„Hiermit trete ich aus der Kunst aus“ – ein Buch zum 100. von Joseph Beuys

Immer im Gespräch: Joseph Beuys (re.) im Jahr 1973. Foto: Rainer Rappmann / www.fiu-verlag.com / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

„Jeder Mensch ist ein Künstler“, meinte Joseph Beuys, der mit seinen Aktionen und Installationen die Kunst aus dem Elfenbeinturm des Elitären befreien wollte – und damit zu einem der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts wurde. Filz und Fett, Honig und Hirschgeweihe waren Materialien, aus denen er Kunst machte und das Publikum zum Nachdenken anregte.

Am 12. Mai würde der ebenso legendäre wie umstrittene Künstler, der die menschliche Kreativität zur „einzig revolutionären Kraft“ erklärte, 100 Jahre werden. Landauf, landab werden sich zahllose Ausstellungen mit seinem Leben und Werk beschäftigen. In Zeiten von Pandemie und Lockdown bietet sich alternativ ein jetzt erscheinendes Buch an: „Hiermit trete ich aus der Kunst aus.“

Zu lesen sind 25 höchst unterschiedliche Texte: Interviews, Statements, Notizen, Vorträge und Reden. Kunst und Politik, Lernen und Lehren, das war für Beuys nie zu trennen: Er lebte für die Kunst, kam als Professor täglich, auch in den Semesterferien, an die Düsseldorfer Akademie und stand seinen Studenten jederzeit zum Gespräch zur Verfügung. Das Sprechen und Diskutieren war für ihn bereits Teil der Kunst.

Viele Themen und Thesen klingen an

Sein erweiterter Kunstbegriff umfasste alle Bereiche des Daseins, sein Konzept von der „Sozialen Plastik“ als Gesamtkunstwerk schließt alle Menschen und Ideen mit ein. Es gilt, die Kreativität im Menschen freizusetzen, um eine freie Gesellschaft zu erschaffen. Dazu war ihm jedes Mittel recht. Ob er Fett in Zimmer-Ecken schmierte oder sich in Filzmäntel hüllte; ob er sich tagelang mit einem Kojoten einschloss; ob er – nach dem Rausschmiss aus der Düsseldorfer Akademie – eine „Freie Universität“ gründete; ob er (um gegen Entfremdung und Naturzerstörung zu protestieren) die „Grünen“ mitbegründete: alles diente dazu, das Leben zur Kunst zu erklären, den elitären Kunstbegriff einzureißen, die Zuschauer zum Denken und Mitmachen zu zu ermuntern.

Das Buch versucht, den disparaten Charakter und die provozierende Kunst von Beuys abzubilden, möglichst viele Themen und Thesen anklingen zu lassen. Vorangestellt ist die Rede zur Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises, die Beuys am 12. Januar 1986, wenige Tage vor seinem Tod, gehalten hat: die Hymne auf Lehmbruck ist ein Schlüssel zu seinem Werk und zugleich sein Vermächtnis.

Geprägt von Wilhelm Lehmbruck und Rudolf Steiner

Die Begegnung mit Lehmbrucks Werk war für ihn eine Art Erleuchtung und Erweckung. Der überzeugte Hitlerjunge Beuys hatte bei den Bücherverbrennungen 1938 ein Heft in die Hände bekommen, in dem auch ein Foto mit einer Skulptur von Lehmbruck abgebildet war: In Beuys reifte der Entschluss, Kunst zu studieren und sich mit Skulptur und Plastik auseinanderzusetzen, die Flamme, die er in dem Foto sah, zu schützen, die Fackel der Skulptur, die er spürte, weiterzutragen. Nicht bei Picasso oder Arp, Giacometti oder Rodin: nein, bei Lehmbruck lernte Beuys, „dass Plastik alles ist, dass Plastik schlechthin das Gesetz der Welt ist“.

Weil er die Anthroposophie von Rudolf Steiner verinnerlicht hatte, meinte Beuys, dass „plastisches Gestalten“ sich nicht auf „physisches Material“ beschränkt, sondern auch „seelisches Material“ einbezieht. Die Formel von der „Sozialen Plastik“ und die Vorstellung einer „Plastik der Moderne“, in der das „plastische Prinzip zur Umgestaltung des sozialen Ganzen“ dient, beruht darauf, wie Beuys seine Vorbilder – Lehmbruck und Steiner – interpretierte oder für sich neu erfand.

Das Märchen von den Krim-Tataren

Die Geschichte mit dem zufällig entdeckten Lehmbruck-Foto könnte – wie so vieles, was Beuys gesagt und getan hat – nur eine Nebelkerze und pure Erfindung sein. Immer wieder wird Beuys gebeten, seine Aktionen und Installationen sowie die biografischen Bezüge zu erklären: Dann raunt er dunkel und tischt das Märchen auf, dass er, nachdem er als deutscher Soldat und Stuka-Kampfpilot über Russland abgeschossen wurde, schwerverletzt von Krim-Tataren aus dem Trümmern gezogen wurde, dass sie seine Wunden mit Fett eingerieben und seinen Körper mit Filz warm gehalten haben…

Heute wissen wir: alles Fantasie und Selbst-Suggestion. Ein Suchtrupp der deutschen Wehrmacht hat ihn nach einem Tag gefunden und ins nächste Lazarett gebracht, kurze Zeit später hat Beuys wieder als Soldat weitergekämpft. Aber die Idee von Fett und Filz als Energie- und Wärme-Spender und Kunst-Material lässt sich mit dem Tataren-Märchen natürlich viel besser begründen. Dass sein ganzes Leben nur eine Erfindung war, hätte man schon 1964 merken können: da verfasst Beuys für ein Kunst-Festival einen Lebenslauf und bezeichnet alles als „Ausstellung“, auch seine Geburt 1921 in Kleve ist eine „Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde“.

Als ob man einen Pudding an die Wand nagelte

Der bizarre „Lebenslauf“ könnte behilflich sein, Beuys zu entmystifizieren. Im Buch wird über alles, was sein Leben und Werk bestimmt, geredet: Die „ideale Akademie“, das „Museum als Ort der permanenten Konferenz“, wieso „jeder Menschen ein Künstler ist“, was Filz und Fett, Hirschgeweihe, Schiefertafeln, Honig und Kreuze für seine „Sozialen Plastiken“ bedeuten, warum das Christentum für ihn elementar ist, sich durch den Tod Jesu das eigentliche Leben erst vollzieht und den Menschen zur Ich-Erkenntnis befähigt.

Aber bei allem, was Beuys sagt, bleibt das Gefühl, als würde man versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln, alles ist seltsam schwammig, redundant und unverständlich: Nichts wird erklärt oder begründet, vieles ist bloße Behauptung, manches reine Erfindung. Beuys hat über seine Ideen und Installationen permanent geredet, aber eine fundierte Theorie mit klar definierten Begriffen hat er nie geliefert: alles, auch dieses Buch, ist nur die Kunst und der Stoff, aus dem die Träume sind.

Joseph Beuys: „Hiermit trete ich aus der Kunst aus.“ Vorträge, Aufzeichnungen, Gespräche. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Wolfgang Storch. Edition Nautilus, Hamburg 2021, 160 Seiten, 15 Euro.




Maschinen-Oper und Elektronik: Erinnerung an Max Brand, dessen „Maschinist Hopkins“ 1929 in Duisburg uraufgeführt wurde

Der Kritiker war begeistert. Ein „geradezu sensationeller Erfolg“ war da 1929 in Duisburg über die Bühne gegangen: „Maschinist Hopkins“, die erste Oper des 32jährigen Max Brand. Der Beifallssturm des Premierenabends sei jedenfalls „doppelt überraschend“ für den „aus seiner Reserviertheit nicht so leicht aufzurüttelnden Niederrheiner“ gewesen, heißt es im Artikel Waldemar Webers. Vor 125 Jahren, am 26. April 1896, wurde Max Brand in Lemberg in der k.u.k. Monarchie geboren. Ein Anlass, um an sein Schicksal und sein weithin vergessenes Hauptwerk zu erinnern.

Vor 125 Jahren geboren: Max Brand (1896-1980). Foto: Universal Edition

Mit „Maschinist Hopkins“ zog die moderne industrielle Arbeitswelt auf der Musiktheaterbühne ein – eine Oper, die wie kaum eine andere in die Stahlkocherstadt Duisburg passte. Saladin Schmitt, damals Intendant der vereinigten Stadttheater von Bochum und Duisburg und Begründer des Ruhmes des Bochumer Schauspiels, hatte selbst die Inszenierung dieses Erstlings eines kaum bekannten Komponisten übernommen.

Für die Duisburger wurde dieser 13. April 1929 ein denkwürdiger Tag. „Maschinist Hopkins“ war „der größte Erfolg überhaupt, den die Duisburger Bühne seit den zehn Jahres ihres Bestehens zu verzeichnen hatte“, konstatierte der Kritiker Weber in den „Musikblättern des Anbruch“. Der Erfolg blieb nicht auf den „Premierenrausch“ des Uraufführungsabends begrenzt, heißt es weiter. „Die folgenden Aufführungen sahen – ein seit Jahren nicht mehr gewohnter Anblick – bis in die letzten Winkel ausverkaufte Häuser.“

Unerhört neuer Stoff für eine „Zeitoper“

In Augsburg und Gießen wurde in jüngerer Zeit die Oper „Maschinist Hopkins“ nachgespielt. (Fotos der Programmhefte aus dem Archiv von Werner Häußner)

Als „Zeitoper“ sollte sich „Maschinist Hopkins“ nicht mit „antiquierter, neben den Forderungen des Tages einher laufender Kunst“ befassen, sondern einen Zuschauer in seiner Gegenwart ansprechen, der sich selbst auf der Bühne mit „allen seinen Wünschen, Leiden, Sehnsüchten und seinem Wollen“ wiederfinden sollte. Der Stoff, aus dem Brand selbst sein Libretto formte, war „unerhört“ neu: Die Hauptpersonen sind Arbeiter; die Schauplätze setzen eine Maschinenhalle der Schwerindustrie in Kontrast zur mondänen Vergnügungswelt des Theaters, noble Direktorenbüros zur bedrückenden Sphäre billiger Kaschemmen.

Die Handlung, unter dem Einfluss moderner Filmästhetik gegliedert in zwölf Bilder, wirkt schnell geschnitten, kolportagehaft und trägt die Züge eines Krimis. Es geht um einen Arbeiter, der dank gestohlener Produktionsgeheimnisse aufsteigt, aber durch Erpressung wieder zu Fall kommt. Die Oper kennt auch eine schwärmerische Liebesnacht mit Schrekerschen Sphärenklängen und Puccini-Süße. Die Frau, die am Verbrechen mitbeteiligt ist, endet als billige Prostituierte durch die Hand ihres früheren Geliebten.

Ambivalente Figur mit Führer-Zügen

Brands trunkene Liebesmusik wirkt falsch, beinahe ironisch. Romantische Liebe ist nur die Fassade, dahinter lauert berechnende Kumpanei. Die Männer benutzen die Frau lediglich: Der eine, um das Wissen zu stehlen, das ihm seinen Aufstieg ermöglicht; der andere, um sich zu rächen und den Gang des Geschehens in seinem Sinn zu steuern. Nell, die sensible Künstlerin mit ihrem „unaussprechlichem Verlangen nach Dingen, die ohne Namen sind“, hat ihre Funktion erfüllt und wird verstoßen, während Hopkins, der Diener des schaffenden Geistes der Maschine seinen Weg „allein und unbeschwert“ gehen muss.

Mit dem Maschinisten Hopkins erschafft Max Brand eine ambivalente Figur, die wie kaum eine andere für den Zeitgeist steht: für die Bewunderung der Technik, für den Fortschrittsglauben des Futurismus, für die alles durchdringende Idee der Arbeit. Aber er ist ein „Mann aus Eisen“, ein Diener der Maschinen, auch eine überhöhte Figur, ein „neuer Mensch“, in dem sich die Faszination für einen „Führer“ wiederspiegelt, die vier Jahre später folgenreich Realität werden sollte. Die Arbeiter, für die er die Fabrik vor der Schließung bewahrt, marschieren am Ende unter dem Ruf „Arbeit, Arbeit …“ im Gleichschritt in die Maschinenhalle, eine amorphe Masse, in der es kein Individuum mehr gibt: ein Kollektiv unter dem Diktat des mechanischen Arbeitsrhythmus‘ der Maschine.

Singende Maschinen wie phantastische Fabelwesen

Doch Max Brand greift in seiner Oper noch weiter aus und trifft damit einen Nerv der Zeit. Die Maschinen sind bei ihm nicht bloße Accessoires eines Schauplatzes, sondern eigenständige Wesen mit Bewusstsein und Stimme. Sie singen von ihrer Versklavung durch den Menschen und von ihrer immensen, auch tödlichen Kraft. Sie werden stilisiert wie in der schwarzen Romantik: „Gigantische Maschinen wie phantastische Fabelwesen … hie und da blinkt ein glatter Metallteil nackt, wie ein bösartiges Auge, auf“, beschreibt eine Regieanweisung.

Die Überhöhung trägt religiöse Züge: Im Schlussbild soll der Aufbau der Hauptschalttafel für die Maschinen „symbolhaft und altarartig“ wirken, wie ein Tabernakel glitzernd im magischen Licht des Mondes. Fritz Langs „Metropolis“ lässt grüßen. Musikalisch orientiert sich Brand an Arnold Schönberg, den er intensiv studiert hat: Die Maschinen äußern sich in verschiedenen Formen deklamatorischen Sprechens und Singens. Schönbergs „Die Glückliche Hand“ wurde damals ebenfalls in Duisburg gespielt.

„Vision der Oper unserer Zeit“ oder skrupellose Erfolgsoper?

Die Duisburger Uraufführung von „Maschinist Hopkins“ war kein Theaterskandal wie die wohl bekannteste „Zeitoper“, Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ zwei Jahre zuvor in Leipzig. Doch die Kritik reagierte gespalten. Die Duisburger Rhein- und Ruhrzeitung schrieb, Brand sei der geborene Musikdramatiker, in seiner Musik gebe es keine Langeweile. Alfred Einstein kritisierte dagegen im Berliner Tageblatt „Maschinist Hopkins“ als „skrupellose Erfolgsoper, nacktes Filmgerüst für Musik“. Theodor W. Adorno hielt sie für hohl und hilflos, andere höhnten über ihre „dramatische und musikalische Minderwertigkeit“. Als „Vision der Oper unserer Zeit“ gerühmt, wurde „Maschinist Hopkins“ als „Oper des Jahres 1929“ ausgezeichnet und bis 1932 an 27 Theatern nachgespielt.

Max Brand. Foto: Universal Edition

Max Brand war 1907 mit elf Jahren mit seinen Eltern von Lemberg nach Wien übergesiedelt, nahm am Ersten Weltkrieg teil und studierte ab 1918 bei Franz Schreker und Alois Haba in Wien und Berlin. 1921 debütierte er mit (heute verschollenen) Werken beim Internationalen Musikfest in Winterthur.

In den zwanziger Jahren beschäftigte er sich mit den Möglichkeiten modernen Musiktheaters, gründete in Wien ein „Mimoplastisches Theater für Ballett“ und legte in einigen Essays kühne Reformideen für die Oper vor.

Brand schwebte eine Überwindung der „persönlichen Erfassung im Gefühlsmäßigen“ und der individuellen Auslegung eines musikalischen Geschehens vor. Stattdessen überlegt er eine „Loslösung musikalischer Geschehnisse und ihrer bühnenmäßigen Begründung vom rein menschlichen Beziehungsproblem“. Die Folge wäre eine Bühne, die nichts Konkretes mehr vorstellt, sondern ihr Leben mit seinen Bewegungen und Formen, Farben, Lichtern und Schatten aus dem „Sinn“ der Musik empfängt. Das Klangliche sollte in Licht und Farbe transponiert werden; der Mensch auf der Bühne nicht nach menschlichen, sondern nach rein musikalischen Notwendigkeiten handeln. Brand dachte an „Vorgänge abseits jeder Realistik“. Diese „Musik-Mechanisierung“ war damals eine visionäre Vorstellung, die etwa auch bei Arnold Schönberg greifbar wird, aber – soweit feststellbar – kein Echo in der Praxis gefunden hat.

Pionier der elektronischen Musik

1938 musste Max Brand als Jude Österreich verlassen und ging über Prag und Brasilien, wo er mit Heitor Villa-Lobos zusammenarbeitete, in die USA. Schon die in Berlin geplante Uraufführung seiner zweiten Oper „Requiem“ (1932) scheiterte an den Nazis. In New York gelang es ihm, sein Oratorium „The Gate“ zur Aufführung an der Metropolitan Opera New York zu bringen.

Stets begierig auf Neues und fasziniert von der Technik, entdeckte er die elektronische Musik für sich, mit der er sich seit Kriegsende zunehmend intensiv beschäftigte. Mit dem Techniker Frederick C. Cochran und dem Elektronik-Pionier Robert Moog erstellte er 1968 das „Moogtonium“, einen aus dem Trautonium entwickelten Synthesizer. Der funktionsfähige Prototyp ist heute im Museum im niederösterreichischen Langenzersdorf ausgestellt, das Max Brands Tonstudio bewahrt.

1975 kehrte Brand nach Österreich zurück, wo er vergessen und in den letzten Jahren dement 1980 starb. Seine Oper „Maschinist Hopkins“ wurde erst 1984 von John Dew in Bielefeld wiederentdeckt und wenige Male, etwa in Gießen und Augsburg, nachgespielt – leider aber nicht im Ruhrgebiet, wo das Thema Arbeit, Industrie und Maschine eigentlich ein Heimatrecht haben müsste.




„Herzzerreißend lustig“: Albert Ehrensteins Erzählung „Tubutsch“ aus dem Jahre 1908

„Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze…“

Das sind Anfangssätze, die man sich merkt, die gleich einen kaum widerstehlichen Sog ins Nichts ausüben. Sie leiten Albert Ehrensteins 1908 verfasste und 1911 publizierte Erzählung „Tubutsch“ ein, mit der er auf einen Schlag bekannt wurde. Selbst der rigide Karl Kraus hat Ehrenstein alsbald zu schätzen gewusst. „Tubutsch“ ist ein gleichermaßen mitreißender wie niederziehender Text. Der Göttinger Wallstein Verlag hat ihn dankenswerterweise „wiederentdeckt“ und mit zeitgenössisch-kongenialen Zeichnungen herausgebracht. Sie stammen von Oskar Kokoschka, mit dem Ehrenstein seinerzeit gelegentlich zusammengearbeitet hat.

Wie in so manchen großen Texten, passiert im Grunde wenig, ja, die Ereignislosigkeit wird sogar unablässig beschworen. Jener Tubutsch, arm an Besitz, an Erlebnissen und an verbliebenem Lebenswillen, streift ziellos durch Straßen und Gassen von Wien. Kein kultivierter Flaneur, sondern ein haltlos Umherirrender. Auf seinenen Wegen halluziniert er Turbulenzen und surreale Vorgänge ohne Unterlass. In jedem Moment kann alles und nichts passieren.

Da tritt ein parfümierter Polizist (damals eine Ungeheuerlichkeit) ebenso auf wie ein zu ungeahntem Leben erwachender Stiefelknecht namens Philipp, der sich nach Nordamerika aufmachen und beim US-Präsidenten Theodore Roosevelt anheuern will. Oder es lässt einer sein Butterbrotpapier bei einer Zeitreise ins urgeschichtliche Cambrium liegen. Man kann das alles gar nicht aufzählend wiedergeben. Unterschiede zwischen profan und erlesen gelten eh nicht mehr. Der Ich-Erzähler stellt klar: „Leute wie ich (….) müssen ihr Sensorium unaufhörlich füttern und sei es mit Geschäftsschildern, um über gähnende Leere hinwegzukommen.“

Ist selbst der Tod nur eine Witzfigur?

Das Ganze türmt sich auf zur Groteske der umfassenden Resignation, zur ewigen Komödie der Verbitterung. Zitat: „Man glaubt, ich sei lustig? Ja! Herzzerreißend lustig! Dies alles ist nichts als Galgenhumor.“ Doch nicht einmal damit genug. Selbst die Aussicht auf den Freitod verheißt Enttäuschung, denn auch der Tod könnte sich als bloße Witzfigur erweisen, kläglich und ohne jede Würde. Ja, hat denn gar nichts tieferen Sinn?

Man muss sich ein wenig an Ehrensteins Stil gewöhnen, so fremdartig ragt er ins Heute hinein. Doch die Befürchtung geht fehl, hier habe jemand die Sprache nur vor-expressionistisch aufgesteilt. Die zuweilen wirr und fahrig erscheinenden Metamorphosen aller Menschen und Dinge, notabene in Sigmund Freuds Wien imaginiert, rufen durchaus Erinnerungen an psychoanalytische Traumdeutungen wach. Sie münden zwar in einen verzagten Rückzug, wenn nicht in Selbstentleibung, werden aber in einer ungemein beweglichen, fiebrigen, manchmal geradezu feurig „sprühenden“ Art vorgebracht. Dann wieder gibt es ein Innehalten, gibt es Momente erhabener Lakonie. Und an manchen Stellen könnte man glauben, hier schreibe einer fast schon wie Franz Kafka. Oder auch wie ein Karl Valentin. Gar vieles steckt drinnen.

Irrwitzig leerlaufende Warenwelt

Die einsamen Gänge durch die Stadt wirken nicht nur für jene Zeit ausgesprochen „modern“, sie künden wie nebenher auch von Untiefen der Klassenfrage und von einer irrwitzig leerlaufenden, rundum austauschbaren Warenwelt. Im Jahre 1908 war das ziemlich unerhört, also im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, als noch gravitätische Sätze wie dieser mehrfach ironisch aufgerufene in Kraft waren: „Man muß das Dekorum wahren.“

Ein sehr schmaler, aber furioser Band, der die Lektüre allemal lohnt. Hernach sollte man sich das beklagenswert exemplarische Leben Albert Ehrensteins vor Augen führen, Karl-Markus Gauß gibt in seinem kundigen Nachwort eine Ahnung davon. Schon als Kind erlitt Ehrenstein antisemitischen Hohn und Demütigungen, später wurde er ins bitterarme Exil getrieben und vollends entwurzelt. Und wieder müsste man die Anfangssätze zitieren, die eben nicht von ungefähr kommen: „Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze…“

Albert Ehrenstein: „Tubutsch“. Mit 10 Zeichnungen von Oskar Kokoschka und einem Nachwort von Karl-Markus Gauß. Wallstein Verlag, Göttingen. 88 Seiten. 20 Euro.




Kein Verhandeln, kein Verzeihen – so isses, das verflixte Virus!

So ähnlich an vielen, vielen Dortmunder Hauswänden zu finden: Das Virus verbreitet sich eben auch in gesprühter Form. (Foto: Bernd Berke)

Schon seit geraumer Zeit kann ich mir das Grinsen nicht verkneifen, wenn ich die personalisierten Nachrichten vom Börsenindex DAX lese, der im Wirtschaftsjournalismus oft genug tatsächlich als Dachs oder gleich als menschelndes Wesen auftritt.

Mal tänzelt der Dax/Dachs „seitwärts“, mal bricht er nach oben aus, dann wieder klettert er mühsam aufwärts oder vollführt nur „Trippelschritte“. Mal tritt er sogar auf der Stelle, mal „schnuppert er Höhenluft“, schließlich stürzt er vielleicht ab. Und überhaupt sind auch Bulle und Bär nie weit, wenn der Dachs sich einstellt. Effekt: All das erscheint als naturwüchsig, als reine Biologie. Eine meiner Lieblingsformulierungen lautet übrigens: „Dax geht gefestigt ins Wochenende.“ Das hat der possierliche Geselle sich einfach verdient.

Derweil benimmt sich unser aller Corona-Virus offenbar ebenfalls wie ein humanoides Wesen, es ist ja nun – im Gegensatz zur Börse – zumindest auch ein biologischer Organismus. Ihm werden just allerlei menschliche Verhaltensweisen zugeschrieben oder abgesprochen, so jüngst wieder von der Kanzlerin im Bundestag. Ich zitiere mit Auslassungen:

„Das Virus verzeiht keine Halbherzigkeiten (…) Das Virus verzeiht kein Zögern (…) Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln…“

Es verzeiht nicht, es verhandelt nicht. Sehen wir es nicht geradezu am Konferenztisch vor uns, mit all seinen stacheligen Ausbuchtungen, in all seiner Krönchenhaftigkeit, patzig und trotzig jeden Vorschlag ablehnend? Fast schon eine putzige Vorstellung, wenn man nicht wüsste, wie ernst es in Wahrheit ist.

Auch sonst haben wir schon manches über das Virus-Verhalten erfahren, beispielsweise: „Es“ macht keinen Urlaub, es kennt keine Ferien, es kennt auch keine Feiertage und keine Staatsgrenzen. Auch war schon zu lesen: „Das Virus trickst uns aus“ oder – neckischer noch – „Das Virus schlägt uns ein Schnippchen“. Und wie sagte Katrin Göring-Eckardt (Grüne) heute bei Anne Will so schön: „Das Virus freut sich über unsere Bedenken.“

Naja, und so weiter. Wir kennen uns da inzwischen ein wenig aus, jedenfalls mit der sprachlichen Darstellung. Ansonsten sind wir schon mal ziemlich ratlos.




„Kreativität aus der Krise“: Manuel Schmitt über seine Revier-Herkunft und seine Inszenierung von „Romeo und Julia“

Szenenfoto aus Boris Blachers „Romeo und Julia“ auf der Bühne des Theaters Duisburg. Foto: Hans Jörg Michel

Es ist eine der faszinierendsten Liebesgeschichten der Weltliteratur: Zwei junge Menschen aus seit Generationen verfeindeten Familien, eine verbotene Liebe auf den ersten Blick, eine schwärmerische Liebesnacht und der Tod nach tragischer Verkettung glückloser Umstände. „Romeo und Julia“ erschüttert bis heute mitfühlende Seelen.

Kein Wunder, dass der Stoff vielfach in Musik gefasst wurde: Allein über 40 Opern werden gezählt. Die bekanntesten Vertonungen stammen von Vincenzo Bellini („I Capuleti e i Montecchi“) und von Charles Gounod (kürzlich an der Deutschen Oper am Rhein und in Aachen neu inszeniert). Ein kaum bekanntes Juwel verfasste Riccardo Zandonai („Giulietta e Romeo“), andere stammen von Heinrich Sutermeister oder dem Bellini-Zeitgenossen Nicola Vaccai.

Für einen an Corona adaptierten Spielplan hatte die Deutsche Oper am Rhein (Düsseldorf/Duisburg) eine Version aus dem 20. Jahrhundert ausgewählt: Im November 2020 sollte Boris Blachers „Romeo und Julia“ Premiere feiern, inszeniert von Manuel Schmitt, der vor zwei Jahren in Gelsenkirchen mit Georges Bizets „Die Perlenfischer“ einen markanten Erfolg landen konnte. Allein – dazu kam es nicht; der Herbst-Lockdown machte eine Live-Aufführung der fertig geprobten Oper unmöglich. Jetzt wird sie wenigstens medial nachgeholt: Ab Samstag, 17. April, 19 Uhr, streamt die Deutsche Oper am Rhein die Produktion, aufgezeichnet im März im Theater Duisburg.

Corona-Lockdown und Wasserschaden

Der Regisseur Manuel Schmitt. Foto: Esther Mertel

Für Manuel Schmitt, der in Mülheim/Ruhr aufgewachsen ist, ein Grund zur Freude. Denn die Pandemie hat den 32-Jährigen in einer wichtigen Phase seiner Karriere voll erwischt. In der Zeit seit März 2020 hätte er in den Münchner Kammerspielen, an der Oper Frankfurt und erneut am Musiktheater im Revier vier wichtige Premieren gehabt. Einen Tag vor der Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ im sächsischen Radebeul wurde der erste Lockdown verkündet. Und seine Inszenierung einer selten gespielten Oper des Italieners Saverio Mercadante nach Schillers „Die Räuber“ in Hildesheim musste im September 2020 nach der Premiere wegen eines Wasserschadens abgesetzt werden. Trotzdem sagt Manuel Schmitt, es gehe ihm eigentlich noch ganz gut: „Ich bereite zuhause meine Produktionen vor und konnte bisher einen Teil der geplanten Proben abhalten. Daher bin ich vielleicht noch in einer vergleichsweise glücklichen Position.“

„Hier hängt mein Herz“

Schmitt bezeichnet sich selbst als „Kind des Ruhrgebiets“: „Hier hängt mein Herz“, sagt der junge Regisseur mit derzeitigem Wohnsitz in München. „Im Rhein-Ruhr-Gebiet zu arbeiten, ist toll“. Zwar steht in seinem Ausweis Oberhausen als Geburtsort, aber Schmitts Heimat ist Mülheim. Ein mit klassischer Musik groß gezogenes Bildungsbürgerkind ist er nicht. Er wuchs in einer Familie auf, die eher zu technischen Berufen hin orientiert ist. Doch sein Interesse für Musik wurde noch vor der Grundschule geweckt und zunächst im Klavierspiel ausgelebt. Ein einschneidendes Erweckungs-Erlebnis gab es nie: Der kleine Manuel ging zwar mal in „Hänsel und Gretel“, aber an die Begeisterung über Engelbert Humperdincks Oper erinnert sich nur noch die begleitende Patentante.

„Mit Zehn ging’s dann los“, blickt Schmitt zurück. Aus heiterem Himmel kam ein Casting zum Musical „Tabaluga & Lilli“ mit Peter Maffay in Oberhausen. „Ich wusste nicht, was auf mich zukommt, hab‘ aber dann zwei Jahre mitgespielt.“ Der Theater-Virus wirkte: Manuel Schmitt erschnupperte in Essen „die völlig neue Welt der Oper“. Er hospitierte am Aalto-Theater, war dort Statist, assistierte unter anderem bei Willy Decker bei der Ruhrtriennale, erinnert sich an eine ihn faszinierende „Aida“ in Gelsenkirchen. Am Aalto hat er auch gemerkt, „was es für einen Drive hat, mit Leuten wie Hans Neuenfels oder Barrie Kosky zu arbeiten. Ohne diese Erfahrung wäre ich meinen Weg nicht gegangen.“

Dazwischen lag eine Ruhrgebiets-Jugend zwischen Mülheim, Oberhausen und Essen und das Abitur am Gymnasium Heißen: „Vier U-Bahn-Stationen, und man hat alles um sich rum“, schwärmt Schmitt, „ob einen Rückzugsort im Wald oder eine heiße Party.“ Er schätzt die offenen Menschen, das multikulturelle Umfeld, den hohen Stellenwert von Kultur. „Ich glaube an das Potenzial des Ruhrgebiets: Hier gibt es die Menschen, den Raum, die Innovation.“

Regie und Philosophie

Als einer von zweien bestand er die Aufnahmeprüfung an der Münchner Bayerischen Theaterakademie, benannt nach August Everding, einem gebürtigen Bottroper. 2013 schloss er sein Regiestudium mit einer Inszenierung von Philip Glass‘ „Galileo Galilei“ ab. Danach, um tiefer zu blicken, folgte noch ein Philosophie-Studium an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München.

Manuel Schmitt bei einer Probe von „Romeo und Julia“. Foto: Esther Mertel

Dass er nun eine unbekannte Oper von 1943 mit einem Weltliteratur-Thema inszeniert hat, macht ihm „großen Spaß“. Boris Blacher, ein in China geborener Kosmopolit, 1975 in Berlin gestorben, hat keinen Blockbuster geschrieben, sondern den Stoff von Romeo und Julia auf seine Essenz konzentriert. Damals durch den Krieg, heute durch die Pandemie, sind die Möglichkeiten, große Oper zu spielen, begrenzt. Blacher hat sein Werk den Umständen der Zeit angepasst: Eine gute Stunde Spieldauer, neun Musiker, zwei Hauptrollen, der Rest kann aus dem kleinen Chor besetzt werden. Ideal also für einen an Corona angepassten Spielplan.

Blachers Musik gibt sich akribisch konstruiert und völlig unromantisch, erreicht aber mit einem „Minimum an Mitteln ein Maximum an Wirkung“, wie der Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt schrieb. Die strenge, rhythmisch betonte Schreibweise erinnert an Paul Hindemith, aber auch an den Esprit der französischen Sachlichkeit eines Darius Milhaud. Zusätzlich gebrochen wird die Handlung – streng nach Shakespeare, aus dessen Drama Blacher den Text destilliert hat – durch einen Chansonnier: Der singt einen Prolog und zwei Songs nach Art von Kurt Weill, die bezeichnenderweise bei der offiziellen Uraufführung der Oper in Salzburg 1950 weggelassen wurden.

Ein pazifistisches Werk

Bemerkenswert für Manuel Schmitt ist, dass Blacher seine Oper mitten in der Kriegszeit auf einen Text des Engländers Shakespeare geschrieben hat und mit einem Friedensappell beginnen lässt: „Zu Boden werft, bei Buß‘ an Leib und Leben, die mißgestählte Wehr aus blut’ger Hand“, singt der Chor am Anfang. „Heute ist schwer herauszulesen, dass die Oper unter den damaligen Umständen ein pazifistisches Werk war“, ist sich Schmitt sicher. Blacher lasse sie auch nicht mit dem Tod der Liebenden enden, sondern reflektiere die Auswirkungen der Liebe. Für Schmitt eine positive Auswirkung der Krise: Statt der üblichen „großen“ Opern erlebten Werke eine Renaissance, die vorher unbeachtet geblieben seien oder die man sich nicht zugetraut habe. „Wir schlagen Kreativität aus der Krise.“

Schmitt stört es überhaupt nicht, dass er derzeit eher unbekannte Opern – wie die von Mercadante, Marschner oder jetzt Blacher – inszeniert. „Publikum und Ausführende schauen unbelastet auf diese Stoffe. Wir können frei von Erwartungen und Sehgewohnheiten die Stärken und Schwächen solcher Werke aufdecken. Man wächst an den Vorlagen. Und ich bin sicher, dass die Krise ästhetisch und in den Spielplänen Spuren hinterlassen wird.“ So freut sich der Theatermann, dass er seine nächste große Herausforderung in Gelsenkirchen bestehen kann: Dort soll er demnächst Gioachino Rossinis Oper „Otello“ proben. Das bedeutet für ihn absolutes Heimatfeeling: „Wenn ich sage, ich gehe nach Hause, dann meine ich das Ruhrgebiet.“

Die Online-Premiere von „Romeo und Julia“ am Samstag, 17. April 2021, 19 Uhr, wird von einem Live-Chat mit Regisseur Manuel Schmitt und Dramaturgin Anna Grundmeier begleitet. Danach ist das Stück für sechs Monate – bis 17. Oktober – kostenfrei online abrufbar. Unter der musikali­schen Leitung von Christoph Stöcker wurde es am 18. und 19. März aus sechs Kameraperspektiven im Theater Duisburg aufgezeichnet.

Weitere Informationen zur Inszenierung hier und zum Stream auf www.operamrhein.de




Künstlersohn, Museumsdirektor und Stifter: Ulrich Schumacher gestorben

Liebenswerte Erinnerung: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem KInderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. - Emil Schumacher: "Ulrich am Tisch" (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Im März 2017 mit einer liebenswerten Erinnerung an seinen Vater Emil: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem Kinderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. – Emil Schumacher: „Ulrich am Tisch“ (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Traurige Nachricht aus Hagen: Der Museumsdirektor und Museumsstifter Ulrich Schumacher ist mit 79 Jahren nach langer schwerer Krankheit gestorben. Ohne ihn hätte es das Hagener Emil-Schumacher-Museum (ESMH) nicht gegeben, das seit 2009 zusammen mit dem Osthaus-Museum das Hagener Museumszentrum („Kunstquartier“) bildet.

Am 3. September 1941 als Sohn des berühmten Malers Emil Schumacher († 1999) und dessen Frau Ursula (geb. Klapproth) in Hagen geboren, studierte Ulrich Schumacher Kunstgeschichte u. a. bei Max Imdahl an der Ruhr-Uni Bochum. 1972 schloss er das Studium mit der Promotion ab. In der Folgezeit sichtete und katalogisierte er die bedeutsame Schenkung des Sammlerpaares Sprengel an die Stadt Hannover.

1976 kam er ans Museum in Bottrop und wurde dort 1983 Gründungsdirektor des damals neuen Josef Albers Museums, das er über Jahrzehnte leitete und weithin bekannt machte. Als Stifter und Museumsgründer beschenkte er seine Heimatstadt Hagen mit einer reichhaltigen Sammlung aus dem Nachlass seines Vaters. Aus diesem Fundus kann das Emil-Schumacher-Museum immer wieder neue, aufschlussreiche Ausstellungen zu Emil Schumacher und seinen Zeitgenossen bestreiten.

Ulrich Schumachers Bedeutung für die Museumslandschaft des Ruhrgebiets kann kaum überschätzt werden.




Lasst uns Luftschlösser bauen – Peter Handkes Dämonen-Geschichte „Mein Tag im anderen Land“

Eigentlich ist er Obstgärtner. Seine ganze Leidenschaft zielt darauf, die alten Apfelsorten zu veredeln, „Jonathan“, „Boskoop“, „Ontario“, die „Gravensteiner“. Doch dann wird er von „Dämonen“ heimgesucht, verfällt in einen lallenden Singsang, pöbelt alle und jeden grundlos an, brabbelt unverständliches Zeug und spricht in Zungen. Von Wahn und Raserei gepackt stapft er umher, macht sich überall Feinde und wird von allen gehasst.

Abends kehrt er, müde und zerschlagen, zurück auf den Friedhof, auf dem er sein Zelt aufgeschlagen hat und die Nächte mit Alpträumen verbringt. Irgendwann ist er nicht mehr der einzige Mensch, der in der Rolle des Besessenen herumtobt. Andere tun es ihm nach und werden, aus Verachtung und Furcht und weil manche glauben, der „Dämon“ und seine Anhänger würden der Gesellschaft den Spiegel vorhalten, mehr schlecht als recht geduldet. „Zuletzt“, so erzählt der wie durch ein Wunder eines Tages Geläuterte, „bestand ich, vom Morgen bis in die Nacht, nur noch aus Geschrei. Es war das freilich ein Schreien, das nicht aus mir herauskonnte, statt Aufschreie „Inschreie“, und zwar in einem fort, ohne ein Absetzen. Und niemand, der mich hörte, oder mir zuhörte.“

Heilung durch den „guten Zuschauer“

Plötzliche Heilung: Mit seiner Schwester, der einzigen Person, die zu ihm hält, steht er am Ufer eines Sees. Ein paar Männer ziehen ein Fischerboot aus dem Wasser, bilden einen Halbkreis: in der Mitte ein Mann, der den „Dämon“ sanft anblickt. Sein „Zuschauen“ ist zugleich ein „Hinschauen“ und ein „Hinhören“. „Da bist du ja wieder, mein Freund!“ begrüßt der „Gute Zuschauer“ den schlagartig von Wahn und Raserei befreiten Erzähler, der sich gern einreihen in den „Chor der Seefischer“ und dem „Guten Zuschauer“ als Bruder folgen würde. Aber: „Nein. Du gehörst nicht zu uns, Freund. Du hast hier nichts zu suchen. Weg mit dir. Und auf der Stelle, dalli-dalli. Hinüber ins Land hinterm See mit dir, Nachbar. Und dort drüben wirst du erzählen und den Leuten (…) weitergeben, was dir geschehen ist, verstanden?“

Nein, wir verstehen es nur schwer. Denn was uns Literaturnobelpreisträger Peter Handke in einer „Dämonengeschichte“ von seinem „Tag im anderen Land“ berichtet, ist kaum zu entziffern. Man könnte die wundersame, mit Bibel-Motiven und Heilands-Erlebnissen gezwirbelte und mit einer Mischung aus altväterlichem Gemurmel und modischem Kauderwelsch gewürzte Erzählung für eine verkappte Selbstbiografie halten, für ein ironisches Spiel mit allem, was Handke lieb und heilig und manchmal vielleicht auch ein bisschen peinlich ist.

Anspielungen auf eigene Werke

Das fröhliche Wandern und freie Herumschweifen spielt, wie fast immer bei Handke, eine große Rolle. Kaum ein Buch, das sich nicht dem Wandern verdankt, einmal auch zu einer heftig umstrittenen Pilgerreise durch ein vom Bürgerkrieg zerstörtes Ex-Jugoslawien ausartet und ihn sogar als Redner ans Grab eines Massenmörders geführt hat. Doch lassen wir den alten Streit. Folgen wir Handkes Spiel, das diesmal sogar ein wenig selbstkritisch daherkommt und manche seiner Derwisch-artigen rhetorischen Irrläufer korrigiert und einige seiner Werke lächelnd verballhornt.

Wer beim pöbelnden Dämon an den frechen Jungspund denkt, der seinen arrivierten Schriftsteller-Kollegen der „Gruppe 47“ „Beschreibungs-Impotenz“ attestierte und mit seiner „Publikumsbeschimpfung“ das Theater aufmischte, liegt wohl nicht verkehrt. Wer auf beiläufig in den Erzähl-Fluss eingestreute Signalworte achtet, wird Hinweise auf Handkes „Versuch über die Jukebox“ finden, auf „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, „Die Geschichte des Bleistifts“, den „Versuch über die Müdigkeit“, „Die Hornissen“, „Die Obstdiebin“, „Die Unvernünftigen sterben aus“.

Die Kasperle-Frage: „Seid ihr alle da?“

Lange scheint es auch so, als würde der von seinen Dämonen befreite Obstgärtner, der „im anderen Land“ die Liebe findet, ein Kind zeugt und von den Menschen gegrüßt wird, zur Ruhe kommen. „Einzig zählte: Ich bin woanders. Und: Nur jetzt nicht heim. Nie mehr nachhause!“ Das wünscht sich der Erzähler im Namen von Handke, der einst seiner Heimat Österreich entfloh, in einem verwunschenen Haus bei Paris lebt und, wenn er nicht gerade mit dem Bleistift seine Gedanken fixiert und eine Welt aus Worten erfindet, im seinem Garten die Apfelbäume pflegt.

Im Traum aber kehrt er zurück nach Hause, auf seinen alten Friedhof, und ist zutiefst erschüttert. Im Spiegel erblickt er einen müden Mann, der, „so gar nichts von glühenden Augen, gesträubten Haaren, geblähten Nüstern“ mehr hat. Doch keine Bange, beruhigte sich der Erzähler, das „unausrottbar Widerständische“ lebt noch, „ohne es WIRD nichts“, ist „nichts als Dasein, und Dortsein, und ewig seelenloses Sein.“ Lasst uns „Luftschlösser“ bauen und „Salz“ streuen ins Buch des Lebens, ruft der zum vorlauten Kaperle mutierende Autor und fragt schelmisch: „Seid ihr alle da?“

Peter Handke: „Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonengeschichte“. Bibliothek Suhrkamp, 93 Seiten, 18 Euro.




Zehn Jahre Revierpassagen – und wie weiter?

Unser Logo bleibt erhalten – Meeresfoto aus Boltenhagen/Ostsee (© Bernd Berke), Schriftgestaltung © Thomas Scherl.

Soso. Zehn Jahre sind also heute schon herum. Zehn Jahre Revierpassagen. Am 11. April 2011 sind die ersten Zeilen erschienen. Seither sind (auch aus dem Archiv) dermaßen viele Texte und Bilder hinzugekommen, dass der Speicherplatz beim Host mehrfach erweitert werden musste.

Ich wüsste nicht, welches Fazit ich ziehen sollte, das alle Fährnisse dieses Zeitraums beträfe und bündig zusammenfassen könnte. Im Laufe der Jahre, das muss man sich einfach eingestehen, haben die frischen Impulse aus der Anfangszeit etwas nachgelassen. Und die Reichweite? Ist hin und wieder ganz in Ordnung, aber gewiss nicht überragend. Allerdings gab es immer mal wieder Zuspruch und positive Rückmeldungen. Danke dafür.

Die Sache mit dem „Ehrenamt“

Auf Dauer hat es sich als misslich erwiesen, dass bloße Kulturberichterstattung ein „Verlustgeschäft“ ist, wenn keinerlei Subventionen oder Spenden fließen (und wenn man mal die „ideellen Werte“ außen vor lässt). Versucht einmal, Autorinnen und Autoren über eine Dekade bei Laune zu halten, wenn sie keine Honorare bekommen können. „Ehrenamt“? Gut und schön. Jedoch nicht für alle Tage…  Aber Spenden einwerben? Ist meine Sache nicht. Erst recht nicht in diesen Zeiten.

Sehr schwer hat es auch die Revierpassagen getroffen, dass Ende 2019 Martin Schrahn verstorben ist, einer der kenntnisreichsten und wortmächtigsten Mitarbeiter überhaupt. Seine Beiträge fehlen schmerzlich. Bis heute und für die kommende Zeit.

Vorfälle wie im richtigen Leben

Demgegenüber erscheint es geradezu läppisch, dass sich aus unerfindlichen Gründen zwischen zwei weiteren Autoren eine Differenz aufgetan hat. Der eine wollte nicht mehr weiter für die Revierpassagen schreiben, wenn der andere bliebe. Keine Namen! Doch welch eine kindische Attitüde, deren Ursache und Anlass nicht offen und ehrlich geklärt werden konnten. Ein weiterer Beiträger, hauptsächlich Buchautor, war durch den Tenor einer Rezension (die er sich von uns erbeten hat) so vergrätzt, dass er fortan keine Zeile mehr beigesteuert hat. Traurig wiederum: Ein ehedem reger Autor ist ernstlich erkrankt und seitdem auf Pflege angewiesen.

Andere Mitarbeiter(innen) sind in festen Jobs gelandet oder auf ihren vorherigen Posten mehr gefordert worden. Sie haben keine Extrazeit mehr fürs regelmäßige Bloggen. Ihnen alles Gute für ihre beruflichen Aufgaben.

Ihr seht: Bei den Revierpassagen sind halt im Laufe der Zeit einige Dinge vorgekommen, wie es sie auch im sonstigen Leben gibt.

…und dann kam noch Corona

Und dann kam schließlich noch Corona hinzu. Es mangelt(e) an Kulturveranstaltungen, über die sich noch berichten ließe. Gewiss: Man hätte zu einem reinen Buch- und Literatur-Blog übergehen können. Aber dann hätte man das Ganze wohl umbenennen müssen, vielleicht in „Leserevier“, „Textpassagen“ oder dergleichen. Außerdem wollen die vielen Bücher auch erst einmal gelesen und besprochen sein.

Und nun? Wird lockdownhalber nicht schäumend gefeiert, sondern nüchtern zurückgeblickt. Jedenfalls gebührt allen Autor(inn)en herzlicher Dank, die weiterhin am Projekt mitwirken.

Nach dem Lustprinzip

Für mich habe ich beschlossen, künftig etwas kürzer zu treten und den Ereignissen noch weniger hinterdrein zu laufen. Keine Termin- oder Nachrichten-Jagd also. Mit Tageszeitungen und deren personellen und technischen Ressourcen können wir eh nicht konkurrieren. Das haben wir zwar nie ernsthaft versucht, sondern bestenfalls das eine oder andere Zeichen gesetzt – zuweilen kräftiger, als dies wiederum auf den Kulturseiten der Ruhrgebiets-Tagespresse mit ihren arg begrenzten Umfängen möglich ist.

Fortan wird es hier jedenfalls noch deutlicher nach dem Lustprinzip zugehen.

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In eigener Sache, Ergänzung

P. S. Aus einigen Beiträgen zu den Revierpassagen und etlichen weiteren Texten ist inzwischen ein kleines Buch hervorgegangen (132 Seiten, 16 Euro). Es ist vor wenigen Tagen als BoD (Book on Demand) in Jürgen Brôcans „edition offenes feld“ erschienen und u. a. auf diesem Wege erhältlich.




Jede Menge Licht: Der Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann wird 75

Adolf Winkelmann vor dem „Dortmunder U“, auf dem seine Film-Installationen laufen. (Foto: Roland Gorecki / Dortmund Agentur)

Sagen wir mal so: Adolf Winkelmann war so klug und weitsichtig, praktisch zeitlebens in Dortmund zu bleiben. In Städten wie Berlin oder Hamburg hätte er sich anfangs wohl gegen viele durchsetzen müssen, hier aber ist er sozusagen gleich singulär hervorgetreten und hat zeitig etwas gegolten. Von hier aus, in der „unaufgeregtesten Großstadt der Republik“ (wie die „Zeit“ mal schrieb), konnte er nach und nach bundesweit bekannt werden. Noch dazu dürfte sein Hiersein stets eine Herzensangelegenheit gewesen sein.

Von nichts kommt nichts: Der Mann, der an diesem Samstag (10. April) 75 Jahre alt wird, verfügt – ganz gleich, an welchem Ort – natürlich über technische und kreative Begabungen, die längst reiche Früchte getragen haben und zu großen Verdiensten angewachsen sind. Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann würdigt ihn so: „Adolf Winkelmann ist ein herausragender Filmemacher, Ausbilder und als Künstler ein Glücksfall für Dortmund“, kurzum: „einer unserer wichtigsten Kulturbotschafter“. Wohl wahr. Wer, wenn nicht er? Wo doch andere große Söhne der Stadt – Peter Rühmkorf, Martin Kippenberger, Norbert Tadeusz usw. – anderswo ihren Weg gemacht haben.

Mit „Die Abfahrer“ (1978) und „Jede Menge Kohle“ (1981) hat Adolf Winkelmann sozusagen d i e authentischen Ruhrgebietsfilme jener Jahre gedreht, gleichermaßen komödiantisch wie präzise und zeitgemäß in der sozialen Beschreibungskraft. Gewiss keine Glorifizierung der Gegend, aber doch Liebe zur Region und ihren Menschen mitsamt allen Brüchen und Verwerfungen. Auch heute noch, beim Wiedersehen, haben diese frühen Filme Bestand. Das Kultpotenzial ist unverwüstlich, legendär zudem das Repertoire an schnoddrig-coolen Haltungen und Sprüchen Marke Revier, allen voran der Klassiker: „Es kommt der Tag, da will die Säge sägen.“

Es folgten kaum minder prägnante Streifen wie „Super“ (1984), „Peng! Du bist tot!“ (1987), „Der Leibwächter“ (1989) und das um den Revierfußball kreisende Werk „Nordkurve“ (1993). 2016 reichte Winkelmann mit der Romanverfilmung „Junges Licht“ (Vorlage von Ralf Rothmann) einen weiteren, alsbald ebenfalls preisgekrönten Ruhrgebietsfilm nach, der im Dortmund der 1960er Jahre spielt und höchst eindringlich die Kinder- und Jugendjahre eines Bergarbeitersohnes schildert. Wenn man so will, ist es eine Vorgeschichte zu den „Abfahrern“ und zu „Jede Menge Kohle“. Und es ist ein grandioser Heimatfilm der ganz anderen Art, der sich einfach „richtig“ anfühlt. Zwischendurch kam – neben etlichen anderen Produktionen – die bewegende und bestürzende Pharma-Skandalchronik „Contergan“ (ARD-Zweiteiler, 2007) heraus.

Mehrfach erhielt der Regisseur den Deutschen Filmpreis, auch der Grimmepreis blieb kein Einzelstück. Aber wir wollen nicht alle Trophäen aufzählen und nur noch kurz erwähnen, dass er 2003 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Filmakademie gehörte.

Wenn man sich noch einmal vor Augen führt, welche Darsteller(innen) in Winkelmanns Filmen zu sehen waren, so weiß man, dass er mit seinem soliden Können und seinen Stoffen einige der Besten überzeugt hat. Die Skala reicht – um nur wenige Beispiele zu nennen – von Hermann Lause und Martin Lüttge über Günter Lamprecht und Gottfried John bis zu Matthias Brandt, August Zirner und Peter Fitz. Sogar in Nebenrollen (!) traten Größen wie Hannelore Hoger und Ulrich Wildgruber auf. Und selbstverständlich hatte die unvergessene Tana Schanzara mehrmals einen Ehrenplatz im Winkelmann-Kosmos.

Über alle Kinofilme hinaus, hat Winkelmann in Dortmund ein weithin sichtbares Zeichen seines Wirkens setzen können: Zum Ruhrgebiets-Kulturhauptstadtjahr 2010 entwarf er – als Krönung fürs „Dortmunder U“ – die „Fliegenden Bilder“, eine bei Tag und Nacht aufleuchtende Film-Installation hoch droben auf der ehemaligen Brauerei. Seine Arbeit steigert die Aura des ohnehin schon imposanten Dortmunder Wahrzeichens. Inzwischen gehören 150 Filme zum Bestand, darunter Szenen mit meterhohen Tauben (quasi die Wappentiere des einstigen Reviers), schwarzgelber Kickerseligkeit oder schäumendem Bier, doch auch Kreationen, die über regionale Befindlichkeiten hinausweisen. Außerdem gibt es zuweilen tagesaktuelle Bezüge. Um all das fortzuführen, nahm die nicht gerade übermäßig reiche Stadt richtig Geld in die Hände: Ende 2020 wurden die mit rund 6000 LEDs ausgestatteten Lamellen ersetzt und die Technik wurde runderneuert. Kostenpunkt dafür: 2,6 Millionen Euro. Aber wer will da kleinlich sein? So gut wie alle Auto-, Rad-, Bahn- oder Busfahrenden und alle Passantinnen, die seit 2010 in der Dortmunder Innenstadt aufgekreuzt sind, kennen diese Schöpfung aus Licht.

(Nicht nur) das Revier im Visier: Adolf Winkelmanns neues Buch im Verlag Henselowsky Boschmann.

Soeben neu erschienen ist Adolf Winkelmanns Buch „Die Bilder, der Boschmann und ich“ im Bottroper Verlag Henselowsky Boschmann (176 Seiten, 14,90 Euro): Im Gespräch mit dem Verleger Werner Boschmann erzählt Adolf Winkelmann über sein Leben und seine Kunst; eine ausführliche Retrospektive und eine längst nicht nur anekdotische Einführung ins Werk, an der man künftig schwerlich vorbeikommen wird.

Wer darauf wetten sollte, dass Winkelmann gebürtiger Dortmunder sein muss, hätte verloren. Der Filmemacher ist zwar durch und durch von dieser Stadt geprägt, er wurde aber am 10. April 1946 im sauerländischen Hallenberg am Rand des Rothaargebirges geboren. Als er etwa drei Jahre alt war, zogen seine Eltern in die größte Stadt Westfalens: Adolf Winkelmann wuchs in unmittelbarer Nähe zur Dortmunder Union-Brauerei (Jahrzehnte später just das „Dortmunder U“) auf, machte sein Abitur am hiesigen Helmholtz-Gymnasium und studierte von 1965 bis 1968 an der damaligen Werkkunstschule Kassel. Dort muss ihn das Heimweh ergriffen haben, denn danach zog er wieder nach Dortmund und blieb der Stadt treu. Hier hat er rund 40 Jahre lang als Professor für Film-Design an der Fachhochschule gelehrt und dabei Generationen von Filmschaffenden in Feinheiten des Metiers eingeweiht.

Die Stadt Dortmund erinnert in einer Geburtstags-Würdigung an Winkelmanns ersten Experimentalfilm, der vor fast 54 Jahren in Kassel entstanden ist und der da lakonisch heißt: „Adolf Winkelmann, 9.12.1967  11 h 54″. Der Filmemacher, damals 21 Jahre jung, habe größere Irritationen ausgelöst, als er sich beim Spaziergang selbst filmte. Sollte er damit gar das Selfie miterfunden haben?




Zwischen Pfandflaschen, Wildpinklern und Chronotopos: „Die Raststätte. Eine Liebeserklärung“

Rund 450 Autobahn-Raststätten gibt es in Deutschland. Rund eine halbe Milliarde Mal pro Jahr machen Menschen dort Halt, meistens kurz und flüchtig: zwecks Tanken, Toilette und Imbiss. Ein solch allgegenwärtiges Alltags-Phänomen verdient es zweifellos, in Buchform dargestellt zu werden. Erst recht, wenn es mit Sinn und Verstand geschieht.

Florian Werner war gut beraten, nicht landauf landab möglichst viele Raststätten abzuklappern, sondern sich fast gänzlich auf eine einzige zu konzentrieren: Garbsen Nord bei Hannover. Dennoch hat er einen weiten Themenkreis ausgeschritten, um nicht zu sagen: ein Panorama entworfen. So skizziert er zunächst die faschistisch geprägte (Vor)-Geschichte der Raststätten zur Mitte der 1930er Jahre (allererste Einrichtung: Nähe Chiemsee, nach Bauernhof-Vorbild) bis hin zum Niedergang in den 1970ern – Stichwort „Ölkrise“ – und zur späteren Privatisierung im wiedervereinigten Land, was einen rückblickenden Exkurs zum DDR-Pendant Mitropa mit einschließt. Architektur und Stilfragen kommen wie von selbst hinzu. Die sozusagen wunderbar trostlosen Fotografien von Christian Werner dokumentieren es ebenso beiläufig wie eindringlich.

Produktives Herumlungern

Vor diesem Hintergrund schickt sich Florian Werner an, sich in Garbsen Nord einzumieten und dort für einige Zeit gepflegt „herumzulungern“, wie er es selbst nennt. Eine solch lässige Haltung fördert jedenfalls aufschlussreiche Beobachtungen am Rande zutage. Nach und nach, ganz ohne Hast, zieht der Autor dabei kompetente Auskunftgeber zu Rate: Der Raststätten-Pächter (schon in dritter Generation) kann jede Menge aus dem Metier erzählen, auch das Gästebuch spricht Bände – u. a. mit Einträgen von Herbert Wehner, Udo Jürgens, Uwe Seeler und Alfred Biolek, wobei Letzterer in offenbar beschwingter Laune die Kulinarik dieses Rasthofs zu würdigen weiß – und das als TV-berühmter Kochlöffelschwinger vor dem Herrn. In aller Regel, wir wissen’s, kann man Rasthöfen auf diesem Gebiet jedoch keine höheren Ambitionen bescheinigen.

Dass man mit dem Chef des Ganzen spricht, ist selbstverständlich. Doch Florian Werner befragt ebenso intensiv den verarmten Flaschensammler, der dort die Müllcontainer nach Pfandgut durchsucht. Er trifft sich mit dem Politiker Victor Perli (Die Linke), der seit vielen Jahren unermüdlich das fragwürdige Monopol der Tank & Rast AG samt Bewirtschaftung der Sanifair-Toiletten kritisiert und vehement zur Verstaatlichung rät. Der Leiter der nächstgelegenen Autobahn-Polizweiwache, mit 18 Leuten für 2 mal 180 Autobahn-Kilometer (beide Fahrtrichtungen) zuständig, berichtet sodann aus seiner Perspektive und stellt beispielsweise fest, dass es in diesem Umfeld zwar etliche üble Verkehrsrowdys, aber – anders, als das Klischee es will – kaum Sexualdelikte gebe.

Besonderes Biotop mit 260 Pflanzenarten

Den wohl erstaunlichsten Auftritt aber hat ein „Extrem-Botaniker“, der in dieser vermeintlich so öden und ökologisch toten Zone etwa 260 (!) gedeihende Pflanzenarten identifiziert hat, die allesamt beim Namen genannt werden. Übrigens düngen notorische Wildpinkler das eine oder andere Gewächs. Allerdings sagt der von seinem Fachgebiet besessene Experte auch voraus, dass sich der Klimawandel just hier noch rascher und radikaler zeigen werde als andernorts. In Garbsen Nord könne man schon vorab sehen, worauf es mit weiten Teilen der gesamten deutschen Landschaft hinausläuft.

Doch halt! Da fehlt doch noch wer? Richtig: Als Florian Werner fast schon aufgeben will, einen auskunftsbereiten Fernfahrer aufzutreiben, findet er doch noch einen. Die ehedem als „Kapitäne der Straße“ idealisierte Berufsgruppe besteht, so sagt auch David, der für eine Dortmunder Spedition fährt, heute zu 90 Prozent aus „armen Schweinen“ osteuropäischer Herkunft, die unter skandalösen Bedingungen für Dumpinglöhne schuften. David selbst aber bekennt, seinen Beruf zu lieben. Ja, er sagt lieben.

Autobahn als intellektuelles Gelände

Es ist wie bei so vielen, ja eigentlich bei allen Themen: Sobald jemand näher hinsieht und sich eingehend befasst, erschließt sich ein vordem ungeahntes weites Feld – und (frei nach Goethe): wo man’s packt, da ist es interessant. Schließlich münden all die kleinen und größeren Befunde in Überlegungen „zu einer Philosophie der Raststätte“, womit denn Begriffe wie Telos, Chronotopos, linearer Zeitstrahl und sonstiges Vokabular ins Spiel kommen. In der Bibliographie des Bandes stehen die Namen von (einst) prägenden Schwerdenkern wie Michail M. Bachtin, Michel Foucault und Paul Virilio. Womit die Raststätte endgültig auch zum intellektuellen Gelände geworden wäre.

Doch keine Schwellenangst! Die Bildungsattitüde kommt selbstironisch daher. Florian Werner weiß seinen Stoff nicht nur gedanklich zu durchdringen, sondern durchweg unterhaltsam aufzubereiten. Und er selbst war wiederum dermaßen durchdrungen von seinem Thema, dass er sich später daheim in Berlin den lang vermissten Kick geben musste – in der nostalgischen Avus-Raststätte.

Florian Werner: „Die Raststätte. Eine Liebeserklärung“. Hanser Berlin. 160 Seiten. 22 Euro.

 




Karsamstags-Fantasie: Abgesang auf einen von Büchern erschlagenen Leser (autofiktional)

„My Books“ by Jennerally – Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0

Vielleicht hättest Du einfach damit nicht mehr anfangen sollen! Jahre bist du völlig zu Recht an diesem Buch vorbeigegangen, achtlos.

Aus welchem Grund nimmst Du es jetzt wider Erwarten zur Hand, wägst es ab, schlägst es aber nicht auf? Schlägst es plötzlich doch auf, schließt es sofort wieder. Öffnest es erneut, liest den Schmutztitel, den Innentitel, den Untertitel und bist enttäuscht, liest den ersten Satz und langweilst Dich.
Liest die ersten Seiten und – na klar – kennst die Geschichte bereits.

Etwas in der Art haben doch ungleich besser schon Tove Ditlevsen und Annie Ernaux geschrieben, John Burnside, Didier Eribon oder hierzulande jüngst Christian Baron. Dennoch liest Du noch etwas weiter, genießt es geradezu für ein paar Momente, einem Autor beim Scheitern zuzusehen.

Dann schaltest Du lieber den Fernseher ein. Schaltest den Fernseher wieder aus, liest das erste Viertel des Buches und ärgerst Dich darüber, dass das nicht fein säuberlich in Kapitel gegliedert ist. Sonst hättest Du vielleicht nur ein, zwei Kapitel gelesen, hättest Dir ein Small-Talk-Urteil bilden können, bevor Du das Buch achtlos weiterverschenkt haben würdest. Liest die Hälfte des Buches und weißt sowieso längst, wie es ausgeht. Liest drei Viertel des Buches, schläfst über einem zu langen Satz ein und schläfst dann später immer wieder an genau derselben Stelle ein. Liest irgendwann das Buch zu Ende und fluchst innerlich: „Hätte ich dieses Buch doch nie aufgeschlagen, hätte ich nie begonnen, dieses Buch zu lesen, hätte ich es doch nie ganz gelesen!“

Dann stellst Du das Buch in das Regal zurück. Eines Deiner Regale, die nicht mehr sicher stehen und nur noch lose in der Wand verschraubt und verdübelt sind. Ausgerechnet jetzt, da Du dieses völlig überflüssige Buch in das Regal zurückzustellen versuchst, statt es ins Altpapier zu werfen, beginnt das Regal zu schwanken, reißt die Dübel vollends aus der brüchigen Wand, und das ganze verfluchte staubige, schwere Regal mit seinen massiven Holzbrettern und Hunderten von dickleibigen Büchern stürzt auf Dich zu.

Du versuchst noch zurückzuweichen, aber Gadamers „Wahrheit und Methode“ hat Dich längst am Kopf getroffen, Blochs „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ hat Dir die Brille weggerissen, Daniil Charms Grotesken ein Stück Zahn ausgeschlagen, Montaignes blaugoldene Prachtausgabe der „Essais“ trifft Dich wie ein schwerer Stein und während Du langsam das Bewusstsein verlierst, fällt Dir ausgerechnet ein Wälzer in Großdruck aufs Gesicht und Du kannst gerade noch lesen: „Mittwegs auf unsres Lebens Reise fand / In finstren Waldes Nacht ich mich verschlagen, / weil mir die Spur vom graden Wege schwand …“.
Und Dir flackert’s durchs Hirn: Dante? Göttliche Komödie? Die Hölle? Erster Gesang …?

Monate später wird man Dich finden, fast mumifiziert in der kühlen, trockenen Wohnung, liegend wie gekreuzigt, anders aber als Gottes Sohn den Holzverstrebungen des Regals frontal zugewandt. Als hoch aufgeworfenes Leichentuch haben Hunderte von Büchern Deine Körperflüssigkeiten aufgesogen, jeder Verwesungsgeruch von der Zugluft verwirbelt.

Vor langer Zeit hattest Du so gern Bücher geöffnet, zu guter Letzt nun aber öffneten sie Dich.