Fünf gute Feen und ein Pferd: Ballettchef Van Cauwenbergh zeigt im Aalto-Theater ein Dornröschen mit viel Zuckerguss

Yanelis Rodriguez als Prinzessin Aurora in „Dornröschen“ von Ben Van Cauwenbergh (Foto: Hans Gerritsen)

Da steht sie, rosahell und lächelnd, auf der Spitze ihres rechten Fußes. Das linke Bein waagerecht weg gestreckt, die Arme über den Kopf erhoben. Vier Kavaliere reichen ihr nacheinander eine Hand, drehen sie einmal um die eigene Achse, lassen dann wieder los.

Aber eine Primaballerina wird nicht umsonst Primaballerina. Kein zitternder Muskel, nicht die leiseste Bewegung im Knöchel verrät die Anstrengung, die es Yanelis Rodriguez kosten muss, der Schwerkraft zu trotzen und das gesamte Körpergewicht auf der Zehenspitze zu halten. Am Essener Aalto-Theater tanzt die Kubanerin jetzt die Hauptrolle in Tschaikowskys Ballettklassiker „Dornröschen“, mit dem Ballettchef Ben Van Cauwenbergh in einer zweieinhalbstündigen Fassung nach Marius Petipa „sein Publikum verwöhnen“ möchte. So hatte es der Belgier bereits in der Pressekonferenz zur aktuellen Spielzeit angekündigt.

Yanelis Rodriguez (Prinzessin Aurora) und Artem Sorochan (Prinz Désiré) in „Dornröschen“ (Foto: Hans Gerritsen)

Was er darunter versteht, war bei der Premiere am letzten Samstag zu erleben: eine Flut glitzernder Tutus und prachtvoller Kostüme, eine zum Applaus einladende Nummernfolge von Tänzen, funkelnde Kronleuchter und große Vorhänge sowie Ballettmädchen, die bogenförmige Festgirlanden schwenken. Das Bühnen-Halbrund von Dorin Gal wird dominiert von Videoprojektionen (Valeria Lampadova), die surreale Landschaften des deutschen Malers Hans-Werner Sahm zitieren: Fantasy-Welten, die einem Wolkenkuckucksheim zwischen Neuschwanstein und Disneyland entsprungen scheinen.

Auch das aufgebotene Personal ist erheblich. Es tanzen sechs Feen, vier Kavaliere, zwei Liebespaare, zwei blaue Vögel, ein Frosch, ein Koch, eine Dienerin, zwei Katzen, König und Königin und die gesamte Jagdgesellschaft, die ein paar echte Vierbeiner mit sich führt (vier Hunde und ein Pferd). Dazu die Schülerinnen des Gymnasiums Essen-Werden, von denen Laura Kubicko als junges Dornröschen sogar mit einem kleinen Solo glänzt.

Yuki Kishimoto und Davit Jeyranyan im Pas de deux „Blauer Vogel“ (Foto: Hans Gerritsen)

Auf das tänzerische Können seiner Compagnie, vor allem der Solistinnen und Solisten, kann Essens Ballettchef sich selbstredend verlassen. Im berühmten Pas de deux „Blauer Vogel“ faszinieren Davit Jeyranyan durch athletische Sprungkraft und Yuki Kishimoto durch virtuose Anmut. Adeline Pastor entwickelt als böse Fee Carabosse eine ausdrucksstarke Körpersprache. Flankiert von den fünf guten Feen, den vier Kavalieren und den tierischen Märchenfiguren, brillieren Yanelis Rodriguez in der Hauptrolle und Artem Sorochan als Prinz Désiré.

Von einer psychologischen Tiefendimension, wie sie fast allen Märchen eigen ist, will diese Produktion indes nichts wissen. Statt einen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele zu riskieren, statt von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens und dem damit verbundenen Hereinbrechen der Sexualität zu erzählen, konzentriert sich Cauwenberghs hochglänzender Bilderreigen auf den Oberflächenlack. Indessen ist der Orchesterklang der Essener Philharmoniker schwärmerisch bis imperial, aber erholsam schmalzfrei. Nach der musikalisch großartig gelungenen „Pique Dame“ punkten die Musikerinnen und Musiker, hier unter der Leitung von Andrea Sanguineti, erneut mit noblen Tschaikowsky-Qualitäten.

Da dauert es nicht lange, bis eine Sitznachbarin die Melodie des berühmten Dornröschen-Walzers mitsummt. Auf dem mit Zuckerfee-Süße übergossenen Gipfel der Gefälligkeiten verfällt das Premierenpublikum in ein Entzücken, das sich beim Auftritt der vier Hunde und des Pferdes seufzend Bahn bricht. Haaaaaach, ist das schön.

Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.

Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/dornroeschen/

Tickets Tel. 0201/ 81 22 200.




Kreativer Kosmos, künstlerischer Klamauk – Martin Kippenberger in der Bonner Bundeskunsthalle

Ohne Titel: Martin Kippenberger (aus der Serie Window Shopping bis 2 Uhr nachts) 1996. Öl auf Leinwand. Private Collection (Bild: © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne/Bundeskunsthalle)

Martin Kippenberger: Ohne Titel (aus der Serie „Window Shopping bis 2 Uhr nachts“), 1996. Öl auf Leinwand. Private Collection (Bild: © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne/Bundeskunsthalle)

Was macht Spiderman im Atelier des Malers? Er könnte einfach als Besucher da sein, er könnte als Superheld eine Versinnbildlichung der Machtfülle des Künstlers sein. Er könnte aber auch, als Spinnenmann eben, Produzent jener „Spinnereien“ sein, die das Werk seines Schöpfers in herausragendem Maße prägen – Ausdruck jenes hoch assoziativen Schaffens Martin Kippenbergers, dem die Bonner Bundeskunsthalle jetzt eine große Werkschau ausrichtet.

Das Spiderman-Atelier Kippenbergers, der 1953 in Dortmund geboren wurde und 1997 viel zu früh in Wien starb, steht gleich am Eingang der Ausstellung mit dem etwas sperrigen Titel „BITTESCHÖN DANKESCHÖN“. 360 Arbeiten sind hier ausgestellt, Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Plakate, Multiples und so weiter, und sollen eine Annäherung an den Künstler ermöglichen, dem fraglos eine gewisse Neigung zum Dadaismus eigen ist, der so recht aber keiner bestimmten Gruppe oder Richtung zugeordnet werden kann.

Ohne Titel (aus der Serie „Das Floß der Medusa“), 1996. Öl auf Leinwand. (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Alles hat er gemacht

Kippenberger hat Fotos gemacht und Holzplatten zu Skulpturen zersägt, er hat wundersam verbogene Straßenlaternen geschlossert und Zäune aufgestellt, Plastikfrösche ans Kreuz genagelt und aus Hotelrechnungen Malgründe gemacht. Er hat, so scheint es, eigentlich alles gemacht, was ihm gerade in den Sinn kam. Vor allem aber war er wohl Maler, wenngleich er eine seiner bekanntesten Bilderserien nicht selbst gemalt hat. „Lieber Maler, male mir“, so der Titel, ließ er nach Fotos von dem Plakatmaler Hans Siebert anfertigen. Und der Betrachter und die Betrachterin mögen nun nachsinnen über den Wert des Originals und darüber, was ein Original ausmacht.

Menschliches Leiden und Niedergang

Im großen Saal im Erdgeschoß der Bundeskunsthalle, wo Kippenberger jetzt ausgestellt ist, dominieren zu Beginn späte Gemälde, von fremder und von eigener Hand geschaffen. Tief beeindruckt der Zyklus „Das Floß der Medusa“, für den Kippenberger das berühmte gleichnamige Gemälde Théodore Géricaults sozusagen thematisch zerlegte, die unterschiedlichen Posen menschlichen Leidens und Niedergangs isolierte. In einem zweiten Schritt stellte er diese Posen für eine Fotoserie nach, die ihrerseits das Ausgangsmaterial für den gemalten Zyklus war und Bilder von einzelnen Körpern, Gliedmaßen, Gesichtern zeigt.

Ohne Titel (aus der Serie „Lieber Maler, male mir“), 1981. Acryl auf Leinwand. (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Die Banane war weg

Große Bilder waren das Resultat von Kippenbergers Beschäftigung mit dem Ei, das er nach eigenem Bekunden zum Thema machte, weil die Banane ja schon von Warhol verwendet worden war. Auch die letzte Serie „Window Shopping bis 2 Uhr nachts“ von 1996 ist mit drei Arbeiten verteten. Es sind wohl eher Schaufensterpuppen, die er da gemalt hat, mit verschwimmenden Rümpfen, einmal auch mit vier Beinen, entfernt an Figuren Francis Bacons erinnernd. Auf den ersten Blick könnte man die Serien der letzten Jahre vergleichsweise glatt und gefällig finden; man könnte sie aber auch in Verbindung sehen mit Kippenbergers schwerer chronischer Erkrankung, als Befassung mit qualvoller Körperlichkeit und Vergehen.

Kippenberger arbeitete „mit großer Schnelligkeit, großem Antrieb und großer Empathie“, so Kuratorin Susanne Kleine. Er beherrschte „die Kunst des Weglassens“, „er vermeidet Wertungen in seiner Kunst, er demokratisiert“.

„Nieder mit der Inflation“ (aus der Serie „Die I.N.P.-Bilder“), 1984. Öl, Silikon auf Leinwand. Private Collection (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Schrebergarten

Kippenberger thematisierte den Schrebergarten als Analogie zum eigenen und anderer Künstler Schaffen, das in dem Kommentar „Kunst ist Schrebergarten“ seines Mitstreiters Michael Krebber einen Ausdruck fand, er bastelte Zimmerkarussells und stopfte eine Galerie mit eigenen Arbeiten buchstäblich zu, um ein skulpturales Pendant zur notorischen „Petersburger Hängung“ zu schaffen, er malte absurde Richtungsschildchen für die Kasseler „Documenta“, er entwarf Aufkleber, die das berühmte „I Love New York“-Motiv variierten bis hin zu „I love Uhu und Pattex“, und so weiter, und so weiter. Es ist ein großes Verdienst der Bonner Ausstellung, die enorme Vielseitigkeit dieses Künstlers deutlich zu machen und eine Ahnung zu geben von der Komplexität seines Schaffens.

Ausstellungsansicht: „Spiderman im Atelier des Künstlers“ (Foto: Peter-Paul Weiler, 2019 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Die Wilden

In seinen multiplen Bezüglichkeiten war Kippenberger nahe an den Großen der Zunft, an Anselm Kiefer, Sigmar Polke, Jörg Immendorff. Ein Originalgemälde Gerhard Richters, der auch damals schon prominent und teuer war, verarbeitete er kurzerhand zu einer Tischplatte. Aber er war eben auch etwas jünger als die westlichen Malerfürsten, was manche Betrachter veranlaßte, Kippenberger den „jungen Wilden“ zuzuschlagen, die in den 80er-, 90er-Jahren von sich reden machten. Auch da paßte er nicht hin, wenngleich einige „Wilde“ zu seinen Freunden zählten.

Person des Künstlers bleibt rätselhaft

Nach Besichtigung der Ausstellung verschwimmt die Person Kippenberger immer noch hinter ihrem Werk. Im hoch assoziativen Geflecht aus alltäglicher Banalität und letzten Menschheitsthemen hat sie sich, unfreiwillig vielleicht, gut versteckt. Oder sollte ihr Versteck ein Gewebe sein? Auch das wäre – rein assoziativ natürlich – eine schöne Erklärung für den Spiderman im Künstleratelier.

  • „Martin Kippenberger – BITTESCHÖN DANKESCHÖN“
  • Bis 16. Februar 2020
  • Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
  • Helmut Kohl-Allee 4, Bon
  • Di+Mi 10-21 Uhr, Do-So 10-19 Uhr, feiertags 10-19 Uhr
  • Eintritt 10.00 EUR
  • www.bundeskunsthalle.de
  • Sehr empfehlenswerter umfangreicher Katalog 49,00 EUR

Nachbemerkung:

Auch wenn er gewiß kein „typischer Dortmunder“ war, seine Heimatverbundenheit niemals an die, beispielsweise, Emil Schumachers heranreichte – die Hartleibigkeit, mit der Dortmunds fraglos berühmtester zeitgenössischer bildender Künstler in der Stadt nicht wahrgenommen wird, ist frappierend. Weil ein Stadtprobst Coersmeier vor neun Jahren die religiösen Gefühle seiner Mitmenschen durch Kippenbergers gekreuzigten Plastikfrosch verletzt sah und dies in einem Brandbrief der Bezirksvertretung West kundtat, ist kein Gäßchen, kein Plätzchen rund um das „U“ nach ihm benannt worden. Und nie gab es in dieser Stadt eine nennenswerte Ausstellung seiner Arbeiten. (Falls ich mit dieser Aussage falsch liegen sollte, bin ich für eine Richtigstellung dankbar.) Dafür aber Pink Floyd, mit einem finanziellen Verlust im zweistelligen Millionenbereich, was aber niemanden aufregt.

Ein anderer Dortmunder, dem Beachtung eher andernorts zuteil wird, ist Norbert Tadeusz (geb. 1940 in Dortmund, gestorben 2011 in Düsseldorf). Späte Großformate von ihm sind noch bis 2. Februar 2020 im Düsseldorfer Museum Kunstpalast zu besichtigen.