach.

Kit Armstrong sprang mit Robert Schumanns Klavierkonzert für die erkrankte Yuja Wang ein. (Foto: Pascal Amos Rest)

Das führt zu gläserner Transparenz und introvertiert-leisem Spiel, das sich von Gefühlen bewusst fern zu halten scheint. Der langsame Satz (Intermezzo) klingt eher weltabgewandt als verträumt. Nicht immer wirkt Armstrongs Fingerfertigkeit in den vollgriffigen Akkordfolgen souverän. Aber er hat sein Ohr stets nahe am Orchester, sucht wach und aufmerksam den kammermusikalischen Dialog. Das kommt dem rhythmisch vertrackten Schluss-Satz zugute, der das auch dynamisch sehr ausgewogene Zusammenspiel mit dem Orchester noch einmal unterstreicht.

Zum Abschluss spreizt Igor Strawinskys „Feuervogel“ seine Federn. Es ist ein wahres Prachtvieh, das hier vor unseren Ohren zu tanzen beginnt. Wir hören flirrende Delikatesse, zauberische Leichtigkeit, irisierende Farben. Mirga Gražinyté-Tyla begnügt sich nicht mit der verkürzten Fassung der allseits bekannten Suiten, sondern spielt die Ballettmusik in voller Länge. Daraus wird ein packendes Abenteuer, das über quirlige Holzbläser-Arabesken, ferne Hornsignale und märchenhafte Idylle in den Höllentanz des bösen Zauberers Kaschtschei führt. Frenetischer Beifall.

Informationen zu weiteren Konzerten mit Mirga Gražinyté-Tyla: 

https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/276/?gclid=EAIaIQobChMIjpPYgZei4gIVBeN3Ch2uMQrJEAAYASABEgLv-_D_BwE)

(Der Text ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen).




Jonathan Meese mit „Lolita“ – und manches mehr: Theater Dortmund stellt sein Programm für die nächste Spielzeit vor

Die Optik betont die Unterschiede. Hier die neuen Programmhefte von Philharmonikern, Schauspiel und Ballett (Foto: Pfeiffer)

Was hat Jonathan Meese mit Dortmund zu tun? Nun, bisher eigentlich nichts. Allerdings hätte sich das in diesem Jahr ja ändern sollen, weil Edwin Jacobs – noch, aber nicht mehr lange Chef des „Dortmunder U“ – den Künstler eingeladen hatte, die Sammlung nach seinem Geschmack neu zu hängen. Daraus wird jedoch nichts.

 

Den Meese soll es aber auf jeden Fall geben, wenn auch im Theater und erst im nächsten Jahr. Für den 15. Februar 2020 plant das Schauspiel die Uraufführung des Stücks „Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer Selbst!“ aus der Feder des nämlichen Artisten. Man ahnt: Das wird konzeptionell. Erste Absichts-Erklärungen waren jetzt im Theater zu hören, bei der Spielplanpräsentation für 2019/2020, im Programmheft kann man sie nachlesen. Wie immer es auch werden mag – Meeses (erhoffter) Auftritt ist fraglos ein Höhepunkt im ansonsten nicht unbedingt prickelnden neuen Programm.

Wolfgang Wendland kommt wieder. Hier ist er noch in „Häuptling Abendwind“ zu sehen, in der neuen Spielzeit erleben wir ihn und seine Kapelle „Die Kassierer“ in der Punk-Operette „Die Kassierer und Die Drei von der Punkstelle“. Das kann ja heiter werden. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Voges hält Rückschau

Schauspielchef Kay Voges verabschiedet sich mit „PLAY / Abriss einer Reise“ von Dortmund, einer Produktion, in der Rückschau gehalten wird auf fast 10 Jahre Theaterarbeit in dieser Stadt. Uraufführung soll am 11. Oktober sein, und ganz unsentimental wird es dabei wohl nicht abgehen, denn das Ende einer Intendanz bedeutet fast immer auch das Ende für das Ensemble. Mit Spannung sehen wir den Plänen von Julia Wissert entgegen, die Voges’ Nachfolge antreten wird, besonders in Hinblick auf das Bühnenpersonal.

Neuer Schimmelpfennig

Dostojewskis „Dämonen“ kommen auf den Spielplan, ebenso „Hexenjagd“ von Arthur Miller und ein neues Stück von Roland Schimmelpfennig. „Das Reich der Tiere“ erzählt von fünf Schauspielerinnen und Schauspielern, die in einer mäßig erfolgreichen Tier-Show auftreten und sich Sorgen um ihre Zukunft machen. Eine „Komödie mit Live-Musik“, die hervorragend in die Dortmunder Wechselsituation paßt.

Beethoven zum 250. Geburtstag

Die zehn Konzerte der Philharmoniker sind in dieser Spielzeit Weltstädten gewidmet, beginnend mit New York und endend mit (na?) Dortmund und Belgrad. Gegeben wird am 28. Juni 2020 der „Beethoven-Marathon 2020“, alle neun Sinfonien an einem einzigen Tag, weil Ludwig van Beethoven 2020 vor 250 Jahren geboren wurde. Um 10 Uhr fangen die Dortmunder Philharmoniker an, um 20 Uhr schließlich wird die neunte Sinfonie angestimmt. Dann arbeiten die Dortmunder mit den Belgrader Philharmonikern, dem Slowakischen Philharmonischen Chor Bratislava und vier Solisten zusammen. Die Ost-Beziehungen haben ihren Grund darin, daß Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz auch Chefdirigent der Belgrader Philharmoniker ist.

Die Optik hat sich stark verändert

Was in den unterschiedlichen Sparten gespielt wird, suche man im Internet (www.theaterdo.de). Es steht aber auch in den gedruckten Programmheften, die es jetzt gibt und die beinahe die größte Überraschung der Präsentation sind. Das Theater Dortmund hat seinen medialen Auftritt grundlegend überarbeitet, was dazu führt, daß es jetzt fünf Programmhefte gibt statt eines einzigen dicken Programmbuchs wie bisher, und daß die Sparten Philharmoniker, Ballett, Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater sich nun in ihrem optischen Erscheinungsbild deutlich voneinander unterscheiden.

Geschwundene Liebe zum Orange

Mit unterschiedlichen feinen Serifenschriften auf dem Cover und in den Überschriften präsentieren sich Oper, Philharmoniker und Ballett, während die Theaterabteilungen eine fette serifenlose Typographie bevorzugen. Das knallige Orange, lange Jahre „Logo-Farbe“ des Theaters Dortmund, dominiert nur noch das auf orangefarbenes Papier gedruckte Service-Heft. Übrigens ist es eine gute Idee, so all die Service-Angaben (Kartenvorverkauf, Preise, Aboreihen etc.) zu bündeln und in den Programmheften uneingeschränkten Raum für die Kunst zu lassen. Sinnvoll war überdies, die summa sechs Hefte in einen wertig wirkenden weißen Standschuber zu stecken. Vielleicht etwas teuer, sieht aber wirklich gut aus.




Endstation Walhall: Michael Schulz setzt „Das Rheingold“ von Richard Wagner in Gelsenkirchen neu in Szene

Die Rheintöchter treiben ihr Spiel mit Alberich (Urban Malmberg). (Foto: Karl Forster)

Das Wasser wogt und leuchtet. Licht fällt in die blaue Flut, diese Wiege des Lebens, deren kristallene Klarheit den Blick bezaubert. Im Speisewagen sitzen nur wenige Herren, aber auch sie schauen nachgerade andächtig aus den Zugfenstern, gebannt von der Majestät des Rheins. Nach und nach erkennen wir sie: An den Tischen sitzen Alberich und Wotan. Der zwielichtige Feuergott Loge drückt sich in die Ecke, ein Beobachter des Geschehens. Dann tauchen die Rheintöchter hinter der Bordbar auf.

Willkommen im Rheingold-Express, dem historischen Luxuszug mit seinem gläsern überdachten Aussichtswagen, der einst die Nordsee mit den Alpen verband und die Niederlande mit der Schweiz. Michael Schulz, Generalintendant des Gelsenkirchener Musiktheaters, und Bühnenbildnerin Heike Scheele schicken uns mit Richard Wagners Oper auf eine Reise, die vom Raubbau an der Natur erzählt, von der Gier nach Reichtum und Macht und den zerstörerischen Konsequenzen. Diese werden bereits am Ende der ersten Szene augenfällig. Wenn Alberich der Liebe abschwört und den Nixen ihren Schatz entreißt, wird das Spiel des Lichts auf dem Wasser fahl. Und auf der Oberfläche treibt Plastikmüll.

Der Götter Schar: Donner (Piotr Prochera), Fricka (Almuth Herbst), Wotan (Bastiaan Everink), Froh (Khanyiso Gwenxane) und Freia (Petra Schmidt). (Foto: Karl Forster)

Der Vorabend zum „Ring“-Zyklus wird in Gelsenkirchen als Solitär gegeben, als Auftakt ohne Fortsetzung. Mag mancher Wagner-Fan dies auch bedauern, so führt mit Michael Schulz doch einer Regie, der – um die Nornen zu zitieren – „weiß, wie das wird“; der die weiteren Ereignisse bis zum Ende der Götterdämmerung erkennbar mitdenkt, auch wenn sie nicht aufgeführt werden. Statt den ersten Teil seines in Weimar realisierten Rings ins Revier zu transferieren, hat er sich die Mühe gemacht, die Geschichte noch einmal neu zu erzählen.

Ein Spiel der Interessen

Das Spiel der Götter, Riesen und Zwerge ist bei ihm vor allem eines der Interessen. Die Regie durchleuchtet das wilde Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten, zeigt bis in die Körperbewegungen hinein, wer aus welchen Motiven heraus handelt. Die Geldnot treibt nicht nur Wotan voran: Sie bringt ein Schicksalsrad in Schwung, das sich nicht mehr aufhalten lässt, auch nicht von dem glücklosen Gott. Das pompöse Walhall, das er auf Pump errichten ließ, bleibt in dieser Inszenierung unsichtbar. Ein Luftschloss, fürwahr.

In den wirkungsvollen Bühnenbildern von Heike Scheele, die uns vom eleganten Zugabteil über eine Kühlturmkulisse in einen düsteren Endlos-Stollen namens Nibelheim geleiten, stellt Schulz die Weichen Richtung Untergang. Weshalb dieser heraufdämmert, zeigt er über weite Strecken überaus punktgenau: einerseits hängen die Welten von Riesen, Zwergen und Göttern zusammen, andererseits kann keiner der Charaktere aus seiner Haut. Beim finalen Einzug in die Burg, durch eine Videoprojektion dargestellt wie die Einfahrt in einen virtuellen Bahnhof, sind alle Beteiligten wie in einem Netz gefangen. Walhall bringt keinen Anfang. Es ist eine Endstation.

Erda (Almuth Herbst) warnt Wotan vor der verhängnisvollen Macht des Rings. (Foto: Karl Forster)

Unheimliche Machtgelüste

Vieles ist bestechend genau gezeichnet, so der zauberische Nährwert von Freias Äpfeln und die unheimlichen Machtgelüste des Underdogs Mime, der sich nach Alberichs Entführung mit irrem Lachen in den Chefsessel wirft. Die Verwandlung Frickas in Erda, beide gespielt und gesungen von Almuth Herbst, gelingt auf offener Bühne so einfach wie wirkungsvoll.

Daneben steht manche szenische Verlegenheitslösung. Fragezeichen hinterlässt das unbestimmte und öde Zwischenreich, in dem Alberich seines Ringes beraubt wird. Über dieses triste Setting helfen auch amateurhafte Schattenspiele nicht hinweg. Wo der Mythos das Märchenhafte streift, scheut Schulz sich nicht vor kindlichen Elementen. In der Industrie- und Bergbaukulisse taucht der Riesenwurm als Alu-Abluftrohr auf. Ob sich hinter der winkenden Kindergruppe mit ihrem gemalten Regenbogenbild eine Kritik am Umweltaktivismus à la Greta Thunberg verbirgt oder nicht, ist vermutlich keine entscheidende Frage.

Wenn das Orchester die Muskeln ballt

Von vokaler Krafthuberei, die bei den Riesendramen Richard Wagners leicht in grob deklamierten Sprechgesang umschlägt, ist aus Gelsenkirchen nichts zu berichten. Unter der umsichtigen Leitung von Kapellmeister Giuliano Betta wird erfreulich viel gesungen, auch wenn nicht alle Stimmen die Anforderungen ihrer Partie vollends erfüllen können. Betta hält sich hörbar an das Diktum des Komponisten, dass der Gesangswohlklang der italienischen Schule für Wagners Opern nicht aufgegeben werden dürfe. Die Neue Philharmonie Westfalen spielt unter seiner Leitung einen transparenten, zuweilen beinahe leichtgewichtigen Wagner, der sich dynamisch weitgehend zurückhält. Beim Schrei der von Alberich geknechteten Nibelungen ballt das Orchester eindrucksvoll die Muskeln, aber die kantige Härte der rhythmisch hämmernden Ambosse greift es nicht auf.

Wotan (Bastiaan Everink, l.) und Loge (Cornel Frey, r.) besuchen Alberich (Urban Malmberg) in Nibelheim. (Foto: Karl Forster)

Die nahezu gänzlich aus dem Ensemble heraus besetzte Produktion punktet mit einem starken Wotan: Bastiaan Everink lässt stimmlich kaum Zweifel an seiner Autorität als Hüter der Verträge aufkommen. Cornel Frey gibt einen charakterstarken Loge, der mit einer Mischung aus Eleganz und Spott gekonnt auf der Grenze zum Zynismus balanciert. Dank Almuth Herbst darf Fricka eine von Sorge getriebene Ehefrau sein statt keifende Xanthippe. Dass sie stimmlich obendrein noch in die Tiefen der allwissenden Erda hinab zu steigen vermag, muss man der Künstlerin hoch anrechnen.

Alberich (Urban Malmberg) als Gefangener, im Hintergrund triumphiert Mime (Tobias Glagau). (Foto: Karl Forster)

„Ihr hattet die Wahl“

Urban Malmberg gibt dem finsteren Alberich gallige Töne der Erbitterung. Unterdrückte Wut, herrisches Kommando und eine Portion Verschlagenheit liegen so nahe beieinander, wie es sich für den fiesen Chef-Nibelungen gehört. Wenn es dann aber endlich zum Ring-Fluch kommt, kann Malmberg kaum noch Reserven aktivieren. Stimmlich blass bleibt der Mime von Tobias Glagau, der unter Alberichs Knute zwar jammert und stöhnt, als Charakter indessen nur darstellerisch greifbar wird.

Das Schlusswort gebührt den Rheintöchtern, in Gelsenkirchen gesungen von Bele Kumberger (Woglinde), Lina Hoffmann (Wellgunde) und Boshana Milkov (Flosshilde). Deren Übermut wogt uns in strahlendem Dur entgegen, klingt am Premierenabend aber in manchen Spitzentönen hart. Der Umschlag von jubelnder Lebensfreude in klagenden Wehlaut gelingt gleichwohl gut. Später, während eines Zwischenspiels, entfalten die sehnsüchtigen Undinen ein Stoffbanner mit einer Aufschrift. Unentrinnbar dem Untergang geweiht, konfrontieren sie uns, für die es womöglich ebenfalls zu spät ist, mit einer bitteren Wahrheit: „Ihr hattet die Wahl“.

Termine und Informationen: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2018-19/das-rheingold/#date_2019-05-11_1930




Die Gesellschaft verzeiht nichts: „Max und Moritz“ in der Regie von Antú Romero Nunes bei den Ruhrfestspielen

Max und Moritz (Stefanie Reinsperger und Annika Meier) (Foto: JR/Berliner Ensemble/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Ein wenig nerven sie schon: Max und Moritz, die in Deutschland weltberühmten Wilhelm-Busch-Geschöpfe, die da auf der Bühne, ungelenk zunächst, ihre Gliedmaßen bewegen, ihre Beweglichkeit entdecken, etwas später auch den Körper erforschen, auch zwischen den Beinen, wo das kleine Fingerchen plötzlich zur Faust am ausgestreckten Arm wird.

Ist aber nur Spaß; wie das alles nur Spaß ist, köstliche Kinderalbernheit, begleitet von seligen Lustlauten in Teletubbi-Manier, „O-o“ in leicht abfallender Tonfolge. Man kriegt es nicht mehr aus dem Kopf, wenn es sich da einmal festgefressen hat. Max und Moritz also auf Pampers-Niveau? Zunächst schon.

Die Bilderwelt Wilhelm Buschs

In einer Koproduktion des Berliner Ensembles mit den Ruhrfestspielen erzählt Antú Romero Nunes die Bildergeschichte der beiden Knaben (mit ganzem Einsatz gespielt von Stefanie Reinsperger und Annika Meier) nach, die irgendwann natürlich dem Säuglingsalter entwachsen, aber doch Kinder bleiben.

Liebevoll sind auch die anderen Personen ausstaffiert und geschminkt, wurden die häufig recht ikonographischen Bildkompositionen Buschs nachempfunden oder – wie der Herd der Witwe Bolte – durch emsiges Bemühen um den Zusammenbau gleichsam reinszeniert. Manches Mal auch sorgt ein in das Geschehen ungelenk hineingefummelter Bilderrahmen für Widererkennbarkeit einer Szene und Aha-Effekt (Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Victoria Behr). Und wüßte man es nicht besser und würde man Wilhelm Busch nicht kennen, so könnte man sich bei so viel anspruchsvoller Künstlichkeit auch in einer Produktion Robert Wilsons wähnen. Nur geht es hier noch viel lustiger zu.

Ein stolzer Hahn ist auch dabei (Foto: JR/Berliner Ensemble/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Hahn und Hühner

Zum Niederknien komisch gerät der Hühnermords bei Witwe Bolte, der akribisch genau nacherzählt wird – bis hin zu jener technisch anspruchsvollen Szene, in der Max und Moritz sich den Braten durch den Schornstein angeln. Schauspieler geben drei flatternde Hühner und einen arroganten Hahn, sind eine köstliche Lachnummer, die ausgiebig dargeboten wird. Doch amüsiert man sich hier etwa unter Niveau?

Todesstrafe

Keine Bange. Nunes veranstaltet keine krachkomische Nummernrevue, was der Vorlage ja durchaus entspräche, sondern zeichnet mit den Protagonisten – Witwe Bolte, Lehrer Lämpel, Schneider Böck, Onkel Fritze, Meister Müller – die Gesellschaft nach, in der all dies geschieht. Und die die Streiche von Max und Moritz mit dem Tod bestraft. Man bemerkt die Absicht möglicherweise nicht so schnell, in diesem Schwall nicht enden wollender Heiterkeit.

„Max und Moritz“ – und im Vordergrund die Witwe Bolte (Sascha Nathan) (Foto: JR/Berliner Ensemble/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Fallhöhe

Kluge Köpfe haben darüber spekuliert, ob Buschs Bildergeschichte nun Schwarze Pädagogik ist oder eine entwaffnende Kritik derselben. Nunes jedoch macht aus dem Stoff eine veritable Tragödie. Wenn sich die Kinder – nicht ganz der Vorlage gemäß – schließlich in der Backstube ausziehen müssen, wenn sie sogar ihre typischen Haartrachten abgeben müssen, um in der Mehlkiste gewendet und hernach gebacken zu werden, dann ist das unerwartet bedrückend, dann ist da plötzlich schwindelerregend viel kathartische Fallhöhe. Dann wird es auch sehr still im Zuschauerraum. Und man ist dem Regisseur dankbar, daß er das ganz finale „Rickeracke“ wegläßt.

Weitere „Max und Moritz“-Szene (Foto: JR/Berliner Ensemble/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Empörung

Denn er hat ja recht. Was man den Kindern antut, ist empörend. Würde man einen Jugendrichter fragen, wie gravierend die Straftaten der beiden Knaben waren, würde der wahrscheinlich abwinken. Kaum der Rede wert. Dieses Unrecht empört Antú Romero Nunes, und ihm ist auch die ironische Sicht zu wenig. Da unterscheidet er sich natürlich von Wilhelm Busch, der gerne in der Pointierung die Wahrheit fand, der klarere Positionierungen in Leben und Werk aber vermied und lieber auf Distanz blieb. Hier nun, ganz plötzlich: Gesellschaftskritik, über deren Aktualität zu diskutieren wäre.

Ein großartiges Stück Theater

Jedenfalls ist diese Produktion ein großartiges Stück Theater geworden, überwiegend heiter und tragisch doch auch, voll Hochachtung vor dem Autor der Vorlage, deren biedermeierlich-gefährliche Kleinbürger und Bildentwürfe hier so wunderbar auf die Bühne gestellt werden. Der erzählerische Duktus ist von selten gewordener Souveränität, die Musik (Johannes Hofmann, auf der Bühne Carolina Bigge) fein gesetzt.

Das Berliner Ensemble unter der immer noch recht neuen Leitung von Oliver Reese hat sich nachdrücklich empfohlen. Begeisterter Applaus.

  • In Recklinghausen wird das Stück nicht mehr gespielt.
  • Die nächsten Berliner Termine: 22. und 26.5., 1., 2., 15. und 16.6.
  • www.berliner-ensemble.de



„Kinder First. Westentasche Second.“ oder: Eine lustige Mail von der Digital-Partei

Kommt mal ein bisschen näher! Ich muss Euch was erzählen. Hinter vorgehaltener Hand. Ohne Ross und Reiter genauer zu nennen:

Ob die hier vorherrschenden Farben etwas mit dem Thema zu tun haben? Jedenfalls scheint es sich um einen entschieden digitalisierungsfreudigen Menschen zu handeln. (Foto: Bernd Berke)

Ob die hier vorherrschenden Farben etwas mit dem Thema zu tun haben? Jedenfalls scheint es sich um einen entschieden digitalisierungsfreudigen Menschen zu handeln. (Foto: Bernd Berke)

Es begab sich aber zu der Zeit, dass eine kleine deutsche Partei sich zur Antreiberin und Hüterin der Digitalisierung aufschwingen wollte. Ihr oberster Guru, einer mit Zweieinhalb-Tage-Bart, gab gar in schreienden Versalien und ausgefuchstem Hipster-„Denglisch“ diese Plakat-Parole aus:

„DIGITAL FIRST. BEDENKEN SECOND.“

Das konnte man schon sprachlich ein wenig bedenklich finden, vom „Inhalt“ mal abgesehen. Aber es kommt noch besser. Dieser Tage kursierte im Raum Dortmund eine E-Mail, in der eine regionale Gliederung just jener Partei zum neudeutschen „ChancenTalk“ (Wow!) mit einem gewissen „Christian Kinder“ einlud. Moment mal! Heißt der nicht etwas anders? War nicht etwa genau der Mann gemeint, der auf dem Digital-Plakat zu sehen war? Potzblitz! Das wäre ja…

Noch rätselhafter der Name der Haltestelle, an der man aussteigen sollte, sofern man zum besagten Termin den ÖPNV nutzte (was man Anhängern jener Partei nicht unbedingt als Gewohnheit zuschreibt): U-Bahn-Station „Westentasche“. Ähemm. Die findet man wohl auf keinem Dortmunder Fahr- oder Stadtplan. Allenfalls Westentor.

„Kinder First. Westentasche Second.“?

Bald darauf kam die Korrektur. Der nicht ganz einflusslose Parteifunktionär bekannte, ein neues Tablet zu haben und damit (mit diesem digitalen Biest?) noch nicht so zurechtzukommen. Einfaches Korrekturlesen vor dem Absenden hätte vielleicht segensreich sein können. Aber wer wird denn so kleinlich sein! Obwohl: Hieß eine Lieblingslosung jener Partei nicht „Leistung muss sich wieder lohnen“?

Natürlich werde ich niemals verraten, wer den Rundbrief verfasst hat. Immerhin haut er im Vorfeld des „ChancenTalks“ (Wow!) so richtig auf die Pauke: „Wir (…) wollen Europa wieder zum Leuchten bringen“. Hoffentlich haben sie auch die entsprechenden Leuchtmittel.




Ruhrfestspiele: Peter Brook erzählt die Geschichte vom Gefangenen, der nicht ins Gefängnis darf

Szene mit dem Gefangenen (Hervé Goffings, links) und seiner Schwester (Kalieaswari Srinivasan). (Foto: Simon Annand/Ruhrfestspiele)

Stöcke, Äste, Baumstümpfe – karg ist die Bühne möbliert, nur so viel Material wie nötig. Trotzdem ist die Anmutung naturalistisch, zumal das Stück in Afrika spielt, und dort sieht es vielleicht ja so aus, stellenweise. Vor allem aber ist dies eine Bühne nach dem Geschmack von Peter Brook, dem großen, unglaubliche 94 Jahre alten britischen Theatermann, dessen Stück „The Prisoner“ bei den Ruhrfestspielen seine Deutschlandpremiere hatte.

Das scheinbare Paradox dieses Stückes, das Brook zusammen mit Marie-Hélène Estienne schuf, liegt darin, dass der Gefangene (the prisoner) eben kein Gefangener ist, sondern vor dem Gefängnis verharren muss. Es ist ihm so aufgegeben, zur Reflexion über sich selbst, über seine Tat, über Schuld und Sühne, innere und äußere Freiheit und manches andere mehr. Das zumindest sei, ist zu lesen, der Anspruch des Stücks.

Vatermord

Anlass für all das ist der Mord, den der Gefangene an seinem Vater verübte, als er ihn beim Beischlaf mit seiner Schwester überraschte, die er, der Gefangene, selbst mehr liebt als ein Bruder seine Schwester lieben sollte. Das ist eigentlich ziemlich psychologisch, bleibt jedoch im Ungefähren, weil es um Inzest hier angeblich nicht geht.

Der Täter also wird zunächst körperlich misshandelt und dann zu zehn Jahren Einzelhaft verurteilt. Ein liebender Onkel kann bewirken, dass er aus der Haft entlassen wird und der Onkel die Bestrafung übernimmt. Und die besteht – eben – aus dem beschriebenen Setting vor dem Gefängnistor.

Kalieaswari Srinivasan  (Foto: Simon Annand/Ruhrfestspiele)

Bedeutungsschwer

Die sparsame Bühnenausstattung (Licht: Philippe Vialatte, Bühnenelemente: David Violi) findet ihre Entsprechung in kargen akustischen Setzungen, in Tierschreien und, zum Ende hin, Baugeräuschen, wenn das alte Gefängnis (unsichtbar) abgerissen wird.

Wer angesichts dieses umfangreichen Geschehens {hinzu kommt noch die Einbettung der Geschichte in eine Rahmenhandlung, in der eine ethnologisch interessierte Ärztin sich an ihre Begegnung mit dem Gefangenen erinnert) aktionsreiches Bühnengeschehen erhofft, wird indes enttäuscht. Die Inszenierung ist eine überaus statuarische Veranstaltung, in der kaum ein Satz ohne Weisheit ist, in der aber auch der Dialog als Mittel des Erkenntnisgewinns abgeschafft wurde. Statt dessen zerdehnen viele, in ihrer Summe schwer erträgliche Pausen zwischen den Sätzen das ganze in vorgebliche Bedeutungsschwere.

Angeblich nicht absurd

Woher kommen die Weisheiten, die richtigen Fragen, die richtigen Anleitungen? Anders als beispielsweise bei Franz Kafka oder Samuel Beckett, an die man angesichts des scheinbar absurden Bühnengeschehens durchaus denken mag, wird es in „The Prisoner“ Antworten auf solche Fragen geben. Nur vermitteln die sich nicht in der Inszenierung. Alles passiert irgendwie und ohne erkennbare Mechanik, und deshalb vermag dieses Theater beim Zuschauer kaum die assoziative Maschine in Gang zu setzen, ihn weiterdenken zu lassen, die Dinge gar auf sich und die eigene Existenz zu beziehen.

Weitere Distanz schafft übrigens das Spiel in englischer Sprache, die vollends oft erst verständlich wird, wenn man die deutsche Übertitelung liest. Und mit ein wenig Wehmut denkt man an atemberaubende Theaterarbeiten Peter Brooks wie „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ nach der Vorlage von Oliver Sacks. Aber das ist schon lange her.

Fünf Bühnenkünstler aus Paris

Hayley Carmichael, Hervé Goffings, Omar Silva, Kalieaswari Srinivasan und Vasant Selvam heißen die Akteure des Pariser Théâtre des Bouffes du Nord, die untadelig spielten, denen das Stück schauspielerisch aber auch relativ wenig abverlangt. Lange 80 Minuten, wohlwollender Applaus.

  • Keine weiteren Vorstellungen in Recklinghausen

 

 




Dünen, Wellen, Windmühlen – Ausstellung im „Dortmunder U“ zeigt den niederländischen Aufbruch in die Moderne

Ferdinand Hart Nibbrig: „Auf den Dünen in Zandvoort", 1892 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Ferdinand Hart Nibbrig (1866-1915): „Auf den Dünen in Zandvoort“, 1892 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Da haben die beiden Holländer sicher recht: Die Freuden des Sommers genießen viele Deutsche, zumal aus dem Ruhrgebiet, sehr gerne in ihrem schönen Land, in den Dünen, am Strand und in den gemütlichen kleinen Städten. Diese sicherlich nicht ganz neue Erkenntnis hat Edwin Jacobs, (Noch-) Direktor des Dortmunder Kunst- und Kulturzentrums U, und Jan Rudolph de Lorm, Direktor des Museums Singer in Laren, auf die Idee gebracht, Kunst der Niederländischen Moderne sozusagen nach Urlaubsaspekten für eine Ausstellung auszuwählen. Es entstand „Ein Gefühl von Sommer…“, eine hübsche Bilderschau, die jetzt im Dortmunder U, im Museum Ostwall zu sehen ist.

Anton Mauve (1838-1888): Das neugeborene Lamm, um 1884 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Ein Deal

Nun ja; etwas nüchterner betrachtet verhält es sich wohl so: Die beiden Museen, eben Ostwall in Dortmund und Singer in Laren, zeigen im jeweils anderen Haus das Beste aus dem eigenen Bestand, ein Tauschgeschäft. Rund 70 Werke aus Dortmund sind derzeit in dem holländischen Museum zu sehen, 110 von dort nun hier. Hintergrund ist (auch) die derzeitige Schließung des Ostwall-Museums wegen (mal wieder) erforderlicher Umbauarbeiten, weshalb „Ein Gefühl von Sommer…“ im 6. Stock gezeigt wird, auf der Sonderausstellungsfläche.

Zeitlicher und thematischer Querschnitt

Sie hätten die von Regina Selter kuratierte Schau natürlich auch anders nennen können, denn präsentiert wird ein munterer zeitlicher und thematischer Querschnitt durch die niederländische Malerei der Jahrhundertwende, der man gut 40 Jahre einräumt. In Dortmund sind die Bilder auf 10 Kabinette verteilt, die Landschaften, Portraits, Modernes Leben usw. zum Schwerpunkt haben.

Es gab, erfahren wir, Vereinigungen wie die Bergener Schule oder den Kunstkreis De Ploeg, an Kunstrichtungen ist zwischen Impressionismus und Neuer Sachlichkeit alles vertreten, was zeitgleich auch in Deutschland wirkte. Die Namen der Künstler indes sind wohl nur wenigen Menschen in Deutschland geläufig, Piet Mondrian immerhin ist dabei, der seinerzeit aber noch durchaus verwechselbar arbeitete, oder Kees van Dongen. Doch mag das zu einem nicht geringen Maße an der nationalen Perspektive liegen, aus der heraus nicht nur in Deutschland die „eigenen“ Künstler bevorzugt werden.

Lou Loeber (1894-1983): Mühle, 1922 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Laren und die Künstlerkolonie

Gerade deshalb hat es jedoch seinen Reiz, einmal zu erfahren, wie sich das Kunstgeschehen vor etwa hundert Jahren jenseits der Grenze vollzog, die vielleicht auch damals schon ein bißchen weniger hoch als jene zu anderen Nachbarstaaten war. In Laren, jenem 12000-Seelen-Ort 30 Kilometer östlich von Amsterdam, Standort des Museums Singer Laren, existierte in jener Zeit eine bemerkenswerte Künstlerkolonie. Ihre Blütezeit erlebte sie zwischen den Jahren 1880 und 1920, und bemerkenswert ist zudem, daß sich das Schaffen der Künstlerinnen und Künstler in diesem Zeitraum erheblich modernisierte, sich von traditionellen „holländischen“ Malweisen und Genres zunehmend avantgardistischen Positionen zuwandte.

Gouden Eeuw

A propos holländisch: Denkt man an holländische Malerei, so denkt man an die Kunst des Barock, an das „Gouden Eeuw“, das goldene Zeitalter, das für die Niederlande das 17 Jahrhundert war, als man zu den Weltmächten zählte, international Geschäfte machte, Wohlstand anhäufte und nicht zuletzt die Malerei einen unerhörten Aufschwung erfuhr. Und, die Holländer sind Kaufleute, natürlich auch der Kunsthandel. Holländische Malerei – Landschaften, Stilleben, Seestücke, Portraits usf. – wurde geschäftsmäßig bestellt und geliefert, die Maler jener Zeit, nennen wir als die berühmtesten nur Rembrandt und Rubens, führten Unternehmen mit zahlreichen Angestellten und verdienten klotzig.

Kees van Dongen (1877-1968): Der blaue Hut, 1937 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Fahrräder und Telegraphenmasten

An diese Tradition versuchten die Maler der frühen niederländischen Moderne durchaus anzuknüpfen, und die Nachfrage war, glaubt man den Kuratoren, so gut, daß die kleinen Messingschildchen auf den Bilderrahmen für den Export von vornherein in den Sprachen der Empfängerländer verfaßt wurden. Ähnlich wie 200 Jahre zuvor bestimmen Kühe, Weiden, Wolkenhimmel das Erscheinungsbild, auf den ersten Blick wähnt man sich in einem modernisierten 17. Jahrhundert.

Gewiß, manches hat sich geändert, die engen Harmonievorstellungen der Altvorderen werden erschüttert durch harte oder indifferente Lichtführung, engere Bildausschnitte und erste leise Abstraktionen, durch verfremdende Maltechniken wie beispielsweise den Pointillismus, vor allem aber auch durch gewiß nicht ironiefrei eingefügte Elemente der neuen Zeit, durch Fahrräder, Telegraphenmasten oder gar, Schreck laß nach, durch ein Fußballfeld im Hintergrund. Manche Maler ließen es einfach etwas lockerer angehen, hat man den Eindruck, Gelassenheit galt wahrscheinlich damals schon als holländische Nationaltugend.

Maler aus den USA

So. Was und wo Laren ist und warum es zwischen dem kleinen Nest (pardon) und der Westfalenmetropole Dortmund einen so fruchtbaren Kunstaustausch gibt, müßte jetzt klar sein. Bleibt zu erzählen, wer die Singers sind. Der Amerikaner William Henry Singer jr. und seine Frau Anna Singer-Brugh kamen 1902 nach Laren, sammelten die Kunst ihrer Zeit, zeigten sie in ihrer 1911 errichteten Villa De Wilde Zwanen, die Anna Singer 1956 zu einem Museum machte. Singer war selber Maler, überdies Sproß einer überaus reichen Pittsburger Industriellenfamilie. Die Entscheidung des Sammlerehepaares, nach Laren zu gehen, läßt die Bedeutung erahnen, die der Ort, den die holländische Kunst in jenen Jahren hatte.

Albert Neuhuys (1844-1914): Mädchen mit Blume, um 1910 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Liebermanns Strandurlaub

Übrigens war die niederländische Kunstszene keineswegs nur eine Parallelveranstaltung zur deutschen, man kannte und man schätzte sich. Max Liebermann, dessen Hollandbilder in Deutschland recht bekannt sind, verbrachte samt Familie neun Sommerurlaube an der holländischen Küste und pflegte, das ist belegt, engen Kontakt mit den dortigen Kollegen, Max Beckmann tat dies ebenso.

Erinnerungen an das alte Laren

Eine Besonderheit der Dortmunder Bilderschau sind übrigens wandgroße Schwarzweiß-Reproduktionen alter Fotografien von Laren und Umgebung. Oft stören solche Elemente ja eher, hier aber, in einer ansonsten streng geordneten Präsentation, ist ihre verortende Wirkung sinnvoll und angenehm. Darüber hinaus vermitteln auch sie „Ein Gefühl von Sommer…“, zumal dann, wenn sie in ihrem ersten Leben Urlaubspostkarten waren.

  • „Ein Gefühl von Sommer… – Niederländische Moderne aus der Sammlung Singer Laren“
  • Museum Ostwall im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse
  • Bis 25. August. Geöffnet Di+Mi 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr
  • Eintritt 9 EUR, Katalog 24,95 EUR
  • Tel. 0231 / 50 2 47 23
  • Anmeldungen und Buchungen: www.mo.bildung@stadtdo.de
  • museumostwall.dortmund.de



Mörderischer Goldschmied, getarnter Zar: Theater Hagen stellt Programm für die Spielzeit 2019/20 vor

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

192 Seiten, vollgepackt mit Programm: Ironisch signalisiert das Theater Hagen mit dem Reclam-Heft-Format seiner Spielzeit-Übersicht 2019/20 wieder Sparsamkeit. Inhaltlich allerdings fächert es den ganzen Reichtum auf, den das in den letzten Jahren arg gebeutelte Haus mit dem Team um Intendant Francis Hüsers aus seinem 18-Millionen-Etat zaubert. Eine bunte Vielfalt tut sich auf, die gleichwohl einige durchgehende Linien sichtbar werden lässt, die sich in den nächsten Jahren in den Spielplänen abzeichnen sollen.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das "Datenheft" des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das „Datenheft“ des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Im Musiktheater schreitet Hüsers vom Schwerpunkt der Romantik in der laufenden Spielzeit weiter in Richtung des Beginns der Moderne: Die Spielzeit eröffnet am 21. September 2019 Paul Hindemiths „Cardillac“, basierend auf dem romantischen Stoff des „Fräuleins von Scuderi“ E.T.A. Hoffmanns, komponiert aber in bewusster Abkehr von romantischer Einfühlung, in einem betont objektivierenden, „neusachlichen“ Stil. Der Stil der Oper, auch als „Bauhausbarock“ bezeichnet, passt zum 100-Jahre-Jubiläum des Bauhauses, das auch in Hagen gefeiert wird.

Den zweiten Schritt in die Moderne signalisiert Richard Strauss‘ „Salome“ ab 4. April 2020, inszeniert von Magdalena Fuchsberger, die in dieser Spielzeit mit Verdis „Simon Boccanegra“ als ambitioniertes Kopftheater für kontroverse Kritiken sorgte. Die Hindemith-Oper ist Jochen Biganzoli anvertraut, der momentan mit seiner Inszenierung von „Tristan und Isolde“ dem Theater Hagen überregionale Aufmerksamkeit sichert.

Mit dem Beginn der Moderne könnte man auch Franz Lehárs „Der Graf von Luxemburg“ verbinden – eine Operette, die wie die „Lustige Witwe“ ironisch mit der Auflösung scheinbar althergebrachter gesellschaftlicher Strukturen und Werte spielt. Roland Hüve inszeniert den Erfolg von 1909, der am 26. Oktober Premiere hat. Als Kontrapunkt zur Operette „Pariser Leben“ in dieser Spielzeit und als Abschluss des Offenbach-Jahres kommt „Hoffmanns Erzählungen“ auf die Hagener Bühne. Susanne Knapp inszeniert die Reminiszenz an die Romantik, die in der Zerrissenheit ihres Helden auch in die Moderne vorausweist; Premiere ist am 30. November. Auch das Ende der Spielzeit im Sommer 2020 hat mit der Moderne zu tun: In Jerry Bocks „Anatevka“ geht auch eine alte Welt unter, die viel mit nostalgischen Träumen zu tun hat, und muss der neuzeitlichen Brutalität organisierter Pogrome weichen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Eine andere Linie, die in dieser Spielzeit mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ (Premiere am 18. Mai) bedient wird, führt Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ am 29. Februar 2020 weiter. Kerstin Steeb übernimmt die Aufgabe, in ihrer Inszenierung die Inhalte freizulegen, die eine Oper an der Schwelle der Aufklärung mit unserer Zeit verbindet. Um einen aufgeklärten Herrscher geht es auch in „Zar und Zimmermann“, mit dem am 1. Februar 2020 endlich wieder einmal eine Oper Albert Lortzings in der Rhein-Ruhr-Region zu sehen ist. Denn Zar Peter der Große schleicht sich inkognito in eine niederländische Hafenstadt ein und mischt die kleinbürgerliche Gesellschaft ordentlich auf – alles natürlich versteckt unter harmlosem Gedöns, um die damalige Zensur nicht aufmerksam zu machen.

Neue Ballettdirektorin choreografiert zwei Abende

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Mit Marguerite Donlon tritt in Hagen eine neue Ballettdirektorin ihre Aufgabe an und stellt sich am 5. Oktober mit einem Abend um eine starke Frau vor: „Casa Azul“ nennt die gebürtige Irin Donlon ihren Einstand den sie der mexikanischen Malerin mit deutschen Wurzeln Frida Kahlo widmet – einer Künstlerin, die lange als „exotische Blume am Knopfloch des großen Meisters Diego Rivera“ galt und erst in den Siebziger Jahren im Zuge der Frauenbewegung in ihrer wirklichen Bedeutung erfasst wurde.

Eine weitere Choreografie, die Donlon bereits 2009 in ihrer Zeit als Ballettdirektorin in Saarbrücken entwickelt hatte, bildet den Abschluss der Hagener Ballettabend-Trias: „Schwanensee – Aufgetaucht“ in einer Kombination der Musik Tschaikowskys mit elektronischen Sounds von Sam Auinger und Claas Willeke (Premiere am 9. Mai 2020). Dazwischen, am 13. Februar, zeigen die Tänzer*innen (das Heft ist konsequent mit Sternchen durchgegendert) der Compagnie in kurzen Szenen einer „kreativen Werkstatt“ ihr choreografisches Können. „Substanz“ heißt dieser Abend.

Rock-Shows und sinfonische Neugier

Im Schauspiel setzt das Haus neben einer eigenen Produktion – Shakespeares „Sommernachtstraum“ in der Regie von Francis Hüsers – auf Gastspiele. Im Programm finden sich auch die bewährten Kabrett-Abende sowie als Wiederaufnahme die erfolgreiche Rock-Show „Take a Walk on the Wild Side“, fortgesetzt durch die Neuproduktion „Wenn die Nacht am tiefsten (… ist der Tag am nächsten)“ am 14. März 2020, eine Bühnen-Party, in der nach den amerikanischen Titeln nun deutscher Rock und Punk zu seinem Recht kommt – von den Toten Hosen bis Nena.

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Der Blick ins orangefarbene Heft zeigt auch, dass GMD Joseph Trafton mit dem Orchester Hagen ein Programm auflegt, das so gar nichts von verstaubter Abonnenten-Bedienung an sich hat, sondern pfiffig und vielseitig Neugier weckt: Ob eine von Bauhaus-Künstler Wassily Kandinskys Bühnenentwürfen inspirierte Video-Show von Arthur Spirk zu Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“, ein russisches Programm mit dem von Steven Isserlis gespielten Cellokonzert Nr. 2 von Dmitri Kabalewsky oder Robert Schumanns „Das Paradies und die Peri“, ergänzt von „Blue Cathedral“, einem von bisher über 400 Orchestern gespielten Klangpoem der Amerikanerin Jennifer Higdon aus dem Jahr 2000. Orchesterdirektorin Antje Haury bestätigt die Beobachtung: Im sinfonischen Repertoire stehen diesmal viel mehr Werke von Frauen als sonst üblich: Neben dem Klavierkonzert der Jahres-Jubilarin Clara Schumann, gespielt am 19. Mai 2020 von Alexander Krichel, enthalten die Programme Werke von Lili Boulanger, Fanny Hensel-Mendelssohn und Kaija Saariaho.

Das abwechslungsreiche Programm des Kinder- und Jugendtheaters im Lutz, zwei große Vermittlungsprojekte gemeinsam mit dem Orchester, die Gründung einer neuen Jugendtanzgruppe und einer Orchesterakademie zeigen: Das Theater Hagen geht gut aufgestellt in die neue Spielzeit und wirkt mit seinen großen, ambitionierten Produktionen, aber auch mit seinen kleinen ehrgeizigen Projekten hinein in die Stadtgesellschaft.

Info: www.theaterhagen.de




Erst kommt das Fressen, dann fehlt die Moral: „Das Heerlager der Heiligen“ bei den Ruhrfestspielen

Szene aus "Heerlager der Heiligen". (Foto: Robert Schittko/Ruhrfestspiele)

Szene aus „Das Heerlager der Heiligen“. (Foto: Robert Schittko/Ruhrfestspiele)

Der Mann isst. Er sitzt an einer langen Tafel und stopft sich mit Speisen voll. Nach und nach gesellen sich seine Freunde und Weggefährten dazu und beginnen, ebenfalls zu futtern und Wein zu trinken.

„Once upon a time in Europe“ steht als Schriftzug über der Szene, die wie ein mittelalterliches Filmset in einem Ritterschloss wirkt. Diesen Europäern hier geht es gut, ja zu gut, bis hin zur Dekadenz. Sie leiden keinen Mangel und fürchten sich dennoch sehr: vor dem Ansturm der Armen, die auf Schiffen zu ihrer Küste unterwegs sind und ihnen ihren Wohlstand streitig machen wollen.

Einen schwierigen, abstoßenden und streckenweise menschenverachtenden Text hat sich Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer mit „Das Heerlager der Heiligen“ von Jean Raspail vorgenommen, den er jetzt (in einer Bearbeitung gemeinsam mit Marion Tiedtke) bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen in Kooperation mit dem Schauspiel Frankfurt als Uraufführung herausbrachte.

Buchvorlage schürt Angst vor Einwanderung

Das Buch ist beliebt bei den Rechten, beispielsweise Marine Le Pen zitiert gerne daraus. So muss die Bühnenadaption eine Gratwanderung vollführen: Die Ängste und Gewaltfantasien, die gegenüber einer Masseneinwanderung aus der dritten Welt vorherrschen, als das zu entlarven, was sie sind: Fiktionen, die dazu dienen, die Bürger nationalistischen Parteien in die Arme zu treiben, um eine rigorose Abschottungspolitik zu legitimieren.

Denn ohne Zweifel entwickelt dieser Text eine diabolische Kraft, wenn man annimmt, dass auch die Furcht vor dem Fremden zum Menschen gehört und der Zivilisation innewohnt. Diese wiederum soll archaische, gewalttätige oder sexuelle Impulse bannen – damit spielt der inzwischen 93-jährige Autor ganz bewußt. Dabei ist Raspails Buch bereits 1973 erschienen, sein Szenario erinnert aber fatal daran, was wir 2015 im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise erlebt zu haben glauben.

Wo Mitleid als Verweichlichung gilt

Die Schauspieler, angetan mit bourgeoiser Garderobe für eine Abendeinladung, aber mit bleich geschminkten Gesichtern (Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch) spielen beides grandios: Die Lethargie der vollgefressenen Langeweile ebenso wie ihren Umschlag in Brutalität, Lüsternheit und Gewalt. Dabei gelingt es ihnen, die Bilder der mit Indern vollbesetzten Schiffe, die auf die französische Südküste zusteuern, rein durch sprachliche Imagination lebendig werden zu lassen. Plastisch und manchmal ekelerregend werden die Zustände an Bord beschreiben mitsamt Leichen und Fäkalien.

Ein Schaudern erfasst dabei die Zuschauer: Mitleid scheint hier niemand zu empfinden. Dieses Gefühl wird als Schwäche, als westliche Verweichlichung abgetan. Den Männern (Daniel Christensen, Stefan Graf, Michael Schütz und Andreas Vögler) dient die Situation dazu, buchstäblich die Sau herauszulassen und sich als Bürgerwehr auszutoben, wenn schon der schwache Staat die Armen nicht aufhält, dazu sind die Jagdflinten im Ritterschloss bequem zur Hand. Die Frauen (Katharina Bach, Xenia Snagowski) illustrieren das Problem der hereinbrechenden Überbevölkerung u.a. mit unzähligen kleinen Plastikpuppen, die sie an ihrem Busen nähren und die ganz zum Schluss die Bühne überschwemmen.

Dabei geht am Ende die Pointe des Ganzen fast unter: Es passiert nämlich – nichts. Kein Schiff landet an, keine Inder sind zu sehen, die Abendgesellschaft ballert mit Platzpatronen in die Luft. Die Angst vor dem schwarzen Mann hat ihre eigenen Kinder gefressen und eine Schimäre produziert, die in die Selbstzerfleischung mündet. Der Feind kommt nicht von außen, er sitzt in der eigenen Seele.

www.ruhrfestspiele.de und www.schauspielfrankfurt.de




Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner gestorben

Der Schriftsteller Wolfgang Körner ist mit 81 Jahren in Dortmund gestorben, und zwar bereits am 25. April.

Was bleibt, ist das Werk: Typoskriptseite von Wolfgang Körner, verwahrt im Fritz-Hüser-Institut. (© FHI)

Bleibendes aus dem Nachlass: Typoskriptseite mit handschriftlichen Korrekturen von Wolfgang Körner, verwahrt im Dortmunder Fritz-Hüser-Institut. (© FHI)

Durch bloßen Zufall habe ich diese traurige Nachricht gestern im Facebook-Auftritt des Dortmunder Literaturhauses entdeckt, das wiederum auf einen kurzen Nachruf im Magazin „Buchmarkt“ verwies. Heute kam eine Pressemeldung der Stadt heraus, die zusätzlich darauf abhob, dass das am Ort ansässige Fritz-Hüser-Institut Körners literarischen Nachlass bewahre. Nur gut, dass Körner seinen einst (scherzhaft?) geäußerten Vorsatz („Ich schmeiße alles weg!“) nicht umgesetzt hat.

Umstände und Zeitpunkte der Veröffentlichungen deuten darauf hin, dass der 1937 in Breslau geborene Wahl-Dortmunder Wolfgang Körner längst dem öffentlichen Bewusstsein entglitten war. Das war einmal ganz anders gewesen: Körner hatte der einflussreichen Dortmunder „Gruppe 61″ angehört – u. a. gemeinsam mit Max von der Grün, Günter Wallraff und Erika Runge. Diese Formation hatte sich vor allem die realistische Schilderung des gewöhnlichen Alltags und der Arbeitswelt auf die Fahnen geschrieben. Dazu fügte sich auch ein Roman wie Wolfgang Körners „Versetzung“ (1966), eine auch von Popliteratur inspirierte Ansicht aus der Welt der Angestellten, wie sie damals – viele Jahre etwa vor Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie – noch keineswegs gängig war.

Aus seinem vielfältigen Werk am bekanntesten wurde der Roman „Nowack“ (1969), eine sozialkritische Auseinandersetzung mit Zuständen im Ruhrgebiet. Via Fernsehen entfaltete Körner, der sich zunehmend auf Satire und Parodie verlegte, auch bundesweite Wirkung – mit seinem Drehbuch zur kultverdächtigen Serie „Büro, Büro“ (1981), quasi einem frühen Vorläufer von „Stromberg“. Bis heute ist die Reihe auf manchen Internet- Plattformen abrufbar. Weithin bekannt wurde auch „Der einzig wahre Opernführer“ (1985), gleichfalls nicht bierernst gemeint und bei Rowohlt immer noch lieferbar.

Leute, die ihn näher gekannt haben, wie etwa der Publizist Klaus Waller, beschreiben Wolfgang Körner als Menschen mit „Ecken und Kanten“, der aber vor allem Humor besessen habe. Körner, so Waller im erwähnten (und oben verlinkten) „Buchmarkt“-Artikel weiter, habe manche Kollegen und andere, die in Not geraten waren, unterstützt. Am irdischen Gütern hing er nicht, denn, so Körners in jedem Sinne gut geerdete Begründung, er müsse „nicht die reichste Leiche auf dem Friedhof sein“.




Julia Wissert (34) soll Schauspielchefin in Dortmund werden

Die designierte Schauspielchefin Julia Wissert. (Foto: Ingo Höhn)

Die designierte Schauspielchefin Julia Wissert. (Foto: Ingo Höhn)

Wie es aussieht, hat Dortmunds Schauspiel seine künftige Chefin gefunden: Julia Wissert (34) käme als eine der jüngsten Intendantinnen der Republik an den Hiltropwall. Zur Spielzeit 2020/21 soll sie Nachfolgerin von Kay Voges werden, der im Januar seinen bevorstehenden Abschied verkündet hatte.

Noch müssen sich die politischen Gremien der Stadt mit der Personalie befassen. Am 14. Mai tagt der Kulturausschuss, am 23. Mai müsste dann der Rat seine Zustimmung geben. Doch dem dürfte wohl nicht viel entgegenstehen.

Julia Wisserts Vita deutet auf etliche Erfahrungen in jungen Jahren hin. Auf der Homepage des Bochumer Theaters werden u. a. diese Stationen aufgeführt: 1984 in Freiburg geboren, studierte sie in London an der University of Surrey Performance, Theater- und Medienproduktion. Es folgten Regieassistenzen in Freiburg und Basel sowie am Staatstheater Oldenburg. Dort inszenierte sie 2010 „Haram“ von Ad de Bont.

Anfang 2013 brachte sie in Göttingen „Das Interview“ von Theo van Gogh auf die Bühne. Von 2011 bis 2014 studierte Julia Wissert am Mozarteum in Salzburg, also dürften auch einige musikalische Aspekte in ihre Theaterarbeit einfließen. Als freie Regisseurin arbeitete sie u. a. am Gorki Theater Berlin, am Theater Brno in Tschechien und am Theater Luzern (Schweiz). Die Frau hat sich also hie und da umgesehen.

„Diversität und Offenheit“

In einer Pressemitteilung der Stadt Dortmund wird Julia Wissert „große Erfahrung im Bereich von Diversifizierung und kultureller Bildung“ nachgesagt. Sie möchte – wie es weiter heißt – das Schauspiel „zu einem offenen Ort machen, der so divers und vielschichtig ist wie die Stadt Dortmund“, auch sollten „die aktuellen Fragen von Diversität und Offenheit in unserer Gesellschaft verhandelt werden“. Kulturdezernent Jörg Stüdemann kündigte außerdem an, Frau Wissert wolle „unter anderem auch sehr starke Frauen“ ins Schauspiel holen.

Was die designierte Schauspielchefin unter dem mehrfach bemühten und recht dehnbaren Begriff der „Diversität“ versteht, wird sich spätestens in ihrer Theaterarbeit zeigen. Um mal ganz ungeschützt drauflos zu vermuten: Mit herkömmlichem Guckkastentheater dürfte ihre Herangehensweise allenfalls bedingt zu tun haben. Eher darf man schon eine gewisse Affinität zu fortschrittlich sich verstehenden politischen und gesellschaftlichen Bewegungen erwarten. Auch wird es wahrscheinlich ausgesprochen multikulturell zugehen. Lassen wir uns überraschen. Konservativen Traditionen verhaftete Gemüter mögen überdies befürchten, es werde ein Übermaß an „politischer Korrektheit“ Einzug halten. Hoffen wir, dass sie Unrecht haben.

„People of Colour“ in der Mehrheit

Von ihren gesellschaftlichen und ästhetischen Positionen kann man sich übrigens auch schon ohne großen Aufwand ein Bild machen: Ganz in der Nähe von Dortmund, am Schauspielhaus Bochum, ist derzeit eine Produktion von Julia Wissert zu sehen, deren Texte sie gemeinsam mit dem Ensemble verfasst hat. In „2069 – Das Ende der Anderen“ geht es um eine zukünftige Welt, in der auch die hiesige Gesellschaft überwiegend aus „People of Colour“ bestehen wird – und eben nicht mehr aus weißen Menschen. Damit ändern sich die Spielregeln des Zusammenlebens. „Schwarz“ und „deutsch“ zu sein, wird nach diesem Verständnis der Normalfall werden, die Rollenvorbilder werden sich grundlegend gewandelt haben.

Gemeinsam mit Julia Wissert soll – als Stellvertreterin und Dramaturgin – Sabine Reichert nach Dortmund kommen. Sie bringt Erfahrungen vom Burgtheater Wien, dem Essener Schauspiel und ebenfalls aus Bochum mit. Mit Kunstprojekten im Stadtraum hat sie sich ebenso beschäftigt wie mit Tanztheater in der Freien Szene.

Zwei andere Spartenleiter der Dortmunder Bühnen sollen unterdessen in ihren Positionen bleiben: Xin Peng Wang als Ballettchef (im Amt seit 2003) und Andreas Gruhn als Leiter des Kinder- und Jugendtheaters (seit 1999). Beide Verträge werden vermutlich bis zum 31. Juli 2025 verlängert.

Nachschrift: Antirassismus-Klausel

Mediales Aufsehen erregte Julia Wissert im Februar, als sie – mit der Rechtsanwältin und Dramaturgin Sonja Laaser – eine Antirassismus-Klausel für Verträge in künstlerischen Berufen, also auch fürs Theater entwarf. Näheres dazu findet sich u. a. in einem Beitrag des Portals Nachtkritik.

An die Klausel knüpfte sich – zumal am Beispiel des Theaters Oberhausen – eine etwas hitzige Debatte darüber, ob hier den Theatern, mithin in aller Regel vergleichsweise liberalen und toleranten Einrichtungen, Neigungen zum Rassismus unterstellt würden. Tatsächlich geht die Klausel von einem „strukturellen“ (tief verwurzelten) Rassismus-Problem in der gesamten Gesellschaft aus.

 




Erinnerungen an die Kohle und ein sehr männliches Tanzprogramm zum Auftakt der Ruhrfestspiele

Gesundes Grünzeug für Künstler und Publikum: Im libanesischen Tanztheaterstück „Beytna“ gab es auch etwas zu essen. (Foto: D. Matvejev/Ruhrfestspiele)

Eine Frau sitzt am Tisch und schneidet Gemüse. Endlos lange tut sie das, und nach einiger Zeit fragt sich wohl jeder im Publikum, warum. Gewiss, der Stücktitel „Beytna“ gibt einen ersten Hinweis: Beytna heißt im Libanon die Einladung in das eigene Heim. Zu essen gibt es dann vielleicht Fatouch, ein traditionelles libanesisches Gericht, für das offensichtlich viel geschnippelt werden muss.

Deshalb die Frau am Küchentisch, welcher, wie man sehen wird, wenn er gedreht wurde, fast so lang ist wie die Bühne breit. Nach gehöriger Wartezeit werden Männer auftreten, einzeln, zu zweit, zu dritt, die in kraftvollen Tanzbewegungen geradezu explodieren, bevor sie wieder von der Bildfläche verschwinden. Dazu spielen vier Musiker auf Oud und Schlagzeug. Mit „Beytna“ startete das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele, gegeben im Großen Haus nach obligatorischer Eröffnungszeremonie und Dichterlesung.

Der neue Intendant der Ruhrfestspiele Olaf Kröck (Foto: Knotan/Ruhrfestspiele)

Judith Schalansky spricht

Gefolgt von flockig vorgetragenen Gruß- und Begrüßungsworten von Bürgermeister und Gewerkschaftsvertreter, einer klugen Rede des Ministerpräsidenten Armin Laschet über die nicht kleinzuredende Bedeutung der Kultur in unserer Zeit samt Ankündigung, die Landesmittel für die Ruhrfestspiele in den nächsten Jahren zu erhöhen, sowie einem etwas zu langen Vortrag des neuen Intendanten Olaf Kröck – kam schließlich die Schriftstellerin Judith Schalansky zu Wort. Ihr letztes Buch heißt „Verzeichnis einiger Verluste“, und methodisch folgerichtig reihte sie in ihrer Eröffnungsrede in diese Liste der Verluste nun den endgültigen Verlust des Kohlebergbaus im Ruhrgebiet ein.

Mythologie und Realität

Auch der Kunst-für-Kohle-Gründungsmythos der Ruhrfestspiele, es ging wohl nicht anders, fand Eingang in ihre Rede. Doch hatte sich, da wurde Fleiß erkennbar, Schalansky auch in der vorindustriellen Geschichte des Reviers umgesehen, Legenden und Spökenkiekerei aufgetan, Geschichten von hellsichtigen Menschen, die Dampflokomotiven ähnliche Drachenmonster schon erschrocken vorahnten lange bevor die erste Schiene lag. Es war dies keine Materialsammlung um ihrer selbst willen, sondern der kluge Versuch, aus Beziehungen zwischen Mythologie und Realität in der Vergangenheit Bestimmungen für das Hier und Jetzt und für eine Zukunft zu erkennen, in der die ungeheuren Umwälzungen durch Kohle und Stahl nurmehr Vergangenheit und mit wechselnden Gewichtsanteilen eben auch Mythologie sein werden.

Ein Schnaps namens „Kumpeltod“

Intelligent, differenziert, streckenweise auch überaus scharfsichtig war diese Rede, der man höchstens den Vorwurf machen könnte, die Schufterei in der Industrie allzu schnell zur heiligen Handlung zu verklären. Immerhin jedoch tauchten auch ernüchternde Kindheitserinnerungen in der Rede der 1980 in Greifswald geborenen Dichterin auf, so die an das Erholungsheim „Glück auf“ auf Usedom, wo die Bergleute der Urangrube „Wismut“ im Erzgebirge Urlaub machten. Schnaps, Bergleute wissen das, schafft etwas Erleichterung bei Silikose; der Deputatschnaps von der Wismut hieß unter den Bergleuten auf Usedom „Kumpeltod“.

Besser stünde hier natürlich das Tanzfoto, das sich wegen eines „HTTP-Fehlers“ aber nicht hochladen ließ. Deshalb kommt jetzt das erwartungsfrohe Publikum ganz groß raus. (Foto: Ruhrfestspiele)

Auch im Tanztheaterstück „Beytna“ – nach der Pause, die ärgerlicherweise um mehr als eine halbe Stunde überzogen wurde – nehmen sie irgendwann einen Schnaps. Dies ist ja ein geselliges Zusammentreffen von Individualisten, auf der Bühne wie auch, wenn man so sagen will, im richtigen Leben. Die Herren aus verschiedenen Ländern, die Omar Rajeh in diesem Stück des „Maqamat Dance Theatre Lebanon“ neben sich versammelt, sind ihrerseits (auch) Choreographen: Koen Augustijnen, Anani Sanouvi, Moonsuk Choi.

Größte Körperbeherrschung

Einige wenige Hinweise für das Verständnis des Bühnengeschehens kommen von außen – ein wiederholungsschleifiges, englisch aus dem Off vorgetragenes Bekenntnis zur chinesischen Küche etwa, die viel besser als die japanische sei; die unvermittelte Projektion des Wortes „Blender“; ein dunkler Filmausschnitt mit nicht lesbaren Untertiteln. Die Bewegungen dazu sind perfekt und mit größter Körperbeherrschung getanzt und scheinen trotzdem kaum mehr zu sein als hochmobiles eitles Posing. Da huldigt einer dem Bewegungskanon des asiatischen Kampfsports, ein Zweiter (mit Sakko) kämpft sich immer wieder in männlich-aggressive statische Haltungen hinein, ein Dritter gibt (im Schlabberpulli) das Gummimännchen und ein Vierter irrlichtert mit ausholenden Bewegungen von Händen und Füßen wie ein Gespenst über die Bühne. Von solcher Art sind die Momentaufnahmen, alles ist sehr schön anzuschauen, geizt jedoch mit weiterreichenden Botschaften.

Wir vermissen Tänzerinnen

Schließlich ist vom Regisseur zu erfahren, dass das zubereitete Gericht in seiner Buntheit quasi Land und Volk des Libanons abbilde und die Essenseinladung dieses Abends nicht nur an die Herren Tänzer gehe, sondern an alle im Saal. Auch an die Frauen, möchte man hinzufügen, die man im Tänzerquartett auf der Bühne bedauernd vermisste. Das Motiv der großherzigen Einladung an die Völker dieser Welt rundet sich deshalb nicht völlig, zumal es wenig sensationell ist, dass die Tänzer „aus ganz verschiedenen Kulturen und Tanztraditionen stammen“, wie der Programmzettel verkündet. Im kosmopolitisch aufgestellten Tanztheater ist das nichts Besonderes.

Politik war vor der Pause

Essen, trinken, Völkerverständigung, gutes Leben – Olaf Kröcks Entscheidung, dieses Stück an den Beginn seiner Regentschaft auf Recklinghausens Grünem Hügel zu stellen, ist nachvollziehbar, auch wenn sein Beitrag zum Motto der Festspiele „Poesie und Politik“ eher allgemein bleibt. Aber dem Motto hatte man ja im ersten Teil des Abends schon hinlänglich gehuldigt.

www.ruhrfestspiele.de




Ein Versuch über Nicolas Borns Gedicht „ES IST SONNTAG“ – Wenn plötzlich alles in einem anderen Licht erscheint

Nicolas Born mit Tochter Katharina. (Foto: Dr. Irmgard Born)

Nicolas Born mit Tochter Katharina (Foto: Irmgard Born)

 

ES IST SONNTAG

die Mädchen kräuseln sich und Wolken

ziehen durch die Wohnungen –

wir sitzen auf hohen Balkonen.

Heute lohnt es sich

nicht einzuschlafen

das Licht geht langsam über in etwas

Bläuliches

das sich still auf die Köpfe legt

hier und da fällt einer

zusehends ab

die anderen nehmen sich

zusammen.

Diese Dunkelheit mitten im Grünen

dieses Tun und Stillsitzen

dieses alles ist

der Beweis für etwas anderes

(Aus: Nicolas Born: Gedichte. Hg. von Katharina Born
© Wallstein Verlag, Göttingen 2004, S. 133)

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Haben Sie Borns Gedicht mehrmals lesen können? Schön, dann lohnt es sich wirklich, dass wir darüber reden. Übrigens, haben Sie auch etwas Zeit mitgebracht? Tatsächlich? Danke. Sicher, ich weiß auch, dass „ES IST SONNTAG“ kein einfaches Gedicht ist. Zur hermetischen Lyrik zählt es zwar nicht, aber leicht verständlich kann man es auch nicht nennen.

Also, nähern wir uns ihm, wie man sich eigentlich allen guten Gedichten nähern sollte: mit Vorsicht und ein wenig Zärtlichkeit vielleicht. Vertrauen Sie mir: Das Gedicht als Ganzes wird unser Taktgefühl mit seiner Schönheit belohnen, wird uns dankbar entgegenkommen und dabei helfen es zu verstehen, es in all seinen Facetten zu genießen.

Ich beginne vielleicht etwas trocken, aber das bleibt nicht so.

Wirft man zunächst nur einen flüchtigen Blick auf die äußere Gestalt des Gedichtes, fällt sofort auf, dass Nicolas Born den Anfangsvers „ES IST SONNTAG“ in Großbuchstaben gesetzt hat und damit die erste Zeile seines siebzehnzeiligen Gedichtes sichtbar hervorhebt. Mit einigem Recht lese ich diesen Vers also auch als den Titel dieses Gedichtes.

Schnell bemerkt der Leser auch, dass Born außer zwei Punkten und einem Gedankenstrich keine weiteren Satzzeichen verwendet. Die zwei Punkte kennzeichnen Satzenden jeweils am Ende der vierten und der dreizehnten Zeile. Ausgerechnet der Schlusssatz allerdings (Zeilen 14–17) wird nicht durch einen Punkt begrenzt. Schon rein formal bleibt nach diesem Satz das Gedicht also unabgeschlossen. Es ergibt sich ein offenes Ende, ein Hinweis darauf, dass möglicherweise noch etwas folgen könnte, etwas uns zurzeit noch Unbekanntes („der Beweis für etwas anderes“).

Mit nicht mehr als zwei Punkten bringt Born es fertig, dass ich das Gedicht als dreigeteilt wahrnehme. Unwillkürlich beginne ich, jeden der drei Teile als einen einzigen parataktisch oder hypotaktisch gegliederten Satz zu lesen.

Und en passant stolpere ich noch über die Zeile 16: „dieses alles ist“, weil sie die einzige Zeile ist, die der Autor zur Mitte hin eingerückt hat. Sie steht vom Druckbild her zentrierter und nicht linksbündig wie die anderen sechzehn Zeilen. Diese Zeile tanzt also unübersehbar aus der Reihe. Was das wohl zu bedeuten hat?

Wir indessen bleiben – anders als die Zeile 16 – zunächst folgsam und gehen weiter der Reihe nach vor, versuchen sacht, uns dem ersten Teil des Gedichtes, dem ersten Satz zu nähern, der die Zeilen 1-4 umgreift: „ES IST SONNTAG / die Mädchen kräuseln sich und Wolken / ziehen durch die Wohnungen – / wir sitzen auf hohen Balkonen.“

Die Anfangszeile „ES IST SONNTAG“ löst mit ihrer Großschreibung, mit ihrer bestimmenden und bestimmten Aussage das Gedicht und seine Leser lapidar und gründlich vom Alltag als gewöhnlichem Werktag ab. Und was da sofort bei der Ansage „ES IST SONNTAG“ an Stimmungen und Wissen mitzuschwingen beginnt! Du lieber Gott!

Auch ein Gott macht mal Pause

Apropos Gott: Am siebten Tag, am Sabbat, musste selbst Gott von der harten Just-in-time-Produktion der Schöpfung ausruhen. „Und also vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tag von allen seinen Werken, die er machte. / Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, darum daß er an demselben geruht hatte von allen seinen Werken …“ (1. Buch Mose, 2. Kap., Verse 2, 3)

Born in Marseille (Foto: Irmgard Born)

Am siebten Tag, diesem Glücks- und Sonnen-Tag, nehmen also selbst Götter sich die Zeit für Ruhe und Kontemplation. Und einer dieser Götter lebt uns vor, was veritabler Müßiggang bedeuten könnte, nämlich: aus der Ruhe heraus inspiriert zu werden, diesen besonderen Tag allein deshalb zu segnen und zu heiligen, weil er ihm, dem kurzzeitig überarbeiteten Gott, endlich die Gelegenheit bot, auf sein vollendetes Werk zu blicken und nichts mehr schöpfen zu müssen. Aus der sonntäglich-absichtslosen Muße entsteht das Wohlgetane und Gesegnete.

Verzeihung, bin ich zu weit abgedriftet?

Nein, eigentlich nicht. Denn auch im Gedicht scheint der Sprecher eines lyrischen Wir (das sich selbst nur in der vierten Zeile ausnahmsweise einmal als „wir“ hörbar benennt) fürs Eingangsbild des Gedichtes fast ein wenig göttergleich in den Wolken zu thronen und den Sonntag zwar nicht zu segnen, aber sich doch genüsslich von ihm segnen zu lassen.

Wohltuende Sonntagsstimmung also, so ein richtiger „Lazy Sunday Afternoon“. Und was es alles zu sehen gibt! In den Zeilen 2 und 3 fängt der Blick des lyrischen Wir bei seiner Rundschau einige Mädchen ein – ach ja, und Wolken: „die Mädchen kräuseln sich und Wolken / ziehen durch die Wohnungen –“. Ein schönes Bild für eine entspannte, auch ganz entspannt erotische Atmosphäre.

Natürlich weiß ich: Mädchen kräuseln sich sonst gar nicht. Haare vielleicht schon, sagt jedenfalls der Duden, aber Mädchen? Doch diese sich kräuselnden Gedicht-Mädchen locken als junge Frauen mit einem ziemlich sinnlichen Hintersinn. Hier, in der Zeile 2 des Gedichtes von Born, da kräuseln sich ganz nah bei den Wolken die Mädchen, und … – lassen Sie (meine Herren!) Ihrer Chauvi-Phantasie ruhig mal freien Lauf! – … da kräuseln sich vielleicht sogar die Haare der Mädchen, also irgendwie kommen da die Kraushaare der Mädchen ins Wort-Spiel. Hmmm … Woran Sie immer gleich denken! Schluss jetzt!

Einverstanden, dann will zumindest ich mal wieder sachlich werden.

Also: Die Zeile 2 – für sich allein gelesen – steht offen und verdeckt für die Hinwendung zum Naturwüchsigen, doch liest man alternativ nur das Ende der Zeile 2 mit seinem Enjambement in die Zeile 3, so steht dies in entgegengesetzter Richtung auch für das Eindringen des Natürlichen ins aufgeräumt möblierte Leben: „und Wolken / ziehen durch die Wohnungen – “.

Merkwürdig sowieso: Ziehen die Wolken nun so überaus tief, dass sie in die Wohnungen eindringen können oder liegen die Wohnungen so weit oben in einem Großstadt-Gebäude, dass sie als Wolkenkratzer tatsächlich an die Wolken kratzen? Wolken in Wohnungen! Wir schauen doch nicht gar auf „Wolkenkuckucksburg“, jene zwischen Himmel und Erde in die Luft gebaute Stadt aus der Komödie „Die Vögel“ des Aristophanes, oder?

Dieses ganze etwas traumhaft-surreale Bild kommt vor unseren Augen nicht zuletzt deshalb zustande, weil der Autor die Verben der Zeilen 2 und 3 willentlich ausgetauscht haben dürfte. ‚Richtiger’‚ gewöhnlicher würde es wohl heißen: „Es ist Sonntag / Mädchen ziehen durch die Wohnungen und die Wolken kräuseln sich.“ Auch schön! Aber nicht so schön und vieldeutig wie die Zeilen Borns, der gerade mithilfe der verfremdenden Zuordnung der Verben in den Zeilen 2 und 3 ein neues, unverwechselbares Bild entwirft.

Dass wir uns nun wirklich in einer nichtalltäglich sonntäglichen Situation befinden, wird dann in Zeile 4 noch deutlicher: „wir sitzen auf hohen Balkonen“. Nimmt man das Bild des ganzen ersten Satzes ernst, dann taucht da etwa folgende Szenerie, folgende Gedicht-Kulisse vor uns auf: Es ist Sonntag, die Mädchen kräuseln sich (räkeln, strecken sich, schnurren, schlummern vor sich hin wie Katzen?), Wolken ziehen durch (sehr hoch gelegene?) Wohnungen, auf deren hohen Balkonen „wir sitzen“ und Ausschau halten. Im unbestimmten Plural geht es aber beileibe nicht nur um einen Einzelnen oder eine einzelne Gruppe auf einem einzigen Balkon einer Wohnung, sondern Borns Bühnenbild zeigt viele Gruppen von „Mädchen“, „Wolken“. „Wohnungen“, „wir“ und „Balkonen“, auf die wiederum wir Leser schauen können. Ein bisschen hat das etwas von einem Bild René Magrittes, was ich da in meiner Phantasie vor mir sehe. (1)

Kümmern wir uns jetzt um den zweiten Teil des Gedichtes.

„Heute lohnt es sich / nicht einzuschlafen“, heißt es zunächst in den Zeilen 5 und 6, die sich mit dieser emphatischen Aussage im Nachhinein für das Erstaunliche, Wunderliche des Gedichtanfanges verbürgen. Die in den ersten Zeilen ausgestellte Lebensfreude lässt es – so empfiehlt es das Gedicht seinen Bewohnern und Lesern – lohnend erscheinen, nicht einzuschlafen. Der Halbsatz „Heute lohnt es sich“ aus Zeile 5 klingt für sich allein gelesen fast so wie das Mutzusprechen aus einem Selbstgespräch, eine Ermunterung, an die eigene Adresse gerichtet. Erst mit der Zeile 6 gemeinsam ergibt sich ein neuer Sinn. Zeile 5 und 6 klingen zusammen gelesen nun nicht mehr nur nach einer Selbstbeschwörung, sondern auch nach einer Einladung an Dritte: Wenn alles genau so ist wie in Zeile 1–4, dann lohnt es sich genau heute – anders als sonst –, nicht einzuschlafen. Irgendwer wünscht sich, dass da niemand etwas verpassen möge von dem, was noch kommen könnte, und ahnt vielleicht schon etwas von all den blauen Wundern, die heute noch zu erleben wären.

Langsam schält sich heraus: Es ist Sonntagnachmittag. Im Sonntagstrott, an jedem anderen Sonntag würde man sicher wieder gedankenlos in den Abend hinüberdämmern. Dieser besondere Sonntag aber fordert und erfordert etwas anderes: einen Ausbruch aus den Gewohnheiten.

Hier riecht es angenehm nach Überraschung oder Veränderung.

Born im Wendland (Foto: Irmgard Born)

Und die kündigt sich nicht nur weiter an, sie kommt auch greifbar nahe. Die nächsten drei Zeilen beschreiben eine Veränderung, die nur im ersten Moment in den Zeilen 7 und 8 noch oberflächlich als alltäglich zu deuten wäre. Die Zeilen 7-9 gemeinsam aber erzählen viel mehr: „das Licht geht langsam über in etwas / Bläuliches / das sich still auf die Köpfe legt“.

Vordergründig erleben wir – wie schon oft – Momente der Abenddämmerung, den Übergang in jene Zwielicht- und Zwischenzeit des Tages, die ‚blaue Stunde’, in der man heiter oder melancholisch nachdenkt, sinniert, träumt. Allein, diese blaue Stunde, die da vor unserem inneren Auge auftaucht, ist nie ganz harmlos, das wissen alle, die auch ihre Irrwege und Abgründe zwischen Dösen, Tagträumen oder Dämonen kennen.

Und wenn Sie jetzt noch an die Symbolik der Farbe Blau denken! Blau ist – nicht nur wegen der Blauen Blume der Romantik – auch die Farbe der Poesie. Im blauen Licht, im Licht und mit dem Lichte des Blau haben unzählige Dichterinnen und Dichter den Alltag (und sogar den alltäglichen Sonntag) überwunden, um via Vorstellungskraft Grenzen zu überschreiten oder ins Utopische aufzubrechen.

Die undurchdringliche Tiefe und entrückende Ferne der Farbe Blau (…) lassen sie zur ‚Farbe der Utopie’ werden, denn als ‚Fernfarbe’ bezeichnet sie nach Ernst Bloch ‚anschaulich-symbolisch das Zukunftshaltige, Noch-Nicht-Gewordene in der Wirklichkeit’“. (2)

Mit dem Erscheinen einer Farbnuance des Blau im Gedicht dürfen bei uns also ruhig tiefrote Alarmlichter aufleuchten. Hinter dem zwiespältig behaglichen Vordergrund einer blauen Stunde lauert eben mehr. Allein dass das Wort „Bläuliches“ so verwaist als eine Zeile fast in der Gedichtmitte steht, gibt ihm Gewicht. Und die Zeile 7 „das Licht geht langsam über in etwas“ spricht unüberhörbar von einem vagen Übergang in …, ja, in was? Am Ende der Zeile 7 kann es der Leser jedenfalls für einen kurzen Moment lang noch nicht wissen, ist aber auch nicht allzu beunruhigt, weil die Stimmung vorher immerhin so gut war.

Der Autor erlöst uns und sagt uns dann in den Zeilen 8 und 9, in was das Licht bedächtig übergeht: „… in etwas / Bläuliches / das sich still auf die Köpfe legt“. Trotz und hinter der allmählichen Verdunklung während der blauen Stunde scheint hier – paradox gesagt – eine neue lichte Dimension aufzuschimmern. Mich als wenig bibelfesten Heiden erinnert spätestens mit der Zeile 9 das Bild der Zeilen 7-9, das ganze unscharfe Panorama doch an Bilder und Worte aus der Heiligen Schrift, auch wenn es hier zwischen den Bildern aus der Bibel und denen des Gedichtes keinerlei 1:1-Analogien gibt.

Spricht Jesus nicht von sich als dem „Licht der Welt“ und steht die Farbe Blau (auch Türkis als Blaugrün) nicht für himmlischen Glanz, Gottes Herrlichkeit? Die Apostelgeschichte des Lukas erzählt vom Pfingstwunder, von der Ausgießung des Heiligen Geistes: „Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt wie von Feuer, und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen“.

Sicher, man hüte sich vor Überinterpretation (doch wo beginnt die?), ich höre Ihre Einwände, dass den „Wirs“ auf den hohen Balkonen schließlich kein Heiliger Geist als „Zungen zerteilt wie von Feuer“ auf die Köpfe geschickt wird, aber all die Assoziationen, Nebenbedeutungen, die bibelnahe Bildsprache in Richtung Licht, „Bläuliches / das sich still auf die Köpfe legt“, sollte sich bei einem sprachmächtigen Autor wie Born nur zufällig eingeschlichen haben? Wer’s glaubt!

So oder so: An diesem besonderen Bornschen Sonntag erscheint einiges mehr möglich und vorstellbar als nur der Genuss einer wunderbar frühabendlichen Stimmung.

Ein weiterer der vielen doppelten Böden des Gedichtes ist sichtbar geworden.

Im Gedicht reagieren die Menschen auf die blaue Stunde und das Bläuliche, „das sich still auf die Köpfe legt“, in dreierlei Weise.

Zwei Reaktionsweisen werden im zweiten Satz des Gedichts beschrieben, in den Zeilen 10–13: „hier und da fällt einer / zusehends ab / die anderen nehmen sich / zusammen.“

Schwierig zu interpretierende Sätze. Da sind auf der einen Seite („hier und da“) welche, die vielleicht tatsächlich profan einnicken oder aber die Gunst der Stunde gar nicht wahrzunehmen imstande sind; welche, die weder dem Reiz der blauen Stunde noch der sich eröffnenden geistig-spirituellen Dimension des Augenblicks gewachsen zu sein scheinen. Haben sie kein Vertrauen in die Möglichkeiten dieser besonderen Momente („hier und da fällt einer / zusehends ab“)? Die da abfallen, sind das solche, die von jedem Glauben an magische Momente abfallen? Und nicht zu retten sind?

Auf jeden Fall sind da auch noch „die anderen“, die sich „zusammen“-nehmen. Die Hervorhebung des Wortes „zusammen“ in Zeile 13 fällt auf, vielleicht ein Hinweis auf, ein Wunsch nach Unverletzlichkeit und Ganzheit oder nach einer Mitmenschlichkeit, die dem Moment gewachsen ist, ihm standhält und die Möglichkeit der Veränderung spürt!?

Der dritte Satz, die Zeilen 14–17 geben dann als kommentierende Reflexion des Wir die dritte Reaktion auf den außergewöhnlichen Sonntag mit seiner aparten blauen Stunde wieder.

„Diese Dunkelheit mitten im Grünen / dieses Tun und Stillsitzen / dieses alles ist / der Beweis für etwas anderes“.

Porträt Nicolas Born (Foto: Irmgard Born)

Es könnte so sein, so könnte es sein:

Dieser Ausnahme-Sonntag, seine Stimmung und Unterströmungen verweisen nicht nur auf etwas anderes, sie sind es auch schon selbst, sind „der Beweis für etwas anderes“. Dieser Sonntag mit seinem Zauber und seiner Schönheit legt heute bereits Zeugnis ab von einer anderen, vielleicht besseren Welt.

„ES IST SONNTAG“, einer, der mit seiner friedlichen Stimmung, mit seinen sich kräuselnden Mädchen und den Wolken, mit dem bläulichen Licht auf den Köpfen vielleicht zum Greifen nahe der Vorschein ist, die Vor-Erscheinung einer besseren Welt, eine flüchtig vergängliche Vorwegnahme eines menschlicheren Zusammenlebens im Hier und Jetzt. (Die Theologen nennen ein ähnliches Phänomen, wenn also Gott bzw. das Göttliche im Diesseits erscheint: Epiphanie.)

Viele Widersprüche und Konflikte scheinen während dieses Sonntags außer Kraft und aufgehoben: die Trennung von Wohnung und Wolken (Mensch und Natur), die Feindseligkeit zwischen Menschen, zwischen Frauen und Männern („die Mädchen kräuseln sich“), die Isolation des Einzelnen in der Menge (statt dessen spricht ein „wir“). Auch der letzte Satz mit seinen vier Zeilen schafft noch einmal solch utopische Integrationen: „Diese Dunkelheit mitten im Grünen / dieses Tun und Stillsitzen / dieses alles ist / der Beweis für etwas anderes“.

Wir finden uns also zusehends ein und gut zurecht in der Dunkelheit im Grünen (auf den begrünten Balkonen?), im Tun und Stillsitzen, im Tun als Stillsitzen, im Einklang mit der äußeren und inneren Natur. Wir lassen etwas mit uns geschehen, nichthandelnd verändern wir uns. Das „Tun und Stillsitzen“ beschreibt hier jene entspannte Ruhe, die erst ermöglicht, dass man sich öffnet für den ‚Kairos’, jenen günstigen Zeitpunkt, jenen Augenblick der Entscheidung im bläulichen und für das bläuliche Licht und die davon ausgehenden Inspirationen.

Die Zeile 16 und ihre Aussage werden danach noch einmal besonders hervorgehoben: „dieses alles ist“. Nachdrücklich versichert, bekräftigt uns also das lyrische Wir, dass wir seinen Ein- und Aussichten ruhig folgen können: Dieses alles ist (in der fiktiven Realität des wirklichen Gedichtes), weil dieses alles im bläulichen Licht und in der darauf folgenden Dunkelheit aufscheint oder erahnt werden kann. Weil „dieses alles ist“, weil dieses alles als Vorschein von etwas jetzt bereits ist, ist es auch der Verweis auf „etwas anderes“, der „Beweis für etwas anderes“, das – bitte! – noch kommen darf. Und damit ist Borns mit Nachdruck behauptetes „dieses-alles-ist“ und seine Sehnsucht nach ‚etwas anderem‘ jener bekannteren Erlösungshoffnung nicht unverwandt, die im „Amen“, dem Schlusswort christlicher Gebete zur Sprache kommt, denn mit dem Amen bittet und fordert der Betende zugleich auch inständig: Wahrlich, es geschehe!

Man kann diese Hoffnung aber zum Schluss auch noch einmal in Borns eigenen Worten zusammenfassen, denen, die er für die Nachbemerkungen zu seinem Gedichtband „Das Auge des Entdeckers“ gefunden hat:

„Das Auge des Entdeckers sieht IHN, den Entdecker selbst (:dich und mich), als außengesteuertes Objekt des Tatsächlichen, aber auch als fremdartiges Wesen, das mit Hilfe von Träumen und Phantasien aufbricht in eine unbekannte Dimension des Lebens.“

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1 Vielleicht gäbe es auch noch eine alternative Deutung allein für die Bilder des ersten Satzes. Was da durch die Wohnungen zieht, sind mehr Wölkchen als Wolken: sich kräuselnde Rauchwölkchen. Da wird geraucht, da wird gekifft und nicht zu knapp. Auch so könnte eine unbefangene Arbeitshypothese für die Auslegung des Gedichtanfanges lauten, honi soit qui mal y pense.

Geht man aber nun genau davon aus und dann über die Zeile 4 weiter hinein ins Gedicht, so muss der Interpret sich den Text doch sehr eigenwillig zurechtbiegen, um seine Hypothese aufrechterhalten und plausibel belegen zu können. Das Gedicht als Ganzes erweist sich von der oben genannten Vermutung aus denn doch als unzusammenhängend und zu beliebig in der Bildführung, es fällt schlicht auseinander.

Wie will man erklären, dass da anfänglich Berauschte gezeigt werden, aber weiter kein Rausch, dass der Autor Nicolas Born Beobachtung und Introspektion zu nüchtern und präzise in Sprache umsetzt, dass der Lichtwechsel zu behutsam gestaltet wird, die zunehmende Stille zu eindringlich? Unterstellte man dem Autor, das Gedicht und seine Bilder wären bloß aus Rauch und Rausch gemacht, nähme man es als Ganzes nicht ernst, verriete man seine Sprachkunst und hellwachen Wünsche. Oder? Beweisen Sie mir das Gegenteil?

2 Aus: Blaue Gedichte. Herausgegeben von Gabriele Sander. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2001, S. 137.

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Herzlichen Dank an Dr. Irmgard Born für ihre Fotos.

Die vollständige Wiedergabe des Gedichtes erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Göttinger Wallstein-Verlages.




Auf der Suche nach Neuland: Raphael von Hoensbroech stellt seine erste Saison im Konzerthaus Dortmund vor

Raphael von Hoensbroech hat nun vollends die Führung im Konzerthaus Dortmund übernommen (Foto: Pascal Amos Rest)

Er geht die Dinge behutsam an. Fügt Neues hinzu, ohne Bestehendes abzuschaffen. Zugleich steckt Dortmunds Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech, der jetzt sein erstes eigenverantwortlich verfertigtes Programm im Rahmen einer Pressekonferenz vorstellte, in einem luxuriösen Dilemma.

Der aus einer alten Adelsfamilie stammende Musikwissenschaftler und Kulturmanager hat von seinem Vorgänger Benedikt Stampa einen derart gut funktionierenden Betrieb übernommen, dass dieses Privileg beinahe zur Bürde wird. Was anders anpacken, wenn alles nahezu optimal läuft? Wie ein eigenes Profil entwickeln, wo alle noch auf die mammutgroßen Fußspuren des nach Baden-Baden Entschwundenen starren?

Die litauische Dirigentin Mirga Gražinyté-Tyla kommt als Exklusivkünstlerin nach Dortmund (Foto: Ben Ealovega)

Doch Kontinuität ist von Hoensbroech wichtiger. Er setzt alle etablierten Formate und Konzertreihen fort, mithin die erfolgreiche „Dortmunder Dramaturgie“, die unter anderem einen Residenzkünstler für jeweils drei intensiv gestaltete Spielzeiten an das Haus bindet. Ein erster Coup gelang ihm, als er dafür die junge litauische Dirigentin Mirga Gražinyté-Tyla verpflichtete, die derzeit wie ein Wirbelwind durch Europas Orchester- und Festivallandschaft fegt. Mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dessen Chefdirigentin sie seit September 2016 ist, wird „Maestra Mirga“ dreimal in Dortmund gastieren. In der ungewohnten Rolle als Sängerin tritt sie in der Reihe „Musik for Freaks“ auf, während sie im unterhaltsamen „Salon“ öffentlich Rede und Antwort steht.

In den Orchesterzyklen finden sich viele bekannte Konzerthausgäste wieder: vom Mahler Chamber Orchestra, Rotterdam Philharmonic, Budapest Festival Orchestra, Mariinsky-Orchester bis zum London Philharmonic und dem London Symphony Orchestra. Die Wiener und Berliner Philharmoniker sind nicht dabei, auch keines der „Big Five“ genannten Spitzenensembles aus den USA, die einzuladen freilich ein eminent teures Unterfangen wäre. Ein gemeinschaftliches Projekt wie die Ruhr-Residenz der Berliner Philharmoniker, das nur durch die Zusammenarbeit mit der Philharmonie Essen Wirklichkeit werden konnte, ist laut von Hoensbroech erneut denkbar, aber derzeit nicht in Sicht.

Der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard wirkt im Februar 2020 an der fünftägigen Zeitinsel zum Werk von György Kurtág mit (Foto: Marco Borggreve)

Auf die „Zeitinsel“ müssen die Besucher indes nicht verzichten: Herausragende Interpreten wie der Pianist Pierre-Laurent Aimard, das Arditti Quartet, der Bariton Benjamin Appl und viele andere widmen sich an fünf Tagen ganz dem Schaffen des ungarischen Komponisten György Kurtág. Neu hinzugekommen ist die Reihe „Curating Artist“, in der ein ausgewählter Künstler mehrere Konzerte mit seinen musikalischen Freunden kuratieren und gestalten darf. In der neuen Saison wird der in Armenien geborene, US-amerikanische Pianist Sergej Babayan im Verbund mit Martha Argerich, Daniil Trifonov, Mischa Maisky und dem Mariinsky-Orchester unter Valery Gergiev auftreten.

Vom Willen zur Innovation kündet insbesondere die Reihe „Neuland“, die konventionelle Aufführungsformen klassischer Musik durchbrechen und zu einem anderen Musikerleben führen soll. Eröffnet wird sie am 19. November 2019 durch den finnischen Geiger Pekka Kuusisto und das Mahler Chamber Orchestra, die sich in einem inszenierten Konzert mit Live-Elektronik musizierend durch den Saal bewegen. Ähnlich hält es das Stegreif.orchester aus Berlin, das Beethovens 9. Sinfonie mit Klängen aus anderen Kulturen verweben wird. Die Sopranistin Caroline Melzer singt György Kurtás „Kafka-Fragemente“, die samt filmischer Installation im Jazzclub Domicil zu erleben sind.

Das Stegreif.orchester aus Berlin sprengt die herkömmliche Aufführungssituation klassischer Musik (Foto: Roman Novitzky)

Am Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 kommt auch das Dortmunder Konzerthaus nicht vorbei. Daher findet sich das Sonderprojekt „B250hoven“ im Programm, das sich nicht mit den Abspulen der „Greatest Hits“ begnügt, sondern eine möglichst tiefe Auseinandersetzung mit dem Werk und der Persönlichkeit des Komponisten anstrebt. Zu diesem Zweck rekonstruiert Dirigent Thomas Hengelbrock mit seinem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble Beethovens legendäres, knapp vierstündiges Akademiekonzert von 1808. Das Mahler Chamber Orchestra bringt unter der Leitung von Gustavo Dudamel eine konzertante Aufführung der Oper „Fidelio“ auf die Bühne.

Nach welchen Regeln und Gesetzmäßigkeiten Beethoven komponiert hat, macht das Performance-Ensemble „Nico and the Navigators“ auf großer Leinwand sichtbar, wenn das Kuss-Quartett die Große Fuge B-Dur op. 133 und das späte Streichquartett F-Dur op. 135 spielt. Welch wichtiges Experimentierfeld die Gattung des Streichquartetts für den Komponisten war, zeigen das Quatuor Ébène und das Belcea Quartet im Rahmen eines durch Pausen unterbrochenen Konzertmarathons.

Yannick Nézet-Séguin dirigiert am 20. Februar 2020 „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss (Foto: Hans van der Woerd)

Als Großtat im Bereich der Oper sei noch die konzertante Aufführung der „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss durch das Rotterdam Philharmonic Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin erwähnt. An die Stelle der Weltmusik tritt die Reihe „Soundtrack Europa“ mit fünf Künstlern bzw. Bands aus Bosnien, Österreich, Polen, der Türkei und von den Färöer Inseln.

Vom reichhaltigen Musikangebot der Jazz-Nights, Orgelkonzerte, Liederabende, des Pop-Abos, der Meisterpianisten und der Jungen Wilden möge sich jeder selbst ein Bild machen – ebenso wie vom veränderten Erscheinungsbild des Programmhefts. Eher fliegt wohl ein Nashorn durch ein Türkis umrahmtes Rechteck, als dass ein neues Design auf ungeteilte Zustimmung träfe.

(Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/saison-2019-20/)




Lebende Legenden und Aufsteiger: Das Klavier-Festival Ruhr startet am 7. Mai in Bochum den Reigen seiner Konzerte

Eröffnet am 7. Mai das Klavier-Festival Ruhr in Bochum: Daniel Barenboim, hier bei einem Konzert des Festivals im Jahr 2014. Foto: Mark Wohlrab

Eröffnet am 7. Mai das Klavier-Festival Ruhr in Bochum: Daniel Barenboim, hier bei einem Konzert des Festivals im Jahr 2014. (Foto: Mark Wohlrab)

Gastautor Robert Unger über das bevorstehende Klavier-Festival Ruhr:

Drei Komponenten machen einen Star im klassischen Sinne aus: Erfolg, Kontinuität und Image. Kommen diese Elemente zusammen und reift eine Persönlichkeit mit einem lang andauernden Erfolg, spricht man von einer Legende. Solche will das Klavier-Festival Ruhr vorstellen, das am 7. Mai unter dem wenig spezifischen Motto „Living Legends“ und „Rising Stars“ startet.

Klassik und Jazz, Recitals, Liederabende, Kammer- und Orchesterkonzerte finden sich im außerordentlich vielfältigen Konzertangebot des Festivals, das vom Initiativkreis Ruhr gefördert wird. Das Klavier-Festival Ruhr 2019 rückt diesmal kein Land und keinen Komponisten in den Fokus, sondern richtet den Blick auf die Biografien seiner Künstler. So stellt es die Verbindungen zwischen den Generationen und zwischen Menschen verschiedener Herkunft her und schaut auch auf ein Weltbürgertum, das in der Musik wie im Leben seine Wurzeln kennt, aber seine Entfaltung jenseits zwischenstaatlicher Grenzen findet.

Das ausverkaufte Eröffnungskonzert am kommenden Dienstag, 7. Mai (im Anneliese Brost Musikforum Ruhr, Bochum), steht ungewollt exemplarisch für diese Verbindung. Ursprünglich sollte Menahem Pressler, einer der großen Pianisten unserer Zeit, das Festival eröffnen. Doch seine gegenwärtige gesundheitliche Verfassung lässt dies leider nicht zu. Daniel Barenboim übernimmt das Eröffnungskonzert und lässt es in Verbundenheit zu dem legendären Gründer des Beaux Arts Trios zu einer Hommage für seinen anwesenden Freund werden. Die Freundschaft geht zurück bis ins Jahr 1954, als der damals 31-jährige Menahem Pressler in Tel Aviv mit dem 12-jährigen Daniel Barenboim einen Duo-Abend gab.

Zum Glück noch keine Legende, sondern vitale Gegenwart: Krystian Zimerman kommt am 10. Mai in die Philharmonie Essen. Foto: Bartek Barczyk

Zum Glück noch keine Legende, sondern vitale Gegenwart: Krystian Zimerman kommt am 10. Mai in die Philharmonie Essen. (Foto: Bartek Barczyk)

Gleich in den ersten Tagen, am 10. Mai, spielt Krystian Zimerman eines seiner raren Konzerte in der Philharmonie Essen mit einem Brahms-Chopin-Programm. Mit Emanuel Ax im Anneliese Brost Musikforum Ruhr ist am 14. Mai eine weitere Klavier-Legende zu erleben. „Poetische Stimmungsbilder“ kreiert die Preisträgerin des Klavier-Festivals Ruhr 2018, Elena Bashkirova, mit Mozart, Dvořák und Bartok im Gustav-Lübcke-Museum Hamm am 19. Mai.

Im Konzerthaus Dortmund ist am 24. Mai mit Hélène Grimaud eine weitere angesehene Pianistin zu erleben. Nicht weniger aufregend werden wohl die Konzerte mit Größen wie Marc-André Hamelin am 5. Juni in Mülheim, Jean-Yves Thibaudet am 6. Juni in Wuppertal mit der deutschen Erstaufführung eines Orchesterwerks von Richard Dubugnon und dem Grandseigneur des Tastenspiels Grigory Sokolov in der Historische Stadthalle Wuppertal am 14. Juni. Evgeny Kissins Auftritt mit Beethoven-Sonaten am 3. Juli in der Essener Philharmonie ist so gut wie ausverkauft; auch die Konzerte von „Living Legends“ wie András Schiff am 2. Juli in Düsseldorf und Martha Argerich – mit dem Cellisten Mischa Maisky am 16. Juli in Essen – dürften das Publikum locken.

Till Hoffmann steht am Beginn seiner Karriere. Foto: Matthias Matthai

Till Hoffmann steht am Beginn seiner Karriere. (Foto: Matthias Matthai)

Die Nachwuchspianisten dieser Festival-Saison als Ausdruck des Mottos „Rising Stars“ zeigen die Vielfalt an Talenten und zugleich wohl den größeren Mut für ein breiteres Repertoire. So spielt der gebürtige Sizilianer Giuseppe Guarrera, der zugleich Stipendiat des Klavier-Festivals Ruhr 2018 ist, am 17. Juli im LEO Theater im Ibach-Haus in Schwelm selten aufgeführte Sonaten von Domenico Scarlatti sowie Werke von Ferruccio Busoni und Franz Liszt.

In den beiden Abo-Konzerten der Reihe „Die Besten der Besten“ stellen sich am 20. und 21. Juni im Haus Fuhr in Essen-Werden die Preisträger bedeutender internationaler Wettbewerbe, Changyong Shin und Nicolas Namoradze, mit ausgewählten Programmen vor. Sein Debüt beim Klavier-Festival Ruhr gibt auch der erst 23jährige Till Hoffmann am 15. Juni in Bottrop mit einem Programm, das über fünf Jahrhunderte reicht: von Bachs Englischer Suite Nr. 6 über Rachmaninow bis hin zu den so unterschiedlichen Variationszyklen von Brahms, Webern und dem jungen Jakob Raab, der in Karlsruhe bei Wolfgang Rihm Komposition studiert.

Das Festival vergibt auch regelmäßig Kompositionsaufträge. Rund 100 neue Werke wurden so in den letzten Jahren ur- und erstaufgeführt. Dieses Jahr steuert der Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr 2017, Philip Glass, ein neues Werk bei: Am 4. Juli erklingt im Salzlager des Zollvereins Essen die erste Klaviersonate des mittlerweile 82jährigen Amerikaners, gespielt von der mit der Musik Glass‘ seit Jahren vertrauten Pianistin Maki Namekawa.

In der Reihe der „Rising Stars“ finden sich auch Grenzgänger, die in den letzten Jahren immer wieder große Erfolge gefeiert haben, die aber ihren kontinuierlichen Willen zur Weiterentwicklung und ihre Beständigkeit noch unter Beweis stellen müssen. 2009 war Khatia Buniatishvili nur den Insidern der Klavierszene ein Begriff. Doch dann sprang sie für die erkrankte Kollegin Hélène Grimaud beim Klavier-Festival Ruhr ein und gab damit ihr Deutschland-Debüt. Es sollte der Startschuss für eine rasche Karriere sein. Heute – zehn Jahre später und bei ihrem 12. Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr am 4. Juni in der Philharmonie – gehört die Georgierin zu den aufregendsten Pianistinnen der Gegenwart. Im Konzert spielt sie ihren Paradekomponisten Franz Liszt.

Auch die Karriere von Joseph Moog ist schon lange mit dem Festival verbunden. Er ist bereits regelmäßiger Gast in großen Konzerthäusern etwa in Amsterdam, London und New York. Beim Klavier-Festival Ruhr ist der 31-Jährige bereits zum achten Mal zu erleben – in ununterbrochener Folge seit 2013. Seitdem hat er sich vom „Rising Star“ zu einem anerkannten Pianisten der jungen Generation entwickelt. Deshalb spielt er in diesem Jahr erstmals das Abschlusskonzert am 19. Juli in der Stadthalle Müllheim, für das er ein facettenreiches Programm zusammengestellt hat: mit Werken von Schubert, Brahms, Chopin und Ravel.

Eine frische Farbe in der JazzLine: Der 24jährige Tausendsassa Jacob Collier kommt nach Gelsenkirchen. Foto: Morgan Hill-Murphy

Eine frische Farbe in der JazzLine: Der 24jährige Jacob Collier kommt nach Gelsenkirchen. (Foto: Morgan Hill-Murphy)

Ebenso prominent besetzt ist die schon lange etablierte Jazz-Line. Till Brönner tritt mit seinen Partnern Jacob Karlzon und Dieter Ilg im Konzerthaus Dortmund am 5. Juli auf. Jacob Collier, der 24jährige Pianist, Sänger, Arrangeur und Komponist, den der englische Guardian einmal „Jazz’s new messiah“ nannte, hat in den letzten Jahren eine atemberaubende Karriere hingelegt. Sie begann 2011 mit selbstproduzierten YouTube-Clips, in denen er sämtliche Instrumente selbst spielte und sich per Multitrackingverfahren sogar in einen ganzen Chor verwandelte. Nun zeigt er sein Können am 8. Juli im Musiktheater im Revier.

Was wäre ein Klavier-Festival ohne die großen Klavierkonzerte? Der 1. Preisträger des Chopin-Wettbewerbes, Rafał Blechacz, präsentiert gemeinsam mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter der Leitung des renommierten Dirigenten Christoph Eschenbach das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 24 von Wolfgang Amadeus Mozart. Das letzte Klavierkonzert von Mozart in B-Dur (KV 595) ist der Hauptprotagonist im Konzert mit Lars Vogt und der Neuen Philharmonie Westfalen in der Erich-Göpfert-Stadthalle in Unna am 9. Juli.

Leider fehlt in diesem Jahr eine gewisse Würze aus thematischen Bezügen. So hätte es einem Klavier-Festival gut angestanden, den 200. Geburtstag der Komponistin und damals legendären Klavierspielerin Clara Schumann nicht zu ignorieren.

Tickets sind telefonisch unter der Hotline (0221) 280 220 erhältlich oder können im Internet gebucht werden: www.klavierfestival.de