Der Neandertaler hat schon Platz genommen – Dortmunds Naturmuseum soll am 7. Juni eröffnen

Museumsdirektorin Dr. Dr. Elke Möllmann und Museumspädagoge Julian Stromann rücken den sorgsam nachgebildeten Neandertaler zurecht. (Foto: Roland Gorecki/Dortmund Agentur)

In genau 99 Tagen, am 7. Juni 2020, wird das gründlichst umgebaute und geringfügig umbenannte Dortmunder Naturmuseum eröffnet. Wohlweislich hat man den Termin in der BVB-Stadt aufs erste fußballfreie Sommer-Wochenende gelegt.

Dortmunds vor der langjährigen Schließung (seit September 2014!) meistbesuchtes Museum ist sich seiner Bedeutung wohl bewusst. Anzeichen dafür: Kürzlich wurde eigens eine Pressekonferenz anberaumt, um den neuen Namen (just Naturmuseum statt Naturkundemuseum) zu verkünden. Jetzt gab’s ein weiteres Medien-Meeting zur Bekanntgabe des Eröffnungstermins und für ein paar fotografische Impressionen.

Am 7. Juni soll jedenfalls von 11.30 bis 18 Uhr groß (aber nicht dem Slang gemäß „hart“) gefeiert werden. Der in Dortmund und drumherum allgegenwärtige Comedian Fritz Eckenga wird das unterhaltsame Begleitprogramm moderieren. Beim Rundgang kann man dann unversehens dem frühen Homo Sapiens oder dem Neandertaler begegnen und sich vor allem auf die prähistorischen Spuren der regionalen Flora und Fauna begeben.

Naturmuseum, Eröffnung am 7. Juni 2020 (ab 11.30 Uhr). Dortmund, Münsterstraße 271. Eintritt generell frei.

 




„Revierfolklore“: Zechenära in Relikten, Reliquien und Retro-Moden

Wie eine verblassende Erinnerung ans alte Revier: Förderturm auf dem Gelände des Dortmunder LWL-Industriemuseums Zeche Zollern, durch eine verregnete Autoscheibe (stehendes Fahrzeug) aufgenommen. (Foto: Bernd Berke)

Fördertürme. Grubenlampen. Schlägel und Eisen. Grubenwagen. Sozusagen klassisches Ruhrgebiet in Reinkultur. Derlei Zeichen und Symbole gibt es in dieser verdichteten Form nirgendwo sonst im deutschsprachigen Raum. Einst standen diese Dinge für den Berufsstolz der Bergleute. Doch noch heute, wo all das kaum mehr eine wirtschaftliche oder soziale Basis hat, identifizieren sich viele Nachgeborene der damaligen Kumpel damit.

Regionalstolz oder Kommerz?

Was daran jetzt noch einigermaßen authentisch, was glaubhafte Signatur für Heimatstolz und was vielleicht eher kommerziell ist, versucht eine Ausstellung des LWL-Industriemuseums zu beleuchten. In Bochum (Zeche Hannover) war sie bereits zu sehen, jetzt ist sie in der Zentrale des Industriemuseums angelangt, der Zeche Zollern in Dortmund, deren grandioses Gebäude-Ensemble gleichsam das größte „Ausstellungsstück“ ist. Den thematischen Anstoß gab seinerzeit die Schließung der letzten Revier-Zeche Ende 2018 in Bottrop. Doch ist das Ganze keine Vergangenheits-Bewältigung, sondern ein Blick zurück nach vorn.

Badeentchen in Kumpel-Kluft und mit Fußball-Bezug, rechts daneben die Eieruhr, die das Steigerlied spielt. (Foto: Bernd Berke)

Grubenwagen an über 1000 Standorten 

Das Kind muss einen Namen haben – und er ist gut gewählt: „Revierfolklore“ heißt die Schau, die hie und da beinahe auszuufern droht, aber doch in der Fahrrinne bleibt. Sie versammelt Hunderte von Objekten von inzwischen nostalgischem Charakter. Etwas wehmütig, aber nicht frei von Humor und Ironie werden allerlei Relikte und Reliquien der Bergbau-Epoche besichtigt. Recht angenehm: Die Besucher(innen) werden nicht zu Erkenntnissen gedrängt, sie sollen anhand der Exponate möglichst selbst ihre Wahrheit(en) finden. Zur Vertiefung empfiehlt sich freilich das Katalogbuch.

Bergmännische Erinnerungsstücke der herkömmlichen Art. (Foto: Bernd Berke)

Besonders prägant hervorgehoben wird gleich eingangs ein Grubenwagen (andere Bezeichnungen: Förderwagen, Lore oder auch Hunt). Heute stehen solche Wagen (anderer Plural: Wägen) vielhundertfach in Vorgärten, Parks oder an ähnlichen Stätten, zumeist bunt bepflanzt und nicht selten regionalstolz beschriftet. Im Obergeschoss sind dazu ausgewählte Fotografien zu sehen, die der von der Materie offenbar geradezu besessene Martin Holtappels im ganzen Revier und darüber hinaus aufgenommen hat. Sie zeigen Grubenwagen jeder Sorte und Couleur an ihren heutigen Stellplätzen. Schier unglaubliche 1094 Standorte – auch auf dem Friedhof oder vor dem Baumarkt – hat der Fotograf bis gestern ausgemacht, sie sind auf einer interaktiven Karte im Internet zu finden. Nicht auszuschließen, dass es schon heute mehr sind. Jedenfalls haben die Fahrzeuge einen deutlichen Funktions- und Bedeutungswandel hinter sich.

Wenn die Historie allmählich entrückt ist

Zurück ins weitläufige Erdgeschoss, wo solche Bedeutungsverschiebungen zuhauf dokumentiert sind. Da sind etwa die zahllosen einschlägigen Anstecker, die ehedem tatsächlich von Bergleuten am Revers getragen wurden und Zugehörigkeit zum angesehenen, aber eben auch knochenharten Berufsstand markierten. Heute sind es just Sammlerstücke. Wohl kein bergbaufremder Mensch wird sie sich allen Ernstes anheften mögen; es wäre eine Art Anmaßung, wenn nicht gar Frevel.

In Hülle und Fülle vorhanden: bergmännische Abzeichen und Anstecker in einer Ausstellungs-Vitrine. (Foto: Bernd Berke)

Eines der wertvollsten Stücke stammt ebenfalls von ganz früher: die um 1884 angefertigte, großflächige Vereinsfahne des Knappen- und Unterstützungsvereins Glück auf Herbede (Witten), die aus konservatorischen Gründen nur bei gedämpftem Licht gezeigt werden darf. Dieses Exponat kommt einem wahrhaftig historisch und ehrwürdig vor, in dieser Weise ist uns das Ruhrgebiet von (vor)gestern entrückt. Man hat allenfalls eine vage „Ahnung“ davon. Wenn überhaupt.

Die kohlenschwarze Eieruhr plärrt das „Steigerlied“

Geradezu frappierend ist hingegen die Verwandlung früherer Bergmannskleidung, deren Stoffe recycelt und zu modischen Taschen oder Portemonnaies verarbeitet wurden – unter dem bezeichnenden Label „Zechenkind“. Darin kann man durchaus noch eine gewisse kreative  Sinnhaftigkeit erkennen. Etwas fragwürdiger ist dann schon jene kohlenschwarze Eieruhr, die bei Erreichen des eingestellten Zeitlimits – na, was wohl? – das allfällige „Steigerlied“ abschnurren lässt. Für Bayern, Schwaben und dergleichen Exoten seien die Anfangszeilen zitiert: Glückauf, Glückauf! Der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht, und er hat sein helles Licht bei der Nacht, schon angezünd’t, schon angezünd’t…“ Es scheint so, als wäre in diese Falle das Grenzgelände zwischen (selbst)ironischer Aneignung des regionalen Erbes und purem Verkaufsgag überschritten. Auch bei Badeentchen in Kumpel-Kluft überwiegt der wohlfeile Jux. Damit verglichen, sind all die vielen T-Shirts, Tassenserien oder Schlüsselanhänger mit Reviermotiven noch ganz gut erträglich.

Fußball, Schlager, Kino und Kulinarik

Selbstverständlich ist auch dem Umfeld des Revier-Fußballs ein Kapitel gewidmet, schließlich huldigen die Fans aller hiesigen Lager gern dem „Ruhrpott“-Mythos. Jüngst haben die „Choreos“ zu den letzten BVB-Heimspielen gezeigt, welcher Wert hier auf (ursprüngliche oder nachträglich erlangte) Herkunft und Zugehörigkeit gelegt wird. Wobei die Silhouetten der Zechentürme neuerdings auch schon mal durch die Umrisse des „Dortmunder U“ ersetzt werden, also durch ein imposantes Kulturzentrum. Es darf als ein Zeichen des Strukturwandels gelten.

Etwas peinlich für Dortmund ist allerdings dieser Umstand: Die angereisten Exponate zum Fußball betreffen weit überwiegend den FC Schalke 04, auch Jürgen Klopps Dortmunder „Pöhler“-Kappe kann diesen Mangel bei weitem nicht aufwiegen. Zollern-Museumsleiterin Dr. Anne Kugler-Mühlhofer ruft daher die BVB-Anhänger auf, durch Einreichen tauglicher Exponate (als Leihgaben) zumindest ein nachträgliches Gleichgewicht herzustellen.

Neben einem stilisierten Zechenturm in der Ausstellung (von rechts): Dirk Zache, Direktor des gesamten LWL-Industriemuseums, Anne Kugler-Mühlhofer, Leiterin des LWL-Industriemuseums Zeche Zollern und Alexander Muszeika, wissenschaftlicher Volontär. (Foto: Bernd Berke)

Seitenblicke gelten ferner dem mehr oder weniger reviertypischen Liedgut (vom Schlager bis zum Rap, mit teilweise irrwitzig anmutenden Fundstücken) sowie  dem regionalen Filmschaffen, z. B. zwischen Adolf Winkelmanns „Jede Menge Kohle“ (1981) und Peter Thorwarts „Was nicht passt, wird passend gemacht“ (2002). Und ganz klar: Bodenständige Comedy seit Tegtmeier sowie Duisburgs „Schimanski“ alias Götz George dürfen ebenso wenig fehlen wie die kulinarischen Grob- und Feinheiten der Currywurst mitsamt reichlicher Bier-Nachspülung. Wohl bekomm’s!

Eigentlich ist’s ja kein Wunder, dass man immer wieder auf die althergebrachten, ausgesprochen kraftvollen Symbole zurückgreift, denn man kann sich schwerlich vorstellen, dass strukturgewandelte, aber ziemlich gesichtslose Versicherungs- oder Universitätsbauten neueren Datums zur Identifikation einladen.

„Revierfolklore. Zwischen Heimatstolz und Kommerz“. 29. Februar bis 25. Oktober 2020. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, 44388 Dortmund, Grubenweg 5. Geöffnet Di bis So und an Feiertagen 10-18 Uhr. Katalogbuch 272 Seiten, 14,95 Euro.

Nächste Station ab November 2020: Waltrop, Museum Schiffshebewerk Henrichenburg.

www.lwl-industriemuseum.de

 




Eher das böse Grinsen: Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ zeigt in Essen überraschend aktuelle Seiten

Für eine fröhliche Faschingsunterhaltung taugt „Das Land des Lächelns“ sowieso nicht. Aber Sabine Hartmannshenns ehrgeizige Regie-Bearbeitung macht Franz Lehárs Operette in Essen eher zum Land des bösen Grinsens.

Atmosphärisch dicht: Die erste Szene von Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ am Aalto-Theater Essen. Die Bühne ist von Lukas Kretschmer. (Foto: Bettina Stöß)

Während draußen unverdrossene Närrinnen und Narren den Stürmen trotzten, brauten sich drinnen auf der Bühne des Aalto-Theaters vor der Fassade eines Zwanziger-Jahre-Etablissements die braunen Stürme zusammen, die vier Jahre nach der Uraufführung von Franz Lehárs „romantischer Operette“ zahllose Künstler aus Deutschland wegfegen und der abgedreht-ironischen Gattung die kritischen Zähne glattschleifen sollten.

Die Inszenierung von Hartmannshenn, die im Dezember am Aalto Premiere hatte, schafft zunächst mit einer sorgfältig durchgestalteten Eingangsszene einen atmosphärischen Hintergrund: eilige Passanten, Zeitungsjungen, Straßenkehrer, eine etwas zu aufdringlich gestylte Schönheit und ein Flugblatt-Verteiler in SA-Uniform. Man bewundert die atmosphärische Treffsicherheit von Lukas Kretschmers Bühne. Dem Theater strebt nobel gekleidetes Publikum zu: Gegeben wird „Die gelbe Jacke“, jene China-Operette, die Lehár 1923 herausbrachte. Wenig erfolgreich, sollte sie sechs Jahre später dem Welterfolg „Land des Lächelns“ als Grundlage dienen.

Jessica Muirhead als Lea (Lisa). (Foto: Bettina Stöß)

So alltäglich das Treiben anmutet: die Atmosphäre ist lastend. Unterschwellige Aggressivität wird manifest, als ein Radfahrer einen älteren Herrn anfährt. Der Star der Abendvorstellung naht und wird vor dem Bühneneingang gefeiert. Die Menge verläuft sich, ein Herr bleibt zurück. Es ist der Darsteller des Leutnant Gustl, und er ahnt, dass seine bittersüße Sehnsucht bei der Diva nicht erfüllt wird: „Freunderl, mach dir nix draus‘“ ist ihr wohlgemeinter Rat an ihren „besten Freund“. Später, auf der Seitenbühne, als Lea, die im Stück die Lisa spielt, mit dem Gasttenor „bei einem Tee á deux“ flirtet, wird der abgeblitzte, eifersüchtig spähende Kollege beziehungsvoll eines der Flugblätter von draußen auf den Schminktisch legen: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen…

Neuer Rahmen für die Erzählung

Es sind solche vielsagenden Gesten, Zeichen und Signale, die Sabine Hartmannshenns „Land des Lächelns“ zu einem dicht gewebten, virtuos konstruierten Theater-Ereignis machen. Details, über denen nie das Ganze aus dem Blick gerät, sondern die immer schlüssig auf den großen Bogen der Erzählung hingeordnet sind. Und die Regie zertrümmert nicht, sondern erzählt, aber in einem neuen, aus der Geschichte des Stücks und seiner Zeit entwickelten Rahmen. Nicht mehr das noble Wiener Aristokratenhaus, sondern das Theater ist der Schauplatz. Die exotische Pracht des Fantasie-Chinas aus dem zweiten Akt wird nicht dekonstruiert, sondern zitiert: als glamouröse Bühnenshow in einem Varieté, dicht an der Unterhaltungskunst der Zwanziger Jahre und näher an Lehárs originaler „Gelber Jacke“.

Im Gegensatz zu Verfremdungsversuchen und Subtextlektüren, die in der Operette nicht selten desaströs ausgehen, schafft es die Essener Inszenierung, die Liebesgeschichte nicht als trivial zu denunzieren, sondern im Gegenteil in berührenden Szenen zu unterstreichen. Die Frage nach der Maske, die Menschen tragen, spielt dabei eine entscheidende Rolle, aber auch die Fremdheit, allerdings anders gefasst als von den Librettisten Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda: Der Darsteller des Sou-Chong ist nicht nur Konkurrent in amourösen Dingen, sondern gerät als Fremder („Lernt erst mal richtig Deutsch“ schallt es vom Balkon) ins Fadenkreuz eines Bühnen-Publikums, das vom „Gauleiter“ bis zur graumausigen Mamsell, die sich ihr Bier selbst mitgebracht hat, durch Susana Mendozas Kostüme liebevoll charakterisiert wird.

Die China-Welt bleibt glamouröse Show: Jessica Muirhead (Lisa) und Tänzerinnen. (Foto: Bettina Stöß)

Das Klischee-China ist bunte Show, aber die Menschen, die in einer zunehmend feindlichen Gesellschaft Fremde werden, sind bitter real: Der Conférencier (im Original der chinesische Obereunuch), beschimpft als „Judenbengel“, wird hinausgeschleppt und kehrt schmerzverkrümmt zurück; der fremde Tenor schafft es gerade noch, zum Ausgang hinauszuhuschen – in Hut, Schal und Mantel wie einst der strahlende Uraufführungs-Chinaprinz Richard Tauber, den die Nazis ins Exil getrieben haben. Und wer denkt nicht an Fritz Löhner-Beda? Lehár verdankt seinem loyalen Freund fünf Libretti und hat (nach allem, was wir inzwischen wissen) nichts für ihn getan, als ihn die Nazis 1938 verhafteten, in Buchenwald erniedrigten und 1942 in Auschwitz erschlugen.

Fremd und einsam: Carlos Cardoso als Darsteller des Prinz Sou-Chong. (Foto: Bettina Stöß)

Der dritte Akt nimmt „eine neue Wendung“ nicht nur im China der Showbühne: Die frauenverachtenden Worte Sou-Chongs („Du bist hier nichts als eine Sache“) treffen mit ungedämpfter Wucht. Die Feststellung, ein Chinese könne sogar „sein Weib köpfen lassen“, quittiert der Uniformierte auf dem Balkon mit Beifall. Beim „Zig, zig, zig“-Duett reicht es den Damen im Bühnen-Publikum, viele verlassen türenknallend den Raum, während Chinamädels am Lederhalsband vorgeführt und herumgetrieben werden – Objekte der Gewalt-Geilheit, die an die Shows mit Josephine Baker in den Zwanzigern erinnern. Lisa allerdings, die beklemmend beziehungsreich in der Dirndl-Anmutung ihres Kleids von Sehnsucht nach der „Heimat“ singt, findet ihren Frieden mit dem zuprostenden Obernazi und dem in prächtigem österreichischem Rot-Weiß-Rot aufgetakelten Gustl: Auf sie wartet ein weißer Pelz. Als die Fassade des Theaters wieder auftaucht, prangen dort Hakenkreuzfahnen und ein Plakat, das „Land des Lächelns“ ankündigt…

Überraschend aktuelle Seiten

So verwebt Sabine Hartmannshenn die Geschichte der Lehár-Operette und die Zeitgeschichte ihrer Entstehungsstationen virtuos mit einem politischen Kommentar, der dem Stück keine Gewalt antut, sondern aus genau ausgearbeiteter Distanz befragt und seine überraschend aktuellen Seiten herausstellt. Dass sie dabei an die Grenzen der Gattung geht, schadet nicht, sondern lässt neu erleben, wie relevant Operette jenseits nostalgischer Unterhaltung sein kann.

Wenn dann auch die musikalische Umsetzung stimmt, wird ein spannender, berührender Abend daraus: Stefan Klingele am Pult weiß, wie weich und flexibel Lehárs Geigen geführt werden, wie sich die Bläser auf samtigem Streicherklang tragen lassen sollten statt ihn aufzureißen, wie die Balance zwischen der feinen Süße des Operetten-Sentiments und den auftrumpfend dramatischen Opern-Reminiszenzen herzustellen ist: Lehár, der Freund Puccinis, hat die China-Atmosphäre der „Turandot“ vorweggenommen. Anfangs schleppen die Tempi noch, aber in „Von Apfelblüten einen Kranz“ schaltet Klingele das Orchester auf höchste Schmeichelstufe.

Sorgfältig charakterisierte Figuren

Das Arioso inspiriert Carlos Cardoso zu berückenden Lyrismen, der in der Rolle des Sou-Chong überzeugend das Fremde einfängt, musikalisch aber gern die gestemmte Höhe italienischer Provinz-Provenienz einsetzt, statt den Ton elegant in die Linie einzubinden. „Dein ist mein ganzes Herz“ also eher á la „Turandot“. Frisch genesen, mit noch etwas schnupfigen Nebenhöhlen, strahlt die Stimme von Jessica Muirhead weitgehend frei, badet in den geschmeidigen Phrasierungen, charakterisiert  die sonst oft blässlich gezeichnete Lisa mit den Mikro-Färbungen expressiver vokaler Gesten.

Exemplarisch deutlich wird das im Tonfall, mit dem sie den enttäuschten Gustl beschwichtigen will. Ein erfahrener Darsteller wie Albrecht Kludszuweit füllt diese Rolle über Buffo-Tenor-Klischees weit hinaus, rückt den scheinbar so harmlosen österreichischen Leutnant an frustrierte, verschlagene Figuren heran, wie sie bei Hans Fallada oder in Heinrich Manns „Der Untertan“ auftauchen. Christina Clark erinnert als Mi fatal an die Showgirls, wie sie in den Vergnügungszentren von Berlin damals – etwa im „Haus Vaterland“ – materiell und sexuell ausgebeutet wurden. Karel Martin Ludvik gibt den „Gauleiter“ mit der stoischen Gewissheit, dass seine „neue“ Zeit kommen wird; Rainer Maria Röhr zeichnet – mit einem Intermezzo als Eunuch – sensibel den Conferencier, der die Frage nach der Menschlichkeit der Unmenschen herausschreit, bevor er von der Menge einfach überrollt wird.

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit: 1. März, 12. April, 10. Mai, 17. Juni. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/aaltomusiktheater/das-land-des-laechelns/3818/




Corona: Aufregung oder Apokalypse?

Wie soll man das Thema sonst bebildern, als mit dräuenden Wolken? (Foto: Bernd Berke)

Kann sich jemand erinnern, dass jemals derart rigorose Maßnahmen wegen einer Epidemie ergriffen worden sind?

Hat es das in den letzten 50 oder 60 Jahren schon einmal gegeben, dass ganze Städte und Regionen (in China, in Italien und wer weiß wo demnächst noch) so strikt vom Rest der Welt abgeriegelt wurden wie jetzt, dass beispielsweise alle grenzüberschreitenden Züge (vorerst zwischen Österreich und Italien) gestoppt oder Flüge (aus und nach China) verboten werden? Dass Schiffe über Wochen hinweg nicht verlassen werden dürfen? Dass Zigtausende, ja insgesamt Millionen in Quarantäne leben?

Mit der offenbar rapiden Ausbreitung der Corona-Viren haben die – vielleicht schon verspäteten? – Vorsichtsmaßnahmen (und die darob entstehende Panik) offenbar eine neue Eskalationsstufe erreicht. Sind Rinderwahn oder SARS dagegen nur „Vorübungen“ zur Apokalypse gewesen? Welchen Anteil hat die Realität, welchen haben die aufgeregten Medien? Man liest allerdings auch, dass nicht nur die Zahl der Todesopfer, sondern auch schon die Zahl der „Geheilten“ ansteige. Ein Lichtstreif.

Igelt sich bald jedes Land ein?

Oder kann all das noch viel drastischer werden? Doch wohl nicht so wie in jenen schrecklichen Zeiten der Pest, denen eine archäologische und kulturgeschichtliche Ausstellung in Herne (noch bis zum 10. Mai 2020) nachgeht? Als diese Schau eröffnet wurde, hat noch niemand gewusst, was da womöglich auf uns zukommt.

Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie das noch weitergehen mag. Igelt sich bald jedes Land, jede Gegend ein? Woher sollen dann die Nachschublieferungen kommen, seien es medizinische Güter oder Lebensmittel? Die Weltmärkte würden zusammenbrechen, es gäbe eine ökonomische Krise sondergleichen. Schon jetzt knicken die Börsenkurse ein.

Globalisierung und Rassismus

Daraus könnte ein großer, ja schließlich ein weltweiter Versuch werden, ob und wie weit die Globalisierung vorübergehend gebremst werden muss. Und wie selbstverständlich spielt Rassismus auch hier hinein: Schon soll es tätliche Angriffe auf Chinesen in Europa gegeben haben. Es müssen mal wieder Menschen herausgegriffen und als Schuldige „dingfest gemacht“ werden.

Apropos irrationale Umtrieb: In letzter Zeit haben sich – vor allem im ökopolitischen Umfeld – auch sektenartige oder zumindest quasi-religiöse Formationen gebildet. Ist es nur eine wahnwitzige, literarisch induzierte Phantasie, wenn man sich vorstellt, wie wegen der Seuche Menschen durch die Straßen ziehen, sich selbst als sündhaft geißelnd? Wie damals, zu Zeiten der Pest…

Autoritäre vs. demokratische Staaten

Auch treten jetzt autoritär regierte Länder (China, Iran) in einen unfreiwilligen Wettbewerb mit einstweilen demokratisch verfassten Staaten (Italien etc.): Wer wird eine solche Krise besser bewältigen? Wie demokratisch kann es überhaupt zugehen, wenn der Notstand herrscht? Und übrigens: Wie kommt es bloß, dass bisher praktisch in ganz Afrika und Südamerika noch kein Ausbruch der Seuche verzeichnet wird? Liegt es daran, dass man dort nicht so streng registriert und dass man dort überhaupt auch noch einige andere Sorgen hat?

Vom medizinischen (Un)wissen, von der fieberhaften Suche nach Ursachen und Wirkungen ganz zu schweigen. Wo liegen überhaupt die Ursprünge der Seuche, die nunmehr eine Pandemie genannt wird? Wo war der allererste Ansteckungsherd, wie sehen die möglichen tierischen Zwischenwirte aus? Wie lange dauert die Inkubation, wie ist der wahrscheinliche Verlauf, wann klingt die Krankheit wieder ab, wann darf ein Patient als kuriert und „erholt“ gelten? Hängt alles mit China zusammen – oder wird sich erweisen, dass es weitere Ausbruchszentren gibt?

Heldentum der Mediziner

Und weiter: Wie hoch liegt die mutmaßliche Todesrate? Betrifft es wirklich vor allem über 80 Jahre alte oder sonstwie vorher geschwächte Menschen? Zynische Frage: Wären sie vielleicht auch an einer „normalen“ Grippe gestorben, wie denn überhaupt die Grippewellen einer durchschnittlichen Saison rund 25.000 Menschenleben kosten können?

Fragen über Fragen. Und keine ist bisher abschließend geklärt.

Ein zeitgemäßes Heldentum zeigt sich freilich, wenn man den Begriff schon verwenden will: beim ärztlichen Personal, das gleichsam an vorderster Front und unter hohem persönlichen Risiko die mysteriöse Krankheit bekämpft. Darüber hinaus gebührt großer Respekt all jenen, die die Gegenmaßnahmen vernünftig organisieren; den Forschungsteams, die in aller Welt an möglichst wirksamen Gegenmitteln arbeiten. Und so manchen anderen, die wir vergessen haben.

Und nun lasset uns hoffen. Und handeln, so gut es eben geht.




Märchenhaft und phantastisch: Eine konzertante Aufführung der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ in Dortmund

Der Frankokanadier Yannick Nézét-Séguin und das Rotterdam Philharmonic Orchestra sind einander durch zehn Jahre der Zusammenarbeit verbunden. (Foto: Petra Coddington)

Ein grässlicher Schrei entringt sich der Kehle der Amme. Ihr tückisches Spiel ist aus: Von der Kaiserin verstoßen, vom Boten des Geisterkönigs Keikobad verbannt, muss sie die Bühne verlassen, auf der an diesem Abend die Oper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss gegeben wird. Mit ihrem Abgang ist im Konzerthaus Dortmund der Weg frei für das große Happy End, für den ekstatischen Schlussjubel, der vom Publikum mit tobender Begeisterung erwidert wird.

Über das gewöhnliche Maß gehen diese Bravostürme weit hinaus. Sie sind einerseits Reaktion auf die kolossalen Klangeruptionen dieses Zaubermärchens, das von der Menschwerdung der aus dem Geisterreich stammenden Kaiserin erzählt. Durch den selbstlosen Verzicht auf eigene Kinder – symbolisiert durch den Schatten – wächst diese Frau zu unerwarteter Größe. Andererseits zollt das Publikum einer Interpretenriege Dank, die diese konzertante Opernaufführung zu einem überwältigenden Strauss-Fest erhebt.

Wo anfangen bei so viel Exzellenz? Bleiben wir zunächst bei der Amme, deren mephistophelische Natur durch Michaela Schuster packende Präsenz annimmt. Die Mezzosopranistin, als Sängerdarstellerin ein regelrechtes Bühnentier, gibt diesem Zwischenwesen die lauernde Gespanntheit einer Elektra, die auffahrende Herrschsucht einer Klytämnestra und die schmeichlerischen Zwischentöne einer Schlange.

Die aus Südafrika stammende Sopranistin Elza van den Heever sang die Partie der Kaiserin. An ihrer Seite war der Amerikaner Stephan Gould als Kaiser zu erleben. (Foto: Petra Coddington)

Ihr Gegenpol ist die feenhafte Kaiserin, die Dank Elza van den Heever tatsächlich einer anderen Welt entstiegen scheint. Ihr gläsern leuchtender Sopran bringt es auch nach kraftvollen Flügen durch stratosphärische Höhen fertig, in ein mädchenhaft-zartes Piano zurückzufinden. An ihrer Seite ist Stephan Gould ein Kaiser mit heldischem Tenor, der sich unbedingt Bahn bricht, sei es zuweilen auch mit Überdruck.

Bombenstark bei Stimme ist auch das Menschenpaar. Michael Volle singt den herzensguten Färber Barak, dem die abweisende Kälte seiner Frau arg zusetzt, mit einer vollklingend-sonoren Wärme zum Dahinschmelzen. Lise Lindstrom erhebt die Färberin zur heimlichen Hauptfigur. Unfassbar, mit welchem Volumen sie sich in immer neue Spitzen trotzigen Zorns hineinsteigert, mit welch glühender, zuweilen auch schneidender Leidenschaft sie noch im äußersten Fortissimo-Getümmel triumphiert. Zugleich lässt sie uns die Verzweiflung einer Frau spüren, die sich nicht gesehen und nicht verstanden fühlt.

Eine Ehe voller Spannungen führen der Färber Barak (Michael Volle) und seine Frau (Lise Lindstrom. Foto: Petra Coddington)

Die Nebenfiguren, der Rotterdam Symphony Chorus und der von Zeljo Davutović einstudierte WDR Kinderchor Dortmund tragen sämtlich ihren Teil zum Ausnahmerang dieses Abends bei.

Indessen muss nun endlich vom Rotterdam Philharmonic Orchestra die Rede sein, das unter seinem ehemaligen Chefdirigenten Yannick Nézét-Séguin die überbordende Phantastik und die raffinierte Instrumentationskunst der Partitur auskostet, dass einem schier die Ohren übergehen. Das Orchester nimmt uns mit auf eine Reise, die im rasenden Galopp durch drei Welten führt, die uns durch finsterste Abgründe bis in silberhelle Sphären der Verklärung begleitet. Es ist ein Rausch, eine prunkvolle, exotisch gefärbte Orgie des Klangs, transparent gehalten bis in die kammermusikalischen Details. Die Musik ist aus, aber ihr ätherisches Glücksleuchten bleibt.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Frank Goosen huldigt den Beatles – ein amüsanter Abend im Dortmunder „Fletch Bizzel“

Das Gesamtwerk der Beatles sollte man schon in wesentlichen Zügen kennen, sonst würde man ihm nicht so recht folgen können: Frank Goosen, mit trockenem Ruhrgebiets-Humor gesegneter Rock-, Fußball- und Revier-Fachmann, ist mit seinem neuen Buch „The Beatles“ angerückt. Im Dortmunder Szene-Theater „Fletch Bizzel“ plaudert er freiweg über seine innigen biographischen Verbindungen zu den „Fab Four“. Im Publikum ist die Generation 60 plus bestens repräsentiert.

Der freundliche Herr Goosen beim Buchsignieren nach seinem Dortmunder Auftritt. (Foto: Bernd Berke)

Im Gegensatz zu Leuten, die in den 1950er Jahren geboren wurden und deren Adoleszenz zeitlich direkt mit dem Aufstieg der Beatles verknüpft war, ist Goosen (Jahrgang 1966) ein „Nachgeborener“, wie er sich selbst bezeichnet. Als ihm Musik überhaupt zu Bewusstsein kam, lag das Oeuvre der Beatles schon fertig vor – abgesehen von dieser oder jener Soloplatte, zumal von Sir Paul McCartney.

Dass nun aber dieser „Nachgeborene“ so überaus viel über die Beatles weiß, das hat mich – als etwas älteren Fan der Liverpooler – beinahe schon gewurmt. Nun gut, ich fasse mich: Es hat mir vor allem Bewunderung abgenötigt, wie sehr sich der Mann in die Materie eingelebt (eingehört, eingelesen) hat. Und wie sinnreich er das mit seiner Jugend verwoben hat, das ist aus Erfahrung gekonnt (und nicht wohlfeil gewollt): Es waren jene Zeiten, als man angehimmelten Mädchen in heißer Hoffnung selbst zusammengestellte Audio-Cassetten zusteckte. In diesem Fall hieß sie Regina. Aber es war zwecklos. Da musste dann halt eine gewisse Michelle herhalten. Moment mal. Michelle? Nein, mehr wird hier nicht verraten. Nur, dass Frank Goosens Opa einmal ziemlich irritiert war, als John Lennons Gefährtin Yoko Ono auf einer Scheibe aufstöhnte, als hätte sie vor dem Mikro einen echten Orgasmus gehabt.

Das konnte doch kein Zufall sein!

Dass sein Vortrag gewohnt unterhaltsam ist, hat man von Goosen nicht anders erwartet. Zwar legt er zwischendurch keine einschlägigen Platten auf (Hallo, GEMA, nix zu holen!), aber am Schluss darf ihm das Publikum Fragen stellen, die er nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet.

Der ebenso bodenständige wie weltoffene Bochumer hat gleich eingangs berichtet, dass die Beatles gerade mal 25 Tage nach seiner Geburt in der Essener Grugahalle gespielt haben. So nah sind sie sich dann nie wieder gekommen – rein räumlich besehen… Und bald darauf sind die Beatles gar nicht mehr mehr live aufgetreten. Sonnenklar: Das konnte doch kein Zufall sein! Sondern? Es war wohl ein Zeichen. Fast so magisch wie die Bedeutung der Zahl 9 im Leben John Lennons (und sei’s in der Quersumme).

Seit den späten 70er Jahren hat sich der pubertierende Frank Goosen denkbar intensiv mit John, Paul, George und Ringo befasst. Los ging’s mit den beiden roten und blauen Doppelalben für den ersten Überblick, dann folgte nach und nach alles Weitere. Mit den Beatles, so dozierte Frank G. schon damals auf dem Schulhof, sei recht eigentlich Farbe in die vordem schwarzweiße oder auch graue Welt gekommen – bis hin ins seinerzeit auch nicht gerade bunte Ruhrgebiet. Goosens mehr oder weniger exklusive Entdeckung: Die zunächst allmähliche, dann explosive Farbwerdung habe sich ja schon an ihren Albumhüllen und an so manchen Songtexten gezeigt. Der selbsternannte Beatles-Experte Michael („Name geändert“), der damals blasiert widersprechen wollte, habe übrigens keinen blassen Schimmer gehabt. Damit das mal klar ist.

Den Vatikan reißt man ja auch nicht ab

Überhaupt waren die Beatles für ihn eine bis heute nachwirkende Offenbarung. Unverzeihlich findet es Goosen, dass der berühmte Cavern Club in Liverpool abgerissen und durch einen weit weniger auratischen Nachbau ersetzt worden ist. Nachvollziehbare Analogie: „Den Vatikan reißt man doch auch nicht ab!“

Dennoch war es ein Lebens-Höhepunkt, als Goosen vor einiger Zeit mit Frau und Kindern endlich einmal Liverpool aufsuchte und auf den Spuren der frühen Beatles unterwegs war – mit dem geradezu besessenen Guide namens Steve, der an Beatles-Detailwissen alle anderen in den Schatten stellte. Welch‘ ein Gänsehaut-Erlebnis, tatsächlich einmal durch die Penny Lane zu schreiten oder die wahrhaftigen Strawberry Fields (bzw. deren Nachfolge-Areal) zu sehen! Allerdings merkt Goosen auch an, welch massentouristische Untiefen dort zu gewärtigen sind. Da wird man an manchen Punkten von allen Seiten dermaßen mit Beatles-Titeln beschallt, dass es kaum auszuhalten ist. Noch weitaus unerträglicher: die idiotische Anmaßung mancher Touristen, sich in New York vor dem Dakota Building (dort wurde am 8. Dezember 1980 John Lennon ermordet) mit dem heutigen Doorman fotografieren zu lassen…

Noch eine Erkenntnis der Marke Goosen gefällig? Nun, wenn man bestimmte Beatles-Titel auf ordentlichen Vinyl-LPs gehört und dabei ungeahnte Instrumente entdeckt habe, so könne man seine CD-Sammlung eigentlich wegwerfen.

Weitere NRW-Tourneedaten mit dem Programm „Acht Tage die Woche – die Beatles und ich“: 3.3. Menden, 4.3. Bottrop, 17.3. Oberhausen, 18.3. Essen, 23.3. Duisburg, 31.3. Waltrop, 1.4. Haltern, 2.4. Gladbeck, 21.4. Herne, 25.4. Hagen. Gesamtprogramm: www.frankgoosen.de

Frank Goosen: „THE BEATLES“. KiWi Musikbibliothek (Kiepenheuer & Witsch). 182 Seiten. 12 €.




Trauer und Hoffnung sind gegenwärtig: Mitten im Karneval erklingt in Dortmund Giuseppe Verdis Totenmesse

Aus dem Nichts heraus lässt Gabriel Feltz den Ton der gedämpften Celli entstehen, bevor die Männerstimmen des Chors fast unhörbar ihr „Requiem“ in die Weite des Konzerthauses entlassen. Der Dortmunder GMD hat, das muss man ihm lassen, die mit Anweisungen gespickte Partitur von Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ genau gelesen.

Dirigent Gabriel Feltz. (Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures)

So leise wie möglich möchte Verdi an dieser Stelle die „ewige Ruhe“ ausgesungen haben, gleichzeitig verlangt er aber „con espressione“, wenn Violinen und Celli, kontrapunktiert von den Bratschen, ihre großen Bogen aufspannen. Kaum zu bewältigende Gegensätze, wenn man zum Beispiel das Verdi’sche „pppp“ – der Maestro notiert häufig Extreme – als tonlos gehauchte Minimal-Lautstärke versteht und ihm die aus der Interpretations-Tradition erklärbare Sonorität nimmt. Gabriel Feltz nimmt das in Kauf, denn er möchte den schlagenden Kontrast zum folgenden, nicht ganz präzis eingesetzten „Te decet hymnus“ herausarbeiten, das im Forte die letzten beiden Achtel der vom Licht der Ewigkeit singenden Chorsoprane übertönt. Ein Effekt, der unter die Haut geht, aber inhaltlich wenig bringt.

Mitten im Karneval erklingt also im 5. Philharmonischen Konzert Verdis Totenmesse, eine düster drohende, aber auch schmerzlich flehende und von Trost durchzogene Vision jenes Endpunkts der Geschichte, an dem es „carne vale“ heißt – also Abschied zu nehmen von der Existenz „im Fleische“. Mit geschärftem Interpretations-Ehrgeiz animiert Feltz die Dortmunder Philharmoniker und den von Petr Fiala einstudierten Tschechischen Philharmonischen Chor aus der Janáček-Stadt Brno zu einer jederzeit bewusst gestaltenden Tour durch Verdis Ausdruckswelten. Dass sich bei aller suggestiven Macht des Klangs, bei allen filigranen Abstufungen der Dynamik das vollendete Verdi-Glück nicht einstellen wollte, liegt an Momenten, in denen Feltz‘ Begehren nach Effekt mit ihm durchgeht, aber auch an der Gestaltung seiner Tempi.

Balsamisches Verharren

Feltz lässt sich zum Glück nicht darauf ein, das „agitato“ im „Dies Irae“ als Anweisung zu beschleunigtem Galopp durch die musikalisch ausgemalte kosmische Umwälzung misszuverstehen. Er fasst auch das „mosso“ im Andante des Offertoriums zutreffend als Hinweis für Ausdruck, nicht für Tempo auf. Aber in den langsamen Teilen des Requiems frönt er dem balsamischen Verharren: Schon wenn er den Chor im „lux perpetua“ breit und bedeutungsschwer intonieren lässt, stellt sich der Eindruck des Manierierten ein.

In „Judex ergo“ fürchtet man dann um den Atem der versierten, im Klang ihres Mezzosoprans oft sehr metallischen Adriana Bastidas-Gamboa. Feltz lässt das Kölner Ensemblemitglied im Terzett des „Quid sum miser“ beinahe „verhungern“. Adagio hin oder her: Wenn auch der Tenor Sungmin Song verzagt und seine Stütze mit letzter Kraft retten muss, ist das „col canto“, das Verdi ausdrücklich vorschreibt, nicht erfüllt. Auch „Recordare Jesu pie“ und „Quaerens me“ wirken zäh und larmoyant, weil bei Feltz das „animando“ Verdis, jenes seelenvolle Intensivieren von Ton und Tempo, außen vor bleibt. Die belcantistische Flexibilität, die keine Frage der Dynamik, nicht einmal des Tempos ist, sondern innerhalb von Phrasen als Spannungsaufbau und Entspannung gestaltet werden will, bleibt ein Desiderat.

Streichersüße und Bläserattacken

Die Dortmunder Philharmoniker lassen keine Wünsche offen: Die Holzbläser widmen sich schon den differenzierten Begleitfiguren des „Kyrie“ mit Hingabe; bei den Streichern kommt die kantable Süße ebenso zur Geltung wie die brutale Markanz im „Dies irae“, die schwebende Leichtigkeit von Staccato-Ketten ebenso wie Momente höchster Aufmerksamkeit im Wechsel der Dynamik. Allenfalls ließen sich die weiten Bögen, die Verdi geschlagen haben will, hin und wieder intensiver füllen. Das Blech attackiert leuchtend seine Fanfaren, füllt machtvoll die Bläser-Batterie des „Sanctus“. Die „Gran Cassa“ bringt ihr „contrattempo“ in den Pausen der Paukenschläge trocken und kräftig, wie von Verdi gewünscht. Der Chor aus Brünn besteht seine Fugenprobe im „Libera me“, zeigt im „Te decet hymnus“ kernige Männerstimmen, übersteuert das „Dies irae“ nicht, wird aber auch nicht zum Aufbau von Spannung ermuntert.

Den letzten Teil der Totenmesse leitet der Sopran ein: Die Bitte um Befreiung vom ewigen Tod artikuliert Susanne Bernhard mit ihrer abgerundeten, dunkel getönten Stimme in gebremstem Pathos, eher als Gesangsphrase denn als erschüttert ausbrechendes Stoßgebet. Bernhard verfügt über einen gepflegten Verdi-Sopran, der auch in den Ensembles mit kontrolliertem Ton überzeugt. Sungmin Songs sicher gestützter, klangstarker Tenor hat seine Stärken, wo er einen strahlend-kraftvollen Ton projizieren kann. Für die ätherische Lyrik der Piani in „Ingemisco“ oder „Inter oves“ ist er nicht flexibel genug zurückzunehmen. Ante Jerkunica von der Deutschen Oper Berlin singt die Basspartie nicht vordergründig prunkend, aber auch ohne den samtenen Wohllaut eines „basso cantante“.

Beim Publikum blieb der Eindruck, den der Komponist Ildebrando Pizzetti beschrieben hat: Die Musik, so formuliert er, sei „mehr als rein lyrischer Ausdruck; sie ist Vergegenwärtigung von Trauer und Hoffnung.“ Der Beifall war entsprechend: respektvoll und herzlich.

Das 6. Philharmonische Konzert am 3. und 4. März 2020 bringt unter dem Titel „Paris“ George Gershwins „An American in Paris“, Igor Strawinskys „Petruschka“ und Alexander Glasunows Konzert für Alt-Saxophon und Streichorchester Es-Dur op. 109. Info: https://www.theaterdo.de/detail/event/20556/




Im Stadtteil ist fast gar nichts passiert? Dann liest man es bald gedruckt…

Nicht allzu viel los hier: Triste Vorort-Fotos wie diese Platzansicht aus einem Dortmunder Ortsteil können wir selbstverständlich auch. (Foto: Bernd Berke)

Traurig bis empört dreinblickende Menschen, bevorzugt im Rentenalter, die anklagend auf schadhafte Straßen, illegal entsorgten Müll oder dergleichen Unbill deuten, sind im Lokalteil des hiesigen Regionalblattes und besonders auf den „sublokalen“ Seiten quasi schon ein eigenes Genre. Kürzlich aber hat sich die Stadtteilzeitung mit ihren Seiten für den Dortmunder Süden selbst übertroffen. Dazu nun diese etwas polemisch angespitzten Zeilen:

Da sieht sich eine Leserin, die einem Aufruf der Redaktion gefolgt ist, ungemein ausgiebig gewürdigt: im Aufmacher, fast blatthoch fünfspaltig, mit drei Fotos garniert. Machtvolle Schlagzeile: „Dortmunderin hat kreative Ideen für ihren Stadtteil“. Warum ausgerechnet sie? Warum sie an diesem Tag allein? Warum unwidersprochen bzw. kaum relativiert? Warum wird das ausgerechnet jetzt gedruckt? Warum so ausufernd? Und warum überhaupt?

Gatekeeper? Hahaha!

Solche und weitere Sinnfragen hat sich die Redaktion sozusagen verkniffen, sie bringt die Chose einfach groß ‘raus – und droht bereits mit weiteren Folgen der Serie. Wie war das noch mit der oft beschworenen Gatekeeper-Funktion von Journalisten, die eben nicht jedes beliebige Thema schrankenlos ins Blatt heben sollen? Hahaha, guter Scherz.

Also darf die Dame kräftig loslegen und gleich mal eben ein paar neue Radwege für ihren Ortsteil fordern. Ein Foto zeigt sie mit Radhelm. Da liegt ihr Ansinnen nahe. Radwege kann man ohnehin immer und überall fordern. Kommt stets gut. Sodann aber dreht sie, einmal durch Zuspruch ermuntert, ein ungleich größeres „Rad“ und möchte mal eben eine neue Abfahrt von der Autobahn A 45 haben, die zu „ihrem“ Sprengel führen soll. „Das wäre nicht viel Aufwand“, wird sie dazu zitiert. Eine neue Autobahnabfahrt. Nicht viel Aufwand. Aha. Immerhin teilt die Redaktion en passant mit, dass daraus wohl nichts werden dürfte. Aber man wird doch mal träumen können: Was wäre, wenn ich König(in) von Dortmund wär‘? Nur: Müssen solche Träume gleich so länglich in der Zeitung stehen?

Mal eben den S-Bahnhof verlegen

Sodann die Leerstände im Viertel. Ist doch klar, wie die aufgegebenen Ladenlokale genutzt werden können. Die Frau, deren Namen wir hier selbstverständlich nicht nennen, findet, dass jetzt viel Patz sei „für Kneipen wie im Kreuzviertel“. Jau, is‘ klar. Die „Szene“ wird sich bestimmt aus dem immer noch angesagten Innenstadt-Kiez in den Vorort verlagern oder wenigstens dorthin erweitern. Hegt da etwa jemand Zweifel?

Auch für einen S-Bahnhof, der eh verlegt werden soll, hat die Frau eine Idee. Die Station solle näher an die Haupteinkaufsstraße des Vororts heran rücken. Und wo sie schon einmal dabei ist, schlägt die Hobby-Planerin gleich noch die Verlängerung einer anderen Straße vor – „über eine Brücke oder Unterführung“. Tja, wenn’s weiter nichts ist…

Das Lokal, das seit 100 Tagen Burger brät

Tags zuvor hatte eine andere Stadtteil-Ausgabe derselben Zeitung einen vergleichbar umfangreichen Bericht zu dem atemberaubenden Umstand veröffentlicht, dass ein Lokal mit rustikalem Burger-Schwerpunkt seit 100 Tagen geöffnet hat. Offensichtlich reine Werbung. Reine Gefälligkeit. Ohne jegliche besondere „Geschichte“. So etwas ist auf diesen Seiten keineswegs unüblich. Die Betreiber konkurrierender Restaurants werden vielleicht nicht ganz so begeistert sein. Aber falls sie sich beschweren, werden ihnen demnächst vielleicht auch ein paar nette Zeilen gewidmet. Wie könnte man so etwas nennen? Journalismus jedenfalls nicht.

Interview als seltsame Mixtur

Vollkommen fern von professionellen Standards war auch das Verfahren der dritten Stadtteil-Redaktion, als sie vor einiger Zeit einen Bezirksbürgermeister interviewt hat – in üblicher Frage-Antwort-Form. So weit, so gut. Was allerdings gegen jede Gepflogenheit verstieß: Die Antworten des Politikers wurden sogleich im Interview-Text kommentiert und relativiert, wobei die „Meinung der Redaktion“ jeweils direkt auf seine Antworten folgte, ohne dass der Befragte wiederum darauf hätte reagieren können. Er wird sich anderntags bei Erscheinen des zwittrigen Beitrags ungläubig die Augen gerieben haben…

Auch hier gilt offenbar: Der printmediale Monopolist (siehe Schlussbemerkung) glaubt, sich alles erlauben zu können. Beispielsweise eine solch unredliche Mischform aus Interview und eingestreuter Kommentierung. Wie denn überhaupt Bericht und Kommentar oder auch redaktionelle und werbliche Beiträge gelegentlich schon mal miteinander vermengt werden.

Knips – zack – fertig!

Hin und wieder findet man natürlich auch auf den Stadtteilseiten Wissens- oder Lesenswertes. Doch man fasst sich auch beinahe jeden Tag an den Kopf ob so mancher weiterer Zumutungen. Die obigen Beispiele sind ja nur willkürlich herausgegriffen, man könnte jederzeit andere anführen.

Außerdem ist die Foto-Qualität oft grottenschlecht. Immer wieder werden beispielsweise absolut „tote“ Ecken lieblos abgelichtet, gleichsam wie im flüchtigen Vorübergehen. Knips – zack – fertig! Nächster Termin. Wahrscheinlich, weil es sich fürs schmale Honorar eh nicht lohnt, sich mehr Mühe zu geben. Ich würde ja liebend gerne Beispiele zeigen. Darf ich aber natürlich nicht.

Vielfach werden ganz offensichtlich Amateure losgeschickt, die immerhin beherzt auf den Auslöser drücken. Oder es werden gleich – selbstredend kostenlos – eingereichte Bilder (zum Beispiel von Vereinen) genommen, über die wir uns hier nicht weiter auslassen mögen.

Selbst simpelste handwerkliche Regeln werden oft nicht mehr eingehalten. So sind beispielsweise Schlagzeilen und Unterzeilen häufig nahezu textgleich, die Worte werden nur unwesentlich verschoben. Derlei Wiederholungen hätte man früher gemieden wie der Teufel das… naja, ihr wisst schon.

Keine Konkurrenz zu befürchten

Nun gut, die Redaktionen sind sicherlich karg besetzt, der Honoraretat ist sehr begrenzt. Aber dennoch: So sehen Zeitungen vor allem dann aus, wenn und weil sie keine Konkurrenz mehr fürchten müssen. So kommt es auch, dass man längst nicht mehr in allen Fällen aktuell berichtet. Nicht selten läuft’s nach dem unrhythmisch klappernden Motto: Kommt Zeit, kommt Artikel.

Man hat überdies den Eindruck, dass in den Vororten an etlichen Tagen einfach nicht genug passiert. Schließlich müssen Tag für Tag insgesamt je sechs Seiten gefüllt werden. Eine Minderung täte nicht selten gut. Doch dann würden sich just die Vereine beschweren, weil sie nach ihrer Ansicht nicht mehr hinreichend vorkämen.

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P. S. zum lokalen Monopolisten: Die Stadtteilseiten werden von den Ruhrnachrichten erstellt, laufen aber in Dortmund (ebenso wie der sonstige Lokalteil) auch leicht verändert in der lokalen WAZ-Auflage mit – und in der redaktionslosen Phantomzeitung namens „Westfälische Rundschau“.

 




Ein riesiger Teddy als Lockmittel – „Sommer bei Nacht“, Jan Costin Wagners Krimi um Kindesentführungen

Die Mutter hat ihren fünfjährigen Sohn auf dem Flohmarkt in einer Grundschule nur für ein paar Minuten aus den Augen gelassen, da ist er schon spurlos verschwunden.

Zeugen wollen gesehen haben, dass er einen großen Teddy in den Armen hielt und mit einem Mann weggegangen ist. Aber mehr bringen weder die Mutter, die voller Angst mit der Suche beginnt, als auch die gleich eingeschaltete Polizei zunächst nicht in Erfahrung.

Der Leser ist da den Mitwirkenden schon ein Stück voraus, lernt er den Kindesentführer doch schon gleich am Anfang des Buches kennen. Jan Costin Wagner erzählt die Tat nämlich zunächst aus der Perspektive des Kidnappers. Der Spannung tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil. Denn was dieser Mann nun wirklich mit seinem Opfer vorhat und um welchen Typ von Täter es sich hier handelt, das sind Fragen, auf die es erst nach und nach Antworten gibt.

Geschickt schafft es Autor, den Eindruck zu erwecken, dass es nicht lange brauchen werde, um den Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen. Denn beispielsweise stößt die Polizei recht bald auf zwei ähnlich gelagerte Fälle. Das eine Mal verschwand ein Flüchtlingsjunge aus Eritrea, das andere Mal blieb es zum Glück nur beim Versuch, ein Kind zum Mitgehen zu überreden. Als Lockmittel diente stets ein riesiger Teddy, sodass die Polizei hofft, über die Verkäufer solcher außergewöhnlichen Stofftiere weiterzukommen.

Spannung durch ständige Perspektivenwechsel

Doch ein schneller Fahndungserfolg bleibt aus. Stattdessen leiden die Familien der Opfer nicht nur unter dem Verlust ihrer Kinder, was schon schlimm genug ist, sie haben auch das Gefühl, versagt zu haben. Darüber kommt es in der Ehe der Eltern von Jannis, des Entführungsopfers auf dem Flohmarkt, fast zum Zerwürfnis.

Das Bild, das der Autor von den beiden ermittelnden Kommissaren Ben Neven und Christian Sandner zeichnet, ist sehr kontrastreich. So sehr sie auch mit großer Akribie recherchieren und um Aufklärung bemüht sind, ebenso stark scheinen sie auch mit privaten Problemen behaftet zu sein, die ihren Blick auf die Ereignisse auch trüben könnten. Mit Szenen aus dem Intimleben von Neven nährt der Verfasser zudem einen Verdacht, der, wenn er sich bewahrheiten sollte, der gesamten Handlung noch eine ganze neue Wendung geben könnte.

Überraschende Momente sind es ohnehin, die den Verlauf des Krimis prägen. Ohne zu viel zu verraten, lässt sich festhalten, dass der Kidnapper, den man als Hauptverantwortlichen ansieht, später noch einmal in einem anderen Licht erscheint. Zudem setzt der Autor sehr wirkungsvoll Spannungselemente ein, um die Leser im Unklaren zu lassen, ob die Eltern ihre Kinder je lebend wiedersehen werden.

Weil Jan Costin Wagner das Geschehen nicht an einem Stück erzählt, sondern immer wieder die Perspektive wechselt und aus Sicht der einzelnen Charaktere schreibt, bleibt die Frage nach dem Ausgang offen – bis zum Schluss.

Jan Costin Wagner: „Sommer bei Nacht“. Galiani Berlin, 320 Seiten, 20 Euro.




Mitten im Getümmel das zähe Ringen um Worte – Andrea Breth inszeniert Yasmina Rezas „Drei Mal Leben“ in Berlin

Zwei Paare in ihrem alltäglichen Elend: Szene mit (v. li.) Constanze Becker, Nico Holonics, Judith Engel, August Diehl. (Foto: © Bernd Uhlig / Berliner Ensemble)

Das Berliner Ensemble mausert sich zum Wallfahrtsort für alle Fans der französischen Schriftstellerin Yasmina Reza: Nach den Erfolgsstücken „Kunst“ und „Der Gott des Gemetzels“ ist jetzt auch „Drei Mal Leben“ im ollen Brecht-Theater angekommen.

Yasmina Reza beherrscht, wie wohl keine andere Gegenwartsautorin, die Kunst, das Schwere federleicht erscheinen zu lassen, die menschlichen Tragödien ins Absurde zu überführen, die unübersichtliche Komplexität des Lebens transparent zu machen. Ihre Stücke sind kuriose Zimmerschlachten, kommunikative Therapiesitzungen für ein Publikum, das auf der Bühne sich selbst erblickt und über seine eigenen Unzulänglichkeiten befreiend lachen kann: Denn die beiden Paare, die in „Drei Mal Leben“ eine Party feiern wollen und dann ihr alltägliches Elend und verlorenen Träume gleich dreimal durchspielen müssen – das sind ja wir alle, die da in den Spiegel schauen und in heiterer Melancholie uns selbst beim Laufen im täglichen Hamsterrad zuschauen.

Sinnsuche im banalen Alltag

Regisseurin Andrea Breth, weniger für absurde Komik als für sensible Psychologie bekannt, führt Rezas Stück an der kurzen Leine. Die Schauspieler dürfen für Momente ihrem Affen Zucker geben und ausgelassen herumblödeln, schreien, saufen, sich an die Wäsche gehen. Doch dann tritt Breth auf die Bremse, legt kleine Kunst-Pausen ein, lässt die Figuren zu Eis erstarren und in sich hineinhorchen. Auf turbulentes Tohuwabohu folgt gähnende Leere, auf zotige Witzelei zähes Ringen um jedes Wort. Die Regisseurin schürft tief und sucht nach philosophischem Sinn, wo eigentlich nur der Wahnsinn des banalen Alltags wütet. Die Inszenierung hat zu wenig Tempo und Esprit, zu wenig Eleganz und Erotik: Es fehlen Zauber und Poesie.

Es geht einfach immer weiter

Die Darsteller finden nur schwer ins Getümmel der Eheschlachten und Machtkämpfe. Am besten gelingt das Judith Engel (Ines): Wie ihre Gesten von Szene zu Szene immer mehr entgleisen, ihre Grimassen immer mehr verrutschen, wie sie lallend komplizierte Dinge mit entwaffnender Naivität auf den Punkt bringt, ist herrlich. August Diehl (Hubert) bleibt immer nur der aasige Zyniker im schnieken Anzug, der sich im Gestus der eitlen Männlichkeit suhlt. Constanze Becker (Sonja) mutiert im Laufe des Abends von der intellektuell und sexuell unterforderten Ehefrau zum lüsternen Vamp. Nico Holonics (Henri) gibt mal den weinerlichen Waschlappen, mal den brüllender Berserker. Doch es hilft nichts. Das Leben geht einfach immer weiter, und morgen ist wieder ein neuer Tag.

Karten unter 030/284 081 55. theaterkasse@berliner-ensemble.de

https://www.berliner-ensemble.de/




Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart: Heftige Kindheit im Schatten der Hörder Hochöfen

„Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart, deren letzter Roman von 2019 sinnigerweise „Kein Sturm, nur Wetter“ heißt. (Aufnahme vom März 2019 in Berlin: © Burkhard Peter)

Dortmunds erste Stadtbeschreiberin Judith Kuckart hat sich heute im Literaturhaus am Neuen Graben 78 vorgestellt. Ihren Lebensmittelpunkt hat die renommierte Autorin seit etlichen Jahren in Berlin, doch kann sie auf Dortmunder Erinnerungen zurückgreifen. Genauer: auf Kindheitserinnerungen aus dem Stadtteil Hörde, wo es, wie sie sagt, damals ziemlich heftig zugegangen ist.

Irgendwann liefen dort ziemlich viele 15- oder 16-jährige Mädchen herum, die bereits schwanger waren. Da beschloss ihre Familie denn doch, dass diese Gegend nicht ganz das Richtige für Judith sei – und zog wieder zurück in ihre betulichere Geburtsstadt Schwelm.

Ohne Sattel auf dem Fahrrad

Zuvor hatte Judith Kuckart ein paar gleichsam typische Ruhrgebiets-Kindheitsjahre im Malocherviertel erlebt. „Ich habe in Hörde Fahrradfahren gelernt – ohne Sattel.“ Auch habe sie damals tagtäglich aus der Nähe gesehen, wie kompliziert es zwischen Männern und Frauen zugeht. Gar nicht zu vergessen das Milieu der knochenharten Arbeitswelt: Ein Onkel habe am Hochofen gearbeitet und sei schon mit 40 Jahren gestorben.

Die damalige Wohnadresse: Am Winterberg 72 a. Die Straße lag im Schatten der gewaltigen Hoesch-Hochöfen, heute erstreckt sich auf dem früheren Werksgelände der Phoenixsee. Vor zwei Jahren, als ein Bundeskongress der Schriftstellervereinigung P.E.N. sie wieder einmal nach Dortmund führte, hat Judith Kuckart (Jahrgang 1959) in Hörde eine Cousine besucht, die sich mit der Gentrifizierung rund um den künstlichen See so gar nicht abfinden mag.

Niemand sitzt mehr auf den Stufen

Jedenfalls stellten beide fest, dass in diesen Straßenzügen – ganz anders als früher – niemand draußen auf den Stufen saß, um nachbarschaftlich zu plaudern. Es ist eine dieser Beobachtungen, aus denen schließlich Literatur erwachsen kann. Judith Kuckart fragt sich, ob es heute Berührungspunkte zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen gebe. Oder liegt hier eine eklatante gesellschaftliche Spaltung vor? Kuckart wird versuchen, es herauszufinden, mit ihren Mitteln. Einsam Spaziergänge um den Phoenixsee seien ihre Sache nicht, sie wolle mit vielen Menschen reden.

Derlei sinnfällige Veränderungen eines Stadtteils, so Kuckart, könnten ein Ansatzpunkt für ihre Stadtbeschreiberinnen-Arbeit in Dortmund sein, die im Mai beginnen und bis Oktober dauern wird. Schon vor ihrer Bewerbung ums Dortmunder Stipendium hat sie fürs Romanprojekt „Die Unsichtbaren“ eine Figur entwickelt, die aus Dortmund-Hörde stammt. Auch hierzu dürften sich weitere Recherchen anlagern. Sprich: Die Kindheit und ihre Schauplätze sind keineswegs vergessen, da regt sich immer noch einiges im Gemüt. Mehr noch: Als die Presseleute nicht allesamt Ralf Rothmanns Ruhrgebiets-Roman „Milch und Kohle“ (2000) kennen, ruft sie aus: „Na, ihr seid mir ja schöne Dortmunder!“

Interessanter als Heidelberg

Und überhaupt. Sie bewerbe sich eigentlich nicht mehr um Stadtschreiber-Ämter, in diesem Falle aber habe sie es getan, „w e i l es um Dortmund geht. Heidelberg hätte mich zum Beispiel nicht so interessiert.“ Obwohl sie dort schon gearbeitet hat – als Mitglied der Tanzcompagnie von Johann Kresnik. Tanz und Choreographie waren nämlich ihr ursprüngliches Metier, bevor sie immer mehr zum Schreiben kam. Also kennt sie sich auch mit Bühnenpraxis aus, was in ihrer Dortmunder Zeit durchaus eine Rolle spielen könnte. An einer Stelle fällt das Wort Erzähltheater. Bürgerinnen und Bürger sollen dabei mitmachen. Hört sich schon mal vielversprechend an.

Ein Satz, der Schülern gefallen dürfte

Damit nicht genug der medialen Auffächerung. Kuckart denkt auch schon an ein visuell angereichertes Dortmunder Tagebuch, das eventuell im Internet erscheinen könnte. Und sie kann sich gut vorstellen, hie und da in Schulen am Unterricht mitzuwirken. In Hamburg hat sie mal mit Achtklässlern einen „Schulhausroman“ erarbeitet, in dem ein verschwundener Lehrer gesucht wurde. Mit einer Aussage, die offensichtlich von Herzen kommt, dürfte Judith Kuckart manche Schüler rasch auf ihre Seite bringen: „Warum müssen Kinder im Achtklässler-Alter überhaupt zur Schule gehen? Furchtbar!“

Um die Dortmunder Gretchenfrage aufzuwerfen und flugs zu beantworten: Ja, Judith Kuckart kennt sich auch mit Fußball aus. Das erwähnte P.E.N.-Treffen nutzte sie seinerzeit auch, um den BVB gegen den 1. FC Köln spielen zu sehen. Einschlägige Texte gehören hin und wieder ebenso zu ihrem Repertoire wie auch schon mal eine Lesung im Stadion.

Bestimmt nicht wegen des Geldes beworben

Die Dotierung des Stipendiums beläuft sich monatlich auf 1800 Euro. Dazu befragt, erklärt Judith Kuckart sehr glaubhaft, sie habe sich gewiss nicht wegen des Geldes beworben. Sie wird sich auch nicht in einem schicken Viertel ansiedeln, sondern höchstwahrscheinlich eine (seit jeher schwarzgelb dekorierte) Schreibwohnung in der bundesweit bekannt-berüchtigten Dortmunder Nordstadt beziehen. „Heftige“ Zustände kennt sie ja von damals aus Hörde.

Dortmunds Stadtdirektor Jörg Stüdemann (Kulturdezernent und Kämmerer in Personalunion) versichert, mit 1800 Euro bewege man sich finanziell im „oberen Drittel“ vergleichbarer Stipendien. Man habe sich in dieser Angelegenheit von Autoren und anderen Kennern des Literaturbetriebs eingehend beraten lassen.

Keinen Auftrag zu erfüllen

Stüdemann betont außerdem, dass – anders als bei vielen sonstigen Stadtschreiber-Posten – der Preisträgerin nichts Konkretes abgefordert werde. Sie habe keinen Auftrag zu erfüllen, sondern könne sich nach Belieben in der Stadt umsehen. Die ungewöhnliche Bezeichnung Stadtbeschreiberin lässt (im Vergleich zur Stadtschreiberin) ja schon ahnen, dass es hier nicht um Dienstbarkeiten für die Kommune geht, sondern ums Wahrnehmen und Aufzeichnen.

Judith Kuckart macht deutlich, dass es ihr nicht um „Meinungen“ über Dortmunder Verhältnisse zu tun sei, auch nicht um investigative Nachforschungen („Das kann ich gar nicht“), sondern just um möglichst genaue Beobachtungen und hernach ums Erzählen. Nur dann könne Verborgenes sichtbar gemacht werden. Und nun lasst uns mal ganz wohlwollend abwarten, wie die angenehm unprätentiöse Schriftstellerin ihre Vorhaben umsetzen wird.




Zahnfee, Du Verräterin!

Weihnachten liegt hinter, Ostern vor uns – und beide Feste sind ganz anders als zuvor. Vorbei ist es mit Wispern, Raunen und Fabulieren: Unsere Tochter glaubt nicht mehr. Weder an den Weihnachtsmann noch an den Osterhasen. Und wer ist schuld? Die Zahnfee!

Weihnachtsmann! Ostern! Zahnfee! Alles ihr! (Zeichnung: Nadine Albach)

Ich muss diesen Text mit einem kurzen, nostalgischen Seufzer anfangen.

Hach.

Als Fiona noch an Weihnachtsmann & Co. glaubte, lag ein bisschen Magie in der Luft. Wir konnten zehn gefärbte Eier so oft verstecken, dass es eigentlich 50 waren. Und als wir per Fernbedienung Glockengeläut von Spotify aktivierten und eher ungeplant eine tiefe Männerstimme ansagte „Die Glocken des Kölner Doms“, rief Fi mit weit aufgerissenen Augen: „Der Weihnachtsmann! Ich habe den Weihnachtsmann gehört!“ Warum der so merkwürdige Sachen sagte, geschweige denn, was der Kölner Dom damit zu hatte, wurde nicht hinterfragt.

Du lachst ja!

Das ist jetzt vorbei. Die Zahnfee hat den ganzen Spaß mit dem mythischen Personal zunichte gemacht. Wahrscheinlich gab es beim Auftritt dieser jungen Dame schon ein Grundproblem: Ich kenne sie nicht. Als ich klein war, wurde ich für meine ausgefallenen nur mit neuen Zähnen belohnt. Fiona hingegen war von ihren Freundinnen schon gebrieft. Mit dem ersten Wackelzahn kamen auch die Nachfragen: Wie das genau funktionieren würde, dieser Tausch, Zahn gegen Geschenk? Ich versuchte zu erklären. Dichtete herum, wand mich. Da rief Fiona plötzlich: „Du lachst ja! Du bist die Zahnfee!“

Ich wehrte mich noch ein wenig. Aber dann gab ich doch auf. Richtig lügen geht schließlich auch nicht. Wie Trumpfkarten warf Fiona mir daraufhin ihre Erkenntnisse hin: „Weihnachtsmann! Osterhase! Nikolaus! Alles ihr!“

Geschenkespürsinn

Traurig machte sie all das nicht. Ganz im Gegenteil: Ihr detektivischer Spürsinn ist seitdem geweckt. Und leider ist er dank Justus Jonas & Co. auch mächtig geschult.

Weihnachten zum Beispiel ahnte sie (zurecht), dass die Pakete im Waschkeller versteckt sein könnten. Fiona schloss sich in ihr Zimmer ein und entwarf einen Plan, der Sherlock Holmes hätte blass werden lassen. „Nachz prüfen ob alle schlafen“ stand da als erster Punkt. „Luft rein, ja / nein“ folgte als Option zum Ankreuzen. Runterschleichen, Suchen, Geschenk aufreißen – Informatiker sprechen bei so etwas glaube ich von einer „If-else-Schleife“. Bei den Zeilen „Wen das Aufreisen nicht klapt nem ein Meser“ wurden Normen und ich allerdings blass.

Ein letztes Geheimnis

Jetzt haben wir einen Geschenke-Verstecken-Pakt mit den Nachbarn abgeschlossen. Aber das – bleibt unser Geheimnis!




Sturm „Sabine“ – War denn wirklich was?

Seit Tagen werden wir vor dem gefährlichen Sturm bzw. Orkan „Sabine“ gewarnt und haben – wie viele andere Leute ebenfalls – auch diese oder jene Vorkehrung getroffen. Erst sollte es um 16 Uhr heftiger werden, dann um 17 Uhr. Ach, Sabine, wo bleibst du denn? Naja, ein paar Windstöße hat es schon gegeben.

Vorsichtshalber Mülltonnen hingelegt und Deckel mit Paketband zugeklebt, denn: Bei früheren Stürmen fielen die Dinger schon mal um und verstreuten Abfall. (aufregendes Sensations-Foto: BB)

Doch was ist weiterhin passiert? Sonntags um 20 Uhr und um 21.30 Uhr herrscht allenfalls ein mittelstarker Wind mit gelegentlichen Böen, nachdem es nachmittags ein bisschen ungemütlicher zu werden schien. Aber auch das bewegte sich eher auf der Skala des einigermaßen Gewöhnlichen. Jedenfalls kein Vergleich mit all der Unbill, die uns verheißen worden ist. Und kein Vergleich mit der elementaren Wucht früherer Stürme.

Nun schaut aber auf all die Liveticker, die schon den ganzen Sonntag über angeworfen werden und schließlich irgendwie „gefüttert“ werden müssen, damit sich die Sonntagsdienste auch lohnen. Da wird beinahe jeder halbwegs dicke Ast vermeldet, der vom Baume gefallen ist, und jeder mittelgroße Feuerwehr-Einsatz bekommt ein paar Zeilen extra. Wobei ein Zahlenvergleich interessant wäre: Wie viele Einsätze hat es an den letzten Sonntagen gegeben? Waren es heute wirklich exorbitant mehr Alarm-Situationen? Und welcher Anteil verdankt sich der Hysterie, die im Vorfeld eifrig geschürt worden ist?

Unterdessen hat die Deutsche Bahn, gleichsam vorsorglich, ihren kompletten Betrieb eingestellt. Schon zuvor hatte sie prophylaktisch vor Bahnfahrten zwischen Sonntag und Dienstag gewarnt. Mal ehrlich: Wir haben es auch nicht anders erwartet. Kaum fallen im Herbst die ersten Blätter, herrscht bereits gelinde Panik beim einstigen Staatsbetrieb.

Aber die Bahn ist nicht allein mit ihrer Schnappatmung. Veranstaltungen aller Art (Sport, Kultur etc.) sind abgesagt worden, etliche (nicht alle) Ruhrgebiets-Städte schließen am Montag sämtliche Schulen, andere Kommunen stellen die Entscheidung den Eltern frei, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken wollen. Da die Bahn höchstwahrscheinlich nicht fahren wird und somit ein Autoverkehrs-Chaos nach sich ziehen dürfte, steht man tatsächlich vor einem Dilemma.

Und all diese Absagen fließen wiederum in die Liveticker ein, obwohl sie ja erst einmal vorsorglich angeordnet worden sind; wohl nicht zuletzt, damit man juristisch und haftungsrechtlich auf der sicheren Seite ist. Aber es plustert die ansonsten ziemlich nichtigen Nachrichten auf. Die Medien, die hier mäßigend und relativierend zur Sache gehen, muss man mit der Lupe suchen. Falls man sie überhaupt findet.

Es scheint so, als stünde die allzeit befeuerte Aufregung (auch in diesem Falle) in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu wirklichen Vorgängen. In früheren Zeiten hätte man um derlei Wetter-Kapriolen nicht halb so viel Aufhebens gemacht.

Irgendwann stand dann doch fest, dass es insgesamt nicht so schlimm gewesen ist – der nächtliche Stand der Dinge, frühmorgens geliefert. (Screenshot: Liveticker der Ruhrnachrichten)

Und ja: Man darf nicht selten durchaus ähnliche Missverhältnisse zwischen Aufregung und Geschehen vermuten, wenn es um sonstige Nachrichten-Fährnisse geht. Klar ausgedrückt: Jede Menge Peanuts und Petitessen werden aufgebauscht, bis man irgendwann gar nicht mehr hinhören mag.

Einer der Höhe- oder Tiefpunkte (je nach Betrachtungsweise) war heute im Liveticker der Ruhrnachrichten zu lesen. Nach Einstellung des Bahnverkehrs, so hieß es, machten Dortmunds Taxifahrer am Hauptbahnhof das Geschäfts des – Achtung! – Jahrhunderts… Was hat derlei lachhafte Großmäuligkeit noch mit Journalismus zu tun?

Aber egal. Nach zwei bis drei Tagen redet eh kaum noch jemand drüber. Dann stürzen sich die dauererregten Betreiber der Liveticker wieder auf den nächsten Skandal, Hype, Shitstorm oder dergleichen Zeugs.

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P. S.: Ich kann im Falle „Sabine“ nur aus Dortmunder Nahsicht reden. Mag sein, dass anderorts deutlich mehr vorgefallen ist. Mag auch sein, dass es sich nachts noch steigert. Dann werde ich Abbitte leisten.

 




Sinn fürs Absurde: Staatstheater Kassel überzeugt mit Leonard Bernsteins utopischer Satire „Candide“

Die Ouvertüre ist wohlbekannt als funkelndes Konzertstück, die Arie der Kunigunde „Glitter and be gay“ dient mit ihren exaltierten Koloraturen als Schaustück für stimmversierte Soprane. Aber das Ursprungswerk dieser Evergreens, Leonard Bernsteins „Candide“, gehörte bisher eher in die B-Reihe der Repertoire-Lieblinge. Das änderte sich mit dem 100. Geburtstag Bernsteins 2018.

Bunt und absurd: Bernsteins „Candide“ in Kassel. Von links nach rechts: Lin Lin Fan (Kunigunde), Daniel Holzhauser (Maximilian), Philipp Basener (Dr. Pangloss), Belinda Williams (Paquette), Daniel Jenz (Candide). (Foto: N. Klinger)

Plötzlich war die zwischen Oper, Operette und Musical balancierende Voltaire-Vertonung in den Spielplänen präsent. Von Wien bis Weimar, von Berlin bis Bremen häuften sich die Versuche, der Satire mit dem irrwitzigen, messerscharfen Libretto von Hugh Wheeler (1974) oder der Voltaire-Adaption von John Wells (1988) beizukommen. So auch am Staatstheater Kassel, wo sich Regisseur Philipp Rosendahl und die Dramaturgen Maria Kuhn und Christian Steinbock für die Fassung von 1974 entschieden, die am Broadway erfolgreich war und mit Auszeichnungen (Tony Awards, Drama Desk Awards) überhäuft wurde.

Eine Reise durch die „beste aller Welten“

Zu erzählen ist die Reise durch die „beste aller Welten“ – bei Voltaire eine bissige Satire auf Gottfried Wilhelm Leibniz – nicht einfach linear. Denn die Unwahrscheinlichkeiten häufen sich: Candide, ein Provinzbürschlein aus Westfalen (!), gerät unter grausame bulgarische Angreifer, muss das berüchtigte Lissaboner Erdbeben miterleben. Er wird übers spanische Cadiz nach Montevideo geschleust, genießt das sagenhafte El Dorado, strandet auf einer einsamen Insel und dringt nach einem Intermezzo in Konstantinopel zum weisesten Mann der Welt vor. Der ist kein anderer als jener Doktor Pangloss, der ihm schon am Anfang seiner Irrfahrten die These von der „besten aller möglichen Welten“ verkündet hatte.

Bernstein und Wheeler stürzen sich in diesen abenteuerlichen Parcours und schöpfen ihn genüsslich-grotesk aus. Und Philipp Rosendahl macht mit seinem Co-Regisseur Volker Michl das einzig Richtige: Er lässt in einer nach vorne geöffneten, nach High-Tech aussehenden Kuppel auf der Bühne des Teams Daniel Roskamp/Brigitte Schima eine distanzierte, vielfach gebrochene Show ablaufen, die unweigerlich fragen lässt, ob wir es mit Menschen, Marionetten, Cyborgs oder einfach nur einem höheren Kasperltheater mit Kuh und Schafen zu tun haben.

Dass der naive Candide, von Daniel Jenz in köstlicher Mischung aus baritonalem Ernst und aufgedrehter Überzeichnung gesungen, erst einmal einen Schwan erlegt, legt den Rückgriff auf Wagners „reinen Tor“ nahe; dass im Hintergrund der Bühne auf einem runden Bildschirm rätselhafte, graphisch verbildlichte Operationen (Video: Daniel Hengst) ablaufen, deutet an, dass der transzendente Weltschöpfer längst durch undurchschaubare, alles bestimmende Programme abgelöst sein könnte: Garanten für die Sinnlosigkeit der Welt, die als einzige Antwort die ins Surreale gesteigerte Groteske zulässt?

Existenzielle Fragen zwischen Märchen und Groteske

Dabei stellt Candide durchaus die existenziellen Fragen: Ob das Leben nur „happyness“ und wozu die Welt erschaffen sei, was aus dem Schlechten resultiere, ob Güte nur Lüge sei und ob man nur lebt, um zu sterben. Die Antworten bleiben in den irrwitzigen Kurven der imaginären Lebensfahrt stecken, in denen vergewaltigt und gemordet wird, die aber auch wundersamste Errettungen und Wiederauferstehungen parat haben.

Lin Lin Fan als Kunidgunde. (Foto: N, Klinger)

Die Kasseler Inszenierung findet dafür zwischen Märchen und Groteske einen sicheren Pfad, verfremdet die Personen mit hoffmannesker Mechanik, dick aufgetragenen Posen oder ironisch überladenen Show-Gesten.

Dass es für alles unter der Sonne einen Grund gebe, diese Annahme wird mit leichter Hand zur Absurdität erklärt. Zwischen Willkür und Ignoranz, Dummheit und Zufall gibt es keine Spur von Sinn. Auch der Schluss mit seinem naiv hintersinnigen Rekurs auf arkadisch-friedliches Landleben oder Paradiesgärtlein-Visionen unterstreicht nur, dass es diesen Figuren nicht gelingen dürfte, dem Chaos der Welt zu entgehen. Das alles absolut nicht ernst zu nehmen, bleibt die einzige Methode, die Verzweiflung zu vermeiden.

Dank des fabelhaft spielfreudigen Kasseler Ensembles gelingt es, im Unernst die Spannung zu halten und das Absurde unterhaltsam zu präsentieren, ohne in schwere Ernsthaftigkeit abzudriften. Philipp Basener als mal zynisch, mal kokett schnarrender Erzähler – zugleich Pangloss und weisester Mann der Welt – manövriert sich in Leibchen, Corsage und dekonstruiertem Reifrock durch die verrückte Welt. Lin Lin Fan tiriliert sich mit feiner Stimme durch die überdreht kichernden Koloraturen der Kunigunde.

Wandlungsfähige Sänger-Darsteller

Daniel Holzhauer ist als Maximilian ein selbstgefälliger blonder Strahlemann und Belinda Williams kehrt als Paquette ihren abgebrühten Sarkasmus noch mehr heraus als die allfälligen weiblichen Reize. Als alte Dame hat Inna Kalinina mit ihrem Assimilations-Song einen grandiosen Auftritt. Bassem Alkhouri schlüpft in nicht weniger als sieben Rollen, von denen die eindrücklichste wohl die des Königs ist – ein karikiert aufgeblasener Donald Trump. Cozmin Sime als wollüstiger, aber glaubensstrenger Großinquisitor sowie Marc-Olivier Oetterli, Michael Boley und Bernhard Modes in vielfältigen Rollen – alle rücksichtlos quietschfidel kostümiert – halten wandlungsfähig die Spannung auf stets gleicher Höhe.

Ihre ganze Brillanz versprüht die Musik: Alexander Hannemann hat in der Ouvertüre noch Mühe, die Balance zwischen den kräftig besetzten Bläsern und der zu dünnen Streichergruppe herzustellen; das Orchester aus 16 Solisten artikuliert noch weich. Aber die markanten Pointen in Bernsteins Instrumentation brechen sich bald ihre Bahn und die vielfältigen Tanzrhythmen, die herrlich sentimentale Melodie des Duetts Candide-Kunigunde, die krachenden „Carmen“-Anklänge bei der Abfahrt nach Cadiz und der Neue-Welt-Tanzsound für die Südamerika-Szenen fetzen und zünden.

Allein um dieser Musik willen lohnt es sich, dieses Stück auf die Bühne zu bringen; für eine überzeugende Inszenierung braucht es – wie in Kassel zu erleben – den entsprechenden Sinn fürs Absurde und eine von kluger Ironie gewürzte, humorvolle Distanz zum Drang des Erzählens.

Weitere Vorstellungen: 9., 14., 22. Februar; 15., 29., 31. März; 12., 24. April; 2., 24., 29. Mai; 7.,13., 28. Juni 2020. Karten: (0561) 1094 222. Info: www.staatstheater-kassel.de




„Body & Soul“: Dortmunds Ostwall-Sammlung mit Leib und Seele abermals neu präsentiert

Kuratorin Nicole Grothe erläutert ein Hauptstück der Sammlung: August Mackes Bild „Großer zoologischer Garten“. (Foto: Bernd Berke)

Ohne englische Titel geht praktisch nichts mehr im Museum Ostwall. Kürzlich eröffnete hier mit „The Other Side“ eine Schau zu neueren Positionen irischer Kunst. Und nun erhält die Präsentation der eigenen Sammlung wieder einen neuen Schub. Titel: „Body & Soul“. Im Dortmunder U, wo die Ostwall-Sammlung sich seit nunmehr 10 Jahren befindet, gibt man sich eben gern weltläufig und popkulturell anschlussfähig.

Aber Moment mal! Hatten wir nicht erst gegen Ende 2017 die Premiere eines ziemlich gründlich umgeschichteten Eigenbesitzes? Richtig. Seinerzeit hießt das Resultat „Fast wie im echten Leben“ und wurde an dieser Stelle gleichfalls gewürdigt. Damals kündigte der inzwischen nach Maastricht gewechselte Direktor Edwin Jacobs an, die Sammlung solle nachhaltig „dynamisiert“ werden. Auch die ersten Anstöße zur jetzigen Ausstellung stammen noch von ihm.

Beim Alltag des Publikums anknüpfen

Abermals werden nun bedeutsame Teile der Kollektion nicht etwa in kunstgeschichtlicher Abfolge, sondern in Form einer Themenausstellung gezeigt, die just Leib und Seele in den Blick nimmt und – so die Leitlinie – möglichst in den Lebenswelten und bei den Alltagserfahrungen des geneigten Publikums anknüpfen soll. Einen Körper und eine Seele haben wir halt alle. Mit solch daseinsnahen Ansätzen will man auch Leute ins Museum holen, die bisher nur selten mit Kunst in Kontakt gekommen sind.

Aus einem Fundus von rund 7500 Arbeiten im Besitz des Ostwall-Museums lässt sich ein derart umfassendes Doppelthema wie Leib und Seele natürlich allemal vielfach vergegenwärtigen. Rund 130 Werke hat die Sammlungsleiterin und Kuratorin Dr. Nicole Grothe mit ihrem Team ausgewählt. Die Präsentation meidet nach Kräften Beliebigkeiten, sie wirkt auch nirgendwo überfüllt oder beengt. Die Kunst hat genügend Platz zum „Atmen“ und Wirken.

Nacktheit, Kleidung, Bewegung, Ernährung, Schlaf und Tod

Der thematische Rundgang beginnt quasi elementar, nämlich mit nackten Körpern, also Aktdarstellungen. In diesen Kontext gehört auch eine „Ikone“ wie Otto Muellers „Drei Badende im Teich“, wie denn überhaupt deutlich wird, dass ein gehöriger Schwerpunkt der Sammlung dem Expressionismus und seinem Umfeld zuzurechnen ist. Damit eröffnet sich, nebenbei sei’s gesagt, eine wunderbare Möglichkeit zum Vergleich mit der Sammlung des Hagener Osthaus-Museums, das derzeit seine nach über vierjähriger Tournee heimgekehrten expressionistischen Schätze zeigt. Dazu demnächst ein paar Zeilen mehr.

Pablo Picasso (1881-1973): „Femme nue couchée“ (Schlafende Nackte), Öl auf Leinwand, 1965 (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto © Jürgen Spiler)

Doch zurück nach Dortmund: Auch die Relativität von Schönheitsidealen soll sich anhand mancher Körperbilder und Skulpturen zeigen (etwa mit einer rundlich-drallen Frauenfigur oder männlichen Bauchformen als Wandinstallation), ebenso wie die nicht zuletzt durch Kleidung markierte Zuschreibung von Geschlechter-Identitäten, welche – auch unserem waltenden Zeitgeist gemäß – als fließend zu denken sind.

Das Paradies und die Zivilisation

Apropos Kleidung. Ein immer wieder und immer wieder anders hervorgehobenes Hauptstück der Sammlung, August Mackes „Großer zoologischer Garten“, offenbart in diesem Zusammenhang eine zusätzliche Lesart. Bisher galt das Bild meist als Vergegenwärtigung des paradiesischen Gartens Eden, die Zoobesucher tragen jedoch betont modische, zeitgenössische Kleidung, so dass man sie wohl zur gehobenen Gesellschaft rechnen muss. Es geht also nicht nur um Natur, sondern mindestens ebenso sehr um Zivilisation bzw. um das Verhältnis beider Wesenheiten zueinander.

In insgesamt neun Kapiteln kann man etliche Erkenntnisse gewinnen oder zumindest Aha-Momente erleben, so etwa auch zur Beschaffenheit sportlicher und tänzerischer Körper, wobei z. B. Radierungen von Karl Hofer direkt neben Barbara Hlalis Zeichnungen von DJs zu sehen sind. Die Lust an der Bewegung höret demnach quer durch die Generationen nimmer auf; es sei denn: im Tod, der in einer künstlerischen Körper-Ansammlung natürlich nicht übergangen werden kann und auch in Bildern des Schlafes gegenwärtig ist. Dass Sterben und Schlafen miteinander verquickt und verschwistert, ja mitunter kaum unterscheidbar sind, lässt Dieter Kriegs „Weiße liegende Figur“ ahnen.

Thomas Bayrle (*1937): „Super Colgate“, 1965. Holz, Metall, Elektromotor, Ölfarbe – Erworben aus der Sammlung Feelisch (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: © Jürgen Spiler)

Was es mit dem Zähneputzen auf sich hat

Auch Aspekte der Ernährung und Körperpflege kommen künstlerisch zum Vorschein, das Spektrum reicht von Willi Repkes konventionell anmutender „Marktfrau“ bis zu Thomas Bayrles Installation „Super Colgate“, die eine Zahncreme-Werbung der 1960er Jahre parodistisch aufgreift. Die lustige oder eben auch putzige Kunst-Maschine sorgt auf Fußschalter-Druck dafür, dass ganz viele Figürchen  sich gleichzeitig die Zähne putzen. Daraus leitet sich auch der Untertitel der gesamten „Body & Soul“-Unternehmung her, welcher da lautet: „Denken, Fühlen, Zähneputzen“. Warum nicht auch mal ein bisschen albern sein?

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938): „Stafelalp bei Mondschein“, 1919, Öl auf Leinwand (Foto © Jürgen Spiler)

Das Seelenleben wird sodann unter anderem am Beispiel von Naturempfindungen erkundet, so mit Ernst Ludwig Kirchners „Stafelalp bei Mondschein“ oder einem mit Angst befrachteten, surrealen Waldbild von Max Ernst („Forêt aux champignons“). Überhaupt ist den Ängsten, den Verletzungen und der Trauer ein weiteres Kapitel gewidmet, das sich existenziell durch die Jahrzehnte zieht. Hier wird vermutlich jede(r) dem persönlichen Dämon begegnen können, sei er nun von Norbert Tadeusz, Ina Barfuss oder anderen Visionären der Kunst imaginiert worden.

Nach eigenen Erinnerungen graben

Die eigenen Erinnerungen entdecken soll man nach dem Willen des Aktionskünstlers Wolf Vostell mit seinem (hier von Gregor Jabs re-inszenierten) Happening „Umgraben“ (1970), dessen Szenarium sich hinter einem Vorhang erstreckt. Das Grabefeld soll man nicht mit eigenen Schuhen, sondern mit bereitgestellten Gummistiefeln betreten – und dann mit dem Umgraben loslegen. Mag schon sein, dass sich dabei ein meditativer Sinn einstellt. Übrigens ist Vostells Arbeit diesmal eines der wenigen Beispiele aus dem Bereich der so genannten Fluxus-Kunst, die ja eigentlich einen weiteren Schwerpunkt der Sammlung ausmacht.

Wolf Vostell (1932-1998): „Umgraben“, Happening von 1970, Re-Inszenierung von Gregor Jabs, 2012 (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto © Jürgen Spiler)

Mönchsfigur mit Münzeinwurf

Nicht nur explizit religiöse Glaubensfragen sind ein weiteres Feld der hiesigen Seelenkunde. Dabei fällt auch eine Dortmunder Neuerwerbung auf, nämlich Michael Landys Mönchsfigur mit „Donation Box“ (Spendenbox), in die man echte Münzen einwerfen kann. Wofür die etwaigen Einnahmen der Ablasszahlungen verwendet werden (geringfügige Aufstockung des Museumsbudgets?), ist derweil noch nicht ausgemacht.

Und die Schlussakkorde? Sind wiederum betont sanftmütig und tröstlich, denn es werden Werke zum Thema Liebe, Zuneigung, Freundschaft und Fürsorge versammelt. All das, was den Menschen guttut. Auf dass man das Museum heiteren Sinnes verlasse.

Zur anders gewichteten Kunst kommt die neue „Inszenierung“: In Zusammenarbeit mit dem niederländischen Designbüro SODA (Ronald Buiel und Jorrit Noyons aus Arnheim) hat man neue farbliche und architektonische Akzente gesetzt. Wir würden uns ja den Kalauer schenken, die Kunstwerke seien nach den Interventionen von SODA nun einfach so da. Aber jetzt ist er nun einmal heraus und geht auch nicht ganz fehl.

Viel Freiraum für die Kunst: Blick in die neue Sammlungs-Präsentation. Die Figur in der Mitte ist übrigens nicht echt, sondern künstlich, Verzeihung: künstlerisch. (Foto: Bernd Berke)

Orientierung durch neue Farbakzente

Tatsache ist jedenfalls: Die schon auf den Fluren der 4. und 5. Etage dominierende Lachsfarbe soll die Orientierung im riesigen Haus erleichtern. Vordem hatten sich nicht wenige Besucher über labyrinthische Verwirrung beklagt. Mal sehen, ob diese Irritation nun nachlässt. Außerdem verändert: Reflektierende Flächen, die den Blick ablenken konnten, sind weitgehend verschwunden. Architektonische Charakteristika, wie etwa das Deckenraster im Dortmunder U, kommen besser zur Geltung.

Wohlfühl- und Willkommens-Faktor

Überdies wurden auch die alten (vormals dunklen) Sitzbänke hell gestrichen und alle abweisenden Kanten einladend abgerundet. Überhaupt haben die Museumsleute versucht, einen durchgehenden Wohlfühl- und Willkommens-Faktor zu erzeugen. Das reicht von helleren und wärmeren Farben über eine möglichst stets besetzte und auskunftsbereite „Rezeption“ am Eingang bis zu einer kuscheligen Landschaft mit Kissen und Sitzsäcken. Chillen ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Auch das geht mit dem Zeitgeist konform.

Aber nun mal ganz ehrlich: Das Farbkonzept mit den verschieden abgemischten Lachstönen hat mich an die etwas weichgespülte Corporate Identity einer schwedischen Bank erinnert, die vor allem auf sanftes Rosa zurückgreift und ihre Bezahlvorgänge als „smooth“ (glatt, seidenweich, problemlos) bezeichnet. Egal. Jedem seine Assoziationen. Und es heißt gewiss nicht, dass die Bilder nicht zur Geltung kämen.

Alle zwei Jahre werden die Werke neu gemischt

Sammlungsleiterin Nicole Grothe möchte den Eigenbesitz auch künftig ungefähr im Zweijahresrhythmus immer wieder neu arrangieren, ihn gleichsam regelmäßig durchlüften und damit wechselnde Zusammenhänge stiften. Relativ kostengünstig sind derlei Schauen aus dem Bestand allemal, es werden keine Leihgebühren fällig, zudem riskiert man keine Transportschäden und muss daher auch keine horrenden Versicherungssummen zahlen.

Doch selbstverständlich hat der Umbau, der sich einige Monate hingezogen hat, ein paar Scheinchen gekostet, genauer: 422.000 Euro. Der Rat der Stadt hatte zu dem Zweck 500.000 Euro gebilligt, der Etat wurde also unterschritten. Es könnte ein gutes Omen sein.

„Body & Soul. Denken, Fühlen, Zähneputzen“. Neue Sammlungspräsentation des Museums Ostwall im Dortmunder U (4. und 5. Ebene), Leonie-Reygers-Terrasse (Navigation: Brinkhoffstraße 4 / Parkhaus).

Update: Ausstellung wird bis November 2022 verlängert

Ursprünglich vom 8. Februar 2020 bis 27. Februar 2022 (verlängert bis zum 13. November 2022).

Geöffnet Di/Mi/Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr.

Tel.: 0231/50 247 23. Mail: info@dortmunder-u.de

Kunstvermittlung/Führungen: 0231/50-277 86 oder 50-277 91.

www.museumostwall.dortmund.de

 




Formstrenge hüben wie drüben: Pierre-Laurent Aimard verschränkt in Dortmund Musik von Kurtág und Bach

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard hat mit vielen Komponisten unserer Zeit eng zusammengearbeitet. (Foto: Marco Borggreve)

Pierre-Laurent Aimard ist ein großer Meister darin, bekannte Musik in neuem Licht erscheinen zu lassen. Unvergessen ist sein Klavierabend im Liszt-Jahr 2011, bei dem er eine frische Sicht auf die grandiose h-Moll-Sonate des Komponisten ermöglichte.

Indem er sie in den Kontext der „Schwarzen Messe“ von Alexander Skrjabin und der Klaviersonate Opus 1 von Alban Berg stellte, schenkte er dem viel geschundenen Stück seine eminente Bedeutung auf dem Weg zur musikalischen Moderne zurück.

Wie viel Gedankenarbeit der Franzose in seine Programme steckt, war jetzt auch bei der Kurtág-Zeitinsel im Konzerthaus Dortmund zu erleben. Kurze Klavierstücke des Ungarn, entnommen der noch immer anwachsenden Sammlung „Játékok“ (Spiele), verschränkte er mit Musik von Johann Sebastian Bach, vornehmlich mit den Präludien und Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“.

Pierre-Laurent Aimard wurde 2007 mit dem renommierten Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet. (Foto: Marco Borggreve)

Diese Idee ist zwar nicht gänzlich neu: Bereits auf einer 1997 erschienen CD kombinierten Kurtág und seine Frau Márta vierhändige „Játékok“-Stücke mit Bach-Transkriptionen. Gleichwohl verrät die von Aimard getroffene Werkauswahl unendlich viel Sorgfalt. Denn wie sich Spielfreude und Formstrenge bei beiden Komponisten vereinen, zeigt sich oftmals in den Übergängen. Kurtágs Klavierstück für Dóra Antals Geburtstag schließt so passgenau an Bachs leuchtende Fuge Nr. 17 As-Dur (BWV 862) an, als handle es sich um ein zeitgenössisches Echo.

Bei Aimard reiht sich ein erhellender Augenblick an den nächsten. Wenn Bach in Präludium und Fuge Nr. 16 g-moll (BWV 861) mit allmählich schneller werdenden Trillern experimentiert, folgt gleich darauf eine Kurtág-Miniatur, die vom Wechselspiel zwischen zwei Noten lebt. Die gläsernen Spieluhr-Klänge des Präludiums Nr. 23 H-Dur (BWV 868) finden in Kurtágs „Spiel mit dem Unendlichen“ eine direkte Entsprechung.

Wer den Konzeptkonzerten von Pierre-Laurent Aimard folgt, gerät unweigerlich ins Nachdenken. Warum sind die meisten von uns bereit, einer mit mathematischer Akribie konstruierten Bach-Fuge zu folgen, während wir gegen zeitgenössische Musik nur allzu leicht den Vorwurf erheben, sie klinge verkopft und wie auf dem Reißbrett entworfen? Weckt ein komplizierter Kontrapunkt aus Bachs „Kunst der Fuge“ wirklich mehr Emotionen als Kurtágs vielfarbig oszillierendes Stück „In memoriam András Myhály“?

Der Höhepunkt ist erreicht, wenn Aimard das Stück „In memoriam György Szoltsányi“ beinahe ohne Pause in die Fuge Nr. 12 f-moll (BWV 857) übergehen lässt. Man möchte sich die Ohren reiben: Haben die Töne, die der Pianist mit der linken Hand spielt, überhaupt noch einen harmonischen Bezug? Ist das jetzt noch Kurtág oder doch schon Bach? Erst als die Nebenstimmen hinzukommen, erkennen wir den Thomaskantor wieder.

Von Aimards unbedingtem Ausdruckswillen, der zuweilen auch heftiges Schnaufen und Brummen zur Folge hat, von seiner Konzentrationsfähigkeit und vom wunderbaren Farbenreichtum seines Spiels war bis hierher noch nicht einmal die Rede. Indessen ist dies auch als Kompliment zu verstehen. Aimards sensationell kluge Programme lassen alles pianistische Handwerk in den Hintergrund treten.




Manchmal sind die Alternativen im Leben bestürzend gering: „Konstellationen“ von Nick Payne im Dortmunder Schauspiel

Was das real gelebte Leben nicht kann, kann das Theater: verschiedene Möglichkeiten des Kennenlernens und des Zusammenlebens durchspielen, alles noch einmal auf Anfang setzen, Dinge geschehen lassen oder eben auch nicht. In seinem Stück „Konstellationen“ wählt der britische Autor Nick Payne einen solchen Ansatz. Das deutschsprachige Ergebnis seiner dramatischen Bemühungen hatte nun im Studio des Dortmunder Schauspiels mit dem Titel „Konstellationen“ in der Regie von Péter Sanyó Premiere.

Louisa Stroux, Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Ob es sich wirklich um Konstellationen (Mehrzahl) oder doch nur um eine Konstellation handelt, wäre allerdings schon zu fragen. Denn eigentlich wird die Geschichte von Roland und Marianne – er Imker, sie Quantenphysikerin – linear durcherzählt. Zwar gibt es kritische Momente in ihrer beider Leben (Fremdgehen, Besäufnisse, Krankheit usw.), doch danach geht es immer auf dem gemeinsamen Gleis weiter – so lange es weitergeht.

Tumor

Schließlich nämlich hat Marianne einen inoperablen Tumor im Kopf und bemüht sich, wir machen das jetzt ganz kurz, um Sterbehilfe. Angst vor dem Tod habe sie nicht, befindet sie, Angst vor dem Sterben schon. Da stellt sich dann die Frage,wann man es hinter sich bringt: So schnell wie möglich, oder erst in ein, zwei Monaten, oder wenn der Anruf kommt? Zumindest macht der Schluß klar, daß die Alternativen im Leben manchmal doch bestürzend gering sind.

Heftig flackernde Neonröhren

Frank Genser, Louisa Stroux (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Frank Genser und Louisa Stroux geben das ungleiche Paar mit Leidenschaft auf nahezu nackter Bühne, die ihre Strukturierung lediglich durch eine Reihe von deckenhängenden Neonröhren erhält, welche entweder durch selektives Leuchten Spielräume abzirkeln oder aber heftig flackernd Handlungsbrüche markieren (Bühne: Daina Kasperowitsch).

Intensives Schauspiel

Gemessen an seinem analytischen Anspruch vermag „Konstellationen“ indes nicht gänzlich zu überzeugen. Um als Tragödie zu funktionieren, fehlen dieser traurigen Alltagsgeschichte, die in einer Stunde 10 Minuten erzählt ist, die dramatischen Weitungen. Was aber auf jeden Fall bleibt ist das Erlebnis intensiven Schauspiels, das schon für sich genommen den Theaterbesuch lohnt.

  • Termine: 9., 21., 29. Februar, 4., 19. März.
  • www.theaterdo.de



Herzstück mit Hölderlin: Der Bariton Benjamin Appl bereichert die Kurtág-Zeitinsel in Dortmund mit zwei Uraufführungen

Der Bariton Benjamin Appl reiste nach Budapest, um mit dem Komponisten György Kurtág dessen Hölderlin-Lieder einzustudieren. (Foto: Petra Coddington)

Drei Stunden Probe für einen einzigen Takt Musik. Sechs Tage Arbeit an einem Liedzyklus von lediglich zwölf Minuten Dauer. Wie viel Beharrlichkeit und Einsatzbereitschaft mag der Bariton Benjamin Appl wohl in seinen Koffer gepackt haben, bevor er nach Budapest reiste, um dem legendären Komponisten György Kurtág zu begegnen? Im Vorfeld des aktuellen Zeitinsel-Festivals im Konzerthaus Dortmund hatte er sich darum beworben, die Hölderlin-Lieder des nunmehr 93-Jährigen einzustudieren.

Von einem Filmteam und vom Intendanten Raphael von Hoensbroech begleitet, ließ Benjamin Appl sich auf das Wagnis ein. Kollegen hatten ihn gewarnt vor der minutiösen Genauigkeit des Komponisten, vor seiner zuweilen unerbittlichen Jagd nach feinsten Nuancen des Ausdrucks. Aber der junge Interpret und der hoch betagte Tonschöpfer fanden zu intensiver künstlerischer Verständigung. Das zeigte ein Werkstatt-Abend, der vom Konzerthaus als das Herzstück des Festivals angekündigt wurde.

Im dritten der Hölderlin-Lieder erhält der Sänger Unterstützung durch einen Posaunisten und einen Tubisten. (Foto: Petra Coddington)

Für einen kleinen Kreis von Hörern, die auf der Bühne Platz nehmen durften, sang Appl die aphoristisch kurzen Hölderlin-Lieder gleich zweimal: zu Beginn und zum Abschluss des Konzerts. Er gestaltete seine bezwingend intensive Interpretation beinahe im Alleingang, lediglich im dritten Lied dezent unterstützt von einem Tubisten (Thomas Kerstner) und einem Posaunisten (Berndt Hufnagl). Seinen samtig wohlklingenden Bariton führte der Sänger dabei vom inwendigen Summen über einen gehetzten Sprechgesang bis zu nachgerade heraus gebellten Fortissimo-Ausbrüchen.

Die Kompetenz, die Benjamin Appl von Kurtág persönlich erworben hat, wird ihm so rasch niemand streitig machen. Zwei weitere Hölderlin-Vertonungen des Komponisten brachte er in Dortmund gar zur Uraufführung: „Das Angenehme dieser Welt“ und „Brief an die Mutter“. Die Chance, den Abend als kleinen, aber feinen Beitrag zum Hölderlin-Jahr 2020 zu begreifen, ließ das Konzerthaus Dortmund freilich links liegen. Das Programmheft erwähnt den 250. Geburtstag des Dichters mit keinem Wort.

Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech (l.) und der Bariton Benjamin Appl im Gespräch. (Foto: Petra Coddington)

Der musikvermittlerische Gewinn des Abends ergab sich aus dem Mittelteil. In einem Podiumsgespräch tauschten sich der Sänger und der Intendant lebhaft über ihre Begegnung mit György Kurtág und seiner Frau Márta aus. Die Filmausschnitte von der Probenarbeit zeigten die nachgerade symbiotische Verbindung dieses Paars, das der Tod im Oktober 2019 auseinanderriss – nach mehr als 70 Jahren Ehe.

Seit seiner Gründung im Jahr 1974 wurden dem Arditti Quartet mehrere hundert Kompositionen gewidmet. (Foto: Petra Coddington)

Auf die Frage nach seinem Fazit der Tage in Budapest reagierte der Sänger, zuvor durchaus zu ironischen Kommentaren aufgelegt, auffallend nachdenklich. Kurtág habe etwas zu sagen, das man im auf Äußerlichkeiten und Hochglanzfotos fixierten Musikbetrieb kaum noch finde. „Er trägt ganze Welten in sich, einen unglaublichen inneren Reichtum. Es geht ihm stets um Wahrhaftigkeit.“

Zur Eröffnung des Festivals hatte das Arditti Quartet am Vortag gezeigt, wie Kurtágs Streichquartette sich von den zögerlich-spärlichen Klangereignissen seines Opus 1 bis zu den „Six moments musicaux“ op. 44 immer stärker verdichten. Höchst reizvolle Kontrapunkte auf diesem Weg waren der noch spätromantisch geprägte „Langsame Satz Es-Dur“ für Streichquartett von Anton Webern und das unglaublich farbenreiche, von Humor und tänzelndem Walzercharme durchwehte Streichquartett Nr. 1 von Kurtágs Landsmann und Kollegen György Ligeti.

(Die Kurtág-Zeitinsel setzt sich noch bis 6. Februar fort. Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/kurtag/ )




Fröhliche Apokalypse – Sophie Rois krächzt und krakeelt sich in Berlin durch Marlen Haushofers „Die Wand“

Auf der überdimensionalen Erdbeertorte: Sophie Rois in der „Wand“-Inszenierung. (Foto: © Arno Declair / Deutsches Theater)

Die Katastrophe kommt ganz leise. Unerwartet, überraschend. Mit einem Augenzwinkern, lächelnd und verspielt. Vielleicht ist das Undenkbare auch nur ein Traum. Oder ein Roman, in den man eintaucht und sich dann heillos verirrt.

Eben noch hat es sich Sophie Rois auf der Bühne des Deutschen Theaters in Berlin gemütlich gemacht. Sie räkelt sich wohlig auf einer kleinen Couch, trinkt eine Tasse Tee, zündet sich eine Zigarette an, blättert in einem alten Buch, liest sich fest, glaubt ihren Sinnen nicht zu trauen. Denn was dort in Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ erzählt wird, widerfährt ihr plötzlich selbst.

Es gibt zwar auf der Bühne keine Berge und keinen Wald, auch keine undurchdringliche Glaswand, die sie vom Rest der Welt abschottet, einer Welt, auf der nach einer Katastrophe sämtliches Leben zum Erliegen gekommen ist. Aber natürlich kann sich Sophie Rois das alles vorstellen und ausmalen, sprachlich und musikalisch zum Klingen bringen. Sie braucht keine fünf Minuten, schon hat sie das Publikum um den Finger gewickelt, nimmt es mit auf eine Reise in die Abgründe der Fantasie und die Freiheiten des Theaters: Wer, wenn nicht die wunderbar wandelbare, kurios krächzende, kauzig krakeelende und schön schräg singende Sophie Rois könnte uns weismachen, dass die Apokalypse fröhlich und das Alleinsein eine wahre Freude ist?

„Sophie Rois fährt gegen die Wand im Deutschen Theater“, so nennt Regisseur und Bühnenbildner Clemens Maria Schönborn seinen ebenso intelligenten wie unterhaltsamen Abend, der uns die Dystopie als freudiges Ereignis präsentiert, als bizarre Laune einer Schauspielerin, als Tagtraum eines Theater-Tausendsassas.

Die Gedanken fliegen frei herum

Was harmlos als private Lesung des 1963 veröffentlichten (und 2012 mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmten) Romans beginnt, wird schnell zu einem rhetorisch filigranen Kunstwerk und grandios komischen Schauspiel. Die (nicht vorhandene) Wand ist ein Seelenzustand, eine Möglichkeit, sich selbst zu erkennen und besser zu verstehen. Abgeschottet von der Welt und ganz auf sich selbst geworfen, fliegen die Gedanken frei herum und keinen keine Grenzen.

Sophie Rois probiert alles schelmisch aus, bekommt in Wanderstiefeln dicke Blasen, irrt mit einem Rucksack ziellos durch die finstere Leere, ballert mit einem Gewehr auf potentielle Nahrung. Sie schildert, wie schön es ist, Kühe zu melken und das Heu zu ernten; wie befreiend es ist, keinem Mann um sich zu haben und Rechenschaft abzulegen. Einfach da sein, in sich hineinhorchen. Vor sich hin brabbeln. Auf einem riesigen Stück Erdbeertorte herumklettern, das sich vom Himmel herabsenkt und vielleicht das Geschenk eines gnädigen Gottes ist oder auch nur das Trugbild einer mangelhaften Ernährung.

Schön ist es auch, ein Lied zu singen, wenn von irgendwoher ein Klavier klimpert oder eine Gitarre erklingt. Mit Wiener Schmäh intoniert die gebürtige Österreicherin melancholische Songs, die von vergeblicher Liebe und nie zu stillender Sehnsucht erzählen. Sie erinnert sich an den Liedermacher Wolfgang Ambros und seine Version von Bob Dylans „Like a Rolling Stone“, singt von der Frau, die sich früher für was Besseres hielt und über die einfachen Leute lachte, heute aber ganz unten angekommen ist, auf der Straße lebt und bettelt: „Jo wia fühlst di dabei? / So zwisch´n ans und zwa, / so ganz und goa allan / so allan wia a Stan.“ Dann ist der kurze Abend zur langen Einsamkeit nach 80 Minuten auch schon vorbei. Schade.

Deutsches Theater, Berlin. Nächste Vorstellungen am 16. und 26. März, Karten unter 030/28 441 225. service@deutschestheater.de




Dortmunder „Tatort“: Das Böse ist monströs und universell

Nur zufällig über den Dächern von Dortmund, eigentlich eine universelle Figur: Markus Graf (Florian Bartholomäi) als Verkörperung des eiskalt Bösen im „Tatort: Monster“. (Foto © WDR/Thomas Kost)

Das war kein üblicher „Tatort“. Und es war quasi kein „Tatort“ aus Dortmund.

Ganz anders als jene Folgen, in denen (angeblich) Reviertypisches zum Vorschein kam und auch schon mal den Dortmunder Oberbürgermeister auf die Palme brachte, hätte diese Folge (Titel: „Monster“) ebenso gut in Berlin, Moskau, Pirmasens oder Los Angeles angesiedelt werden können. Beispielsweise. Oder halt irgendwo anders. Das Böse von diesem Zuschnitt ist universell.

Es war furchtbar. Es war düster und deprimierend. Es waren die schlimmstmöglichen Vorgänge für einen Sonntagabend, man erlitt einen Abstieg in seelische Untiefen sondergleichen. Es ging in heftiger Manier um Kindesentführung, Kindesmissbrauch, um die unfassbare Internet-Versteigerung von Kindern durch einen Pädophilen-Ring. Man musste annehmen, dass es nur einer von zahllosen Kreisen war, die solchen Handel treiben.

Fast schon eine „Tatort“-Konstante: Kommissar Faber wurde bei all dem abermals mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert, denn es tauchte jener Markus Graf gespenstisch wieder auf, der einst Fabers Frau und Tochter ermordet hatte – aus Rache für seinen Vater, den Faber hinter Gitter gebracht hatte und der sich im Knast erhängt hatte. Ein Wiedergänger, der Faber auf perfide Weise in den Selbstmord treiben wollte. Aber selbst das war beinahe schon Nebensache.

Auch Fabers Kollege Pawlak wurde zutiefst in den Fall verwickelt, denn es war seine 6jährige Tochter Mia, die entführt wurde. Selten hat man einen Satz so ersehnt, wie den, der gegen Ende völlig ermattet gesagt wurde: „Mia ist in Sicherheit…“ Da hatte der formal und schauspielerisch beachtliche Film die bloße Fiktion längst hinter sich gelassen.

Am Schluss kam es gleich zu mehreren Showdowns, die insgesamt wie ein gesteigerter Exorzismus wirkten; ganz so, als solle das Urböse ein für alle Mal vernichtet, zerstochen und zerstückelt werden. Aber ach, das ist bestimmt nur eine Illusion.




Becketts Klassiker in Dortmund: Das „Warten auf Godot“ könnte ein schwerer Fehler sein

Weite Landschaft, ein mickriges Bäumchen, zwei abgerissene Landstreicher – von der Grundausstattung für Samuel Becketts Theaterstück „Warten auf Godot“ hat man doch recht feste Vorstellungen. In der Inszenierung Marcus Lobbes’, die am Samstag in Dortmund Premiere hatte, werden solche Erwartungen nicht erfüllt. Und bang fragt der Betrachter sich, ob die Vorlage das wohl verkraften wird.

Wladimir (Andreas Beck, links) und Estragon (Uwe Rohbeck) in der Dortmunder Inszenierung von „Warten auf Godot“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Bedeutende Menschen im Mittelpunkt

Wladimir und Estragon, denen in Dortmund der füllige Andreas Beck und der zierliche Uwe Rohbeck aufs das unterhaltsamste Gestalt verleihen, treten auf in roten Phantasiekostümen und mit federbesetzten Mützen, denen neben der clownesken Anmutung auch eine gewisse Feierlichkeit eigen ist. Spielort ist eine Art Arena, auf der Rückwand gleitet ein projizierter Sternenhimmel vorbei (Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert).

Man sieht, hier stehen bedeutende Menschen im Mittelpunkt, handelnde Subjekte. Einstweilen allerdings handeln sie bekanntlich nicht, abgesehen davon, daß sie auf der Suche nach Eßbarem ihren Bühnenplatz bald schon mit Verpackungsmaterial aus Kühlkisten zumüllen. Sie reden, phantasieren, erklären einander die Welt, doch all die schönen Momente, in denen der Geist, von Träumen und Hoffnungen beflügelt, etwas abhebt, sind im nächsten schon verpufft, denn (wie sattsam bekannt): „Wir warten auf Godot“.

Von links: Lucky (Christian Freund), Wladimir (Andreas Beck), Estragon (Uwe Rohbeck) und Pozzo (Martin Weigel). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nach der Vorlage

In ihrem Fatalismus werden bis zum Ende warten, und Godot wird nicht kommen, die Inszenierung bleibt getreulich bei der Vorlage. Trotzdem lassen Wladimir und Estragon den Eindruck entstehen, daß es auch anders sein könnte, daß es ein Ende haben könnte mit der Warterei. Die Begegnung mit Pozzo und Lucky (Martin Weigel und Christian Freund) tut dazu das ihre, zeigen die beiden doch, daß es ein Nicht-Warten auf der Erde gibt. Doch sind sie so bizarr und auch ein bißchen furchteinflößend, daß man lieber wartet.

Absurdes Seil

In der zweiten Hälfte des Spiels (nach der Pause) werden sie wiederkommen, Pozzo wird erblindet sein, doch das Seil, an dem ihn Lucky dann führt, wird sozusagen schon in der ersten Hälfte des Abends verwendet. Es verbindet Herrn und Knecht über einen unsichtbaren Mechanismus in der Weise, daß sie einander nicht wirklich nahekommen können, sich (im bergsteigerischen Sinn) sichern, aber nicht berühren können; eine hübsche ausstatterische Extra-Absurdität, die zudem starke Bilder ermöglicht, wenn die Figuren, jeweils von der anderen gehalten, in extremer Schräglage agieren.

Die Bühne vermüllt, der Planet in Flammen; Szene mit Beck und Rohbeck. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Ein Ritual das nicht glücklich macht

Einen Baum gibt es übrigens nicht; statt dessen aber eine verborgene Hebebühne, die die Hauptfiguren zu Beginn der beiden Akte langsam und mit Unterbrechungen in die Szene hebt. Lange sieht man nur Köpfe, dann Oberkörper; und wie sie so statisch beieinander sind erinnern sie auch an Nagg und Nell in ihren Mülltonnen, in Becketts anderem absurden Erfolgsstück „Endspiel“. An beiden Tagen werden sie so emporgehoben, an den vielen anderen vorher und nachher, die es auch geben mag, wohl ebenso: ein Ritual, das nicht glücklich macht, leidenschaftlich wird Selbstmord durch Erhängen diskutiert. Nein, sie sollten nicht länger auf Godot warten, das Murmeltier grüßt täglich. Es wäre sogar falsch, ja lebensgefährlich. Sagt diese Inszenierung.

Der Planet explodiert

Denn zum Ende hin verwandelt sich der projizierte Bühnenhintergrund – lange Zeit ein beruhigender Sternenhimmel – in einen zunächst glühenden, dann explodierenden Planeten. Will ja möglicherweise sagen: Wartet nicht, ihr Wladimirs und Estragons im Publikum und in anderen Teilen der Welt, bis es zu spät ist. Es rettet euch kein höh’res Wesen, auch kein Godot. Der kommt ja sowieso nicht.

Dortmunder Sprechchor, Andreas Beck, Uwe Rohbeck. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Machtvoller Chor

Naja, jedenfalls kann man das mit gutem Willen so lesen. Und sich überdies bestätigt fühlen durch den Dortmunder Theaterchor, der mit beeindruckender Kopfzahl und in Endlosschleife das Lied „Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei…“ zum Besten gibt – erste im Foyer, dann im Zuschauerraum, schließlich auf der Bühne.

Vier Personen wirken überdies als Hund, Koch, Ei und Huhn kostümiert mit, was für das Stückverständnis nicht zwingend erforderlich wäre. Hingegen steigert die Klangarbeit des Herrn von Finckenstein die Intensität dieser Bühneneinrichtung erheblich, und auch Tobias Hoeft und Laura Urbach haben mit ihrer konzentrierten, unaufdringlichen Video-Arbeit Anteil daran.

Marcus Lobbes’ Inszenierung von „Warten auf Godot“ ertastet auf kluge Art Dimensionen dieses modernen Klassikers, die – vielleicht – der angemessenen Würdigung noch harren. Eine intelligente, sehr unterhaltsame Theaterarbeit, die das dankbare Publikum mit reichem Applaus bedachte.

  • Termine: 21., 29.2., 13., 19.3., 26.4., 17., 27.5.
  • Karten: Tel. 0231/50 27 222 und www.tdo.li/godot.
  • www.theaterdo.de



Trotz BVB-Kantersieg: Reus und Hakimi fuchsteufelswild

Das Tabellenbild sieht gar nicht so übel aus, doch bei manchen Spielern brennt die Sicherung durch… (Screenshot von Kicker online)

Der BVB hat 5:0 gegen Union Berlin gewonnen. Glatte Sache. Ungebrochener Fußball-Jubel in und um Dortmund. Sollte man meinen. Doch nun kommt ein mittelgroßes ABER:

Was waren denn das für zwei beleidigte Leberwürste, die sich nach einiger Spieldauer nicht auswechseln lassen mochten? Verstehen sie es als Majestätsbeleidigung, wenn sie durch einen anderen Spieler „ersetzt“ werden; noch dazu, wenn es durchaus nachvollziehbar ist, weil sie bei hoher Führung für den kommenden Dienstag (DFB-Pokalspiel bei Werder Bremen) geschont werden sollen?

Erst trat Achraf Hakimi nach seiner Auswechslung wutentbrannt gegen eine Flasche am Spielfeldrand und warf seine Schuhe von sich. Hatte man (sprich: Trainer Lucien Favre) etwa gegen seinen Ehrbegriff verstoßen, was immer das überhaupt heißen könnte?

Noch gravierender dann freilich der befremdliche Vorgang ein paar Minuten später: Auch der Mannschaftskapitän und erfahrene Nationalspieler Marco Reus, der eigentlich ein Vorbild sein sollte, ist mit seiner Auswechslung absolut nicht einverstanden und schmeißt sein Tape fuchsteufelswild auf den Boden, quasi dem Trainer (dem Rest der Mannschaft, dem Publikum, aller Welt?) vor die Füße. Fast sah es so aus, als hätte er seine Kapitänsbinde weggeworfen.

Nach meinem Verständnis sollte es für Reus‘ Verhalten eine saftige Geldstrafe vom Verein geben. Im Wiederholungsfalle dürfte ein anderer Spieler Kapitän werden, beispielsweise Mats Hummels. Und Hakimi? Hat sich eine Verwarnung redlich verdient.

Über die Beweggründe mag man rätseln. Sind durch die winterlichen Neuverpflichtungen (Erling Haaland, Emre Can) Hierarchie, Gehaltsgefüge und damit die psychologische Balance der Mannschaft etwa ins Wanken geraten? Verkraftet es ein Reus nicht, dass er selbst zuletzt reihenweise Chancen versiebt hat, während Erling Haaland einen Treffer nach dem anderen erzielt und entsprechend gefeiert wird? Du meine Güte: Der Bursche aus Norwegen ist nun mal der Mann der Stunde. Das wird man vielleicht verkraften können – erst recht im Sinne des Vereins und seiner Ziele.

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Wir erinnern uns an Reus‘ goldene Worte in einem TV-Kurzinterview: „Ist das euer Ernst? Kommt mir nicht mit eurer Mentalitäts-Scheiße! Das geht mir so auf die Eier mit euch, ehrlich!“