Neue Exklusiv-Künstlerin am Konzerthaus Dortmund: „Maestra Mirga“ mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra

Das City of Birmingham Symphony Orchestra, geleitet von Mirga Gražinytė-Tyla, im Dortmunder Konzerthaus. © Pascal Amos Rest

Das City of Birmingham Symphony Orchestra, geleitet von Mirga Gražinytė-Tyla, im Dortmunder Konzerthaus. © Pascal Amos Rest

Am Konzerthaus Dortmund ist eine neue Exklusivkünstlerin angetreten: Die aus Litauen stammende, erst 32jährige Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla begann diese drei Jahre währende Partnerschaft mit einem erfreulich ungewöhnlichen Programm.

Mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra und Chor stellte die seit 2016 amtierende Chefin des renommierten britischen Klangkörpers zwei Werke vor, die Leiden an dem Terror, der vor 80 Jahren Europa und wenig später die Welt überzog, mit den Mitteln der Kunst formulieren: Benjamin Brittens Sinfonia da Requiem op. 20 und Michael Tippetts „A child of our time“, beide in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs entstanden.

Mirga Gražinytė-Tyla. Foto: Ben Ealovega

Mirga Gražinytė-Tyla. Foto: Ben Ealovega

Obwohl ihr Name komplizierter zu schreiben als auszusprechen ist, wird Gražinytė-Tyla ein wenig anbiedernd als „Maestra Mirga“ vorgestellt und ein Nähe zum Publikum suggeriert, die sie – anders als ihr mit „Andris“ beworbene Vorgänger beim Birmingham Orchestra und jetzige Gewandhauskapellmeister Nelsons – in Dortmund mit Charme und in einwandfreiem Deutsch einlöst: In Michael Tippetts Oratorium sind fünf Spirituals eingearbeitet; bei zweien war das Publikum zum Mitsingen eingeladen und „Mirga“ dirigierte mit dem Rücken zum Orchester mit sichtlichem Vergnügen das durchaus animierte Publikum in „Steal away“ und „Deep river“.

Das war’s mit dem – in diesem Fall recht sympathischen – Populismus. Denn weder Brittens kurioserweise zum 2600. Jubiläum des japanischen Kaiserhauses in Auftrag gegebene Trauermusik noch Tippetts zwischen Zeitbezügen, Jung’schen Archetypen und christlicher Erlösungshoffnung changierendes Oratorium finden sich häufig auf Konzertprogrammen. Eine willkommene Begegnung mit zwei eher den Eingeweihten – wenigstens dem Namen nach – bekannten Werken.

Komponisten im Schatten Benjamin Brittens

In der direkten Konfrontation wird deutlich, warum Benjamin Britten allen anderen britischen Komponisten des 20. Jahrhunderts den Rang abläuft: Er schreibt die individuellere, ingeniösere Musik mit dem gewissen Etwas, das unschwer zu hören, aber unendlich schwer zu beschreiben ist. In seinem rein instrumentalen Requiem ist das an der Klangfarbendramaturgie der großen „Lacrymosa“-Steigerung zu erleben, an der emotionalen Wirkung des hartnäckig wiederholten, gedämpften Trompetensignals, an der überwältigenden Wirkung des Klangs des Saxophons, an den die Form abrundenden Paukenschlägen, die den schweren Gang eines Trauerkondukts vorgeben. Schließlich auch an den rhythmisch atemlosen Streichern, am Absterben jeder Melodik im „Dies irae“-Satz und an der leuchtenden Transparenz des kammermusikalisch verfeinerten „Requiem aeternam“-Epilogs. Mirga Gražinytė-Tyla und das Orchester verstehen sich glänzend, gestützt durch die nicht gerade sparsame, aber stets auf den Punkt zielende Zeichengebung der Litauerin. Nein, die Dirigenten-Show zieht die Maestra wirklich nicht ab.

Nun gibt es aber neben diesem komponierenden Jupiter noch andere Sterne am britischen Musikhimmel. Dass sie in seinem Glanz gefährdet sind, dass sie beim ersten Blick als blass erscheinen, ist ein ungnädiges, unverdientes Schicksal. Tippett teilt es mit Zeitgenossen wie William Walton, aber auch mit der Generation vor ihm, zu der etwa Arnold Bax mit seinen farbenschillernden Orchesterpoems oder der gerne als allzu distinguiert eingeschätzte Ralph Vaughan Williams gehören, dem wenigstens seine Fantasie auf ein Thema von Thomas Tallis und seine „Greensleeves“-Bearbeitung einen dauerhaften Platz im Repertoire sichern.

Spirituals statt Bachischer Choräle

„A child of our time“ ist nach einer Aufführungswelle in den neunziger Jahren heute wieder eine Rarität. Tippett stellt sich mit der dreiteiligen Form und mit der Funktion von Soli und Chören bewusst in die Oratorientradition von Bach und Händel, reizt die Tonalität aus, ohne sie in fernere Gefilde zu überreizen, bleibt im Chorklang dem treu, was etwa ein Edward Elgar vorgeformt hatte. Die „Turba“-Chöre Bachs sind vernehmbar, nicht aber dessen Choräle: Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Form gemeindlichen Bekenntnisses stieß Tippett – wie er selbst berichtet – durch Zufall im Rundfunk auf ein Spiritual und entschied sich, die afro-amerikanische Form religiöser Musik, eine Musik ausgebeuteter und geschundener Sklaven, in sein Oratorium einzubauen.

Tippett behandelt die traditionellen Melodien dabei nicht wie folkloristische Einschübe. Er verknüpft sie höchst kunstvoll mit seiner originären Musik, gibt ihnen eine je eigene Farbe: „Steal away“ als breit angelegten Chorsatz mit Solisten, „Nobody knows the trouble I see“ beschleunigt und rhythmisch geschärft, „Go down, Moses“ mit großbogigem Pathos, „Oh, by and by“ in der Form des „call and response“ in schwarzen Gemeinden mit der idiomatisch versierten Sopranistin Talise Trevigne, und als kompositorisch ausgefeilten Finalchor dann „Deep river“ – ein Gesang der Hoffnung, ein Hinweis auf das „gelobte Land“ jenseits des Jordans.

Reizvoll zu beobachten, wie sich bei Tippett musikalische Gestaltungselemente finden, die uns ein paar Jahre später etwa auch in Brittens „Peter Grimes“ wieder begegnen, etwa das feine Flirren der Geigen, wenn Joshua Stewart mit kraftvollem, sensibel abfärbendem Tenor von seinen an der grauenvollen Wirklichkeit zerbrochenen Träumen singt. Oder der ostinate Paukenrhythmus zum weit gespannten Quartett der Solisten, zu denen noch Felicity Palmer mit vibratoreichem, gesättigtem Alt und Brindley Sherratt mit klar fokussiertem Bass gehören.

Sympathie für Menschen auf der dunklen Seite des Lebens

"A child of our time" liegt in einer Aufnahme des City of Birmingham Orchestras vor, dirigiert vom Komponisten selbst. Naxos 8557570. Cover: Naxos Records

„A child of our time“ liegt in einer Aufnahme des City of Birmingham Orchestras vor, dirigiert vom Komponisten selbst. Naxos 8557570. Cover: Naxos Records

Die Sympathien des politisch engagierten Komponisten gehörten den Menschen auf der dunklen Seite des Lebens, den Verfolgten, Ausgebeuteten, Chancenlosen. Ödön von Horváths Roman „Ein Kind unserer Zeit“ gibt dem Werk den Titel, die tödlichen Schüsse des 17jährigen Herschel Grynszpan auf einem deutschen Diplomaten in Paris – für die Nazis willkommener Anlass zu den Pogromen der „Reichskristallnacht“ – stoßen die Reflektion über die gesellschaftliche Repression an, die einen verzweifelten Jungen zum Mörder werden lassen: das „child of our time“.

Dass Tippett kein Doku-Oratorium schreibt, ist ein Vorteil: Die Thematik des Sündenbocks, die gewalttätigen Reaktionen der Masse, aber auch die christlichen Assoziationen öffnen das Stück für die Gegenwart. Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert mit flammendem Engagement, führt den Chor, der sich durch einen klaren Klang fern jeden „romantischen“ Murmelns auszeichnet, mit deutlichen, großen Bewegungen. Das Orchester, das 2005 unter Tippetts Leitung eine Einspielung aufnahm, demonstriert tadellose Qualität. Ein Einstand, der gespannt auf die nächsten Konzerte blicken lässt.

Mirga Gražinytė-Tyla und ihr Orchester sind am 12. März 2020 wieder im Konzerthaus Dortmund zu Gast, dann mit Anton Bruckners Sechster Symphonie und dem Dritten Klavierkonzert Béla Bartóks, gespielt von Piotr Anderszewski. Am 29. November 2019 präsentiert sich die Dirigentin als Sängerin, wenn sie (begleitet von Violine, Flöte und der orientalischen Laute Oud) Vertonungen ägyptischer Lyrik zum Thema Liebe vorträgt.

Infos und Tickets: (0231) 22 696 200, www.konzerthaus-dortmund.de/maestra-mirga




Das „dreh-buch“ – Lütfiye Güzels poetisches Spiel um Skript-Standards enttäuscht und inspiriert zugleich

Zugegeben: Ich bin Fan der Gedichte, Geschichten, Notizen und Selbstgespräche, des Anti-Romans „Hey“ und der Novelle „Oh, No!“, die Lütfiye Güzel bisher im Eigenverlag „go-güzel-publishing“ herausgegeben hat. Einen Best-of-Überblick zu all dem bietet der fabelhafte Sammelband „faible?“ Vor Wochen, bei einem Essen im Duisburger „Rosso Picanto“, drückte mir die bewährte Melancholerikerin nun ihr neues „dreh-buch“ in die Hand und orderte wie nebenbei: „Schreib was drüber oder sag mir wenigstens einen Satz aus dem Buch, der dir nachläuft.“ Dazu aß sie ihre Lieblingspasta, Spaghetti all‘arrabbiata, was sonst?

Lütfiye Güzel – © 7brands

Wie bestellt, so geliefert. Es gibt in der Tat einige lakonische Sätze aus „dreh-buch“, die mir nachlaufen, doch nur zwei davon sprechen so erstaunt, so komisch von jener Einsicht in die Kürze des Lebens, die sich zuletzt noch jedem aufdrängt:

„Die Jugend / ist dahin, ganz plötzlich, so über / Nacht. Ich wusste, dass es / passieren würde, aber ich dachte / ich wäre nicht dabei.“

Irritierend-inspirierende Sätze also findet man viele im „dreh-buch“, doch dessen rotem Kompositionsfaden folgt man nur widerwillig. Güzels Grundidee, 50 meist kürzere Texte zu präsentieren als ernstes Spiel um Recherchen, Ideen und Skizzen für ein Drehbuch, wird nicht durchgehalten.

Das „dreh-buch“ fokussiert sich weder auf eine sich abzeichnende wie auch immer geartete Film-Handlung noch auf ein vages oder verbindliches Thema. Lütfiye Güzel wagt es auch nicht, sich rigoroser auf den inneren „eigenen Film“, ihr Kopf-Kino einzulassen. Zu wenig nutzt sie in „dreh-buch“ den immensen Spielaum des im Titel angekündigten filmischen Horizonts oder des fragilen Verhältnisses von (Lebens-)Film und Sprache. Stattdessen ruft die Autorin ödes Drehbuchvokabular auf und verheddert sich in der akademischen Begrifflichkeit von Dramen- und Theatertheorie. Der Leser rätselt, ob „dreh-buch“ tatsächlich um die Standards, die Muster eines Drehbuches kreist oder eher um den Entwurf eines Theaterstücks.

Nachlässigkeit bei der Textproduktion

Wie man’s auch dreht und wendet: Der Leser kommt nicht dahinter, worauf Güzels Texte mal als Treatment oder Beschreibung des Settings, mal als Szenenanweisung, mal als Beobachtung, Kommentar oder innerer Mini-Monolog wirklich abzielen. Der Kompositionsrahmen „dreh-buch“ als Ganzes eröffnet dem Leser eben keinen phantasievollen Freiraum, eher werden Fährten ins Nebulöse gelegt. Lütfiye Güzels assoziative und fragmentarische Texte stehen so in der Gefahr beliebig, gelegentlich sogar albern zu werden.

Eine Ahnung davon beschleicht die Autorin auch selbst. Nicht immer scheint sie ihre eigenen Ambitionen ernst zu nehmen, sie formuliert deshalb Textsplitter wie „Erster Akt (Ein Versuch)“, „An die fünf Akte werde ich mich nicht halten können. Langeweile.“ oder „Ein Spezialeffekt: / Das Publikum mit Watte bewerfen. / Man trifft sie, aber man trifft / sie nicht wirklich.“ In solchen Momenten liest man ungern weiter: Warum mehr Energie für die Anstrengung des Verstehens aufbieten, als die Autorin beim Schreiben des Textes einfließen ließ?

Subversive Muse

Doch Lütfiye Güzel wäre nicht Lütfiye Güzel, würden nicht immer wieder einzelne Sätze, Passagen, ganze Texte die Unschärfen ihres angestrengten „drehbuch“-Plans vergessen lassen.

Sie ist nicht nur eine Autorin, die Erfahrung, gelebtes und ungelebtes Leben auf den poetischen Punkt bringen kann, sie bleibt auch eine, die in der sogenannten Realität lebt und überlebt hat, sie genau anschaut, durchschaut, erkennt, aber nicht anerkennt. Das Image der widerspenstigen Ungezähmten hat sie selbst mit den Titeln ihrer Bücher „Herz-Terroristin“, „Trist Olé“ und „Elle-Rebelle“ so melancholisch wie ironisch ko-inszeniert.

Lieber aber sieht sie sich als „Poetin von Geburt“, unfähig zum normierten (Berufs-)Alltag und seinen Ritualen. Eine Nonkonformistin ist sie allemal und kann als subversive Muse, als Schutzgöttin des Poetischen im Alltag sogar mitfühlend lächeln. Jeden allerdings, der sie allein auf Anti-Posen festlegen will, den fragt sie „Underground? Was soll das sein? Eigenverlag, Gedichte auf Aufklebern, auf Zetteln in einer Tüte? Alles schon dagewesen.“

Ja, klar. Und dennoch liegt Understatement in solchen Sätzen.

„Härter als die Schwarzseherei / ist der gespielte Optimismus“

Denn imposant ist Güzel schon: als Literatin und Selbstverlegerin, mit ihrer konsequent-beharrlichen Eigenbrötlerei und ihrer Freiheitsliebe en détail. Trotz oder gerade wegen dieser Unabhängigkeit hat sie ihr Publikum und es wird immer größer.

Lütfiye Güzel, 1972 als Tochter türkischer Einwanderer in Duisburg-Hamborn geboren, pendelt mittlerweile zwischen Duisburg und Berlin. Ihr, die eigene Texte immer ein wenig verhalten vorträgt, hören die Menschen bundesweit bei Lesungen gerne zu. Mit leisen Worten lotet sie millimetergenau die Untiefen des Alltags aus, über die wir oft wie lästige Pfützen hinwegspringen. Ihre „Notizen des Zweifelns“ bestärken uns darin, die „feine Parade des Zugrundegehens“ aufmerksamer wahrzunehmen, um dieser Parade vielleicht doch noch in die Parade zu fahren. Wilhelm Genazino hat solches Wahrnehmen, solches Sehen als Voraussetzung genauen Schreibens einmal den „gedehnten Blick“ genannt. Bei Lütfiye Güzel resultiert er aus einer Haltung, die es ihr keinesfalls erlaubt, all dem gegenüber, das sie sieht und fühlt, nichts als gleichgültig zu bleiben:

echo

ich öffne beide
fäuste
& lasse los
& pessoas worte
schreien
sich-selbst-gegenüber gleichgültig-sein
und ich begreife
dass all das gucken auf sich
& festhalten
nur noch mehr
gucken auf sich
& festhalten
bedeutet
& das ist das
gegenteil
von glück

 

Lütfiye Güzel: „dreh-buch“. go-güzel-publishing, Duisburg/Berlin 2019, 55 Seiten, 12 Euro.
Lütfiye Güzel: „faible? best of“. go-güzel-publishing, Duisburg 2017, 199 Seiten, 12 Euro.