Begehbarer Farbenrausch: Wie Katharina Grosse den Hamburger Bahnhof in Berlin verwandelt

Katharina Grosse „It Wasn’t Us“, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2020 (Courtesy König Galerie, Berlin/London/Tokyo / Gagosian / Galerie nächst St. Srephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien – @ Katharina Grosse / VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: Jens Ziehe)

Was da seltsam zersplittert, in sich verschachtelt und aufgetürmt in der historischen Halle des Hamburger Bahnhofs in Berlin liegt: Sind das Eisschollen oder Reste einer antiken Ruine, ein vom Himmel gefallener Vogel oder ein gestrandetes Fluggerät aus einem unbekannten Universum?

Und warum leuchtet das archaisch anmutende Objekt so grell und bunt, warum schillert es in Königsblau und Zitronengelb, blutigem Rot und saftigem Grün? Und wie schafft es das mit furiose Geste in den Raum geworfene Kunstwerk, uns magisch anzuziehen, fast zu verschlingen und unserer Fantasie Flügel zu verleihen?

Auf Dauer bleiben nur die Erinnerungen

Katharina Grosse stellt uns mit ihrem begehbaren Kunstwerk viele Fragen. Antworten müssen wir selber suchen. Denn die Künstlerin, die in Berlin und Düsseldorf als Kunst-Professorin gewirkt hat und seit vielen Jahren in allen wichtigen Museen der Welt ihre temporären Kunstwerke ausstellt, will kreative Störungen bewirken, Raum und Zeit aufheben, unser Denken verändern und der Kunst neue Möglichkeiten eröffnen. Welche, das können nur die Betrachter entscheiden, die bei Grosse zu Mitwirkenden werden. So auch bei „It Wasn´t Us“, diesem aus Spray und Kunststoff geschaffenen Farbrausch, der nur von relativ kurzer Dauer sein wird.

Katharina Grosse „It Wasn’t Us“. Ausstellungansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin 2020 (Courtesy König Galerie, Berlin/London/Tokyo / Gagosian / Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien / @ Katharina Grosse / VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: Jens Ziehe)

Nach Ende der Berliner Ausstellung wird die Farbe vom Boden geschrubbt, die Kunststoff-Objekte werden dann geschreddert und recycelt. Bleiben werden Erinnerungen, Fotos, Filme und die Gespräche, die die Besucher miteinander geführt haben, während sie über den in leuchtende Farben getauchten Museumsboden flanierten und durch das große Glastor hinaus taumelten ins Freie und ins Licht. Dort tippelt man weiter über farbige Welten, ineinander verschlungene Farbsträhnen, kaleidoskopische Farbfelder, die die Pforten der Wahrnehmung weit öffnen, die Mauern einreissen und den Kunst-Bahnhof mit dem weitläufigen Gelände hinterm Museum zu einem neuen Fantasie-Raum verschmelzen. Die Schotter-Wege und auch die Hülle der angrenzenden Rieck-Hallen, in denen (noch) die Sammlung Flick mit ihren Kunst-Ikonen der Moderne untergebracht ist, wird zu einer riesigen poetischen Leinwand.

Portrait der Künstlerin Katharina Grosse (Foto: © Robert Schittko, Art/Beats)

Verluste in der Hauptstadt

Die Welt könnte so schön sein, wenn man sie in Ruhe ließe. Doch wo die Kunst groß ist, gedeiht auch der schnöde Kommerz. Auf dem Areal, wo nach der Wende neben verrosteten Gleisen und in alten Schuppen junge Künstler sich ansiedelten und an eine antikapitalistische Zukunft glaubten, werden heute schicke Appartements und Cafés aus dem Boden gestampft. Die Rieck-Hallen werden abgerissen, Flick und seine einzigartige Collection die Stadt verlassen. Damit wir sie noch einmal genießen und das bald Verlorene betrauern können, zieht uns Katharina Grosse über den von ihr bunt bemalten Asphalt mit einem magischen Farbstrahl hinein in die Halle und spricht dort mit den Objekten von Isa Genzken, den Skulpturen von Donald Judd, den Fotos von Thomas Struth.

Grosses Farbexpansionen begleiten uns in die von Bruce Neuman gebaute Apokalypse der Dunkelheit: „Room With My Soul Left Out, Room That Does Not Care“, in den Raum ohne meine Seele, den Raum, dem das gleichgültig ist. Es kann einem angst und bange werden. Aber solange es Katharina Grosse gibt, die mit ihren pulsierenden Farbskulpturen so viele Gegensätze überwindet, haben wir noch Hoffnung.

Katharina Grosse: „It Wasn´t Us“, Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Berlin, Invalidenstraße 50/51. Bis 10. Januar 2021, Katalog: 44 Euro, geöffnet Di-Fr 10-18 Uhr, Sa und So 11-18, Besuch derzeit nur mit Zeitfenster-Ticket und unter Wahrung der Corona-bedingten Maßnahmen, Infos unter service@smb-museum, www.smb.museum




„Macht der Bilder“: Dresden feiert Raffael und seine famosen Wandteppiche

Raffael (Raffaelo Santi): „Das Opfer zu Lystra“. Bildteppich nach einem Karton von Raffael.
Teppich 431 x 647 cm
(Gemäldegalerie Alte Meister / © SKD, Foto: Herbert Boswank)

Es sollte das nächste große Ding, der nächste Superlativ auf dem internationalen Markt der Kunst-Events werden, der hunderttausende Besucher in die Musentempel lockt. Doch dann fraß sich das Corona-Virus über den Erdball und in Rom musste die große Feier, für die vorab über 50.000 Tickets verkauft waren, nach zwei Tagen abgebrochen werden. Die Meisterwerke des Renaissance-Genies Raffael wurden verhüllt, die Jahrhundertausstellung zu Ehren des vor 500 Jahren verstorbenen Universalkünstlers für Monate geschlossen.

Dasselbe Schicksal traf auch alle anderen Museen rund um den Globus, die ihre Kunst- Schätze durchforstet hatten, mit Raffael-Sonderschauen den Mythos des Meisters befeuern und die Kunstwelt beglücken wollten. Doch nun, mit der Lockerung der Corona- Beschränkungen, ist Licht am Ende des Tunnels. Museen können ihre Pforten öffnen und die Werke eines Kunst-Gottes in ihrer zeitlosen Schönheit erstrahlen lassen, von dem schon Zeitgenosse Giorgio Vasari schwärmte: „Mit welch großmütiger Freigebigkeit der Himmel bisweilen über einen einzigen Menschen den ganzen Reichtum seiner Schätze, alle Talente und hervorragenden Fähigkeiten ausschüttet, die er sonst im Lauf eines langen Zeitraums auf viele zu verteilen pflegt, zeigt sich deutlich an Raffael Sanzio von Urbino, der sich nicht minder durch sein einzigartiges Genie als durch seltene persönliche Liebeswürdigkeit auszeichnet.“

Raffael (Raffaelo Santi): „Der wunderbare Fischzug“. Bildteppich nach einem Karton von Raffael. Teppich 415 x 514 cm (Gemäldegalerie Alte Meister / © SKD, Foto Herbert Boswank)

Die im Dresdner Zwinger angesiedelte Gemäldegalerie Alte Meister hat es naturgemäß relativ leicht, Raffael zu würdigen. Sie verfügt in ihrem reichhaltigen Fundus nicht nur mit der „Sixtinischen Madonna“ über eines der wirkungsmächtigsten und berühmtesten Altargemälde der Kunstgeschichte, sondern auch über einige andere Werke, die Raffael geschaffen und ermöglicht hat. Zum Beispiel die grandiosen Bild-Teppiche, die Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen („August der Starke“) 1728 erwarb, um sich die Aura eines ebenso kunstsinnigen wie machtbewussten Herrschers zu verleihen. Frisch restauriert steht der großformatige Wand-Schmuck jetzt im Mittelpunkt der Ausstellung: „Raffael – Macht der Bilder. Die Tapisserien und ihre Wirkung“.

Im Auftrag von Papst Leo X. fertigte Raffael ab 1515 zehn riesige Kartons, nach denen dann in Spezialwerkstätten in Brüssel die herrlich leuchtenden und künstlerisch geradezu revolutionären Tapisserien für die Sixtinische Kapelle gewebt wurden. Erstmals wurden die Bildteppiche, die schon damals unendlich kostbar waren und deren Wert inzwischen kaum mehr zu beziffern ist, zu Weihnachten 1519 aufgehängt. Heute befinden sie sich in den Vatikanischen Museen und wurden nur selten, zum Beispiel zum 500. Todestag Raffaels, wieder für kurze Zeit in die Sixtinische Kapelle gebracht. Die Original-Kartons, die heute in der Sammlung des Victoria and Albert Museum in London zu Hause sind, wurden 1623 vom späteren englischen König Karl I. erworben und dienten britischen Tapisserie-Manufakturen als Vorlage für weitere Teppich-Serien im Geiste Raffaels. Hier entstanden schließlich auch die sechs Wand-Textilien, die jetzt im Dresdner Zwinger zu bestaunen sind, von unzähligen Werken flankiert werden und die Wirkungsgeschichte Raffaels belegen.

Ausstellungsansicht „Raffael – Macht der Bilder. Die Tapisserien und ihre Wirkung“ (Gemäldegalerie Alte Meister / © SKD, Foto: Alexander Peitz)

Mit Raffaels Skizzen und Kartons sowie den gewebten Wand-Bildern erleben wir den Ausnahmekünstler als Visionär der Gestaltung und Aussage. Die Werke sprechen zu uns, weil wir sofort spüren, wie Raffael den menschlichen Körper in all seinen Facetten und Bewegungsmustern, Muskelzuckungen und Gesten studiert und uns Geschichten erzählt von zeitloser Spiritualität, göttlicher Fügung und menschlichem Willen. Eingefügt in die Architektur filigran ausgefeilter Landschaften und detailreicher Bauwerke zeigt Raffael den von göttlichem Geist angehauchten und von des Gedankens Blässe gestreiften Menschen in seiner oft vergeblichen Suche nach Wahrheit und Erhabenheit: Biblische Szenen, die Apostelgeschichte vom Magier Elymas, der von Blindheit geschlagen wurde, als er versuchte, den Statthalter von Zypern vom Glauben an die Worte von Paulus und Barnabas abzuhalten. Die Heilung des verzweifelten Lahmen und das Weiden der (am Glauben zweifelnden) menschlichen Schafe. „Der wunderbare Fischzug“, bei dem sich jeder Muskel und jede Sehne der im gefährlich schwankenden Boot mit den Unbilden der Natur und dem rechten Glauben ringenden Fischer im Wasser spiegelt und die Geschichte vom Menschen, der sich selbst und den Sinn des Lebens nur erkennt, wenn er Gott versteht und vertraut, gleich mehrdimensional verschachtelt erzählt und mehrdeutig interpretiert.

Wie groß und vielfältig die Wirkung Raffaels ist, wird deutlich beim Blick auf die Gemälde, Skulpturen, Druckgrafiken und Zeichnungen, die den Tapisserien beigesellt sind. Von Dürer bis Rembrandt, von Rubens bis Poussin, die Liste der ausgestellten Werke ist lang, und sie dokumentiert, wie die Formensprache und Bildgestaltung Raffaels fortan die Kunstgeschichte und die Sicht auf den Menschen als ein vielleicht freies, aber doch ziemlich hilfloses und in die Welt geworfenes Wesen prägte. Wie fragil das Leben und wie gefährdet die Kunst ist, kann man auch an der Organisation der Ausstellung selbst ablesen: Die Kartons, Skizzen und Werke von Raffael, die aus amerikanischen Museen den Weg über den Atlantik an die Elbe finden sollten, mussten Corona-bedingt zuhause in Quarantäne bleiben. Schade. Dass im Gegenzug die Dresdner Schau Ende des Jahres ins Museum nach Columbus/Ohio reisen und dort die Raffael-Fans beglücken darf, ist ein toller Plan. In Corona-Zeiten könnte er sich aber schnell als schöne, aber haltlose Utopie erweisen.

„Raffael – Macht der Bilder. Die Tapisserien und ihre Wirkung.“ Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau am Zwinger, Theaterplatz 1. Bis 30. August 2020, täglich 11-17 Uhr (außer montags). Freitags 11-20 Uhr. Katalog im Museum 34 Euro, im Buchhandel 48 Euro.




Mit schnellem Stift Momente im Prozess skizzieren – Gerichtszeichnungen als rares Ausstellungsthema in Hamm

Stefan Bachmann: Moment aus dem Kachelmann-Prozess (2010/2011) – mutmaßliches Opfer und Angeklagter, zwischen ihnen Geräte für eine gerichtliche Video-Aufzeichnung.

Kaum zu glauben: Schon seit 200 Jahren besteht das Oberlandesgericht (OLG) in Hamm. Anno 1820 ordnete der preußische König Friedrich Wilhelm III. die Verlegung von Kleve in die westfälische Stadt an. Groß feiern kann man das Jubiläum heuer nicht, da ist Corona vor. Doch geht der Anlass auch nicht spurlos vorüber: So sind jetzt im Hammer Gustav-Lübcke-Museum rund 80 Gerichtszeichnungen zu sehen – Beispiele für ein ganz eigenes künstlerisches Genre und selten genug Ausstellungsthema.

Die Studioschau wirkt auf den ersten Blick eher unscheinbar, sie wartet aber mit zeichnerischen Vergegenwärtigungen spektakulärer Prozesse auf, so etwa mit dem Verfahren, bei dem der Wettermoderator Jörg Kachelmann sich wegen angeblicher Vergewaltigungen verantworten musste – und schließlich freigesprochen wurde. Martin Burkhardt, der wohl aktivste und gefragteste Gerichtszeichner der Republik, hat einige markante Szenen aus dem Prozessverlauf in aller nötigen Diskretion festgehalten – von der Aussage einer Zeugin bis hin zum Porträt des Angeklagten. Auch Yann Ubbelohde und Stefan Bachmann haben Momente dieses Prozesses zeichnerisch festgehalten, jeweils mit anderen Ansätzen. Bo Soremsky hat aus dem Geschehen sogar eine interaktive Arbeit destilliert, die im Stile einer Graphic Novel deutlich über die bloßen Tatsachen hinausgreift.

In den Gründungsjahren der Bundesrepublik waren noch Filmaufnahmen im Gericht erlaubt, seit 1964 heißt es jedoch „Fotografieren verboten!“ Diesen Titel trägt nun auch die Hammer Ausstellung. Ohne das Film- und Fotografierverbot gäbe es ja die Gerichtszeichnung nicht. Man kennt die weithin üblichen Fotos und Filmschnipsel, die die kurzen Momente vor Verfahrensbeginn zeigen: Die Angeklagten halten sich zumeist Aktenordner vors Gesicht, man sieht nur die Anwälte, die zuweilen nicht unfroh sind, wenn sie „prominent“ in den Medien auftauchen. Nach diesen eher nichtssagenden Schnappschüssen aber lautet das Gebot: Kamera aus!

Es bleibt also eine Lücke in der Berichterstattung, die nicht einmal durch noch so brillante Texte geschlossen werden kann. Bei einigen Prozessen möchte sich die Öffentlichkeit eben eine genauere visuelle Vorstellung von typischen Momenten, Gesten und Gesichtern machen. Es ist nicht nur blanker Voyeurismus, sondern mag auch der Wahrheitsfindung dienen. So kommt es, dass just die Fernsehanstalten Haupt-Auftraggeber für die Gerichtszeichnungen sind, die in angespannter Situation relativ schnell entstehen und sich am tagesaktuellen Redaktionsschluss orientieren müssen (darin der Karikatur vergleichbar, die aber eine völlig andere, ja fast gegenteilige Aufgabe hat). Printmedien drucken hingegen nur noch sehr selten Gerichtszeichnungen ab.

Der Zeichner oder die Zeichnerin, in aller Regel graphisch gründlich ausgebildet, manchmal auch auf Grundlage eines langen Kunststudiums arbeitend, sitzen also im Gerichtssaal und fertigen mit recht raschem Bleistift-Strich ihre Prozess-Ansichten, die sie hernach meist noch kolorieren und mit Fineliner-Stift umreißen. Dann kommen schon die eiligen Kamerateams und filmen die Zeichnungen ab.

Und siehe da: Diese Zeichnungen haben eine andere Intensität und Unmittelbarkeit als die meisten Film- oder Fotoaufnahmen aus dem Justizwesen. Da die Zeichner im Saale sitzen, fühlt man sich durch ihre Skizzen auch perspektivisch oft mitten ins Prozessgeschehen versetzt. Hinzu kommt das subjektive Moment, das – bei allem Bemühen um neutrale Dokumentation – dennoch insgeheim gegenwärtig ist. In Einzelfällen (sog. Wörz-Prozess) verdichten sich Zeichnungen auch zu stillen Dramen, so beispielsweise in der Gestalt des Vaters einer ermordeten Frau, der sichtlich als gebrochener Mann in den Zeugenstand tritt. Ein bewegendes, Mitleid erregendes Bild.

Martin Burkhardt: Rocker-Prozess in Kaiserslautern. Der Gerichtssaal wurde eigens umgebaut, Panzerglas und Stahldornen trennten den Zuschauerraum von den Verfahrensparteien.

Ganz anders, nämlich sozusagen explosiv und potentiell gewaltgeneigt, erschien die Stimmungslage bei einem Rocker-Prozess um „Hells Angels“-Mitglieder, bei dem Teile des (eigens umgebauten) Saales mit bedrohlich wirkenden Bikern angefüllt waren. Und wieder anders, atmosphärisch geradezu gediegen, die Bilder vom Verfahren gegen den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, das sich um Vorteilsnahme und Korruption rankte und mit Freispruch endete. Als eher kurioses Einzelstück sieht man noch ein Gerichtsporträt des Sängers Heino, der in ein Schadenersatz-Verfahren um abgesagte Auftritte verwickelt war.

Cony Teis: Prozess gegen die „Gladbecker Geiselgangster“ – hier der Angeklagte Hans-Jürgen Rösner mit seinem Finger-Tattoo („L-O-V-E“).

Manche Skizzen gelangen auch schon mal in die ARD-Tagesschau oder in die heute-Nachrichten des ZDF. Dennoch verdienen die freischaffenden Gerichtszeichner nicht übermäßig viel. Der übliche Tagessatz liegt bei rund 500 Euro plus Spesen. Große Prozesse und somit lohnende Aufträge gibt es beileibe nicht alle Tage. Und wie sieht es mit Verkäufen aus? Ganz schlecht. Ein Kunstmarkt für Gerichtszeichnungen existiert praktisch nicht. Hamms Museumsleiter Ulf Sölter hat sämtliche Exponate von den Urhebern selbst erhalten. Nur ganz vereinzelt soll es Anwälte geben, die Gerichtszeichnungen in ihren Kanzleien aufhängen. Keine üppigen Geldquellen also. Martin Burkhardt ist denn auch der einzige, der von Gerichtszeichnungen lebt, die weiteren künstlerischen Leihgeber betreiben ihr Gerichtsmetier lediglich als Nebentätigkeit.

Ein Sonderfall ist die Kölner Künstlerin Cony Teis, die zwar einst große Prozesse begleitet hat (Beispiele in der Hammer Auswahl: die Gladbecker Geiselnehmer Rösner und Degowski, der Kinderschänder Dutroux), inzwischen aber längst zur international beachteten freien Kunstszene zählt und Gerichtssäle nicht mehr aufsucht. Das gewiss auch für Zeichner seelisch sehr belastende Dutroux-Verfahren und andere haben sie bewogen, ein hauchzartes und im leisesten Luftzug wandelbares Mobile mit Täter- und Opfer-Porträts auf transparenten Folien zu entwerfen. Teis‘ Werk mit dem Titel „Justitia“ ist als genuin künstlerisches Statement und gleichsam als Summe, Vertiefung und Überhöhung ihrer vielen Gerichtszeichnungen in dieser Ausstellung zu sehen. Spätestens hier sollte man innehalten, um über die Unwägbarkeiten oder auch Untiefen von Recht und Gerechtigkeit nachzusinnen.

„Fotografieren verboten! Die Gerichtszeichnung“. Ausstellung zur 200-Jahr-Feier des Oberlandesgerichts Hamm. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. – Bis 3. Januar 2021. Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Ein Katalog kommt erst im September heraus. www.museum-hamm.de




Neues Album „Rough and Rowdy Ways“ – Bob Dylan auf dem Höhepunkt seines Schaffens

Gastautor Bernd Huber über das neue Album von Bob Dylan:

Bob Dylan legt uns mit „Rough and Rowdy Ways“ die Blaupause seiner künstlerischen Persönlichkeit vor. Er destilliert das, was man von ihm halten darf und bleibt sich selbst treu. Er hatte mit den Musen nie ein Problem, er brauchte sich nie um sie zu bemühen. Aber jetzt ruft er sie an, augenzwinkernd.

Aber so hatte er auch angefangen. Die Musik und die Worte, das war für ihn nie billiger Karneval, kein Tingeltangel, kein Clap your hands und I love you all, immer war das Kunst für ihn. Und weil es immer Kunst war, man in ihm aber einen Botschafter für andere Dinge sehen wollte, schnallte er sich irgendwann die Stratocaster um. Dylan machte aus dem Rock’n’Roll keinen Zirkus, er nahm ihm jeden marktschreierischen Ansatz.

Ich weiß noch, wie er mich als junger Mann erschreckte, so schön war er, und er wusste schon sehr gut, wer er war. So etwas hatte ich nie erlebt. Als er einem Journalisten, der ihm vorwarf, gar nicht richtig singen zu können, antwortete, er sänge schöner als Caruso, war da auch schon Poesie in dieser Antwort.

Melancholie, aber auch Aufbegehren

Von William Blake und Shakespeare bis Jimmy Reed, Dylan hat alles verinnerlicht. Chopin, Beethoven, alles ist in seiner Musik und in seinen Lyrics. „Rough And Rowdy Ways“ ist die Konsequenz seines Schaffens, indem er sich selbst auf die Spitze treibt. Den Preis, den er für das alles bezahlt, nennt er uns, wenn er davon singt, dass man sowohl weinend als auch lachend dichten muss. Und dann ist auch noch der Wunsch unsichtbar zu sein, wie der Wind.

Ich stehe Alterswerken von Rockmusikern skeptisch gegenüber, aber Dylan ist ja kein Rockmusiker im eigentlichen Sinne und wäre er einer, dann wäre er eben auch mit dieser Platte eine Ausnahme, denn er lässt sich nicht hinreißen, „nur“ mit der Altersmelancholie zu kokettieren. Dylan wäre nicht Dylan, wenn da nicht Aufbegehren, ein Anflug von Zynismus und Kraft wären. „How long can it go on?“ Und der nächste Satz: „I crossed the rubicon“. Ich habe mich der Welt geöffnet, singt er, jedoch auch: „Ich zeige Euch vieles von mir, aber nicht alles“.

Den vergessenen Blues neu belebt

Die Musik ist unter all’ diesen Worten ist so wunderbar direkt, druckvoll und verletzlich gleichzeitig. Hier singt ein Narr zu einem Dieb, aber der Dieb hat dem Narren den Text untergeschoben. Haben einmal die Weißen den Blues von den Farbigen geklaut, aus ihm dann Rock’n’Roll gemacht, so steht es Bob Dylan zu, diesen vergessenen Blues wieder aus der Taufe zu heben, ihn mit Country und all’ den großen Songs der amerikanischen Geschichte zu versöhnen. Wenn er singt, er sei kein falscher Prophet, sondern nur einer, der sagt, was er denkt und fühlt, dann bin froh, dass einer so denken und fühlen kann und diesem Denken und Fühlen eine einmalige Form verleihen kann.

Der junge Bob Dylan ist als Intellektueller gestartet. Wenn einer Zimmermann heißt, sich aber selbst zu Bob Dylan macht, dann weiß er schon, wo er hin möchte. Mit seiner neuen CD ist er, wie er singt, ziemlich zwischen Himmel und Erde angekommen. Höher hinauf kommt keiner mehr. Zumindest ist niemand in Sicht, dem das ansteht.

Es ist ein weiter Weg gewesen von ALL ALONG THE WATCHTOWER bis zu ROUGH AND ROWDY WAYS, aber jede Etappe mit Dylan war es wert, dass man sie mitgegangen ist. Sein neues Album ist jetzt schon ein Meilenstein in der Pop-und Rockgeschichte. Wir erleben den größten Songwriter aller Zeiten auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Es gibt nichts Vergleichbares.




Karstadt und Kaufhof: Schließungen würden Dortmund und Essen besonders hart treffen

Ernsthaft von Schließung bedroht: Teilansicht des Dortmunder Karstadt-Hauses. (Foto aus dem Jahre 2016: Bernd Berke)

Es wäre eine wirtschaftliche Katastrophe – nicht nur, aber mal wieder besonders fürs Ruhrgebiet. Wie heute zu hören ist, schließt Karstadt/Kaufhof („Galeria“) offenbar jeweils beide Häuser in Dortmund und Essen. Außerdem werden im Revier vermutlich die Warenhäuser in Hamm und Witten aufgegeben. Insgesamt sind demnach bundesweit 62 von 172 Filialen betroffen, darunter allein sechs in Berlin und vier in Hamburg.

Auch Städte wie Düsseldorf, Köln, Bremen, Frankfurt, Hannover, München und Nürnberg verlieren nach dieser Lesart einzelne Kaufhäuser. Sofern das alles zutrifft, kann man mit Fug und Recht sagen, dass sich damit das Gepräge zahlreicher Großstädte in dieser Republik verändern würde. Ganz zu schweigen von den vielen, vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die damit wohl arbeitslos werden. Laut Gewerkschaft Verdi sind es wahrscheinlich rund 6000.

Zentrale Anlaufstellen in der Innenstadt

Was das alles – beispielsweise – für die Dortmunder Innenstadt bedeuten könnte, lässt sich noch gar nicht ermessen. Es käme einem Kahlschlag gleich, der zahlreiche andere Händler mit in den Abgrund ziehen dürfte. Denn Karstadt und Kaufhof waren über viele Jahrzehnte hinweg d i e zentralen Anlaufadressen in der City. Ältere Dortmunder kennen Karstadt noch als Traditions-Kaufhaus „Althoff“. Lang ist’s her. Es ist kaum vorstellbar, dass das historische, sehr raumgreifende und voluminöse Karstadt-Haus am Hansaplatz anschließend wieder mit Leben erfüllt werden kann.

Im schlechtesten Falle erübrigen sich damit auch andere Bemühungen, die Innenstadt aufzuwerten. Denn mit den Kaufhäusern würden zwei Anziehungspunkte entfallen, die immerhin noch etliche Menschen etwa aus dem Sauerland in die Stadt gezogen haben; wenn auch bei weitem nicht mehr so viele wie früher einmal. Übrigens: Auch die erst wenige Jahre alte Shopping Mall „Thier Galerie“ mit rund 160 Geschäften dürfte die Folgen zu spüren bekommen. Es war frühzeitig abzusehen: Dieser Konsumtempel hat etliche Kunden von Karstadt und Kaufhof weggelockt. Aber das ist halt Wettbewerb.

Im Revier ist offenbar nicht genügend Geld vorhanden

Offenbar ist man in der Essener Zentrale von Karstadt/Kaufhof zu dem Schluss gelangt, dass großstädtische Revierbürger (mitsamt dem jeweiligen Umland) nicht genug konsumieren – jedenfalls nicht in den Kaufhäusern. Nun ja, die hiesige Kaufkraft ist auch nicht so hoch wie beispielsweise in Köln, Stuttgart oder München. Den Letzten („Ärmsten“) beißen mal wieder die Hunde oder dramatischer und wohl auch wahrhaftiger gesagt: die Höllenhunde des Kapitalismus.

Aber hätte es denn nicht eine Verkleinerung der Häuser getan – oder die Schließung einer Verkaufsstätte statt beider? Oder stimmt es gar, was auch gemunkelt wird: dass das Kaufhaus-Management die vermeintlich rigorosen Schließungspläne unwidersprochen durchsickern lässt, damit die Vermieter der Häuser nervös werden, um ihre gewohnten Einnahmen bangen und den Mietzins senken? Sie sollten die Sache wirklich noch einmal gründlich bereden. Mit einem kompletten Mietausfall wäre auch den Immobilienbesitzern nicht gedient. Und welche „Goldesel“ wollen sie dort denn anschließend ansiedeln? Nicht nur nebenbei: Über die Karstadt-Sporthäuser (auch in Dortmund ansässig) ist derweil das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Arge Probleme schon lange vor Corona

Dass der Kaufhaus-Konzern in Schieflage geraten ist, hat gewiss nicht nur mit den Folgen des Corona-Shutdowns zu tun. Schon in vielen Jahren zuvor gab es immer wieder arge Probleme, die dann auch zum Zusammenschluss von Karstadt und Kaufhof geführt haben. Dass schließlich auch noch die Pandemie sich ausbreitete, hat die Lage sicherlich noch deutlich verschlimmert. Da helfen weder Kurzarbeitergeld noch Mehrwertsteuersenkung. Wer die Digitalisierung und den Internet-Versandhandel dermaßen verpennt, der hat eben kaum etwas entgegenzusetzen, wenn Amazon sich überall breitmacht.




Das Paradies liegt wohl in Giverny – prächtige Monet-Ausstellung im Potsdamer Museum Barberini

Claude Monet: „Getreideschober“, 1890, Öl auf Leinwand (© Hasso Plattner Foundation / Photo: Lutz Bertram, Berlin)

Es ist der wohl teuerste Heuhafen der Welt. Über 111 Millionen Dollar legte ein zunächst anonymer Käufer auf den Tisch eines Auktionshauses, als vor knapp einem Jahr ein Werk von Claude Monet versteigert wurde: Es stammt aus einer Serie von mindestens 25 ähnlichen Bildern, die Monet in Giverny gemalt hat.

In dem kleinen normannischen Dorf an der Seine lebte Monet von 1883 bis zu seinem Tode 1926. Monet, der vorher immer wieder zu neuen malerischen Ufern aufgebrochen war und seinen Wohnort mehrfach wechselte, wollte hier endlich zur Ruhe und der künstlerischen Perfektion nahe kommen. In Giverny fand er sein Paradies, schuf sich seinen eigenen wild wuchernden Garten, in dem er nach Lust und Laune malen, das Licht, die Stimmung und die Natur bei jeder Tages- und Jahreszeit einfangen und auf die Leinwand bringen konnte.

Immer wieder sah er seinen Seerosen-Teich mit anderen Augen, stapfte hinaus in die üppigen Felder und malte die an den Bächen und Flüssen stehenden Pappel-Reihen, mit ihren in der Sonne flirrenden Blättern. Und immer wieder zog ihn das landwirtschaftlich geprägte Umfeld seines Gartens magisch an: Die Studie der Heuhaufen und Getreideschober, die Monet im gleißenden Licht und im herbstlichen Nebel, in frischer Frühlingsluft und bei knisternder Kälte malte, sind seine erste vollständig durch-choreographierte Serie eines einzelnen Bild-Motivs und zeigen ihn als Vorläufer der modernen seriellen Kunst, die durch minimale Variationen ein Thema oder eine Idee von allen Seiten durchdringen und beleuchten, im innersten Wesen erfassen und entschlüsseln will.

Claude Monet: „Seerosen“, 1903, Öl auf Leinwand (The Dayton Art Institute, Ohio)

Bei Wind und Wetter hinaus in die Natur

Wir wissen jetzt, dass Kunstmäzen Hasso Plattner der anonyme Käufer des berühmten Heuhaufens war. Plattner, der als Mitbegründer der Internet-Schmiede SAP zu Reichtum kam und heute in Potsdam Wissenschaft und Kunst nach Kräften fördert, hat seinen Getreideschober an das von ihm inspirierte und finanzierte Museum Barberini weiter gereicht. Dort ist es jetzt Teil einer opulenten Ausstellung, in der nicht nur mehrere Getreideschober – mal im lilafarbenen Abendlicht, mal der klirrenden Kälte trotzend und von Schnee bedeckt – gezeigt werden.

Zu bestaunen sind über 100 Werke des genialischen Berserkers, der bei Wind und Wetter mit Farbe, Pinsel und Staffelei in die Natur hinaus stapfte, um sie künstlerisch zu zähmen und malerisch zu durchdringen: „Orte“ ist der schmallippige Titel der Schau. Denn die Orte, an denen Monet lebte und malte, waren für ihn von entscheidender Bedeutung. „Hier traf das von Wetter, Jahres- und Tageszeiten abhängige Licht auf landschaftliche Gegebenheiten. Hier ging er dem flüchtigen Spiel atmosphärischer Phänomene nach – dem, was zwischen ihm und dem Motiv lag.“ Ortrud Westheider, die Direktorin des Barberini, behauptet das im Katalog. Es ist, mit Verlaub, genauso richtig wie banal und trifft eigentlich auf fast jeden Künstler zu: Oder könnte sich irgendjemand William Turner ohne Londoner Nebel vorstellen, Andy Warhol ohne den Schmelztiegel von New York?

Streifzüge durch Holland, London und Venedig

Doch so banal der Titel, so prächtig die Ausstellung. Der Besucher reist mit Monet an die Orte, an denen er das Licht und die Stimmung als flüchtige Phänomene in sich aufnahm und in rauschhafte Farbwelten verwandelte. Mal ist es ein ärmliches „Gehöft in der Normandie“, der geheimnisvolle „Wald von Fontainebleau“ oder der düstere „Hafen von Le Havre am Abend“, der unter seinen Farbtupfern zum Leben erwacht. Mal fixiert er mit schnellem Strich das simultane Leben und komplexe Gewusel an der „Pont-Neuf in Paris“, am „Boulevard des Capucines“, im „Bahnhof Saint-Lazare“. In London malt er – mit schönem Gruß an William Turner – unzählige Variationen der Waterloo und der Charing Cross Bridge.

Claude Monet: „Der Palazzo Contarini“, 1908, Öl auf Leinwand (Privatsammlung)

Um nicht am deutsch-französischen Krieg teilnehmen zu müssen, lebt er eine zeitlang in Holland und vergnügt sich zwischen Windmühlen, Grachten und Tulpenfeldern. Später, in Argenteuil, blickt er auf die sich im Wasser der Seine spiegelnde Natur. In Vétheuil beobachtet er den Eisbruch auf dem zugefrorenen Fluss, den Sonnenuntergang, die Wiesen und Weizenfelder, in denen sich, kaum erkennbar, Kinder fröhlich tummeln und von der Natur regelrecht verschluckt werden. Er reist nach Venedig und malt den sich im Canale Grande spiegelnden Dogenpalast. An den Küsten Nordfrankreichs sieht er von steilen Klippen hinaus auf die stürmische See und schafft realistisch-dramatische Szenerien.

Dann ist es schließlich Zeit für das eigene Paradies, den Garten von Giverny, die unzähligen Seerosen-Bilder. Fantasievolle Impressionen, freie Pinselführung und expressives Kolorit verschmelzen miteinander, manchmal muten die Kompositionen abstrakt an und weisen in die Zukunft: Die Moderne, die Avantgarde, was wären sie bloß ohne Monet?

„Monet. Orte“: Museum Barberini, Potsdam. Verlängert bis zum 19. Juli, Mi-Mo 10-19 Uhr, Do 10-21 Uhr, 18 Euro, ermäßigt 12 Euro. Infos unter www.museum-barberini.de

Der empfehlenswerte Katalog ist im Prestel Verlag erschienen, er kostet  im Museum 30 Euro und im Buchhandel 39 Euro.




Mit Markenprodukten aus NRW: Bildband spürt der aufblühenden „Konsumlust“ der 1960er Jahre nach

Die Geschichte wird wahrlich nicht zum ersten Mal erzählt: wie „die“ Deutschen den Weltkrieg in jedem Sinne hinter sich ließen (nämlich auch nach Kräften zu verdrängen suchten); wie sie sich nach und nach dem Konsum zuwendeten; wie dabei Markenzeichen und folglich Werbung immer wichtiger wurden; wie das Land bunter und wohl zugleich oberflächlicher wurde. Das ganze „Wirtschaftswunder“-Programm eben.

Auch Ulrich Bienes Bildband „Konsumlust“ greift diesen Erzählfaden auf, knüpft ihn aber etwas anders. Gleich zwei Untertitel signalisieren, worum es geht: „Werbung, Wohlstand, Wirtschaftswunder“ und dann vor allem: „Die 1960er Jahre in Spiegel der NRW-Marken“. Heißt also: Hier wird die Geschichte regional aufgezogen, Firmen aus Nordrhein-Westfalen stehen im Vordergrund. Eigentlich kein Wunder, ist Biene doch hauptberuflich Pressesprecher der Veltins-Brauerei im hochsauerländischen Meschede. Er widmet denn auch dem Brauereiwesen im Lande ein ausführliches Kapitel. Apropos: In den 60ern waren die Gewichte noch ganz anders verteilt, rund die Hälfte aller NRW-Biermengen kam aus Dortmund, damals weltweit die zweitgrößte Bierstadt überhaupt. Auf heimelige Ruhrgebietstypologie getrimmte Werbung setzte seinerzeit den Revier-Komödianten Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier als glaubhafte Vertrauensfigur für die Dortmunder Union-Brauerei ein.

„…und Erwachsene ebenso“

Die 1960er waren jenes Jahrzehnt, in dem sich endgültig etliche Markenbezeichnungen vor die Sachen schoben, es war also beispielsweise nicht mehr so häufig von Papiertaschentüchern, sondern von Tempotüchern die Rede und seltener von Gummibärchen, dafür umso öfter von Haribo, bekanntlich eine schon lange vor dem Krieg begründete Traditionsmarke aus Bonn. Doch nun stellten sie sich neu und zeitgemäß auf: 1967 wurde der Goldbär als geschütztes Warenzeichen eingetragen. Und der alte Vorkriegsspruch „Haribo macht Kinder froh“ wurde zur Mitte der 1960er ergänzt um „…und Erwachsene ebenso“. Vielleicht ein Vorzeichen dafür, dass der Konsum die Generationen einander anglich, indem er viele Erwachsene infantilisierte? Nun, wir wollen nicht gar zu sehr spekulieren. Jedenfalls zeigt sich, dass Konsum mehr ist als bloßer Verbrauch.

Zahlreiche Anzeigenmotive aus vielen Branchen versammelt dieses Buch, die allemal den jeweiligen Zeitgeist repräsentieren und manche Erinnerung wachrufen. Was im Rückblick auffällt: In jenen Jahren wurde der Konsum noch weit überwiegend in deutscher Sprache angeregt oder auch schon recht agil angestachelt. Die damals zunehmend kaufkräftige Generation hatte es noch nicht so mit dem Englischen.

Einflüsse aus der Pop-Art

Anfangs noch im herzig-naiven Stil der 50er Jahre sich ergehend, wurde die Reklame im Laufe des Jahrzehnts zunehmend frech oder grell, gegen Ende der Dekade nahm sie beispielsweise auch Einflüsse aus Pop-Art und Comics auf, sehr deutlich zu sehen anhand der Duisburger Sinalco-Werbung, welche als markanter Ausschnitt die Titelseite des Bandes ziert. Sprite konterte just 1968 mit dem Kunstwort „frischwärts“, einer fast schon sprichwörtlichen Schöpfung. Fanta war jedoch, wie man hier ebenfalls erfährt, eine Kreation aus dem Kriegsjahr 1941, mit der man die damals in Deutschland nicht mehr lieferbare Coca-Cola und deren amerikanische Ableger „ersetzen“ wollte. Nicht nur Bücher, auch Limos haben ihre Schicksale.

Sogar der weithin als biederes Damengetränk verschriene Eierlikör Verpoorten („Ei, Ei, Ei…“) sollte damals mit psychedelischen „Hippie“-Annoncen neue, jüngere Käufer(innen)schichten gewinnen. Auch dies kommt einem heute fremd und fernliegend vor: dass Tabakwaren und hochprozentiger Schnaps mit größter Nonchalance angepriesen und fröhlich verharmlost wurden. Alkoholhaltige Leckereien der Firma Brandt (mit Kirschwasser, Williamsbirne, Himbeergeist etc.) hießen „Hicks-Pralinen“, gleichsam beschwipst schwankten sie mit diesem Werbeslogan herbei: „Lustig ist das Pralinenleben. Faria, faria hicks.“

Hicks-Pralinen und Dinett-Servierwagen

Noch in den Anfängen steckte hingegen die Produktpalette zur Körperpflege, zumal die Männerdüfte beschränkten sich noch weitgehend auf SIR (irish moos) und Tabac, Kölnisch Wasser (4711) dominierte den noch recht schmalen Markt. Ältere Jahrgänge erinnern sich gewiss noch an diesen arg begrenzten olfaktorischen Bestand.

Näher betrachtet wird auch die (ost)westfälische Möbelproduktion, die kürzlich noch dem NRW-Arbeits- und Gesundheitsminister Laumann bei seinen ersten Corona-Lockerungsübungen als überraschend „systemrelevant“ galt. Zu nennen wären etwa die Hersteller Interlübke und Poggenpohl sowie das Ekawerk. Von den ach so praktischen Dinett-Servierwagen der Firma Bremshey aus Solingen redet man hingegen heute wohl kaum noch, dieser Alltags-Mythos ist eher zum Nostalgie-Stoff geronnen.

Regionaler Stallgeruch mit Nostalgie

Noch mehr regionaler Stallgeruch mit Vintage-Charme gefällig? Bitte sehr, hier in Stichworten noch ein paar Beispiele, die im Buch mit ihrer Werbung aus den 60ern Revue passieren: Brandt Zwieback (damals Hagen), die 1962 eingeführten Trumpf Schogetten (ursprünglich Aachen, später Bergisch-Gladbach), Falke-Socken (Schmallenberg/Sauerland), Seidensticker-Hemden (Bielefeld), Pril und Persil (Henkel/Düsseldorf). Die ausgesprochen breitenwirksame Prilblumen-Kampagne gehörte dann freilich in die 70er Jahre. Hinzu kommen Automobile von Ford (Köln) und Opel (damals – ab 1962 – auch noch in Bochum), Kraftstoffe von Aral (gleichfalls Bochum) oder auch frühere Kindheits-Legenden wie Siku-Modellautos (Lüdenscheid), das Kettcar (von Kettler aus Ense-Parsit im Kreis Soest, das später einen Rockband-Namen prägte) oder Puky-Räder (Wülfrath).

Alle eben genannten Namen und Marken sind auch heute noch geläufig und erhältlich, aber kann sich jemand noch an Rokal-Modelleisenbahnen (aus Lobberich)  oder an Rondo-Waschmaschinen (aus Schwelm) erinnern? Mh. Gibt es eigentlich ein Fachgebiet namens Wirtschafts- und Konsum-Archäologie?

„Konsumlust – Werbung, Wohlstand, Wirtschaftswunder – Die 1960er Jahre im Spiegel der NRW-Marken“. Klartext-Verlag, Essen. 160 Seiten Großformat, zahlreiche farbige Abbildungen. 29,95 €.

 

 




Die Kraft der Musik ist zurück: Rudolf Buchbinder beim Klavier-Festival Ruhr in Bochum – unter teils surrealen Umständen

Sehr spezieller Moment nach Rudolf Buchbinders Konzertauftritt: Die Blumen-Übergabe erfolgte diesmal per Roboter. Die Apparatur ist eine Entwicklung des Lehrstuhls für Produktionssysteme im Fachbereich Maschinenbau der Ruhr-Uni Bochum (Prof. Bernd Kuhlenkötter). (Foto: Sven Lorenz)

Gastautor Robert Unger über den Wiederbeginn des Klavier-Festivals Ruhr – unter teilweise surreal anmutenden Bedingungen:

„Endlich sind Sie wieder da!“, begrüßte der Intendant des Klavierfestivals Ruhr, Franz Xaver Ohnesorg, die Konzertbesucher. Voller Spannung wartete das Publikum auf dieses Live-Erlebnis.

Betritt man das Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum für das erste Konzert des Festivals in seiner nun arg verkürzten Spielzeit, fühlt man sich eher wie in einer Quarantänestation. Mit großem Abstand und unter strengen Hygieneregeln verteilen sich im 952 Plätze fassenden Konzerthaus knapp 200 Besucher. Das Foyer, bei den meist ausverkauften Konzerten im Musikforum sonst stets ein proppenvoller, summender Bienenstock, ist an diesem Tag sehr übersichtlich belegt. Hier und da stehen zwei, drei, vier Musikfreunde mit Abstand beisammen, plaudern, begrüßen sich. Dabei ist gerade in schwierigen Zeiten eigentlich das Bedürfnis groß, lebendige Konzertmomente zu erleben. So war das Publikum voller Spannung; eine Reihe von Besuchern ließ auch die Dankbarkeit dem Klavier-Festival Ruhr gegenüber spüren, endlich wieder einem Konzert beiwohnen zu können.

Es scheint wie eine glückliche Fügung, dass das Klavier-Festival Ruhr mit dem renommierten Beethoven-Spezialisten Rudolf Buchbinder und den „Diabelli Variationen“ sowie mit der deutschen Erstaufführung von elf „Neuen Diabelli Variationen“ in die Saison starten konnte. 1819 hatte der Musikverleger Anton Diabelli an bekannte Komponisten seiner Zeit einen simplen Walzer mit der Bitte um eine Variation geschickt. Johann Nepomuk Hummel, Franz Kalkbrenner, der erst elf Jahre alte Franz Liszt, Franz Schubert und einige andere lieferten. Beethoven ließ sich Zeit, schrieb aber dann gleich 33 „Veränderungen“, die als op. 120 in seinen Werkkanon eingingen. 200 Jahre später fragte Buchbinder mit Blick auf das anstehende Beethoven-Jahr zeitgenössische Komponisten nach neuen Variationen. Elf folgten dem Kompositionsauftrag eines Reigens von europäischen Konzerthäusern, unterstützt von der renommierten Ernst-von-Siemens-Stiftung.

Nicht nur schön, sondern auch wahrlich geräumig: das Anneliese Brost Musikforum Bochum. (Foto: Sven Lorenz)

Elf „Neue Diabelli Variationen“

Frappierend genial wirkt der Walzer aus der Feder des Wiener Musikverlegers nicht. Genial war allerdings Diabellis Marketing-Strategie, das Stück den prominentesten Tonsetzern, Virtuosen und Musikhonoratioren des Kaiserreichs zur Bearbeitung vorzulegen. Leider beginnt das Konzert nicht (wie auf dem Programmzettel angekündigt) mit dem Original-Walzer, sondern gleich mit der ersten neuen Variation „Diabellical Waltz“ der einzigen Komponistin in der Liste, Lera Auerbach. Die Neukompositionen zu Beethovens 250. Geburtstag wirken wie ein globales Stilpanorama. Mit dabei sind der Russe Rodion Schtschedrin, der Australier Brett Dean, der Chinese Tan Dun, der Japaner Toshio Hosokawa, der Brite Max Richter und der Deutsche Jörg Widmann. Ob schräg, witzig oder meditativ – immer ist der kreative Umgang mit Diabellis harmlosem „Schusterfleck“ herauszuhören.

Christian Jost nannte seinen Beitrag schlicht „Rock it, Rudi!“, was sich Rudolf Buchbinder denn auch nicht zweimal sagen ließ. Und zu den amüsantesten zeitgenössischen Beiträgen gehört sicher der von Jörg Widmann: Er scheint sich zu fragen, ob das seltsam zackige Thema Diabellis überhaupt das Zeug zum Walzer hat, erkennt dann eine eklatante Verwandtschaft mit dem Radetzky-Marsch und lässt es zu guter Letzt noch zum Boogie-Woogie mutieren. Andere emotionale und sphärische Klänge erklingen bei Hosokawas „Verlust“. Diese erste Hälfte des Konzertes wird im Klang auch beeinflusst durch den fast leeren Saal. Das Klavierspiel von Rudolf Buchbinder wirkt oft laut und stampfend. Ein nicht allzu fernes Echo scheint die ganze Zeit durch den Raum zu strömen.

Kritische Momente beim „Lebens-Motiv“

Nach einer kurzen Pause beginnt für den Pianisten und die Zuhörer die eigentliche Herausforderung. Hans von Bülow nannte die Diabell-Variationen einmal so knapp wie treffend einen „Mikrokosmos des Beethovenschen Genius, ja, sogar ein Abbild der ganzen Tonwelt“. Beethoven widmete dem einfachen Walzer nicht nur eine Bearbeitung. Er nahm das Thema und versah es mit virtuosen Umspielungen, zerlegte es gnadenlos in seine banalen Einzelteile, aus denen er dann ganz Neues baute, etwa einen pompösen Marsch oder eine dreistimmige Doppelfuge. Diese Welt betritt Buchbinder an diesem Abend mit sehr vehementem Schritt. Töne verschwimmen, die Raffinesse Beethovens will sich nicht einstellen.

Buchbinder, der im Rahmen seines Zweiklangs aus neuer CD-Aufnahme und Buchveröffentlichung sagt, „manchmal habe ich den Eindruck, er sitzt neben mir“ (und damit meint er Ludwig van Beethoven), beschäftigt sich seit vielen Jahren akribisch mit dem Werk Beethovens. Die Diabelli-Variationen, die er bereits zum dritten Mal eingespielt hat, nennt er selber sein „Lebens-Leitmotiv“. Ein Lebensmotiv, das er ohne Zweifel durch die Idee der Neukompositionen bereichert hat, aber der Ursprung wirkt dabei an diesem Abend wenig inspiriert. Kaum Tempovarianten bei raschem Spiel bestimmen den Ablauf der 33 Variationen. Nicht immer gelingen das Austarieren der Crescendi, die homöopathisch dosierten Rubati, die harschen Lautstärke-Kontraste.

Aber sind solche kritischen Momente im Konzert das Entscheidende dieses Abends? Wenn sich am Ende der Variationen das Publikum begeistert zu „Standing Ovations“ erhebt, verspürt man eine erleichterte Freude beim Musiker und seinem Publikum über das gemeinsam Erlebte. Nach monatelanger Stille in den Konzertsälen und sich endlos anfühlendem Warten der Musiker auf den nächsten Auftritt kann man dem Klavier-Festival Ruhr und Rudolf Buchbinder nur Respekt zollen für diesen mutigen Auftakt und den Vorstoß in unbekannte Verhältnisse. Die Kraft der Musik kann letztlich nur im Live-Erlebnis ihren Zauber entfalten. Zugleich darf man aber auch weiterhin gespannt sein, wie sich dieser Zauber in luftig gefüllten Sälen mit Abstandsregeln und Mundschutz in den nächsten Wochen entwickeln wird.

Weitere Konzerte in Dortmund, Düsseldorf, Herten

Das Klavier-Festival Ruhr schaut nach Auftritten von Jan Lisiecki in Dortmund und Essen und einem trotz aller Corona-Beschränkungen stimmungsvollen Konzert mit Anika Vavic auf Schloss Gartrop in Hünxe (Niederrhein) voraus auf den mit Spannung erwarteten Abend mit Igor Levit am 18. Juni im Konzerthaus Dortmund). Weiterhin auf dem Programm: Alexander Krichel (24. Juni, Anneliese Brost Musikforum Ruhr), Olli Mustonen (25. Juni, Gebläsehalle im Landschaftspark Nord, Duisburg) und Kit Armstrong (29. und 30. Juni, Schloss Herten).

Am 1. Juli wird in der Philharmonie Essen der Grandseigneur des Tastenspiels, Sir András Schiff, die enge Verbundenheit Bachs und Beethovens im Kontrapunkt aufzeigen. So finden sich im Programm etwa gleich zwei Werke des Kontrapunktikers Bach, darunter die hochvirtuose „Chromatische Fantasie und Fuge“, deren Echo in der epochalen letzten Klaviersonate Nr. 32 von Beethoven widerhallt. Der Höhepunkt ist dann wohl im Juli der Auftritt von Elisabeth Leonskaja am 6. Juli in Düsseldorf. Auf dem Programm die drei letzten Sonaten op. 109 bis 111, der Gipfel des Beethovenschen Klavierschaffens und eine Hommage an den Wiener Großmeister, die nur schwer vergessen lässt, dass eigentlich das Gesamtwerk Beethovens für Klavier solo in diesem Jahr beim Klavier-Festival Ruhr hätte erklingen sollen.

Über sämtliche Konzerttermine und die aktuellen Programme informiert das Klavier-Festival Ruhr tagesaktuell unter www.klavierfestival.de. Dort finden sich auch Informationen über etwaige neue, die Konzerte des Klavier-Festivals Ruhr betreffende behördliche Verordnungen. Um Karten zu erwerben, trägt man sich am besten online in die Warteliste für das jeweilige Konzert ein.

 




„Nach all dem Streben das Sterben zu üben“ – Notizen aus der Inneren Coronei (2)

Notizbuch, noch voller Hoffnung
Foto: Gerd Herholz

Seit Wochen schrie mein schwarz eingebundenes Moleskine vergeblich nach Alltagsskizzen, heftigen Bildern oder Dialogfetzen. In solch ein Notizbüchlein sollen schon Hemingway, Picasso oder Bruce Chatwin notiert haben, was ihnen durch den Kopf schoss. Ich aber hatte mit keinem einzigen Bleistiftstummel  zumindest Stichworte hineingekritzelt. Schon gar nicht klassische Sätze à la Ernest H. wie etwa: You belong to me and all Gelsenkirchen belongs to me and I belong to this notebook and this pencil.
O über all die leeren, unbeugsamen Seiten!

Verzweifelt wünschte sich mein ausgehungertes Notizbuch, es hätte noch etwas von Baum, von Buche vielleicht, und könnte seine Blätter abwerfen, bis es kahl daläge, von niemandem je genutzt und zu nichts mehr zu gebrauchen. So voller Verzagtheit hat das Büchlein vor einigen Tagen unvermittelt begonnen, selbst krude Einfälle auf dem Papier erscheinen zu lassen, um die ungeheuer trostlose Leere in seinem Innern zu kaschieren. Angst vor dem weißen Blatt? Die kannte es nicht, denn viel zu lange war es selbst nichts als weißes Blatt gewesen. Nun also erschienen täglich neue Menetekel, wie von Geisterhand aufs Blatt geworfen. Kommentare, Fußnoten zu einem unerfüllten, papiernen Leben, Vermerke, die nach ein paar Minuten wieder verblassten. Als wären sie mit einer Geheimtinte geschrieben, die mahnte: Lies! Schreibe!

Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt,
dass der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.

Wünschte sich das Notizbuch tatsächlich, dass ich solch kryptischen Worte als Flaschenpost läse, von einer Muse an den Gestaden Griechenlands in jenes Mittelmeer geworfen, das sonst doch alles Menschliche verschluckt? Lauerten da versteckte Botschaften eines Irren oder gar Nachrichten eines Verschollenen, der im Grunde ich selbst bin? Ziemlich verstört hatte ich mir unverzüglich ein zweites Notizbuch zugelegt, in das ich eiligst jene flüchtigen Botschaften notierte, die mein erstes Notizbuch aufleuchten und flugs wieder verschwinden ließ.

War es Kränkung vielleicht, vielleicht Eifersucht, die mein erstes Notizbuch vorgestern dazu bewog, in einem Akt der Selbstentzündung erst sich selbst, dann meine ganze Bibliothek und endlich die Wohnung in Brand zu setzen und mich in die Obdachlosigkeit zu treiben?

Mit meinem zweiten Notizbuch, das ich immer bei mir trage, gehe ich zur Stunde deshalb hochgradig sorgsamer um. Hier auf der Klappcouch bei Freunden lese ich darin noch einmal, was ich kürzlich sorgsam übertrug. Und hoffe, dass sich das neue Notizbuch nicht auch grämt, post-traumatisch, weil es so gar keine Einträge vorweisen kann, die allein für es selbst bestimmt sind – von mir für es. Vielleicht sollte ich noch viel vorsichtiger sein, unverzüglich beginnen, alle kopierten Botschaften auszuradieren, die Haut des Papiers sanft aufzurauen, bis Notiz um Notiz verwischte und unsichtbar würde. Notizen wie diese hier:

Nulla dies sine linea?
___________________________________________
___________________________________________
(Heute gleich zwei. Geht doch.)


Textbaustein für eine Kürzestkritik

XXX:
Schon wieder ein Buch,
das nicht hätte erscheinen dürfen.


Vokalübung mit I:
Richtig, nicht wichtig: In mir ist ICH nicht in Sicht!


Hundeleben
Mit dem alten Hund Gassi gegangen.
Es dauert jetzt immer länger,
bis er endlich scheißt – zu harten Kot, zu weichen Kot.
Ich stehe dabei, verharre, schaue zu,
wie er in der Hocke kauert,
und lerne,
dass ein jegliches seine Zeit hat
und alles Vorhaben unter dem Himmel seine Stunde.


Anagrammatik

Um nach all dem Streben das Sterben zu üben, das weiß jeder,
muss man nichts weiter lernen, als nur zwei Buchstaben zu vertauschen.


Schienen
-/Sprachsuizid
Statistisch gesehen scheint es möglich,
dass jeder Schienenfahrzeugführer
in Deutschland
einmal in seinem Berufsleben
einen Selbstmörder oder Gleisgänger überfährt.
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch,
denn angesichts der hohen Rate
an gescheiterten Versuchen
gilt der Schienensuizid als ziemlich unsicher.
„Die Überlebenden leben häufig
mit abgetrennten Gliedmaßen weiter“,
schreibt Wikipedia.
Und ich hatte schon befürchtet, sie müssten
ohne
die abgetrennten Gliedmaße weiterleben.


Vielen Dank für Ihr Verständnis
Hinweisschild vor dem Eingang der Intensivstation:
Beschwerden bitte in den Koma-Kasten!




Vor jeder Haustür ein Paket mit Erinnerungen – auf Kurzbesuch in der alten Heimat Dortmund

Auch mit Erinnerungen verbunden: Impression der von Hilde Hoffmann-Schulte gestalteten Glasfenster einer Dortmunder Kirche. (Foto: © Marlies Blauth)

Unsere Gastautorin, die Künstlerin und Lyrikerin Marlies Blauth, die seit vielen Jahren bei Düsseldorf lebt, über einen Besuch in ihrer Heimatstadt Dortmund:

Mein Steuerberater wundert sich, lächelt, weil ich immer – also einmal im Jahr – mit dem Bus komme. Er hat nämlich sein Büro ganz in der Nähe meines Elternhauses (in dem längst jemand Anderes wohnt), also knapp 100 Kilometer von meinem aktuellen Wohnort entfernt. Ziemlich aufwändig, das alles.

Diese Fahrt „nach Hause“ genieße ich aber jedesmal, zelebriere sie fast.

Die Sonne scheint auf das Dach des Hauses, in dem meine erste riesengroße Liebe wohnte. Ich winke, in Gedanken oder vielleicht auch ein kleines bisschen wirklich. Dann, an der nächsten Haltestelle: Aussteigen.

Ein knapper Kilometer Fußweg, ich nehme meine Kamera aus dem Rucksack und entdecke immer wieder neue Perspektiven, die meine Erinnerungen nochmal extra aufwecken: Mir wird wieder gegenwärtig, wie wir als Kinder auf Bäume kletterten, Verstecken spielten, ich zum Muttertag mal einen peinlichen krautigen Strauß pflückte (der auch nicht liebevoll gemeint war …); wie ich später dann mit einer Schulfreundin hier spazieren ging und wir uns den ganzen Nachmittag auf Latein unterhalten haben. Oder zu den Partyzeiten: Hier kamen wir morgens um fünf Uhr an, nach einem Fußmarsch von über drei Stunden. Nachts sind alle Katzen grau, aber die Stimmung ist eine besondere. Damals habe ich die erste und einzige Fledermaus in freier Wildbahn gesehen.

Und wir haben diskutiert: für oder gegen die Atomkraft, was ist mit der DDR, muss unser Staat sozial(istisch)er werden, geht es nicht überhaupt viel zu ungerecht zu. Ich komme an meiner Konfirmationskirche vorbei, in der ich fürchterlich öde Stunden verbracht habe, die mir wenig später aber eine der schönsten Zeiten meines Lebens ermöglicht hat – durch eine wunderbare, neu gegründete Jugendgruppe. Ganz in der Nähe rauchte ich meine erste (und einzige, halbe) Zigarette: Ich fand sie sehr lecker, sie ist mir sogar gut bekommen. Noch heute bin ich meiner 14-jährigen Altklugheit sehr dankbar: Warum Geld ausgeben, wenn die Eltern doch alles andere Schmackhafte zahlen? Und so blieb ich zeitlebens Nichtraucherin.

Hier wohnte der Klassenkamerad, der bestimmt ADHS hatte; damals noch ganz selten, niemand wusste darüber Bescheid. Dort war ein Mädchen zu Hause, mit dem ich gern befreundet gewesen wäre, das mich aber jahrelang gemobbt hat. Ich glaube, das wurde kräftig unterstützt durch die Eltern – deren Wunschfreunde für ihr Kind was hermachen sollten. Für mich waren es schwere Jahre, aber auch lehrreiche.

Überall in der alten Heimat, vor jeder Haustür, an jedem Weg, Baum und Strauch, sehe ich Pakete mit Geschichten liegen, die man nur öffnen muss. Und das mache ich, wie gesagt, einmal im Jahr – und so gern! Von manchem bin ich immer wieder überwältigt, bei anderem konstatiere ich froh, es ein für allemal abgehakt zu haben. So, wie es wohl allen Menschen geht.

Diesmal beherrscht und verändert Corona sogar meinen alljährlichen Ausflug. Nicht nur, dass er deutlich später stattfinden musste als gewohnt; mein Steuerberater arbeitet nun im Homeoffice, ganz woanders also, so dass mein Wandeln durchs Revier meiner Kinder- und Jugendzeit diesmal flachfällt. Die andere Adresse – wieder mit dem Bus, wieder Lächeln – liegt an einer Straße, wo ich vielleicht zweimal im Leben war.

Aber auch hier liegen Erinnerungsgeschichten.
Ganz in der Nähe wohnte eine meiner Nachhilfeschülerinnen (ich hatte nur einen männlichen Schüler, der war erwachsen und lernte Deutsch als Fremdsprache): Sowohl die wunderbare Zusammenarbeit als auch der sich einstellende Erfolg (Note 2) mag meine Entscheidung angeschubst haben, Lehrerin werden zu wollen: Es machte mir Spaß, Lernstoff so aufzubereiten, dass „man“ ihn kapiert. Und wenn das dann der Fall war, freute ich mich wie eine Schneekönigin. Zwar habe ich letztlich doch nie an einer Schule gearbeitet (sieht man von ein paar kleineren temporären Projekten ab), immerhin aber war ich 21 Jahre lang Lehrbeauftragte an einer Hochschule.

Und dann sehe ich plötzlich die Kirche an meinem Weg! Deren Glasfenster sind von Hilde Hoffmann-Schulte (1937 – 2014) gestaltet, einer Dortmunder Künstlerin. Ich war noch ganz jung, und sie kaufte damals ein Bild von mir. Soooo stolz war ich … und überredete meine Mutter, mit mir jene Kirche anzusehen, weil ich wissen wollte, wie meine Bilderkäuferin arbeitete. Meine Mutter mochte eigentlich keine Kirchenbesichtigungen, aber der längere Spaziergang mit mir reizte sie wohl doch. Und ich fand es klasse, eine Künstlerin zu kennen, deren Entwürfe so einige Kirchen und andere Gebäude mitprägten.

Natürlich komme ich diesmal nicht hinein in den Kirchenraum. Auch wenn sich manche Öffnungszeiten gebessert haben, so macht spätestens Corona wieder einen Strich durch diese Rechnung. Ich kann nur – mit und ohne Kamera – ein bisschen durch die Buntglasstücke „spieksen“, wobei meine Fotos der Künstlerin natürlich nicht gerecht werden (können). Oder vielleicht doch, ein bisschen jedenfalls – indem wir uns künstlerisch für einen Moment verbinden?

Damals war noch nicht abzusehen, dass auch ich Kirchenräume mitgestalten würde, mit meiner Kunst und von mir kuratierten Wechselausstellungen. So schließen sich Kreise.

Und ich danke jedem, der meiner Biografie ein Mosaiksteinchen zugefügt hat. Viele davon durfte ich in „meiner“ Stadt Dortmund aufsammeln. Meine Kurzbesuche frischen das auf, und ich bin glücklich, alles für einen Moment aufleben zu lassen.

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Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin. Der Text ist zuerst im eigenen Blog von Marlies Blauth erschienen, in dem auch einige Beispiele ihrer künstlerischen Arbeit zu sehen sind:

kunst-marlies-blauth.blogspot.com
© Marlies Blauth, 2020




Schonungsloser Blick auf Missstände seiner Zeit: Vor 150 Jahren starb der englische Schriftsteller Charles Dickens

Zeitgenössische Illustration zu Charles Dickens‘ Roman „Oliver Twist“ – von George Cruikshank (1792-1878): Oliver Twist wird bei einem Einbruch verletzt. (Wikimedia public domain /gemeinfrei – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Oliver_Twist_-_Cruikshank_-_The_Burgulary.jpg)

Sein Blick war unbestechlich und schonungslos: Der englische Schriftsteller Charles Dickens hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, ein ausgestoßenes, misshandeltes Kind zu sein. Die trüben Erfahrungen im gnadenlosen Kapitalismus des viktorianischen England ließ er in seine Romane einfließen.

Keine erbauliche Lektüre also, was er in Welterfolgen wie „Oliver Twist“ oder „David Copperfield“ festgehalten hat. Am 9. Juni 1870, vor 150 Jahren, ist der scharfsichtige und mit manchmal grotesker Ironie gesegnete Autor auf seinem Landsitz Gads Hill in Higham bei Rochester in England an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben.

Charles Dickens gehörte weder der englischen High Society an noch hatte er eine universitäre Erziehung genossen. Mit sieben Geschwistern wuchs er im Haushalt eines nahezu mittellosen Schreibers im Dienste der englischen Marine auf. Als Charles 12 Jahre alt war, ließen Gläubiger den Vater 1824 ins Schuldgefängnis stecken, weil er die hohen Lebenshaltungskosten in der expandierenden Großstadt London nicht mehr aufbringen konnte. Mit Kinderarbeit musste der Junge den Lebensunterhalt für die verarmte Familie verdienen. Er schuftete in einer Lagerhalle und einer Fabrik.

Zwei Jahre konnte er zur Schule gehen, nachdem sein Vater freigekommen war. Bildung erwarb sich der anfangs kränkliche, wissbegierige Junge durch einige Bücher aus seines Vaters Besitz und durch Besuche im British Museum. Als Schreiber bei einem Rechtsanwalt konnte er Menschen studieren: grausame, selbstsüchtige Typen, gütige und mildtätige Charaktere. Sie flossen in seine späteren Werke ein. In den „Sketches by Boz“ (sein Pseudonym), für verschiedene Londoner Blätter geschrieben, hielt er Stimmungen, Charaktere und soziale Verhältnisse der Metropole fest. Der 24-jährige weckte erste literarische Aufmerksamkeit, als er sie 1836 als Buch veröffentlichte: „Londoner Skizzen“ ist der deutsche Titel.

Bekehrter Geiz: „Eine Weihnachtsgeschichte“

Eine Geschichte, die auch durch mehr als 30 Verfilmungen bekannt geworden ist, erschien 1843: „A Christmas Carol“ („Eine Weihnachtsgeschichte“) verbindet die Kritik an den sozialen Missständen in der Industrialisierung in England mit der Schilderung eines kaltherzigen Eigenbrötlers. Ebenezer Scrooge kennt weder Mitleid noch Einfühlungsvermögen, hält die Feier des Weihnachtsfestes für Humbug und Spenden für Arme für überflüssig. Vom Kampf seines kärglich bezahlen Angestellten Bob Cratchit um den Unterhalt seiner Familie und die Gesundheit seines behinderten Kindes Tim nimmt er keine Notiz.

Dickens bricht den Realismus der Erzählung auf: Der Geist von Scrooges verstorbenem Teilhaber erscheint in der Christnacht, warnt den Geizhals vor den Folgen seiner Geldgier und kündigt drei Geister der Weihnacht an. Sie zeigen Scrooge schonungslos die Folgen seines Handelns – für die Familie von Cratchit, für sich selbst und für sein Schicksal nach dem Tod. So wandelt sich Scrooge zu einem Menschen, der erkennt, dass auch er selbst durch Freundlichkeit und Großzügigkeit ein besseres Leben führen würde. Die Weihnachtsgeschichte wurde u.a. 1983 als Zeichentrickfilm mit Disney-Figuren wie Onkel Dagobert als Scrooge und Mickey Mouse als Cratchit produziert; neun Jahre später entstand eine Version mit  Charakteren aus der „Muppets Show“ als Hauptdarsteller.

Kinderarbeit und Elend: „Oliver Twist“

Zu den bedeutsamsten Romanen des gesamten 19. Jahrhunderts wird „Oliver Twist“ gezählt. Der überwältigende Erfolg erschien 1837 bis 1839 in Fortsetzungen in einer Zeitschrift, wurde aber auch kritisiert – etwa wegen der idealisierten Charakterdarstellung seines Helden, wegen der unverblümt grausamen Schilderungen der sozialen Realität oder eines gewissen Zugs zum Melodramatischen.

In „Oliver Twist“ flossen die eigenen Erfahrungen ein, die Dickens mit Kinderarbeit, Elend, menschlicher Niedertracht und grausamem Verbrechen gemacht hatte. Der Waisenjunge, der aus dem Armenhaus flieht, gerät in die Fänge eines skrupellosen Gauners, der ihn zum Kriminellen ausbildet, lernt Mord und Misshandlung kennen, taucht tief in die menschlichen Abgründe ein, die sich bei den Ausgestoßenen, den Elenden, den Hoffnungslosen auftun. Aber Oliver erfährt auch Fürsorge und Liebe und lebt zuletzt dank einer Kette glücklicher Fügungen in geordneten Verhältnissen. Der soziale Realismus der Schilderungen hat damals in ganz Europa Aufsehen erregt und gab in England den Anstoß zu sozialpolitischen Reformen.

Vom Handlanger zum Schriftsteller: „David Copperfield“

Erfahrungen aus seinem Leben spiegelt auch Dickens‘ Roman „David Copperfield“, der ab 1849 entstand – ein Buch über die Entwicklung eines gedemütigten und misshandelten Kindes zu einem erfolgreichen Schriftsteller. Das Werk mit stark autobiographischen Bezügen wird unter die wichtigsten englischsprachigen Romane des 19. Jahrhunderts gezählt. Dickens selbst bezeichnete ihn als seinen „Lieblingsroman“. Auch der unmittelbar nach „Oliver Twist“ 1839 erschienene Roman „Nicholas Nickleby“ ist ein kritischer Gesellschaftsroman, der Dickens unter dem Pseudonym „Boz“ vor allem in Deutschland populär gemacht hat.

Seinen literarischen Ruhm begründete der zunächst als Parlaments-Stenograph, später als Journalist arbeitende Charles Dickens 1836/37 mit den humorvollen „Pickwick Papers“, zu Deutsch „Die Pickwickier“, erschienen ursprünglich als Zeitschriften-Fortsetzungsroman und geschickt an Interessen und Reaktionen der Leser angepasst. Seit 1842 begab sich Dickens immer wieder auf Reisen, zunächst in den USA, dann in England, bei denen er aus seinen Werken vorlas. Bei seinem Tod hinterließ er ein beträchtliches Vermögen, mehr noch aber einen literarischen Ruhm, der bis in die Gegenwart nicht verblasst ist.




„Denken ohne Geländer“ – ertragreiche Berliner Ausstellung über die Philosophin Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert

Die große Denkerin, lesend und rauchend: Hannah Arendt in der Wesleyan University, 1961/62, Middletown, Connecticut. (© Middletown, Connecticut, Wesleyan University Library, Special Collections & Archives)

Es ist ein Höhepunkte der Medienkultur der frühen Bundesrepublik und ein Meilenstein des kritischen Denkens. Bisher hatte sich der legendäre politische Journalist Günter Gaus in seiner ZDF-Gesprächsreihe „Zur Person“ nur politisch mächtige Männer zum Diskurs eingeladen – Ludwig Erhard, Franz Josef Strauß, Willy Brandt. Jetzt, am 28. Oktober 1964, sitzt ihm die einst von den Nazis aus Deutschland vertriebene Philosophin Hannah Arendt gegenüber, die nach ihrer Flucht über Frankreich in die USA gekommen ist und dort eine neue Heimat gefunden hat.

Sie hat ein epochales Werk über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ verfasst, die ideologischen Verirrungen und politischen Verwerfungen von Nationalsozialismus und Stalinismus gnadenlos analysiert, sich bei Linken und Rechten unbeliebt gemacht. Sie besteht darauf, dass es wichtig ist, komplizierte Sachverhalte nicht nur zu beschreiben und zu erklären, sondern – im Sinne von Immanuel Kant – kritisch zu beurteilen. Auch auf die Gefahr hin, falsch zu liegen und später alles noch einmal neu überdenken und neu  beurteilen zu müssen. Hannah Arendt nennt das: „Denken ohne Geländer“. Und genau das macht sie jetzt in dieser Sternstunde des Fernsehens.

Nicht Dämonen haben gemordet

Während Hannah Arendt, zeitlos elegant gekleidet, genüsslich an ihrer Zigarette zieht und druckreif redet, wird Günter Gaus immer schweigsamer, begnügt sich mit der Rolle des beharrlichen Nachfragers. Seitdem Hannah Arendt als Reporterin der Zeitschrift „The New Yorker“ den Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator des Massenmordes an den europäischen Juden, beobachtet und das Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ verfasst hat, sieht sie sich Anfeindungen ausgesetzt: Sie habe das Verhalten der jüdischen Funktionäre bei der Organisation der „Endlösung“ falsch dargestellt und die monströsen Verbrechen der Nazis verharmlost. Dabei, und darauf beharrt sie im Gespräch mit Gaus, geht es ihr um das genaue Gegenteil. Gerade in der Banalität eines Mannes, der vom normalen Kleinbürger zum willigen Vollstrecker wird, liegt für Arendt das eigentlich Erschreckende und Verstörende. Wer sich die Nazis nur als entartete Monster vorstellt, wird nie die Frage nach der eigenen Schuld stellen und in der Lage sein, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Nicht Dämonen haben gemordet, sondern Menschen. Was geschah, kann wieder geschehen.

Wir sollen Stellung beziehen

Die verstörenden Auskünfte und umstrittenen Erkenntnisse der Philosophin laufen im digitalen Zeitalter nicht nur als Video bei YouTube und werden millionenfach abgerufen. Sie können jetzt auch, auf Bildschirmen und in Hör-Stationen, im Deutschen Historischen Museum Berlin begutachtet, diskutiert und beurteilt werden. Denn die Ausstellung über „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ will nicht Leben und Werk der geistreichen Denkerin einfach nur nacherzählen, sondern den Besucher ermuntern, Stellung zu beziehen, sich ein Urteil zu bilden.

Hannah Arendt an der University of Chicago, 1966. (© Art Resource, New York, Hannah Arendt Bluecher Literary Trust)

Präsentiert werden hunderte Objekte, Bücher, Manuskripte, Notizen, Fotos, die immer aufs Neue bezeugen, dass Hannah Arendt sich als permanente Grenzgängerin verstand, die keine Angst hatte, im Widerspruch zur herrschenden Meinung zu stehen. Sie vertrat nie eine Denkschule und war nie Parteigängerin einer Ideologie. Wenn sie mit ihren Definitionen von „totaler Herrschaft“ und der „Banalität des Bösen“ aneckte, war ihr das gerade recht. Wenn sie, als verfolgte Jüdin, sich kritisch mit dem Zionismus auseinandersetzte, hatte das Gewicht.

Rassismus, Studentenbewegung, Feminismus

Mit zahllosen Dokumenten werden die von ihr angezettelten Kontroversen dokumentiert. Natürlich auch ihre kritischen Kommentare zum alltäglichen Rassismus in den USA, dem Land, das sie liebte und dessen Demokratie sie schätzte. Ihre Sicht auf die Studentenbewegung wird erläutert und gezeigt, dass sie die französischen 68er wegen ihrer anarchischen Radikalität schätzte, die deutschen Rebellen aber als viel zu dogmatisch empfand.

Mit dem Feminismus, auch das sieht man in der Ausstellung, konnte die Philosophin nie viel anfangen. Dass sie beharrlich für ihre Rechte kämpfen konnte, belegen die Dokumente, mit denen sie im Wiedergutmachungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht den Anspruch auf eine entgangenen Beamtenpension geltend machte und die so genannte „Lex Arendt“ erstritt: Aufgrund ihrer Flucht aus Deutschland hatte Arendt ihre Studie über Rahel Varnhagen nicht mehr mit einem Habilitationsverfahren abschließen können. Das Gericht entschied 1966, die Studie nachträglich als Habilitation anzuerkennen.

Heidegger und andere Freundschaften

Auch das Private kommt, ohne voyeuristisch zu wirken, zum Vorschein. Nicht unerwähnt bleibt, dass sie (als junge Studentin) die Geliebte ihres Professors, Martin Heidegger, war, sich zwar von seiner späteren Nazi-Sympathie distanzierte, mit ihm aber auch nach dem Krieg noch korrespondierte und ihn wieder sah. Hannah Arendt hatte, wie Hans Jonas einmal sagte, eine „Genie für Freundschaften“ und lud alte Weggefährten und Bekannte immer wieder zu sich ein, wenn sie den Sommer in Tegna (Schweiz) verbrachte. Bei einem Besuch einer Freundin in Münchner kaufte sie sich 1961 eine kleine „Minox“, die als „Spionage-Kamera“ bekannt war, trug sie immer bei sich und fotografierte fortan damit bei jeder Gelegenheit Freunde, Kollegen, Bekannte. Viele dieser privaten Fotos sind jetzt im Museum zu sehen. Genauso wie einige ihrer Utensilien, ohne die sie selten aus dem Haus ging. Aktentasche, Pelzcape, Zigarettenetui, auch die goldene Brosche mit Brillanten und Perlmutt (die sie auch beim TV-Interview mit Gaus trug).

Ohne Hannah Arendt sei das 20. Jahrhundert eigentlich gar nicht zu verstehen, hat der Schriftsteller Amos Elon einmal gesagt. Wem das aber alles zu viel und zu verwirrend ist, dem sei der zur Ausstellung erschienene Begleitband empfohlen. Er versammelt 19 Essays und ordnet Leben und Werk von Hannah Arendt im historischen und politischen Kontext. Eine intellektuelle Fundgrube, bestückt mit einigen Dokumenten und Fotos, die auch im Museum auftauchen. Ein Buch zum Lesen und Denken, ganz ohne Geländer.

Deutsches Historisches Museum, Hinter dem Gießhaus 3, Pei-Bau, 10117 Berlin. Bis 18. Oktober, Fr – Mi 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr.

Besuch nur mit Voranmeldung online unter www.dhm.de Es gelten die üblichen Abstands- und Hygieneregeln. Das Tragen einer Mund-Nase-Maske ist Pflicht.

Begleitband: „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ (Hrsg.  Doris Blume, Monika Boll, Raphael Gross), Piper Verlag, 288 S., 20 Euro.




Trübe Lauge: Donna Leons Kriminalroman „Geheime Quellen“

Immer sehnt sich der Mensch nach dem, was er nicht hat – oder in Zeiten von Corona nicht darf. Wäre es nicht herrlich, jetzt nach Venedig zu reisen, durch die leer gefegten Gassen zu flanieren, die von Trubel und Tourismus befreite Lagunenstadt genießen zu können? Mit dem Boot hinüberzusetzen auf den Lido und dort, unbehelligt von Ramschverkäufern und Strandanimateuren, zu spazieren oder eine erfrischendes Bad zu nehmen. Das würde bestimmt auch Donna Leon gefallen.

Wie sehr die amerikanische Autorin darunter leidet, dass ihre Wahlheimat durch den Massentourismus ausgelaugt und durch die pausenlos anlandenden Kreuzfahrtschiffe zerstört wird, hat sie immer wieder in ihren Romanen beschworen. Manchmal schien es so, als sei ihr Commissario Brunetti seiner von Sandalen-Touristen und Nippes-Läden verunzierten Stadt überdrüssig und er stehe kurz davor, seine Mord-Ermittlung und Mafia-Bekämpfung hinzuschmeißen und sich in irgendein abgelegenes Tal der Alpen zur Ruhe setzen zu wollen.

Doch Brunetti muss durchhalten und immer weitermachen. Statt seiner hat sich Donna Leon, die Erfinderin des kulturbeflissenen und melancholischen Kommissars, in die Schweizer Berge zurückgezogen und kommt nur noch gelegentlich nach Venedig. Wozu auch? Sie kennt sowieso jede alte Kirche, jeden bröckelnden Palast und jedes sich dort mal offen, mal versteckt abspielende Drama.

Der 29. Fall für Commissario Brunetti

In seinem nunmehr neunundzwanzigsten Fall muss Brunetti „Geheime Quellen“ suchen und herausbekommen, ob es bei der Wasserversorgung von Venetien mit rechten Dingen zugeht. Oder ob dunkle Mächte das klare Nass in trübe Lauge verwandeln und dabei auch noch ordentlich abkassieren. Es geht um Umweltsünden und Korruption, nackte Geldgier und fiese Gewalt. Aber auch um einsames Sterben und verletzliche Seelen. Doch bis Brunetti erkennt, wie gefährlich das Wasser ist, das er täglich trinkt, und welche Profite man damit erzielen kann, indem man es entweder reinigt oder verschmutzt, fließt einige eklige Brühe durch den Canal Grande.  

Es ist Sommer, die Hitze ist kaum zu ertragen. Der Anzug klebt Brunetti durchgeschwitzt am Körper. Doch während man früher zu jedem Espresso ein kostenloses Glas Wasser bekam, muss man jetzt dafür mindestens einen Euro blechen. Aber der Luxus-Ärger ist schnell verflogen, als Brunetti mit wirklichem menschlichen Elend konfrontiert wird. Eine von tödlichem Krebs zerfressene Frau von gerade einmal Anfang 40 lässt ihn zu sich ins Hospiz rufen. Bevor sie in seinen Armen stirbt, kommen noch ein paar kryptische Worte aus ihrem Mund. Ihr Mann, Vittorio Fadalto, der vor einigen Wochen (laut Polizei) bei einem Motorradunfall ums Leben kam, sei in Wahrheit ermordet worden. Außerdem habe er, um ihre teure Behandlung zu finanzieren, „schlechtes Geld“ genommen.

Gefährliche Wasserverschmutzung

Als Brunetti zu ermitteln beginnt, stößt er auf Ungereimtheiten, Widersprüche, Lügen und eine Mauer des Schweigens. Fadalto hat für ein Unternehmen gearbeitet, das die Reinheit des Trinkwassers untersucht, an Brunnen und Flüssen in Venetien sensible Messinstrumente installiert hat und jede Abweichung und Verunreinigung sofort erfasst. Aus den Unterlagen und Analysen der Firma, die Brunetti und seinen Mitarbeiter vorliegen, ist aber nicht ersichtlich, wie Fadalto Manipulationen vorgenommen und wofür er Geld kassiert haben könnte. Oder geht es vielleicht gar nicht um Wasserverschmutzung und Bestechung, sondern um blinde Eifersucht und verschmähte Liebe? Das Gefühlsleben der Mitarbeiter im Unternehmen gleicht jedenfalls einem stickigen, morbiden Dschungel. Musste Fadalto sterben, nicht weil er zu viel wusste oder zu gierig war, sondern weil er zu wenig Empathie für seine Untergebenen hatte und die Avancen einer liebeshungrigen Kollegin nicht erwidern mochte?

Als wäre all das nicht schon kompliziert genug, muss Brunetti sich auch noch mit einem nervigen Anliegen seines Vorgesetzten herumschlagen. Vice Questore Patta will Venedig besenrein machen und von allen Taschendieben befreien. Wenigstens für ein paar Tage, damit ein Zeitungsartikel ins Leere läuft, der sich mit dem kleinkriminellen Treiben von Roma-Banden beschäftigt und die Polizei von Venedig in ein schlechtes Licht rückt. Brunetti braucht wieder einmal viel Geduld und Fingerspitzengefühl sowie einige Vertraute, die zum einen Patta beruhigen und ihm in der Roma-Angelegenheit Sand in die Augen streuen, zum andern Brunetti dabei behilflich sind, das komplexe Geflecht aus kriminellen Fäden, emotionalen Verwicklungen und menschlichen Schicksalsschlägen in der Fadalto-Affäre zu entwirren.

Wenn Brunetti müde und verschwitzt nach Hause kommt, wartet nicht nur eine kalte Dusche auf ihn, sondern auch die Lektüre seiner geliebten griechischen Klassiker. Natürlich hilft ihm auch gern Paola, seine geduldige und kluge Gattin, mit einem Gläschen Wein den Sommer-Blues zu überwinden und den Fall aufzudröseln. Hoffentlich schickt Donna Leon ihren Commissario nicht so bald in Rente. Wir würden ihn und seine misanthropischen Gedanken vermissen. Und wann, bitte, dürfen wir wieder nach Venedig?

Donna Leon: „Geheime Quellen.“ Commissario Brunetti neunundzwanzigster Fall. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, 336 S., 24 Euro.




A short introduction to the current Haushaltsgeräte-Verhöker-Slang

Früher hieß das mal „Weiße Ware“. Und heute? Keine Ahnung. (Foto: Bernd Berke)

Soso, Sie wollen sich also eine neue Waschmaschine, einen Trockner oder Kühlschrank anschaffen und haben nicht einmal Anglistik studiert? Das dürfte aber Probleme geben.

Denn dann verstehen Sie auch die neueste, zwölfseitige MediaMarkt-Werbebeilage nur völlig unzureichend, die einem heute u. a. aus diversen Funke-Printmedien entgegensegelt. Zwar haben Sie schon von Side By Side-Kühlschränken gehört oder besitzen gar einen, auch ist Ihnen sicherlich Crushed Ice ein Begriff, doch Sie wissen wahrscheinlich nicht so recht, was es mit dem Multiairflow-System und dem EcoSilenceDrive (™ von Bosch) auf sich hat. Tja.

Bevor Sie auch nur einen Stecker einstöpseln oder die neue Apparatur sogar fürwitzig in Gang setzen wollen, sollten Sie sich im Grundkurs erst einmal tunlichst hiermit vertraut machen: Steam Refresh, Home Connect, Baby Protect, WiFi Smart Control, AllergoWash, TwinDos, Easy Slide Ablage, Twin Cooling, SmartSeal, CroosWave Cordless und Self Cleaning Condenser (Trademark von Bosch). Bitte wiederholen. Alle zusammen!

In diesem Zusammenhang durchaus verwunderlich: Dass man vergessene Wäschestücke nachträglich flugs in die Maschine werfen kann, wird in (allerdings etwas dürftigem) Deutsch als „Nachlegefunktion“ bezeichnet, bei einem anderen Hersteller heißt das (in der weithin üblichen, vermeintlich ungemein schicken Wort-Zusammenziehung) bereits AddLoad. Im beinahe schon rührenden Restdeutsch kündet man uns hingegen nach alter Väter Sitte von Knitterschutz. Ja, da kommen einem fast die Tränen. Dass wir das noch erleben dürfen!

Doch weiter, weiter! Die Zukunft beim Schopfe packen! Wenn Sie den entsprechenden Grundkurs absolviert haben, dürfen Sie sich – nach entsprechender Zwischenprüfung – der höheren Schule des Haushaltsgeräte-Verhöker-Slangs zuwenden: Lauschen Sie hierzu dem surrenden Pro Smart Inverter Motor, ergötzen Sie sich an der Pet Hair Removal Funktion (solche gemixten Wortreihen ohne jeglichen Bindestrich gelten ebenfalls als supersmart). Sodann widmen Sie sich bitte mit gebührendem Staunen dem Active Fresh Blue Light, bevor wir mit InstaView Door-in-Door (™ von LG) einen Achttausender-Gipfel der Sprachkreationen erklimmen. Noch besser gefallen hat uns im vorliegenden Prospekt eigentlich nur der linguistisch tollkühne Moist Balance Crisper.

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P. S.: Hier soll keineswegs dem penetranten Eindeutschungswahn des (übrigens in Dortmund gegründeten und ansässigen) Vereins Deutsche Sprache das Wort geredet werden. Das ist das andere, politisch durchaus fragwürdige Extrem. Freilich: Die völlig besinnungslose Anglifizierung ist gleichfalls beknackt. Wobei noch zu sagen wäre: An eher harmlose Beispiele, wie sie auch im besagten Werbeauftritt vorkommen (AutoDry, AutoClean, Wolle finish, Stay Clean-Schublade, EcoSpeed, ActiveEco, QuickDrive, IQdrive, Sportswear, Everfresh, MultiZone, BioCool, CookControl, CoolStart, Special Powerline, WiFiConn@ct und erst recht Touchscreen Display) haben wir uns längst gewöhnt.

P.P.S.: Wir danken den ingenieurtechnisch und anglophon erfindungsreichen Firmen Bosch, Miele, Siemens, Bauknecht, Samsung, LG, beko und Bissell für ihre werblichen Bemühungen. Uns ist bewusst, dass die eine oder andere Fügung als geschütztes Warenzeichen = Trademark (™) daherkommt. In diesem Kontext und in sprachwägender Absicht trauen wir uns, sie zu nennen – in aller Ehrfurcht und Ergriffenheit, versteht sich.




Gartenvernichtung mit Oberhalunkenmaschine

gartenfrevel - die riesige Oberhalunkenmaschine

Thomas Scherl: »Die riesige Oberhalunkenmaschine«, Tusche auf Zeichenpapier, 25x30cm, 2020

Der Nachbar hat ja das Haus verkauft – da, wo mein Atelier war, Ende April war Übergabe (an einen Arzt aus dem Krankenhaus übrigens, die hams ja) und seither sind dort alle möglichen Halunken zugange, die renovieren und was weiß ich.

Wer diese Burschen kennt, weiß, daß 98,7% der aufgewandten Energie in Schall umgesetzt werden, 92,3% in Dreck, 91,7% in Gestank und der Rest in das gewünschte Ergebnis.

Jetzt wütet in dem schönen alten Garten mit den schönen alten Bäumen und den schönen alten Büschen seit dem frühen Morgengrauen ein ruchloser Oberhalunke mit einer riesigen Oberhalunkenmaschine, die gleichzeitig schon tragende Bäume fällt und mundgerecht zerlegt, die Hecke und die blühende Büsche, in denen Vögel brüten, bis unter die Grasnarbe schneidet, den üppigen Rasen bis unter dieselbe mäht, die gute Mutter Erde bis dicht über den Erdkern aufwühlt und die Steine, ja, die Steine, alles gleich shreddert, pulverisiert, atomisiert und die Atome dann unter lautem Schreien der geschundenen Materie in ihre Elementarteile zerreißt, zerfetzt, zerbeißt, verletzt und meine armen Trommelfelle gleich mit und der Fallout der vernichteten Existenz legt sich wie ein Leichentuch über meine Skizzenbücher und mich.

Die Meisen, die Schmetterlinge, die Hummeln und die Bienen, die Katze, der Hund und ich verachten ihn und seine Maschine, deren Erfinder und den neuen Besitzer, der das nicht selber von Hand machen kann wie alle anderen auch, und den Geist, der meint, daß er nur genug Krach machen muß, damit was »Arbeit« ist, mit jeder Faser unserer Körper, Seelen und… tja, was noch?

Ich kann so nicht arbeiten.

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(Text und anderes auch auf scherl.blogspot.com)




Zum Tod des Weltkünstlers Christo: Eine Erinnerung an seine Reichstagsverhüllung – und an ein Projekt in Oberhausen

Der verhüllte Reichstag 1995. (Foto: Bernd Berke)

Der verhüllte Reichstag (1995), eines der spektakulärsten Projekte von Christo und seiner künstlerischen Lebensgefährtin Jeanne-Claude. (Foto: Bernd Berke)

Der aus Bulgarien stammende Weltkünstler Christo ist kurz vor seinem 85. Geburtstag gestorben. In Erinnerung bleibt er vor allem auch als Stifter großer Gemeinschafts-Erlebnisse. Niemand, der 1995 dabei war, wird seine Reichstagsverhüllung in Berlin jemals vergessen. Meine damaligen Eindrücke, soweit sie (seinerzeit in alter Rechtschreibung) in der Zeitung gestanden haben:

Von Bernd Berke

Dortmund/Berlin. „Tschuldigen Sie, ist das der Sonderzug zu Christo?“ Frei nach Udo Lindenberg hätte man’s trällern können. Denn die Bahn schuf am Wochenende zusätzliche Kapazitäten zwischen Ruhrgebiet und Reichstag. Auf zur Verhüllung also, ab Dortmund in aller Frühe – am Samstag um 5.58 Uhr.

Zu Beginn der Fahrt sehen die meisten Leute noch ein bißchen unausgeschlafen aus. Aber zur Frühstückszeit – etwa kurz hinter Bielefeld – gibt sich das, und es macht sich eine leicht aufgekratzte, aber doch wohlgesittete Stimmung breit. Schließlich ist man unter Kunstfreunden.

Das schließt kleine Boshaftigkeiten nicht aus: Ein launig-ironisch aufgelegtes Trüppchen im Großraumabteil zerpflückt genüßlich einen pompösen Feuilleton-Artikel. Sie zeigen weltläufige Kennermiene, reden von gehabten Kunsterlebnissen in New York oder anderswo und haben sich schon am Bahnsteig dementsprechend begrüßt. Doch es sitzen auch „ganz normale“ Menschen im Zug, die sonst nur selten der Kunst nachreisen.

Alle haben ein gemeinsames Ziel

Das Schöne an einem Sonderzug ist, daß alle einem gemeinsamen Ziel zustreben. In diesem Fall haben alle Christo im Sinn. Man kommt also leicht ins Gespräch. Und da zeigt sich, daß Christos Sogkraft über die Maßen geht: Ein Künstler aus Velbert, der – kaum zu glauben – noch nie in Berlin gewesen ist, läßt sich durch die Verhüllungsaktion erstmals in die Hauptstadt locken.

Auch der städtische Beamte aus Gelsenkirchen war noch nie an der Spree. Jetzt zieht’s ihn hin. Nicht mal so sehr wegen der Kunst, sondern wegen des Spektakels an sich. Schließlich hat der Schalke-Fan vor zwei Wochen Borussias rauschende Meisterfeier in Dortmund miterlebt. Jetzt hofft er auf ein ähnliches Massenfieber in Berlin, wo sich am Wochenende wieder rund eine Million Menschen ums Reichstagsgebäude geschart haben. Und die Theater-Angestellte aus Dortmund ist zwar erst vor wenigen Tagen dort gewesen, jedoch: „Ich war so begeistert, daß ich gleich nochmal hin muß.“

...und noch eine Impression vom großen Ereignis. (Foto: Bernd Berke)

…und noch eine Impression vom großen Ereignis. (Foto: Bernd Berke)

Wie auf einer Pilgerreise

Allseits erwartungsfrohe Gesichter, als der Zug gegen Mittag in Berlin eintrifft. Es hat was von einer Pilgerreise. Und als die Wallfahrer aus dem Revier sich nachher im vielsprachigen Menschenstrom am Platz der Republik verlieren, als endlich der verhüllte Reichstag ebenso machtvoll wie feingliedrig am Horizont auftaucht, so ist es beinahe wie eine Erscheinung. Jeder will gleich mal den Verhüllungs-Stoff mit eigenen Händen greifen, alle reihen sich brav in die lange Schlange ein, an deren Ende es kleine Probestückchen des Textils gibt. Auch das ähnelt einer Liturgie.

Nur ist es keine gravitätische, sondern eine fröhlich-friedliche Kunst-„Religion“, der hier gehuldigt wird. Überall treiben Kleinkünstler und Gaukler ihr buntes Wesen. Man kann sich (gegen Entgelt) in Goldfolie einwickeln lassen und oder eine Stehleiter auf der Wiese mieten, damit man beim Fotografieren über die Köpfe hinweg den „Reichstag pur“ aufs Bild bekommt.

Auf dem Grün rundum lagern viele Tausende, als sei’s das legendäre Rockfestival von Woodstock. So gewaltig der Auftrieb auch ist, man sieht keine aggressive oder auch nur mürrische Miene. Kein Zweifel: Christo hat mit seiner physisch vergänglichen, aber unvergeßlichen Aktion ein Stück Utopie heraufbeschworen. Und selbst wenn es keine Kunst wäre, so wäre es doch schönstes Leben.

Besser läßt sich ein Tag kaum nutzen

Wirklich jammerschade, daß der Sonderzug am Abend schon wieder zurück ins Ruhrgebiet fahren muß. Man hätte die gleißende Hülle so gern auch noch im Licht der untergehenden Sonne gesehen. Viele haben sich tagsüber mit Christo-Devotionalien eingedeckt – vom Katalog bis zum T-Shirt („Reichstag – ich war dabei“), vom Poster bis zur Telefonkarte.

Auspacken, herzeigen, schwärmen, Preise vergleichen. Aber das Gewimmel hört bald wie von selbst auf, weil die Leute vor sich hin dösen wollen. Ankunft 1.15 Uhr nachts in Dortmund. Wir waren über 19 Stunden unterwegs. Es herrscht wohlige, zufriedene Erschöpfung. Besser läßt sich ein Tag kaum nutzen.

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Christo mit seiner Gefährtin Jeanne-Claude bei der Verleihung des Ellis Island Heritage Awards im April 2005. (Wikimedia Commons / Foto: Martin Dürrschnabel / Links zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/)

Auch im Ruhrgebiet hat Christo gewirkt. Unvergessen ist seine Großinstallation „The Wall“ (1999) mit 13 000 Ölfässern in Oberhausen. Dazu ebenfalls eine kurze Erinnerung:

Von Bernd Berke

Oberhausen. Dieser Christo schafft es einfach immer wieder: Anfangs, wenn man nur von den Projekten des Verhüllungskünstlers und seiner Gefährtin Jeanne-Claude hört, schüttelt man vielleicht noch den Kopf. Doch das ist bloßer Phantasiemangel. Man muß stets nur eine Weile abwarten. Und jetzt muß man’s nicht mehr: Das Ereignis ist da!

Sobald Christos Ideen verwirklicht sind, ist man überwältigt. So war’s 1995 beim verhüllten Reichstag, so ist es nun im Oberhausener Gasometer, wo Christo 13 000 bunte Ölfässer zur Riesenmauer („The Wall“) geschichtet hat. Christo und seine Gefährtin Jeanne-Claude kehren die üblichen Verhältnisse um: Die bloße Vorstellung klingt prosaisch, die reale Umsetzung erweist sich hingegen als poetisch…

Kein besserer Ort ließe sich für diese Installation finden als just der Gasometer. Sieht man die gigantisch aufgetürmte Ölfässer-Wand vor sich, so wird einem auch die ungeheure Ausdehnung des Industriedenkmals erst so recht bewußt. „The Wall“ füllt die gesamten 68 Meter Durchmesser des Gasometers aus und ragt 26 Meter auf; haushoch zwar, aber in den Dimensionen des 110 Meter hohen Gasometers fast bescheiden. Steht man ganz nah davor, so kann einem freilich ein wenig bange werden. Doch keine Angst: Das Wunderwerk wird von einer massiven Stütz-Konstruktion ehern gehalten.

Niemals an eine Verhüllung gedacht

Obwohl für den Faßanstrich handelsübliche Industriefarben verwendet wurden, ist die Leucht-Wirkung phänomenal, vor allem im Kontrast zum Grau-in-Grau der stählernen Industrie-Kathedrale. Koloriert wurden die Fässer, die später wieder in den Wirtschafts-Kreislauf zurückwandern, nach einem ausgeklügelten System: Rund 45 Prozent der Behälter gleißen hellgelb, 30 Prozent schimmern rötlich, der Rest weist blaue, graue, grasgrüne und weißliche Tönungen auf. Viele, viele bunte Kreise? Nein: Mehr Farbe, als das Auge trinken kann.

Projektleiter Wolfgang Volz, der den dreimonatigen Aufbau des „freundlichen Riesen“ für Christo überwachte, ist mit täglich 15 bis 20 Kräften ausgekommen – eine feine Organisationsleistung. Volz gestern zur WR: „Pannen hat es überhaupt nicht gegeben. Im Gegenteil: Es ging schon fast zu glatt.“

Christo und Jeanne-Claude sonnen sich derweil im Scheinwerferlicht etlicher Fernsehteams und im Blitzlicht zahlloser Pressefotografen. Auf die Frage, ob sie je an eine Verhüllung der Fässer gedacht hätten, reagieren sie allergisch. Ihre letzte Verhüllungs-Idee stamme von 1975. Jeanne-Claude: „Wir sind keine Verhüllungskünstler.“ Christo nickt. Weitere Frage: Ob wir bei „The Wall“ auch an die Berliner Mauer denken sollten? Jeanne-Claude schelmisch: „Es gibt auch eine chinesische Mauer…“

Nun denn. Jetzt nichts wie hin nach Oberhausen: nachzählen, ob es wirklich genau 13 000 Fässer sind.

Christo & Jeanne-Claude: „The Wall“ (und Doku-Ausstellung zu früheren Christo-Projekten). Gasometer Oberhausen (A 42, Abfahrt OB-Zentrum). Bis 3. Oktober, täglich 10-20 Uhr. Eintritt 10 DM, Familienkarte 20 DM. (Infos: 0208/80 37 45).