Nobelpreisträger und St.-Pauli-Fan: Im Leben des Schriftstellers Günter Grass spielte der Fußball eine nicht eben geringe Rolle

Günter Grass im historischen Zeitungsartikel, Fußballmuseumsdirektor Manuel Neukirchner (rechts), Jörg-Philipp Thomsa vom Lübecker Grass-Haus (links). (Foto: Deutsches Fußballmuseum)

Von Günter Grass weiß Jörg-Philipp Thomsa zu berichten, dass er leidenschaftlich gerne Sportschau guckte. „Da durfte man ihn nicht stören.“ 2006 lernte der Leiter des Lübecker Günter-Grass-Hauses den Nobelpreisträger persönlich kennen und erinnert sich, dass dieser ihn damals zügig in ein Gespräch über Fußball verwickelte.

Bestimmt, glaubt Thomsa, hätte Grass sich sehr über das Gemeinschaftsprojekt von Grass-Haus und Dortmunder Fußballmuseum gefreut, das nun unter dem Titel „Günter Grass: Mein Fußball-Jahrhundert“ Gestalt angenommen hat. Grass, der Fußball-Fan: nicht eben das erste, was einem zum Schöpfer der „Blechtrommel“ einfällt.

„Mein Jahrhundert“

Nun – auch wenn der Titel anderes suggeriert: Ein Buch mit dem Titel „Mein Fußball-Jahrhundert“ hat Grass (1927-2015) nie geschrieben. Doch in dem mächtigen Bild-Text-Band „Mein Jahrhundert“, der 1999 bei Steidl herauskam und jedem Jahr des 20. Jahrhunderts mit einem Text und einer Illustration eine subjektiv-persönliche Würdigung zukommen lässt, finden sich auch etliche Fußballgeschichten, auf die die Dortmunder Ausstellung ausführlich hinweist. 1903 zum Beispiel fand die erste deutsche Meisterschaft in Altona statt, bei der die Leipziger gegen Prag (!) obsiegten. Grass erzählt das recht realistisch aus der Perspektive eines Mitspielers, lässt damals schon ausgesprochen schicke Anglizismen wie „Goal“, „Halftime“ „Score“ einfließen und wagt einen rückblickenden Ausblick auf die starken polnischen Einflüsse im deutschen Fußball, auf die Szepans und Kuzorras der Folgejahre.

Sonderschau, achteckig (Foto: Deutsches Fußballmuseum)

Fritz Walter blieb bescheiden

Ein Fußballjahr ist für Günter Grass natürlich 1954. Mit einem gewissen Augenzwinkern, wie wir vermuten wollen, lässt er es vom „Chef einer Consulting-Firma, die in Luxemburg ihren Sitz hat“, nacherzählen. Neben dem getreulich widergegebenen Geschehen auf dem Rasen widmet sich der (erfundene) Autor der schmerzvollen Erinnerung an seine fruchtlosen Versuche, den Erfolg in klingende Münze zu verwandeln. Ungarns Spielführer Ferenc Puskás setzte sich zwar in den Westen ab und wurde mit der Produktion ungarischer Salamis reich, Fritz Walter aber verschmähte – behauptet jedenfalls die Geschichte – den Halbkoffer mit der Viertelmillion, die ihm Atlético Madrid damals schon, in den Fünfzigern, bot – und eröffnete lieber ein Kino mit Lotto-Toto-Annahmestelle. Schade, schade – aber die Kommerzialisierung des Fußballs hat er nicht verhindern können.

Günter Guillaume jubelt in der Zelle

Noch ’ne Fußballgeschichte? Die spielt 1974 und ist relativ kompliziert. Ihr ungenannt bleibender Held ist der Ostagent Günter Guillaume, der zu dieser Zeit schon einsitzt, dem die Gedanken über seine bizarre Ost-West-Existenz nicht aus dem Kopf gehen und der nun zu allem Überfluss auch noch ein WM-Endspiel zu sehen bekommt, bei dem Deutschland gegen Deutschland spielt. Das ist ein echtes Orientierungsproblem, weil er immer wieder mit Deutschland jubelt, das zu dieser Zeit aber noch aus zweien besteht.

Frauenfußball fand Grass gut

Wandbeschriftungen, Tagebuchauszüge, Bücher, Vitrinenmaterial – Zitate und Literaturhinweise unterschiedlicher Art machen einen nicht geringen Teil der Ausstellung aus, was bei einem Schriftsteller naheliegt. An Videostationen erinnern sich Fußballgrößen an ihre Begegnungen mit Günter Grass. Die relativ wenigen Originalexponate – eine Originaleintrittskarte der ersten Deutschen Meisterschaft, ein Trikot, die Nobelpreisurkunde und so fort – mögen beeindrucken, begeistern aber nicht zwingend. Doch die Gliederung ist gelungen, ermöglicht eine sinnvolle Annäherung an den Künstler und Fußballfreund.

Vier Bereiche befassen sich schwerpunktmäßig mit Frauenfußball, mit Grass als aktivem Spieler, mit der Wiedervereinigung sowie mit der literarischen Produktion. Kopfschüttelnd erfährt man etwa, dass Frauenfußball, den Grass sehr befürwortete, bis 1970 beim DFB rundweg verboten war; die Episode von Wewelsfleths linkem (Gast-) Stürmer Grass, die der stark vergrößerte Artikel einer Lokalzeitung samt Mannschaftsfoto stimmungsvoll aufleben lässt, erzählt auch von jenem eher unsportlichen jungen Mann, der als Kind nicht Fahrrad fahren konnte und der das Fußballspielen als körperliche Befreiung erlebte. Die Wiedervereinigung, gegen die Grass sich 1989/1990 stemmte, bedeutete auch das vorläufige Ende des Spitzenfußballs im Osten, weil die guten Leute vom Westen weggekauft wurden. Man kann darin durchaus jene Kolonialisierung des Ostens erkennen, vor der Grass früh gewarnt hatte.

Das Fußballmuseum in Dortmund (Foto: Deutsches Fußballmuseum, Hannappel)

„Sommermärchen“

Doch über das „Sommermärchen“ 2006 hat er sich gefreut, über einen neuen, anscheinend unbelastet daherkommenden Nationalstolz. Ganz besonders gut übrigens, weiß Thomsa zu berichten, habe ihm ein türkischer Jubelautokonvoi zum Sieg gefallen. Das mag auch daran gelegen haben, dass Grass (auch) kaschubische Vorfahren hatte und deshalb einen Sensus für die Mühen der Integration. Die identitätsstiftende Kraft des Fußballs hebt Dortmunds Fußballmuseumsdirektor Manuel Neukirchner noch einmal ausdrücklich hervor. Mit der fußballerischen Deutschlandbegeisterung habe man den Rechten das (nationalistische) Wasser abgegraben, 2006 und später. Es scheint, dass Grass es ähnlich sah.

Ein Herz für die Kleinen

Die literarische Ecke schließlich versammelt kurze und lange Zitate, Tagebuchauszüge, Pointiertes: „Ungehemmt, als stünde ich in der Nord- oder Südkurve und säße nicht daheim vor der Glotze, ergießt sich nur Hohn, wenn selbst den Bayern ihr Geld nicht hilft und zwar nach Flanke von links, die mit Glück jenen Habenichtsen gelingt, denen schon wieder der Abstieg droht“, hat er notiert. Ja, das Herz des Dichters schlug für die Kleinen, Benachteiligten, wie St. Pauli Hamburg zum Beispiel, für die Grass sich auch in einer Rede einsetzte.

Die Ausstellung – in den Worten von Museumschef Neukirchner ein „gelungener Doppelpass“ der beiden beteiligten Häuser – passt fraglos gut in ein Fußballmuseum. Daneben ist sie auch ein willkommener Anlass, über den Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger zu reden, um den es in letzter Zeit bedauerlich still geworden ist.

  • Bis 19. Januar 2021
  • Deutsches Fußballmuseum, Dortmund, Platz der deutschen Einheit 1 (dem Hauptbahnhof gegenüber)
  • Di-Fr 11-17 Uhr, Sa u. So 10-17 Uhr
  • Eintritt für das ganze Haus 15 EUR
  • www.fussballmuseum.de



10 Jahre Festival NOW! für neue Musik: Aufbruch in andere Klangwelten – jäh durch Corona gebremst

Ab Montag, 2. November 2020, fallen – wegen der aktuellen Corona-Lage –sämtliche Veranstaltungen des Festivals NOW! aus. Der folgende Vorbericht kann leider nur noch den vorherigen Stand der Planungen wiedergeben.

Ausgerechnet in diesem Jahr, in dem die Corona-Pandemie das Reisen so gut wie unmöglich macht, hatte sich das Festival NOW! in Essen vorgenommen, musikalisch „von fremden Ländern und Menschen“ zu erzählen.

Wird beim Festival NOW! in einigen Konzerten gewürdigt: Komponistin Unsuk Chin. Foto: Eric Richmond/ArenaPAL

Hein Mulders, Intendant der Philharmonie mit seiner rechten Hand Marie Babette Nierenz und Folkwang-Professor Günter Steinke planten um, luden Künstler ein, die nicht in ihren fernen Heimatländern festsitzen, aber dennoch Klänge ihrer Herkunfts- oder ihrer Sehnsuchtsländer mitbringen. Das Ergebnis laut Planung: 16 Veranstaltungen zwischen 29. Oktober und 8. November, 22 Uraufführungen und ein Programm, so bunt wie die Farbschnipsel auf dem Cover des Begleithefts. Alles unter der Voraussetzung, dass der Kulturbereich nicht wieder einem Lockdown unterworfen werden würde. Dies ist aber jetzt der Fall.

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders zeigte sich zuvor „überglücklich“, das Fest neuer Klänge in einem so verflixten Jahr feiern zu können, auch wenn im Saal der Philharmonie – Stand vor ein paar Tagen – nur 250 Zuhörer zugelassen sind. Nur durch viele Partner ist es möglich, ein derart vielgestaltiges Ereignis auf die Beine zu stellen: Die Folkwang Universität der Künste und der Landesmusikrat NRW waren schon bei den ab 2007 laufenden Reihe „Entdeckungen“ dabei; seit der Überführung ins Festival NOW! vor nunmehr zehn Jahren sind einige andere dazugekommen, etwa von Anfang an die Kunststiftung NRW, die Stiftung Zollverein, PACT Zollverein und seit 2019 die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.

Das NOW!-Programm lässt ahnen, wie unbeschwert die „neue“ Musik in den letzten Jahrzehnten stilistische Limits und geografische Grenzen übersprungen hat. Längst sind es nicht mehr die Europäer, die sich an „exotischen“ Importen erfreuen, die sie wie weiland Gluck oder Mozart als fröhlich lärmende Janitscharenmusik in den europäischen Kontext zwängten. Längst sind es auch nicht mehr die bildungsbeflissenen Musiker aus dem fernen Osten, die ihre Begeisterung für europäische Kunstmusik in ihre Heimatländer brachten und dort im schlechten Fall imitierten, im besten Fall zu einer Symbiose mit eigenen Traditionen verschmolzen.

Passé sind auch die Zeiten, in denen es genügte, ein Sinfonieorchester mit etwas tempelhaftem Bling-Bling zu garnieren, um „Fremdes“ zu integrieren. Der Wandel, von dem NOW! auch zeugt, reicht tiefer: Menschen bewegen sich in vielfältigen kulturellen Kontexten, in denen sie nicht aufgewachsen sind. Andere sind in zwei Kulturen tief verwurzelt, wieder andere verlassen – manchmal auch unfreiwillig – ihre Heimat und suchen in der Fremde eine neue. Die Lebenssituationen sind so unterschiedlich wie die Herkünfte, Traditionen und Interessen. Und daraus erwächst zur Zeit unglaublich viel Spannendes, ereignen sich Aufbrüche, die das befürchtete „Ende der Musik“ doch ein gutes Stück hinausschieben.

Beispiele aus dem NOW!-Programm: Unsuk Chin, in Korea geboren, dort und bei György Ligeti in Hamburg ausgebildet, lehnt es strikt ab, ihre Musik einem bestimmten Kulturkreis zuzuordnen. Sie beschäftigt sich mit europäischer Moderne und mit Gamelanmusik aus Bali, mit koreanischen Instrumenten und mit mittelalterlichen Kompositionstechniken. „Cosmigimmicks“, ein Stück für Ensemble, 2013 bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik uraufgeführt, spielt im Titel mit diesem universalen Interesse, ironisiert den eigenen Anspruch zu „gimmicks“ und erinnert in seinen fragilen Klängen nach Aussage der Komponistin an Schattentheater, Pantomime oder Puppenspiel. Das Ensemble Musikfabrik bringt das Stück am 30. Oktober um 20 Uhr in der Philharmonie Essen, zusammen mit der Uraufführung von „fragments inside“ der persischen Komponistin Elnaz Seyedi, die ab 2020/21 Composer in Residence für die Bürger:innenOper der Oper Dortmund ist. Maliko Kishinos „Ochres II“ nimmt japanische Traditionen auf; die in Kyoto geborene Komponistin wuchs in einem Tempel auf.

Önder Baloglu. (Foto: Ulrike von Loeper)

Ganz aktuell auf die Corona-Pandemie gehen 24 Miniaturen ein, die am 31. Oktober, 17 Uhr in einem Konzert in der Neuen Aula der Folkwang Universität in Essen-Werden uraufgeführt werden: „Unvoiced Diaries“ des im türkischen Adana geborenen Konzertmeisters der Duisburger Philharmoniker, Önder Baloğlu, sind kaum eine Minute dauernde Stücke für Violine solo von 24 Komponisten, entstanden während der erzwungenen Untätigkeit ab März dieses Jahres. Uraufgeführt werden auch „Khronos“ des Brasilianers Celso Machado, ein Stück für das afrikanisch-brasilianische Berimbau, Gitarre und Elektronik; außerdem Werke von Levin Zimmermann und Po Chien Liu.

Der Komponist Mithatcan Öcal. (Foto: privat)

Für sein Konzert am 31. Oktober, 20 Uhr, in der Philharmonie Essen bringt das WDR Sinfonieorchester Köln eine „Klassikerin“ der Neuen Musik mit: Younghi Pagh-Paan und ihr Stück „Lebensbaum III“ von 2015. Die Koreanerin steht für die kreative Verbindung koreanischer Volksmusik mit europäischen kompositorischen Parametern. Außerdem erklingen „Yet“ des 1981 geborenen und 2010 tragisch verstorbenen Franzosen Christophe Bertrand, „Zipangu“ des 1983 in Paris ermordeten Kanadiers und Stockhausen-Schülers Claude Vivier, der asiatische und iranische Musik studiert hatte, und die Mini-Oper „Belt of Sympathies“ des 2019 von der Ernst von Siemens Musikstiftung ausgezeichneten türkischen Komponisten Mithatcan Öcal.

Klang und Bewegung auf PACT Zollverein

Aus Syrien stammt die Komponistin Dima Orsho. (Foto: Martina Novak)

PACT Zollverein beteiligt sich am NOW!-Festival am 1. November mit dem Tanzprojekt „The Waves“ des Choreografen Noé Soulier. Sechs Tänzerinnen und Tänzer und die beiden Perkussionisten des Ictus Ensembles, Tom de Cock und Gerrit Nulens, untersuchen das Beziehungsgeflecht von Geste, Bewegung und Klang. In der Philharmonie Essen geht es am 1. November in den Nahen Osten: Hasti Molavian (Gesang) aus dem Iran und das E-MEX-Ensemble präsentieren unter anderem Werke der syrischen Komponisten Zaid Jabri und Dima Orsho. „Khorovod“, das Stück, das dem Konzert den Titel gibt, stammt von dem in London geborenen Julian Anderson und bezeichnet einen russischen Rundtanz.

Die Musik Afrikas vorzustellen, ist einer der diesmal nicht erfüllbaren Wünsche der Festival-Macher. Nicht nur, weil die Reisemöglichkeiten fehlen, sondern auch weil sich die Musik dieses Kontinents vornehmlich in Pop und Folk äußert. Das Ensemble Modern hätte am 7. November in der Philharmonie Essen seinen 40. Geburtstag mit einem Programm feiern sollen, zu dem ausschließlich Komponistinnen und Komponisten mit afrikanischem Background zu Klang gekommen wären: Daniel Kidane und Hannah Kendall (Großbritannien), Tania León (Kuba), Jessie Cox und Alvin Singleton (USA) sowie Andile Kumalo aus Südafrika.

Weitere Informationen: www.theater-essen.de