Liebe, stirb und werde: Die große Chansonette Juliette Gréco (93) lebt nicht mehr / Erinnerung an einen Auftritt in Essen

Allein schon ihre Hände…: Juliette Gréco bei einem Auftritt im Oktober 2006. (Foto: Wikimedia Commons / Victor Diaz Lamich) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/deed.en)

Ein einziges Mal im Leben habe ich sie auf der Bühne sehen dürfen. Es war, wie kaum anders zu erwarten, unvergesslich. Heute ist die legendäre französische Chansonsängerin Juliette Gréco mit 93 Jahren gestorben. Eine kurze Erinnerung an ihren Auftritt in der Essener „Lichtburg“, anno 2001: 

Essen. Manchmal sind ihre Hände wie kleine weiße Vögel. Sie flattern freudig auf oder sinken verzagt nieder; ganz wie die Gefühle zwischen Glück und Elend der Liebe, Glanz und Last der Freiheit. Juliette Gréco, die große Dame des Chansons, steht auf der Bühne der ausverkauften Essener „Lichtburg“. Ganz in Schwarz gekleidet, natürlich.

Seit über zwei Jahrzehnten ist die jetzt 74-Jährige nicht mehr im Ruhrgebiet aufgetreten. Man kann gar nicht umhin, sich die ganze Geschichte vorzustellen, wenn man sie nun hört und erlebt. Existenzialistische Nachkriegs-Nächte in Pariser Kellern wie dem „Tabou“, wo sie 1949 debütierte. Ihre berühmten Freunde wie Sartre, Camus, Cocteau. Diese speziell stilisierte Essenz französischer Lebensart.

Die Gréco sieht noch so aus wie „damals“. Ihre schlanke, von der Zeit nur ganz leicht gebeugte Silhouette, bleiches Gesicht; vom dunklen Haar umrahmt. Und sie wirkt noch wie ehedem. Freiheitsdurst, Hoffnungs-Glut, flüchtige Lüste und Abstürze der Liebe, der vitale Kosmos von Paris – all das ist präsent, wenn sie die klugen Texte von Jacques Brel, Jean-Claude Carrière oder Serge Gainsbourg vorträgt.

„La chanson des vieux amants“ (Das Lied der alten Liebenden) besingt Höhen und Tiefen eines gemeinsamen Lebens – und schließlich das große „Trotzdem“ der dauerhaften Liebe. „Deshabillez-moi“ (Zieh‘ mich aus) ist eine Miniatur zur erotischen Kultur. „Ne me quitte pas“ beschwört die Bestürzung einer Verlassenen. „Un jour d’été“ (ein Sommertag), dieser verwehende Liebestraum. Wenn Juliette Gréco da „Les yeux bleus“ (die blauen Augen) haucht, enthalten die Silben so viele fragile Sehnsüchte.

Bei aller melancholischen Tönung gerät der Auftritt zur Feier aller Schattierungen des wechselvollen Lebens, zur schmerzlichen Bejahung des Auf und Ab. Um André Heller abzuwandeln: Sie will, dass es das alles gibt, was es gibt. Einige Gesten sehen aus, als wolle die Gréco diese Fülle für die Ewigkeit festhalten. In innigen Momenten verkörpert sie jenes „Stirb und Werde“, das Goethe zu rühmen wusste.




Die Schöpfung und ihr Scheitern: Neue Rettungsreime von Fritz Eckenga

„Meine Stadt ist kein Knüller in Reisekatalogen“, heißt eines der wenigen Gedichte, die es bislang über Gelsenkirchen gab. Die 2015 verstorbene Schriftstellerin Ilse Kigbis beschreibt darin in vielen Strophen nicht die Schönheit der Stadt, sondern ihr Fehlen: „Die Berge meiner Stadt / sind Rolltreppen / die zu käuflichen Paradiesen führen“.

Nun gibt es 12 weitere denkwürdige Gedichtzeilen über Gelsenkirchen. Kein Sonett also – aber dieses neue Gedicht trägt immerhin den Titel „Aufschwung“. Inhaltlich schlägt es allerdings in exakt die gleiche Kerbe wie Kigbis‘ Werk: „Neben Spieltreff eins und zwei / eröffnet bald der dritte. /  Leute,  zieht so schnell es geht / nach Gelsenkirchen-Mitte.“

Der da so despektierlich über die Nachbarstadt reimt, ist natürlich Fritz Eckenga. In seinem jüngsten Band schenkt der Dortmunder seiner Leserschaft neue „Rettungsreime“ – fein-(selbst)ironische bis übelst zynische, mitunter aber auch einfach nur lustig-wortverspielte Gedichte, die er häufig aus Notwehr gegen die Zumutungen des Alltags und der Mitmenschen schrieb und mit denen er sich schreibend schadlos hält, aber auch Gedichte, die seine Leserinnen und Leser retten können, zum Beispiel vor schlechter Laune, Langeweile oder allzu großer Selbstzufriedenheit. Der Titel: „Eva, Adam, Frau und Mann – da muss Gott wohl  noch mal ran“.

Fritz Eckenga

Fritz Eckenga (Foto: © Philipp Wente)

Von Bönen bis Ostwestfalen

Fritz Eckenga ist bekannt für die unkonventionelle Wahl seiner Sujets – die Entwicklung der Gelsenkirchener Innenstadt ist ein durchaus typisches Beispiel. Eckenga bedichtet durchaus auch die Liebe, die Natur und die Jahreszeiten – doch am allerliebsten kränkelnde politische Parteien, die Verletzungen von Spitzensportlern oder eben strukturschwache Städte. Neben Gelsenkirchen werden weitere bislang unbedichtete Orte lyrisch geadelt: Bönen, Iserlohn, Oberhausen, Krefeld, Soest und Ostwestfalen. Die Stationen der nächsten Lesereise stehen also fest…

„Reim gar nichts“

Vor allem das Scheitern treibt Eckenga so richtig zur Höchstform, und da nimmt er das eigene nicht aus. „Reim gar nichts. Eine Selbstkritik“, ist der Titel des allerersten Gedichts im neuen Band, das als eine Art Vorwort oder Motto dient. „Woran es dem Werk dieses Autors gebricht, / ist ganz ohne Frage das Großgedicht“, beginnt es, geißelt im Verlauf die Seichtheit und das Fehlen großer Themen im vorliegenden Werk und schließt dann Eckenga-typisch: „Fasse zusammen: Viel Wasser, kein Wein /  und immer mal wieder ein unreimer Rein.“

Gescheitert ist Fritz Eckenga mit seinem neuen Gedichtband nun wahrlich nicht. Beflügelt von Robert Gernhardt, begeistert von F.W. Bernstein, befreundet mit Wiglaf Droste: Fritz Eckenga dichtet längst in der gleichen Liga wie seine Vorbilder. Die genannten drei sind tot, Eckenga lebt – und rettet sich und uns hoffentlich noch recht lange mit seinen gereimten Gedanken. Die Trauer über den Tod seines Freundes Droste hat er ebenfalls in 16 Zeilen gepackt, „Und sowieso das bessere Gedicht“, heißt es. Ein Glück, wenn man, um Worte ringend, seine Traurigkeit wenn auch nicht verarbeiten, dann doch mit ihr arbeiten kann.

Auch schon ein Kapitel zur Corona-Pandemie

Vor allem aber arbeitet er als Satiriker fast tagesaktuell, und so erhalten auch die einsamen, teils freud- und gar teils klopapierlosen Tage der Corona-Pandemie ein eigenes Kapitel im Gedichtband; thematisiert wird u.a. das Sangesverbot im Gottesdienst: „Nimm es bitte nicht so krumm, / die Gemeinde bleibt heut stumm. / Großer Gott, sie loben Dich, / aber mehr so innerlich.“

Die kongenialen Illustrationen im Band stammen von dem Kölner Illustratoren Nikolaus Heidelbach, dem Eckenga am Ende ebenfalls ein Gedicht widmet. Auf dem Cover hat sich Heidelbach vom Titel zu einem Paar menschlicher Unvollkommenheiten inspirieren lassen, das sich wie ertappt zum Betrachter umblickt: Eva mit verschmiertem Lidschatten, platt auf dem Hinterkopf anliegender Frisur und Sonnenbrand neben ihrem Adam, dessen Haare auf dem Kopf großflächig fehlen, sich dafür aber an unerwünschten anderen Körperstellen ausbreiten. Die Krone der Schöpfung – eine Geschichte von der wohl größten Fallhöhe der Geschichte. Ein gefundenes Fressen für Fritz Eckenga.

Fritz Eckenga: „Adam, Eva, Frau und Mann – da muss Gott wohl nochmal ran. Neue Rettungsreime“. Kunstmann, 136 Seiten, 18 Euro.




Minizyklus ohne Mundschutz: Krystian Zimerman spielt in Dortmund die Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven

Krystian Zimerman gibt nicht mehr als 50 Konzerte im Jahr. Er reist fast immer mit seinem eigenen Instrument an und führt auf Tourneen mehrere Klaviaturen mit. (Foto: Bartek-Barczyk)

Als ungebetener Gast hat das Corona-Virus die Feierlichkeiten zu Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag arg durcheinandergebracht. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2020 musste das Bonner Beethovenfest auf das nächste Jahr verschoben werden: Es soll nun vom 20. August bis 10.September 2021 über die Bühne gehen.

Weil ein Großteil der geplanten Veranstaltungen vorerst nicht stattfinden kann, verlängert die eigens gegründete Beethoven Jubiläums GmbH (BTHVN2020) ihr Programm ebenfalls bis September 2021. An Aufführungen des größten Chorwerks des Komponisten, der wuchtigen „Missa solemnis“, ist wegen der nicht ausreichend geklärten Gefahr durch Aerosole kaum zu denken.

Vor der Sommerpause nahezu komplett ins Internet gezwungen, nimmt das öffentliche Konzertleben nun allmählich wieder Fahrt auf: Wenn auch mit angezogener Handbremse. Viele Veranstalter haben ihre Programme gekürzt, bieten 70-minütige Konzerte ohne Pause und ohne gastronomisches Angebot an. Die Säle sind lückenhaft gefüllt, weil die Besucher, die bis zum Konzertbeginn Masken tragen und Hygieneregeln beachten müssen, nur mit entsprechenden Abständen Platz nehmen dürfen. An den Anblick von Dirigenten und Solisten, die das Podium mit Maske betreten und sich per Ellenbogen begrüßen, wird man sich womöglich gewöhnen müssen.

Der Pianist Krystian Zimerman indessen trägt bei seinem jüngsten Auftritt im Konzerthaus Dortmund keinen Mund-Nasen-Schutz. Gemeinsam mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg und dem Dirigenten Gustavo Gimeno zollt er dem Beethovenjahr mit einer Gesamtaufführung der Klavierkonzerte Tribut, verteilt auf drei Termine und verknüpft mit Schlüsselwerken der Zweiten Wiener Schule. Für diese sind jeweils die Streicher des Orchesters zuständig.

Beim Auftakt spielen sie die Fünf Sätze op. 5 von Anton Webern: flüchtige Miniaturen von insgesamt kaum mehr als zwölf Minuten Länge, im Jahr 1909 ursprünglich für Streichquartett komponiert. Die Musiker aus Luxemburg entfalten die fragilen Tonschöpfungen mit viel Fingerspitzengefühl, sind in den schnellen Sätzen aber durchaus fähig zu ruppigen Fortissimo-Ausbrüchen. Trotz der Kürze der Sätze beweisen sie einen ausgeprägten Sinn für deren jeweilige Atmosphäre. Grüblerisch grundiert klingt der zweite Satz, wolkig und diffus der vierte, beide mit der Tempobezeichnung „Sehr langsam“. Der lebhafte dritte Satz endet mit einer nachgerade hektisch auffahrenden Unisono-Floskel. Diffus und dünn, sogar morbide dann der Schluss, in dem die Töne wie kraftlos niedersinken, bevor sie sich ins Nichts verlieren.

Krystian Zimerman tritt zuweilen auch als Dirigent auf. Zu Chopins 150. Todestag gründete er 1999 das Polish Festival Orchestra (Foto: Bartek-Barczyk)

Der weitaus größere Teil des Abends aber gehört Beethovens Klavierkonzerten Nr. 2 (B-Dur) und Nr. 1 (C-Dur), in denen Krystian Zimerman sich als der Grandseigneur am Flügel erweist, als den ihn die Musikwelt kennt und schätzt. Einen Hauch von Exzentrik erlaubt er sich, wenn er im B-Dur-Konzert nachgerade säuselnd einsetzt, wenn er dessen Mozart’schen Figurationen und Verspieltheiten zuweilen mehr Nebel als Prägnanz verleiht. Dabei wirkt die Klangbalance mit dem Orchester nicht immer glücklich. Mancher Lauf im Klavier geht beinahe unter, und manches Tutti trumpft arg mit Lautstärke auf.

Indessen ist Zimerman keiner, der unbedingt brillieren muss. Er kann sich mit der Gelassenheit des Meisters zurücknehmen, mit dem Orchester dialogisieren, im Adagio ein paar hingetupften Tönen edle Ausdruckstiefe und marmorgleiche Schönheit verleihen. Robuster greift er im abschließenden Rondo zu, das dann auch gleich mehr nach Beethoven als nach Mozart klingt. Obschon Zimerman die Moll-Wendungen weit weniger vehement spielt als andere, spricht aus den Vorschlägen sprühende Spielfreude, ebenso wie aus den leuchtenden Trillern im Diskant.

Diese Eindrücke bestätigen sich nach der Pause im C-Dur-Konzert. Vieles klingt kernig, manches aber auch unerklärlich verwaschen. Ein Hauch von Exzentrik fehlt ebenfalls nicht: den Abwärtslauf vor der Reprise spielt Zimerman als Glissando. Hernach blickt er nachdenklich auf seine strapazierten Fingerkuppen. Aber wie er im Adagio kaum mehr Klavier spielt, sondern tönende Gedanken schweifen lässt, wie er auf der friedvollen Klangfläche inwendig singende Schnörkel zieht, ist einfach und groß. Mitreißend im Rondo seine Freude am rhythmischen Drive, am brillanten Furor dieses Finales. Mehrfach lockt ihn das Publikum nach den Schlusstakten durch begeisterten Applaus hervor. Beim letzten Mal hat Zimerman schließlich doch eine Maske in der Hand.

Die Künstler setzen die Gesamtaufführung der Klavierkonzerte am 3. Oktober (Nr. 3) und am 25. Oktober (Nr. 4 und 5) fort. Tickets und Informationen:

https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/287/?saison=202021