Lungern und hecheln – „Journalismus“, der entgeistert

Bei manchen Journalist*innen herrscht immer Alarmstufe Rot. (Foto: BB)

Manchmal kann einem dieses ganze journalistische Gewerbe, kann einem der ganze (kommerzielle) Medienbetrieb schwerstens auf den Senkel gehen.

Da ist beispielsweise der Lungerjournalismus in Gestalt von Kolleg*innen („man“ soll ja füglich gendern), die stundenlang auf Fluren herumhängen, um wenigstens einen einzigen knackigen Satz aus dem Munde hochwichtiger Polit-Darsteller*innen einzufangen. Ein paar Stunden später ist dies entweder der Talkshow-Aufreger No. 255 oder halt schon das Geschwätz von gestern. Solche Warte-Jobs mögen teilweise gut bezahlt sein, aber ach: Wie öde sind sie doch! Wenn sie sich nach einem solchen Tag ehrlich selbst befragen würden („Was hast du heute bewirkt?“), wie müsste die Antwort dann wohl lauten?

Twitter schlägt Tagesschau

Auch weiß man gar nicht mehr, worauf sich speziell die Fernsehleute so mächtig viel einbilden. Das Fernsehen hat sich als lineares, an Sendezeiten gebundenes Programmzeitschriften-Medium weitgehend erledigt, auf gewissen Kanälen werden die vielfach kläglichen Bildchen-Häppchen nur noch für Senioren versendet. Derweil heimsen YouTuber, TikToker, Influencerinnen und derlei hippes Völkchen mit fortwährender Selbstdarstellung die wahren Quoten und Followerzahlen ein. Manche Tweets haben mehr Zugriffe als die „Tagesschau“ um 20 Uhr, die früher einmal als Maß der Dinge gegolten hat. Und unversehens rückt der Hörfunk in Form von teilweise sehr intelligenten Podcasts wieder nach vorn, während auf mancher Radiowelle der eine oder andere Kulturabbau betrieben wird. Alles im Dienste der Quote, versteht sich.

…und immer nackt

Eine weiteres Phänomen, längst nicht nur bei den Boulevardblättern, könnte man Hecheljournalismus nennen. Den gab’s immer schon, doch er hat sich bis zum Wahnwitz beschleunigt und gesteigert. Da wird versucht, immerzu die Aufregung am Kochen und Brodeln zu halten. Da ist es immer mindestens „fünf nach zwölf“. Unverkennbare Signale sind Formulierungen wie „Die Lage spitzt sich zu“, „Pandemie (oder was auch immer) und kein Ende“, „…nur die Spitze des Eisbergs“, „Das Netz erregt sich über…“, „Wirbel um…“ Was einst Wetterbericht gewesen ist, kommt nun als ständiger Katastrophen-Alarm daher – mit Angstwörtern wie „Russenpeitsche“ und „Blutregen“.

In den Boulevard-Produkten geht’s nur noch im Sex-, Gewalt-, Panik- oder Streit-Modus zur Sache (nein: weit an der Sache vorbei), da herrschen ständig Zoff, Beef, Randale und dergleichen, man fetzt sich unentwegt. Sagt jemand ein, zwei kritische Sätzchen, heißt es gleich: „er ledert“, „er nagelt“, „geht auf jemanden los“. So so gut wie alles ist „Chaos“, „Wahnsinn“, „irre“, „der Hammer“, ist ein „Beben“ oder „Erdrutsch“, ist „Mega“. Dazu nach Belieben Schüsse oder Stiche. Und immer nackt.




Die schmerzliche Wahrheit zulassen – Patrick Modianos Roman „Unsichtbare Tinte“

Als Patrick Modiano 2014 den Nobelpreis für Literatur erhielt, hieß es in der Begründung der Jury, sein Werk stehe für „die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der deutschen Besatzung sichtbar gemacht hat.“ Auch in Modianos neuem Roman „Unsichtbare Tinte“ dreht sich alles um das Emporziehen von Ereignissen und Einbildungen aus den Tiefen des Unbewussten – und darum, ob Erkenntnis überhaupt möglich ist.

Ging es Modiano früher eher darum, gegen das Verdrängen und Vergessen von Nazi-Verbrechen anzuschreiben und das Schicksal von jüdischen Menschen zu rekonstruieren, die während der Nazi-Zeit spurlos verschwanden, so umkreist er jetzt die Frage, ob die Erinnerung und die Suche nach der verlorenen Zeit überhaupt Wirklichkeit abbilden und Wahrheit ans Licht bringen kann.

Studentenjob in der Detektei

Es ist die Geschichte von Jean Eyben, der seit vielen Jahren ein Rätsel mit sich herumschleppt: Jean war Mitte der 1960er Jahre knapp zwanzig, ein Student auf der Suche nach einer Bestimmung und Aufgabe in seinem Leben, als er für ein paar Wochen in einer Pariser Detektei anheuerte und auf den Fall einer verschwundenen jungen Frau angesetzt wurde, Noelle Lefebvre. Damals konnte er den Fall nicht lösen, die Frau war wie vom Erdboden verschluckt: Jean ist dann auch bald aus der Detektei wieder ausgestiegen und hat einen anderen Lebensweg eingeschlagen, sich mit Literatur und Kunst beschäftigt.

Doch das schmale Dossier zum Fall Noelle Lefebvre hat er damals mitgehen lassen und immer bei sich getragen. Es dient ihm jetzt, viele Jahre später, dazu, sich alles noch einmal zu vergegenwärtigen und aufzuschreiben: wie er durch Paris irrte, Bekannte und Arbeitskolleginnen der Verschwundenen ausfindig machte und befragte, dabei auf seltsame Widersprüche stieß und ihm schwante, dass Noelle eine Art Luftgeist war, ein geheimnisvolles Wesen, über das sich alle ihre eigenen Wahrheiten und Lügen zurechtgelegt hatten.

Das Tagebuch von Noelle, das Jean in ihrer Wohnung gefunden hat, bringt ihn nicht weiter, denn es ist mit „unsichtbarer Tinte“ geschrieben: Seiten, auf denen damals gar nichts vermerkt war, offenbaren jetzt plötzlich, weil die Tinte inzwischen wieder sichtbar wurde, Bemerkungen von Noelle, die Jean aber nicht entschlüsseln kann. Er bemüht sich zwar, den Nebel zu lichten, seine Erinnerungen mit Fakten zu füllen, aber alles bleibt – damals wie heute – verschwommen und rätselhaft.

Meister der literarischen Wendungen

Modiano ist ein Meister der poetischen Täuschung und der literarischen Wendungen. Wenn sich Jeans Erinnerungen als falsch erweisen, er beim Schreiben der Geschichte das Gefühl hat, alles sei bereits längst mit „unsichtbarer Tinte“ von irgendwem irgendwo aufgeschrieben, sein Schreiben diene nur dazu, sich seiner Geschichte zu stellen und sich einzugestehen, was ihn wirklich mit Noelle verbindet, dann bekommt alles noch einmal einen unerwarteten Dreh, wird die Erzähl-Perspektive verändert, werden alle Erinnerungen in ein anderes Licht gestellt, erhalten alle Fakten eine neue Bedeutung: Es kommt immer darauf an, welche Erinnerungen man zulässt, welche man lieber im Verborgenen belässt. Ob man bereit ist, der Wahrheit ins Auge zu sehen.

Die Wahrheit über den Fall der verschwundenen Noelle schlummerte schon immer in seinem Unbewussten, Jean muss sie nur zulassen. Und der Erzähler, der jetzt nicht mehr Jean ist, muss sich als jemand erweisen, der Schreiben als Suchbewegung begreift, als ein Herantasten an das, was passiert ist oder sein könnte. Die schmerzliche Wahrheit hat etwas mit der verdrängten Kindheit und problematischen Jugend von Jean zu tun, mit seiner Herkunft und damit, dass Erkennen meistens ein plötzliches Wieder-Erkennen ist.

Die Geschichte von Noelle, ihr Leben und ihr Verschwinden, wird sich – Simsalabim! – als ziemlich unspektakulär entpuppen. Die Lösung des Rätsels kennt nur Jean, der mit dem Schreiben eine Wirklichkeit erfinden kann, die es gar nicht gibt. Der Roman hat magische Züge, lässt manches aufscheinen, bevor es wieder verblasst, sich auflöst und vielleicht später wieder in anderem Licht eine neue Bedeutung bekommt. Es scheint, als habe Modiano seinen Roman selbst mit „unsichtbarer Tinte“ geschrieben.

Patrick Modiano: „Unsichtbare Tinte.“ Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2021, 126 S., 19 Euro.

 

 




Was Politiker sagen, wenn ihnen Corona keine Ruhe lässt

Speziell in solchen Nächten treibt es manche Leute um. (Foto: BB)

Sofern man sich durch die eine oder andere Nachrichtensendung, Doku oder Talkshow zu Corona-Themen gequält hat, wird man finden, dass in der Polit-Szene ein Modewort kursiert, das im Grunde sehr alt ist.

Nein, es hat nicht direkt mit fachlichen Fragen zu tun, erst recht nicht mit Feinheiten der Virologie. Noch der nüchternste Polit-Darsteller wird dieser Tage ein bestimmtes Wort benutzen, das anzeigen soll, wie ihm Corona bei Tag und bei Nacht keine Ruhe lässt. Nun ratet!

In Ordnung, ihr habt euch redlich bemüht. Das Wort lautet: umtreiben. Die Folgen von Corona treiben mich um. Die Situation der Gastronomie / der Kultur / der Senioren / der Pflegeberufe treibt mich um. Und so weiter, und so fort. Man sieht sie förmlich durch menschenleere Straßen wanken, schräg gegen Stürme gestemmt, den Mantelkragen hochgezogen, sie selbst gramgebeugt, umgetrieben noch und noch. Mitunter fragt sich jedoch, ob diejenigen wirklich umgetrieben oder eher umtriebig sind.

Das Wort wird zur bloßen Kennmarke

Nein, bewahre: Dies soll kein landläufiges Politiker-Bashing werden, dafür ist eine präpotente Kampagnen-Journaille zuständig, allen voran mal wieder das Blatt mit den vier großen Buchstaben. Wir wollen dem Gros der Parteipolitiker keineswegs die Empathie, die Mitleidensfähigkeit absprechen, aber wenn selbige immer und immer wieder mit demselben Ausdruck daherkommt, schimmert denn doch etwas Unechtes durch. Wenn man also vernimmt, wie Politiker sich seit einiger Zeit immerzu umgetrieben wähnen, sollte man hellhörig werden. Wer auch immer die Wendung zuerst benutzt hat, andere haben sie für tauglich befunden und alsbald nachgesprochen. Nun ist sie in fast aller Munde. Das Wort wird zur bloßen Kennmarke. „Lassen Sie mich durch, ich werde umgetrieben!“

Übrigens: Ich mag mich irren, aber mir scheint, dass Männer die Umtreibe-Formulierung viel öfter verwenden als Frauen. Deshalb unterbleibt auch an dieser Stelle das mit obligatorischer Sinnpause zu sprechende „Politiker*innen“. Sollte die ungleiche Häufigkeit etwa daran liegen, dass männliche Politiker glauben, ihre Empathie eigens betonen zu müssen, während sie bei den weiblichen immer noch als quasi naturgegeben gilt?




Über alle Regeln hinweg: Als die Tänzerin Lola Montez Bayernkönig Ludwig I. den Thron kostete

Lohnt es sich wirklich, sich mit dieser Frau zu beschäftigen, und das noch 200 Jahre nach ihrer Geburt? Braucht eine Hochstaplerin, eine offenbar nur mittelmäßige Tänzerin, eine unschwer als narzisstisch erkennbare Persönlichkeit noch 2020 eine nagelneue, kritische Biografie?

Marita Krauss‘ Biographie über Lola Montez, im Dezember 2020 erschienen bei C. H. Beck. (343 Seiten, 24 €).

Muss jemand wie jene Lola Montez in Filmen, Dramen und sogar einer – 1937 in Dortmund uraufgeführten, heute vergessenen – Operette von Eduard Künneke („Zauberin Lola“) verewigt werden, nur weil sie sechzehn Monate lang die Geliebte eines Königs war, den sie schließlich sogar die Krone gekostet hat?

Es lohnt sich, weil die kaum 40 Jahre der Lebensspanne dieser Frau bunt, anrüchig und dramatisch waren, wie sie im Roman nicht besser hätten erfunden werden können. Und weil sie zu einer Art Urtyp der „femme fatale“ wurde, die Ende des 19. Jahrhunderts das Frauenbild und die Kultur des Fin de siècle prägte.

Heute vor 200 Jahren geboren

Die Geschichte der Lola Montez beginnt am 17. Februar 1821 – heute vor 200 Jahren – in einem Nest namens Grange im irischen Nordwesten, führt über Indien und Schottland in ein englisches Internat für höhere Töchter, von dort über Spanien und London ins thüringische Reuß-Ebersdorf zur ersten Affäre mit einem regierenden Fürsten. Als ihr im Oktober 1846 an der Münchner Hofbühne die Erlaubnis zu einem Tanzauftritt verweigert wurde, hatte sie bereits ihren ersten Mann verlassen. Sie war aus London geflohen, weil sie sich als spanische Tänzerin „Maria de los Dolores Porrys y Montez“ ausgegeben hatte und als Hochstaplerin aufgeflogen war. Und sie zählte als Halbweltdame in Paris die beiden Schriftsteller Alexandre Dumas den Älteren und den Jüngeren sowie Franz Liszt unter ihre Verehrer, bevor einer ihrer weiteren Liebhaber bei einem – wegen ihr ausgefochtenen – Duell erschossen wurde.

König Ludwig I. von Bayern weiß davon nichts, als ihm in seiner unermüdlichen Kleinarbeit für sein Land auch der Bescheid der Intendanz unter die Augen kommt. Eine spanische Tänzerin mit hochtönend klingendem Namen! Der König, für seinen bisweilen hartnäckigen Eigensinn berüchtigt, wird aufmerksam. Er liebt den Zauber der spanischen Sprache. Der Sechzigjährige, im Grunde einsame Mann ist zudem empfänglich für weibliche Schönheit. Lola Montez versucht, zum König vorzudringen, um doch noch zu ihrem Tanzspiel zu kommen. Sie weiß um die Wirkung ihrer Reize und ist entschlossen, sie einzusetzen.

Nach drei Versuchen erhält sie Audienz. Der König spricht mit ihr lange über Kunst und Literatur – auf Spanisch. Wenig später liegt die Genehmigung vor: Die „Spanierin“ darf tanzen! München ist neugierig, das Theater voll. Stürmischer Beifall für die geheimnisvolle Fremde. Die Kenner stellen fest, dass sie von Fandango und Bolero nichts verstehe. Aber das innere Feuer wirkt. Ludwig ist begeistert, beschließt: Hofmaler Joseph Karl Stieler muss dieses herrliche Wesen für die Galerie der Schönheiten malen. Und Lola Montez nutzt die Zeit der Sitzungen, das „liebeleere“ Herz des Königs für sich zu entflammen.

Feuchter Schimmer wilder Leidenschaft

Das leicht idealisierte Porträt hängt heute noch in der „Schönheitengalerie“ im Münchner Schloss Nymphenburg und entfacht eine ganz eigene Faszination. In seiner Ludwig-Biografie beschreibt Egon Cäsar Conte Corti die gebürtige Irin als „Kunstwerk der Natur“: „Tiefblaue, feurige, glänzende Augen, die zuweilen eine feuchten Schimmer wie von wilder Leidenschaft zeigen, erhellen ein formvollendetes Antlitz, das bei nicht allzu hoher Stirn von seidenweichen, ebenholzschwarzen Haaren überschattet ist… Man sieht ihr an den Augen ab, dass sie nicht unklug ist, aber ihr Herz ist ebenso kühn wie leidenschaftlich, ebenso mutig wie unbändig und setzt sich über alle Regeln hinweg, die ihre Mitwelt in Bann halten.“

Über alle Regeln hinweg: Sehr schnell werden sich die maßgeblichen politischen Kreise bewusst, welche Gefahr ihnen in der ehrgeizigen Frau droht: Elizabeth Rosanna James, geborene Gilbert, beherrscht den König komplett. Minister, Behörden, Polizei, kirchliche Kreise, Adel sind alarmiert. Ihre Versuche, den bezauberten Mann zur Vernunft zu bringen, scheitern. Ludwig empfindet sie „als Angriff auf sein Glück“ und als „Einmengen in sein privates Leben“. Sein Starrsinn ist geweckt: Gelten in Bayern die königlichen Weisungen nicht mehr? Im November 1846 ändert Ludwig sein Testament, vermacht ihr 100.000 Gulden und setzt eine jährliche Rente von 2.400 Gulden aus.

Lola nutzt die Gunst der Stunde. Sie provoziert nicht nur die Politiker, sorgt für den Fall von zwei Regierungskabinetten und für königliche Ungnade gegen ganze Reihe von Beamten. In der Öffentlichkeit provoziert sie einen Skandal nach dem anderen. Dass die Beziehung zu Ludwig wohl so gut wie keusch bleibt, ist erst eine Erkenntnis aus jüngeren Recherchen. Dafür umgibt sie sich mit jungen Liebhabern und einem Kreis von Studenten des Corps Alemannia, die bei den Münchnern verächtlich „Lolamannen“ genannt werden. Ein gewalttätiger Zusammenstoß von Studenten lässt den entrüsteten Ludwig die Universität schließen. Jetzt ist das Maß in der Münchner Gesellschaft voll: Ein Aufstand droht. Der Monarch willigt schließlich ein: Die erst vor wenigen Monaten erhobene „Gräfin von Landsfeld“ muss Bayern verlassen.

Bigamie und Shows in Goldgräber-Städten

Erst allmählich und nach seiner erzwungen Abdankung 1848 wird dem König klar, wie sehr er hintergangen und ausgenutzt wurde. Lola Montez lebt zunächst mit dem Geld Ludwigs luxuriös in der Schweiz, geht dann nach London, wo sie einen jungen Offizier heiratet und wegen Bigamie angeklagt wird, weil ihr früherer Ehemann noch lebt.

1852 spielt sie sich selbst am Broadway in der Revue „Lola Montez in Bavaria“ und kommt mit einer Tournee sogar bis in Goldgräber-Städte Australiens. Bevor sie am 17. Januar 1861 in New York an einer Lungenentzündung stirbt und in Brooklyn begraben wird, sichert sie ihren Lebensunterhalt durch Lesungen und wandelt sich zur bekennenden Christin.

Die Historikerin Marita Krauss gibt ihrer neuen Biografie als Titel ein Zitat von Lola Montez: „Ich habe dem starken Geschlecht überall den Fehdehandschuh hingeworfen.“ Ein „herzloses dämonisches Wesen“, wie Richard Wagner urteilte? Eine machtgierige, berechnende Narzisstin? Oder eine Frau, die mit ihrem Willen zur Selbständigkeit und ihrem ungestümen Temperament an einer Gesellschaft zerbrach, die den Frauen genau das nicht zubilligen wollte?




Ros*in*enmontagsgruß – Gendern will gelernt sein

Gerd*a Frauholz
(Foto: Gerd Herholz)

Liebe Frau*innen und Männer*innen, liebe Männ*innen und Frauende, liebe Närrinnen und Narrhalesen,

heute am Rosenmontag möchte ich mich vordergründig zwar vor allem an die Männ*innen unter Ihnen wenden, aber selbstverständlich sind Frauende und Kind*innen immer mitgemeint.
Unumstritten, es ist höchste Zeit, dass Frauenzimmer, ja eigentlich alle weiblichen Räume und Welten sprachlich deutlich sichtbar werden! Ihnen, den Frauen, soll und muss von nun an die Hälfte des Himmels gehören – und die Hälfte der Erde und Hölle sowieso.

Als beherzte/r Fürsprecher*in des globalen Feminats („Ihr Wunsch wird mir zum Befehl!“) möchte ich dennoch darauf hinweisen, dass bei der gendergerechten Betonung des Weiblichen in der deutschen Sprache das Männliche schon aus folkloristischen Gründen nicht ganz verloren gehen sollte – obwohl es dafür sicher gute Gründe gäbe.

Nehmen wir zum Beispiel nur eine Formulierung wie „den Anstifter*innen und Täter*innen dieses Verbrechens muss der Prozess gemacht werden“. Gelesen wie gewünscht durchaus eindeutig zweideutig; rein akustisch allerdings hören wir da allein noch die weiblichen Formen der Vokabeln „Anstifter“ und „Täter“ heraus, wir hören also nur „Anstifterinnen und Täterinnen dieses Verbrechens muss …“. Da hilft auch eine kleine Stolperpause vor den „innen“ wenig. Und die männlichen Formen der Dativ-Deklination, also „Anstiftern“ und „Tätern“ gehen klanglich gänzlich verloren, so als ob den „AnstifterN und TäterN dieses Verbrechens“ nicht auch der Prozess gemacht werden müsste.

Halten wir fest: Schreiben und Hören desselben Satzfragments führen zu völlig unterschiedlichen Verstehenshorizonten: Mal gehen die Männer halb unter, mal ganz.

Zu Unrecht versenkt werden männliche „Anstifter“ und „Täter“ auch im Plural. Durch den weiblichen bestimmten Artikel „die“ werden sie zu „die Anstifter“ und „die Täter“. Diese ungerechte Verweiblichung der männlichen Mehrzahl sollten sich Frauende schlicht verbitten. Es wäre also höchste Zeit, auch im Plural männlichen Gruppen den bestimmten Artikel „der“ zuzuordnen: „Der Anstifter und der Täter vieler Verbrechen können ihrer Verantwortung nicht entkommen.“ Nun weiß auch der/die/das Letzte, wer gemeint ist. Und bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit Haarspaltereien zu biologischem und grammatischem Geschlecht, zum komplexen Verhältnis von Sexus und Genus (nicht zu verwechseln mit „Genuss“). Wollte man und frau da alles berücksichtigen, kämen die wohl in Teufel*innens Küche.

Dennoch, eine Person, die einmal gelernt hat, Sexismus in der Sprache zu sehen, kann nicht der-/die-/dasselbe bleiben, das ist klar. Zunehmend irritieren mich aber auch andere diskriminierende Etikettierungen, etwa von Tier*innen oder Kind*innen. Immerhin, es gibt im Singular z. B. die Formen „der Hund“ / „die Hündin“, aber wieso die ganze Art dann wieder als (d-e-r) Hundeartige oder d-i-e Hundeartigen bezeichnet wird, ist nicht nachvollziehbar. Ich schlage deshalb eine gendergerechte Differenzierung aller Wörter im Singular / Plural vor: „der Hund / der Hunde“ sowie „die Hündin / die Hündinnen“. Die ganze Art könnte man vielleicht als „Hund*innen“ bezeichnen?

Über die weitere Deklination vieler Begriffe muss von linguistischer Seite gründlich nachgedacht werden. Wo der Mann im Plural sich dem weiblichen Artikel nicht weiter unterordnen will, darf zum Beispiel auch alles Weibliche im Genitiv nicht länger von einem „der“ regiert, ja unterjocht werden. Nieder mit einer Formulierung wie „die Schönheit der Frau“. Es muss natürlich heißen: „die Schönheit die Frau“ oder wie mittlerweile immer öfter als Graswurzelgendern im Rahmen lebendiger Sprachgestaltung zu hören ist: „die Schönheit von die Frau“.

Ein letzte Anmerkung, ja fast ein Seitenhieb noch wider das Sächliche. Es ist nicht einzusehen, dass wir weiterhin etwa „das Kind“ sagen. Hier wird durch den sächlichen Artikel das Kind versachlicht, es wird zur Sache. Die Folgen solcher Depersonalisierung sind heute überall zu sehen, etwa in der katholischen Kirche. Also bitte in Zukunft explizit nur noch geschlechterdifferenzierende Singular- / Plural-Formen verwenden: „der Kind / der Kinder“ und „die Kind / die Kinder“.

Ich hoffe, ich habe ein wenig zur aktuellen Debatte beitragen können.
Wenn Sie tiefer in die Materie einsteigen wollen, empfehle ich aus der 3sat-Mediathek die Kulturzeit-Extra-Sendung „Streit ums Gendern“. Mir war danach ein wenig schwindlig, aber Sie sind ja jetzt durch diesen Beitrag besser vorbereitet.

Für heute mit freundlichen Grüßen
Ihre
Gerd*a Frauholz




Lebensbild mit Leerstellen: Monika Helfers Familienroman „Vati“

Als wenn es das nicht schon länger gegeben hätte: Vielfach scheint Lesenden seit einiger Zeit das zum Trend ausgerufene „autofiktionale Erzählen“ zu begegnen, also Autobiographisches mit mehr oder weniger prononcierter literarischer Dreingabe. Oder eben umgekehrt: große Literatur, basierend auf Selbsterlebtem, mit erfundenen Einsprengseln. Und was der Mischungsverhältnisse mehr sind. Wie schwer es doch ist, sich im Ureigenen zur allgemeineren Gültigkeit durchzuringen! Nur den Besten gelingt es zu erzählen, was jede(r) erzählen könnte, aber eben nicht kann.

Die famose Französin Annie Ernaux (Jahrgang 1940 – „Die Scham“, „Die Jahre“, „Eine Frau“) wäre beispielhaft zu nennen, neuerdings auch eine noch frühere Vorläuferin, die just „wiederentdeckte“ Dänin Tove Ditlevsen (1917-1976), die schon seit den späten 1960er Jahren ihre Kopenhagen-Trilogie („Kindheit“, „Jugend“, „Abhängigkeit“) vorgelegt hat. In unseren Breiten kämen neben etlichen anderen etwa Anna Mayr („Die Elenden“) und Christian Baron („Ein Mann seiner Klasse“) in Betracht. Die heftigste Zeile steht auf dem Roman von Andreas Altmann, der da heißt: „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“. Ungleich sanfter tritt jetzt, auch schon zum wiederholten Male, Monika Helfer an – diesmal mit dem fürs heutige Empfinden treuherzig klingenden Titel „Vati“.

Seltsamer Hang zur „Modernität“

Tatsächlich erzählt die Österreicherin, die 2020 bereits die Familiengeschichte „Die Bagage“ vorausgeschickt hat, vorwiegend von ihrem Vater, einem kleinen, betont ruhigen Mann, der eine natürliche Autorität ausgestrahlt haben muss und auch manch verschrobenen, wilden oder wüsten Leuten Respekt abnötigte. Mit spürbarer Zuneigung und regem Interesse, aber auch mit Verwunderung sammelt Monika Helfer Szenen, Erinnerungen und Zeugnisse über ihn, so dass nach und nach ein vielfältiges, in manchen Belangen nach wie vor rätselhaftes Lebensbild entsteht. „Vati“ wollte er ausdrücklich genannt werden, weil es modern sei. Aus gleichem Grund pries er das freie Stadtleben, das er doch nur ganz punktuell wirklich aufgesucht hat. Da kenne sich eine(r) aus.

Irgendwann erhebt sich die Frage, warum sich die 1947 geborene Autorin diesem Thema relativ spät zuwendet. Vielleicht galt es denn doch, starke innere und äußere Widerstände zu überwinden. Vielleicht wird sie auch just von der erwähnten Welle autofiktionalen Erzählens mitgetragen. Wer weiß. Es ist aber zweitrangig. Wichtig ist allein, was sie aus dem Lebensstoff gewoben hat. Angenehm ist es, dass sie sich an keiner Stelle sprachlich aufplustert oder mit auktorialem Wissen prunkt. Vor allem aber schafft sie es, dass man um diesen „Vati“ bangt, dass er zur exemplarischen, lebensgroßen Figur gerät.

Ganze Bücher Wort für Wort abschreiben

Da geht es also anfangs um „Vatis“ geradezu erbärmlich ärmliche Herkunft, alsbald aber schon um seine früh erwachte Bücher-Leidenschaft. Schon mit 5 Jahren hatte er sich das Lesen beigebracht und war seitdem von Bibliotheken zutiefst fasziniert. Zuerst hat es ihm die eher schmale und läppische Bücherei eines reichen Baumeisters angetan, der dem Jungen erlaubt, Tag für Tag seine Bücher umständlich Wort für Wort abzuschreiben – ein beinahe mönchisches Exerzitium. Hingegen wütet der dumme Sohn des Baumeisters, der mit dem Lesen nichts anfangen kann, später bei der SS. Wenn sich das doch immer so eindeutig und wunschgemäß herleiten ließe…

Viele Jahre später kommen fiese Gerüchte auf, „Vati“ habe Bestände aus einer anderen Bibliothek für sich beiseite geschafft. Jedenfalls hat es mit Büchern für ihn eine besondere Bewandtnis. Selbst sein früher Tod wird am Ende mit Büchern zu tun haben.

Doch erst einmal zurück. Damals beim Russlandfeldzug hat er schwere Erfrierungen erlitten, es musste ihm ein Bein amputiert werden. Eine Krankenschwester im Lazarett hat ihm einen Heiratsantrag gemacht, sie wurde seine Frau und die Mutter von vier Kindern. Fortan spielen auch etliche Kurzauftritte der vielköpfigen Verwandtschaft (Onkel, Tanten usw.) mit in die Handlung hinein. Manche derb-knorrige Figur könnte durchaus im Volkstheater ihren Platz haben. Besagte Autofiktion kommt ja auch meistens wahrhaftiger und wirkmächtiger „von unten her“. Umso mehr, wenn sie – wie hier – spürbar in einer bestimmten Region verankert ist. Doch dumpfe Trunksucht gibt es überall.

…bis die Herren aus Stuttgart kommen

Nach dem Krieg leitet „Vati“ im Auftrag einer Stiftung ein Erholungsheim für Versehrte – unkonventionell genug und selbstverständlich mit Bücherei. Die Tschengla, wie die hoch gelegene Örtlichkeit heißt, hat eine Anmutung von „Zauberberg“. Doch eines Tages tauchen geschäftige Herren aus Stuttgart auf, die das beinahe weltentrückte, nur saisonal genutzte Heim zum lukrativen Hotel mit Ganzjahresbetrieb ausbauen wollen. Die Bibliothek spielt in den Plänen keine Rolle. Im Gegenteil.

Nach dem finalen Gruppenfoto mit den Heimbewohnern humpelt „Vati“ in eine Hütte und trinkt eine lebensgefährliche Flüssigkeit. Ist nun alles, alles aus mit der Familie, wie es die kleine Monika befürchtet? Zumindest ist es eine schwere Erschütterung, „Vati“ muss lange in einer Klinik bleiben, auch innerlich entfernt von seinen Kindern. Dabei war Tochter Monika gerade in puncto Bücher schon früh zu einer Vertrauten des Vaters geworden. Fühlt sie sich nicht als Hüterin eines imaginären Familienschatzes? Schon als Kind beschließt sie, dass ihr Name eines Tages auf Buchrücken stehen solle. So ist es dann ja auch geschehen.

„Ich bin müde. Ich klappe meinen Laptop zu…“

Erzählt wird ganz unumwunden aus der Tochter-Perspektive. Monika Helfer benennt und zitiert ihre Gewährsleute (zumal die Stiefmutter und die ältere Schwester Gretel), auch kommt sie gelegentlich auf ihre Schreibsituation zu sprechen: „Ich bin müde. Ich klappe meinen Laptop zu, dehne mich, es ist erst früher Nachmittag. Nicht das Schreiben macht mich müde, auch nicht das Erinnern. Ich setze die Müdigkeit professionell ein. Ich muss näher an die Träume heranrücken…“ Wesentlicher Werkstatt-Einblick oder verzichtbare Mitteilung?

Sodann die doppelte dramatische Zuspitzung: Die inzwischen elfjährige Monika verirrt sich mit ihrer älteren Schwester im Tiefschnee. Aber wer fragt noch danach, bekommt doch am selben Tag ihre Mutter Grete eine Krebsdiagnose und stirbt bald darauf. Die vier Kinder werden auf zwei Tanten verteilt, es beginnen Zeiten der beengten Verhältnisse, der seelischen Entbehrung.

Letztlich bleibt er unbegreiflich

Abermals ein unfassbarer Verlust. So innig war das Verhältnis des Vaters zu seiner verstorbenen Frau, dass ihr Tod ihn erneut aus der Lebensbahn wirft. Er zieht sich in ein Kloster zurück, in eine winzige Klause. So vereinsamt scheint er, dass man in seinem familiären Umkreis sogar überlegt, ob nicht eine ortsbekannte, durchaus menschenfreundliche Hure ihn heiraten solle. Oder vielleicht doch lieber Tante Irma, wenn sie sich vorher scheiden ließe? Bloß nicht dieses Alleinsein… Dann aber fängt „Vati“ doch noch einmal unversehens ein neues Leben an, heiratet, zeugt zwei weitere Kinder, wird Finanzbeamter. Aus welcher Kraftquelle er bei diesem Umschwung wohl geschöpft hat?

Bei all diesen Fährnissen verliert sich Monika Helfer auch schon mal in Einzelheiten, als wollte sie keine Erinnerung auslassen. Doch die Autorin findet auch immer wieder schnell in die erzählerische Spur. Sie gibt nicht vor, alles über den Vater zu wissen, sondern lässt Raum für Geheimnisse. Wie gut, dass sie nicht alles schlankweg „auserzählt“, sondern Leerstellen lässt, die nicht zuletzt durchs beharrliche Schweigen des Vaters klaffen, welcher partout keine Daseinsbeichte ablegen mag. Es wäre auch wenig glaubhaft gewesen.

Erstaunlich, wie „Vati“, der bis dahin so überwiegend „grau“, schwerblütig und manchmal abweisend gewirkt hat, just in einem Berliner Schwulenlokal lachlustig aufblüht, als er seine Tochter Renate in der Hauptstadt besucht und sie dort speisen. Ist es die lang vermisste Stadtluft, die ihn animiert?

Am Ende fragt sich, was man denn eigentlich über diesen Menschen erfahren hat und was man wirklich weiß. Fast wie im richtigen Leben: Der Mann hat im Lauf des Romans zusehends Kontur gewonnen und bleibt doch letztlich unbegreiflich, vermutlich auch und gerade für seine Kinder.

Entsprechend vage und nahezu verzagt klingt der isoliert stehende Schlusssatz, wie ein gerade mal durchwachsenes Zeugnis übers ganze familiäre Sein und Treiben. Er lautet:

„Wir haben uns alle sehr bemüht“.

Monika Helfer: „Vati“. Roman. Carl Hanser Verlag. 173 Seiten. 20 €.

 




Zwischen Pandemie und neuen Perspektiven – die Pläne der Kunsthalle Bielefeld

„Kompromisslos modern“: Jacoba van Heemskerck: „Meer mit Schiffen“, 1915, Öl auf Leinwand (© Kunstmuseum Den Haag)

Mag ja sein, dass es Bielefeld „nicht gibt“, wie Scherzbolde unermüdlich behaupten. Auf jeden Fall aber gibt es die Kunsthalle Bielefeld. Und die bzw. ihr Team hat jetzt per Videokonferenz Pläne für die nähere Zukunft vorgestellt. Eine Essenz: Auch nach der Corona-Pandemie dürfte es dauerhaft mehr digitale Angebote geben als ehedem, beispielsweise Online-Führungen. Und: Mehr als zuvor werden immer mal wieder die eigenen Sammlungsbestände im Blickpunkt stehen.

Die Schweizerin Christina Vegh, erst seit rund einem Jahr als Direktorin des Hauses tätig und noch dabei, die Kollektion in ihrer ganzen Breite und Tiefe kennenzulernen, sieht darin auch für andere Museen eine Zukunftsperspektive. Gewiss werde es weiterhin Wechselausstellungen geben, doch im Sinne einer größeren Nachhaltigkeit und Ressourcen-Schonung werde auch andernorts zunehmend Eigenbesitz in den Vordergrund rücken. Wahrscheinlich nicht nur eine ökologische, sondern auch eine finanzielle Frage. Derweil sorgt sich Frau Vegh bereits, dass das Medienecho eventuell leiser ausfallen könnte, wenn öfter Kunst aus eigenen Depots ans Tageslicht kommt. Gut möglich, denn die Presse bevorzugt seit jeher meist das Neue und Spektakuläre.

Flexibel genug, um Ausstellungen zu verlängern

Vorerst bleibt, wie alle deutschen Museen, auch die Kunsthalle Bielefeld geschlossen. Zum Glück war der Bielefelder Planungsrahmen so flexibel, dass die eigentlich schon „laufenden“ Ausstellungen bis zum 30. Mai verlängert werden können, darunter Monica Bonvicini mit ihrer Präsentation „Lover’s Material“ und Jeremy Deller mit „Wir haben die Schnauze voll“. Man ahnt hier schon, dass sie in Bielefeld appellative Titel schätzen. Übrigens hat es sich auch in Sachen Flexibilität ausgezahlt, dass mit Christina Vegh eine neue Leiterin angetreten ist: Ihre Planungen seien „noch nicht so zementiert gewesen“, wie sie sagt. Doch natürlich mussten auch Künstler(innen) und Leihgeber mitspielen.

„Lover’s Material“: Monica Bonvicini „In My Hand“, 2019 (© Monica Bonvicini and VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Photo: Jens Ziehe – Courtesy of the Artist and Mitchell-Innes & Nash, New York)

Bis September sollen – ob nun zunächst per Online-Führungen oder möglichst bald leibhaftig –  Jeff Walls künstlerische Statements zum Themenkreis Denkmal und Sockel zu sehen sein. Sie nehmen u. a. direkten Bezug auf Auguste Rodins „Denker“, dessen Bielefelder Sockelplatz freilich noch für einige Zeit vielsagend leer bleibt, weil die Skulptur noch auf Reisen ist. Unterdessen wurden Menschen im Raum Bielefeld via Medien gebeten, sich Gedanken übers Denken und den Denker zu machen. Das eingesandte Material wird noch gesichtet und dann ausgebreitet. Termin zum Vormerken: Am 17. März um 18 Uhr unserer Zeit wird Jeff Wall in einem live gestreamten Künstlergespräch den Ansatz seiner „Interventionen“ näher erläutern. Er wird aus Vancouver (Kanada) zugeschaltet. (Anmeldung beim Mitarbeiter Matthias Albrecht / siehe dazu den Link zur Homepage am Schluss dieses Beitrags).

Klassische Moderne – nicht nur aus den Niederlanden

Und was wird sich im Sommer 2021 zutragen? Ab 19. Juni und bis zum 5. September werden Werke der niederländischen Künstlerin Jacoba van Heemskerck (1876-1923) gezeigt, die Überschrift lautet ganz entschieden: „Kompromisslos modern“. Heemskerck war im frühen 20. Jahrhundert in Berlin präsent, und zwar in Herwarth Waldens „Sturm“-Galerie, die 1912 im Gefolge der legendären Zeitschrift „Der Sturm“ (seit 1910) gegründet wurde. Ausgehend vom Pointillismus, eignete sie sich das kubistische und expressionistische Formvokabular an und gelangte schließlich zu kunsthandwerklichen Glasarbeiten. Beeinflusst von anthroposophischem Gedankengut, erstrebte sie eine „höhere Geistigkeit“, die in häufig wiederholten Motiven (Bäume, Segelschiffe) zum Ausdruck kommt. Die Schau setzt die Reihe über Künstlerinnen der Klassischen Moderne fort, die u. a. mit Sonia Delaunay und Sophie Taeuber-Arp begonnen hatte.

Zeitgleich zur Heemskerck-Retrospektive gibt es einen dazu passenden Einblick in die Bielefelder Sammlung: „Wir waren im Sturm“ versammelt Werke von Künstlern, die just zum erweiterten Kreis um den erwähnten Herwarth Walden zählten, beispielsweise Heinrich Campendonk, Marc Chagall, Robert und Sonia Delaunay, Paul Klee, August Macke und Gabriele Münter.

Ebenfalls für die Zeit vom 19. Juni bis zum 5. September vorgesehen sind John Millers Erkundungen zum Thema „Öffentlichkeit/Gegenöffentlichkeit“. Miller entwirft und konstruiert fotografisch bzw. filmisch festgehaltene Situationen, die von beigegebenen Texten dementiert werden – zuweilen durch Behauptung des schieren Gegenteils dessen, was zu sehen ist – womöglich eine fruchtbare Irritation, die vielfach im Stile von PowerPoint-Präsentationen erfolgt. Letzten Endes geht es auch darum, Widersprüche und Gegenmeinungen auszuhalten. Fürwahr kein geringes Thema in diesen gespaltenen Zeiten.

An Beuys kommt heuer niemand vorbei

Ab Herbst (9. Oktober 2021 bis 9. Januar 2022) schließt sich wieder eine dieser knackig betitelten Ausstellungen an: „Köpfe, Küsse, Kämpfe“ heißt die Werkschau von Nicole Eisenman aus New York, die vorwiegend aus zeichnerischen und malerischen Arbeiten bestehen und über zwei Etagen ausgebreitet werden soll. Angekündigt wird die künstlerische Sondierung künftiger Lebensmodelle, die – dem Zeitgeist entsprechend – zumal feministische und queere Anschauungen aufgreifen wird.

Schließlich noch Joseph Beuys, dem heuer alle Kunstwelt huldigt, denn er ist im Mai vor 100 Jahren geboren worden. Schelmische Titelfrage: „Beuys war nie in Bielefeld?!“ Nun ja. Ab 9. Oktober 2021 (und bis 9. Januar 2022) soll jedenfalls seine gigantische Baumpflanzaktion „7000 Eichen“ rückblickend gewürdigt werden, die zwar vor allem in Kassel, aber anno 1985 eben auch in Bielefeld ein paar Spuren hinterlassen hat. Also muss es Bielefeld wohl doch geben.

Kunsthalle Bielefeld. Artur-Ladebeck-Straße 5. Vorerst weiterhin geschlossen. Online: www.kunsthalle-bielefeld.de




Neustart bei den „Mitternachtsspitzen“: Da geht noch was…

Einladend: Christoph Sieber, der neue Gastgeber der „Mitternachtsspitzen“. (Foto: WDR/Melanie Grande)

Soso. Ein Schwabe also. Christoph Sieber (51), geboren in Balingen (etwa auf halbem Wege zwischen Stuttgart und Bodensee), fungiert nun als neuer Gastgeber der WDR-„Mitternachtsspitzen“. Als lediglich reingeschmeckter Rheinländer mit Wohnsitz in Köln.

Die altvertraute Kabarett-Comedy-Mixtur, ab jetzt also ohne den gewohnten, bei allem kritischen Sinn immer noch irgendwie „gemütlichen“ und menschenfreundlichen Colonia-Tonfall von Jürgen Becker, ohne Herbert Knebels ruhrischen Zungenschlag („Boah ey, glaubsse…“) und ohne die dröhnend entnervten Schlussmonologe von Wilfried Schmickler. Und da soll man sich gleich heimisch fühlen? Der Mensch braucht doch auch in solchen Dingen seine Rituale.

Zweimal gab’s Anspielungen darauf, dass Sieber und/oder die Zuschauer mit seinem neuen Job womöglich fremdeln könnten. Anfangs wollte so eine groteske Möhre den hierorts Unbekannten gar nicht erst in den Kölner Wartesaal ‚reinlassen. Später hatte er (als coronabedingt beschäftigungsloses Funkenmariechen) erst einmal ordentlich kölsche Tön‘ zu lernen. Tja.

Und was gab’s sonst?

Die beiden Schweinepuppen von Michael Hatzius nervten schon jetzt, bei ihren Debüt; besonders, wenn das Wildschweinchen Torsten unentwegt stotterte und einzelne Worte fast gar nicht herausbrachte. Mit bestenfalls durchwachsener, brav abgespulter „Ach Was!“-Komik wartete Philip Simon auf, der Scherzvorlagen wie den Vergleich zwischen US-Wahlen und Bundesliga zum x-ten Mal nachkaute. Wie Trump es gerne gehabt hätte, so auch Bayern München: Sobald sie führen, soll das Spiel vorbei sein.

Christian Ehring plauderte recht nett über das gepflegte Mittelmaß des Armin Laschet, die eher humorfrei wirkende Sarah Bosetti lieferte mal wieder 1 a politisch korrekte Minuten ab (diesmal über den mehr als latenten Rassismus in der unsäglichen WDR-Talkshow „Die letzte Instanz“). Sie drückte dabei weit offen stehende Türen ein.

Darstellerisch gleich doppelt hervorstechend: Susanne Pätzold als tief in seinem Machtwillen gekränkter Friedrich Merz auf der Couch des Psychiaters (einer Echsenpuppe, wiederum geführt von Michael Hatzius) und final im „Homeschooling“-Musical à la „Abba“. Das hatte echten Schwung.

Christoph Sieber (re.) mit Helge Schneider und dessen Sohn Charly. (Foto: WDR/Melanie Grande)

Bekanntester Gast war Helge Schneider mit einem Song über jenen „Boss“, der seinem geknechteten Mitarbeiter so gut wie nix bezahlt, denn – so die diabolisch vorgetragene Ansage: „Ich will reich werden!“ Am Schlagzeug saß übrigens Helges offenbar hochtalentierter Sohn Charly. Von wem er die Begabung wohl hat?

In seinen Überleitungen rechnete Christoph Sieber mit Figuren wie Verkehrsminister Scheuer oder Kardinal Woelki ab – wahrlich zwei Watschenmänner, wie sie zu Recht im Musterbuche aller Witzbolde stehen. Unfassbares legte Siebers knappes Aufklärungsstück über NSU-Morde und Verfassungsschutz bloß, es hätte auch gut in „Die Anstalt“ (ZDF) gepasst. Dort hatte Sieber ja schon einige Auftritte.

Kurzum: Die etwas zusammenhanglose Nummernrevue hatte zum Auftakt vereinzelt passable, doch selten wirklich starke Elemente zu bieten. Hinderlich wirkt sich freilich aus, dass man sich nach wie vor nicht vor Live-Publikum entfalten kann. Da kommt einfach keine Saalstimmung auf, es fehlt die Rückkopplung, die die Leute auf der Bühne beflügeln könnte. Auch Becker, Knebel und Schmickler hatten zum Schluss ihrer Ära mit diesem Manko ihre liebe Not.

Vorläufiges Fazit:  Sieber und seine Gäste werden sich warmspielen und es sicherlich bald noch etwas besser machen. Am liebsten demnächst mit leibhaftig anwesendem Publikum, und sei’s auch erst einmal reduziert.




„Das Monster von Minden“ und andere Schwergewichte: Kurzfilme auf den Spuren der westfälischen Dinos

Frisch lackiert: Modell des Wiehenvenators (Screenshot aus dem besprochenen Film / © LWL)

Wenn man den Zahnfund aufs ganze Tier hochrechnet, kommt man auf eine ungefähre Körperlänge von 9 Metern. Wachstumsringe in seinen Knochen deuten darauf hin, dass dieses imposante Wesen noch nicht einmal seine volle Größe erreicht hatte. Donnerwetter!

Wir sprechen vom „Wiehenvenator“, der im Erdzeitalter Jura (liegt etwa 200 bis 145 Millionen Jahre zurück) im heutigen Westfalen lebte. Wieso dieser Name? „Wiehen“, weil die Fundstelle im Wiehengebirge bei Minden lag; „Venator“, weil das mächtige Tier ein Räuber, genauer ein Raubsaurier gewesen ist. Der kapitale Bursche hat sich also im heutigen Westfalen herumgetrieben. Ab 1998 wurde die Fundstelle freigelegt: Zum Vorschein kamen Teile des Schädels, des Kiefers, der Beine, der Rippen und eben der Zähne. Daraus ließen sich mancherlei Rückschlüsse über die Gesamterscheinung des Dinos ziehen, wie der Wissenschaftler Dr. Achim Schwermann erläutert.

In einer Serie von drei kurzen Filmen will der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) unterhaltsame Einblicke in die akribische Arbeit der Paläontologen geben. Dazu hat man den Schauspieler und YouTuber (ohne diese Bezeichnung geht heute kaum noch etwas) Fabian Nolte engagiert, der auf möglichst muntere Weise mit Wissenschaftlern spricht und besonders durchs Münsteraner LWL-Museum für Naturkunde streift. Der Ansatz ist regional: „Saurierland Westfalen“ lautet die Serien-Überschrift. Ganz ehrlich: Ich habe im ersten Moment „Sauerland“ gelesen. Aber das nur ganz nebenher. Wir sind ja schließlich im Edutainment-Bereich, da darf man schon mal abschweifen.

Imposantes Museumsstück aus dem 3D-Drucker

Jetzt ist jedenfalls der erste von drei Filmen online. Wir erfahren unter anderem, dass der Wiehenvenator zwar an Land gelebt hat, aber nach seinem Tod ins (damals noch ganz anders ausgedehnte) Meer gespült worden ist. Dort wurden seine sterblichen Überreste von Sedimenten bedeckt und sind daher gut erhalten geblieben. Anhand der Fundstücke aus der Region Minden und anderen Weltgegenden haben die Wissenschaftler im Computer eine 3D-Animation erstellt, die sodann mit einem 3D-Drucker materialisiert wurde. Passend lackiert (hierbei spielte auch die Phantasie eine gewisse Rolle), steht der nach bestem Wissen rekonstruierte Wiehenvenator nun im Museum. Schau mir in die Augen, Großer…

Natürlich stellt Fabian Nolte auch die Pflichtfrage nach dem „Jurassic Park“, sprich: Könnte man Saurier durch aufgefundene DNA wieder zum Leben erwecken? Experte Achim Schwermann muss ihn enttäuschen: Höchst unwahrscheinlich sei das. In den verflossenen Jahrmillionen hätten sich allenfalls DNA-Schnipsel erhalten. Nolte findet es schade. Möchte er denn wirklich gern solchen Dinos an der nächsten Straßenecke begegnen? Schließlich trägt der Wiehenvenator auch in diesem Film den Beinamen „Das Monster von Minden“.

Der Film ist offenbar vor den Corona-Beschränkungen entstanden, soll aber im Lockdown den Appetit auf künftige Museumserlebnisse wachhalten. Zwei weitere Streifen – jeweils rund eine Viertelstunde lang – werden am 11. und am 18. Februar freigeschaltet: „Westphaliasaurus – Eine Paddelechse aus Westfalen“ und „Ichthyosaurus – Ein ,Fischsaurier‘ wird filetiert“. Küchentipps sind da wohl nicht zu erwarten.

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Alle drei Filme finden sich unter diesem Link.




Polar! Wirbel! Split!

O Mensch! O Wetter! (Foto: BB)

Es gab einmal Zeiten – nein, ich meine nicht „ohne Handy und Computer“, sondern: mit einfachem Wetter. Oder auch: einfach mit Wetter.

Es waren Zeiten, in denen nicht wegen jeder mittelprächtigen Schneeflocken-Ansammlung medial panisch aufgeschrien und „General Winter“ an die Eiger-Nordwand gemalt wurde. Zeiten, in denen es schlichtweg hieß, es werde in den kommenden Tagen kälter werden; vielleicht noch garniert mit ein paar Temperatur-Angaben. Es hat vollauf genügt. Daraus konnte man schon die entsprechenden Schlüsse ziehen. Pullover an, Mantel an, Mütze auf. Und so weiter. (Sicherlich gibt’s heute -zig YouTube-Videos, die das im Zuge deppenhafter Alltags- und Lebenshilfe erläutern: „Jetzt vorsichtig den Arm durch den Ärmel schieben… bis du die Hand wieder sehen kannst.“).

Wie im Polit-Betrieb, so herrscht jetzt auch rund um die Wetterkarte nur noch endlose Aufregung. Ständig werden wir angeschrien: Hochwasser! Hitzewelle! Schneechaos! Blitzeis! Und wenn das Virus mal eine kurze Verschnaufpause einlegt, werden die Wetterausbrüller erst recht umso lauter. Jetzt erzählen sie gerade uns etwas vom erschröcklichen „Polarwirbel-Split“, der uns spätestens am kommenden Wochenende bittere Kälte bescheren werde.

Polar! Wirbel! Split! Das klingt doch nach akuter Gefahr sondergleichen. Werden wir alle in Iglus hausen müssen? Wird uns der Russe die Gasheizung abdrehen, damit wir seinen vermaledeiten „Sputnik V“-Impfstoff kaufen? Hiiilfäääää!

So oder ähnlich geht’s auf allen Feldern der vernetzten Gesellschaft her. Wie soll man diese permanenten „Experten-schlagen-Alarm“-Zustände eigentlich mental verkraften? Der Blutdruck müsste ständig über die Normalmarke hinausschießen, wenn man das alles ernst nähme. Und der übelste Witz bei all dem? Der tatsächlich übermächtige Klimawandel geht im tagtäglichen Geschrei beinahe unter. Der Daueralarm trübt die Wahrnehmung der wirklichen Katastrophe.