Neustart nach der Zwangspause: Das Konzerthaus Dortmund stellt das Programm der Spielzeit 2021/22 vor

Die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla verabschiedet sich am 2. Juli 2022 in Dortmund mit einem Mitsing-Konzert. (Foto: Ben Ealovega)

Vom Glauben, es ließe sich alles im Leben zu einem späteren Zeitpunkt nachholen, hat mancher im langen Lockdown schmerzlich Abschied nehmen müssen. Großem Engagement zum Trotz konnte auch das Team vom Konzerthaus Dortmund nicht verhindern, dass die Pandemie ein ganzes Jahr von der sorgsam geplanten Residenz der Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla gestohlen hat.

Die quirlige Maestra aus Litauen ist international derart gefragt, ihr Terminplan auf Jahre hinaus so gefüllt, dass viele der mit Herzblut geplanten Projekte unwiederbringlich verloren sind. So heißt es beim Mitsingkonzert am 2. Juli 2022 Abschied nehmen von der energiegeladenen Exklusivkünstlerin, die in ihrem dritten und letzten Jahr in Dortmund – wenn das Coronavirus es zulässt – eine konzertante Aufführung von Leoš Janáčeks Oper „Das schlaue Füchslein“ dirigieren wird (21. November 2021). Im März steht außerdem ihr Lieblingskomponist Komponist Mieczysław Weinberg im Fokus, dessen 3. und 4. Sinfonie die Dirigentin am 26. und 27. März mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra aufführt.

Der Pianist András Schiff wird als „Curating Artist“ sein eigenes kleinen Festival innerhalb der neuen Saison konzipieren. (Foto: Priska Ketterer)

Wer das gewohnt umfang- und inhaltsreiche Saisonbuch durchblättert, wird unschwer selbst seine Favoriten herauspicken oder auch Entdeckungen machen. Die bewährten Reihen wurden beibehalten: die Zeitinsel (sie gilt diesmal dem 1979 in Prag geborenen Ondřej Adámek), Musik für Freaks, Neuland, das Pop-Abo, die Meisterkonzerte mit internationalen Spitzenorchestern, die Orgelkonzerte, Lieder- und Chansonabende. Zudem gibt es eine Meisterklasse mit dem Pianisten András Schiff, der als „Curating Artist“ Freunde einladen und sein eigenes kleines Festival innerhalb der Saison gestalten darf.

Zur festlichen Saisoneröffnung im Herbst (4. September) spielt das Orchestre Philharmonique de Radio France unter der Leitung seines Chefdirigenten Mikko Franck. Auf dem Programm stehen Tschaikowskys berühmte 6. Sinfonie (Pathétique) und das 2. Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch, gespielt von der Argentinierin Sol Gabetta.

Sol Gabetta spielt im Eröffnungskonzert das 2. Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France. (Foto: Julia Wesely)

Sein Versprechen, Musiker mit Ausfall-Zahlungen zu unterstützen, hat Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech gehalten: Das bestätigt er auf Nachfrage. Die November- und Dezemberhilfen der Ministerien hätten dem Konzerthaus geholfen, die finanzielle Lücke durch den Wegfall der Ticketverkäufe auszugleichen. „In der nächsten Saison hängt viel davon ab, ob es einen Wirtschaftlichkeits-Fond geben wird oder nicht“, sagt der Intendant, der sich bei der Pressekonferenz nicht nur für die ungebrochene Treue der Sponsoren und Förderer bedankt, sondern auch beim Publikum, das bereits gekaufte Tickets großzügig in Spenden umgewandelt hat. Dieser Verzicht auf Rückerstattungen hat dem Haus rund 250.000 Euro eingebracht.

Die Nachwuchs-Reihe „Junge Wilde“ hebt von Hoensbroech auch deshalb so hervor, weil sie das Pech hatte, gleich dreimal von den zahlreichen Konzertabsagen betroffen zu sein. Vom 1. Oktober 2021 an sollen sie die Nachwuchs-Musikerinnen und -Musiker endlich wieder an den Start dürfen: Christina Gansch (Sopran), Jean Rondeau (Hammerklavier), Isata Kanneh-Mason (Klavier), Christina Gómez Godoy (Oboe), Noa Wildschut (Violine) und Vivi Vassileva (Percussion) stehen für eine neue Generation auf ihrem Weg ins internationale Konzertgeschehen.

Erwähnt sei ein Konzerthaus-Debüt, das die Fans großer Gesangsstimmen aufhorchen lassen dürfte: Die Sopranistin Marlis Petersen wird am 12. November 2021 einen Liederabend mit Werken von Johannes Brahms, Franz Liszt, Gabriel Fauré, Hugo Wolf und anderen geben. Ob die konzertante Aufführung von Richard Wagners „Rheingold“ (28. April 2022) an den überragenden Abend im Mai 2017 unter dem Dirigat von Marek Janowski herankommt, wird sich noch erweisen müssen. Die Voraussetzungen stehen keinesfalls schlecht: Das Rotterdam Philharmonic Orchestra und Dirigent Yannick Nézet-Séguin reisen mit prominenter Sänger-Riege an, darunter abermals Michael Volle (Wotan), Samuel Youn (Alberich), Gerhard Siegel (Loge) und Christiane Karg (Freia).

Sir Simon Rattle wird mit dem London Symphony Orchestra Mahlers 10. und Bruckners 4. Sinfonie aufführen. Auch François-Xavier Roth wird das Orchester am 4. April 2022 dirigieren. (Foto: Pascal Amos Rest)

Ein Wort noch zur Dortmunder Residenz des London Symphony Orchestra, die wegen der Pandemie ohne Auftakt ins zweite Jahr gehen muss. Am 24. und 25. September 2021 sind die Londoner mit ihrem Chefdirigenten Sir Simon Rattle zu erleben – noch, muss man hinzufügen. Denn der Maestro mit dem silbernen Lockenschopf wird in der Saison 2023/24 Nachfolger von Mariss Jansons beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Der Brexit, so heißt es, habe den Briten ebenso nach München getrieben wie die schwindende Aussicht auf einen neuen Konzertsaal, der einer Metropole wie London angemessen wäre.

(Das neue Saisonbuch kann hier heruntergeladen werden: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/erleben/publikationen/. Ticket-Hotline 0231 – 22 696 200. Die Tageskasse im Foyer ist bis auf Weiteres geschlossen.)




Trauma-Theater statt Thespiskarren: Roland Schwab radikalisiert in Essen Leoncavallos „Pagliacci“ („Der Bajazzo“)

Theater der Grausamkeit: Sergey Polyakov (Canio) und Seth Carico (Tonio). Foto: Matthias Jung

Ruggero Leoncavallos Oper „Pagliacci“ gilt gemeinhin als Musterbeispiel des Verismo: Kleine Leute in einem zurückgebliebenen Landstrich, eine aus dem Alltag wachsende Tragödie  und ein reales Ereignis als Vorbild: Ein Doppelmord, den der Komponist als Kind in Montalto in Kalabrien angeblich selbst mit ansehen musste. Ein Trauma.

Nichts vom vertrauten „Verismo“ mit bunt beleuchtetem Thespiskarren und Commedia dell’arte-Kostümierung findet sich im Essener Aalto-Theater: Roland Schwab hat jeden Naturalismus dezidiert hinter sich gelassen, aber er legt die Emotionen der Menschen bis zur Schmerzgrenze frei. Auf der jedem konkreten Schauplatz abholden Bühne von Piero Vinciguerra ballt sich ein Trauma zusammen, dessen Explosion den Zuschauer berührt und überwältigt zurücklässt. Wenn Theater sein muss, dann genau so: unmittelbar, packend, bildgewaltig und dabei in jedem Moment des verdichteten Ablaufs gedanklich konzentriert und schlüssig. Roland Schwab ist damit nach seinem grandiosen „Othello“ wieder ein Meisterstück eines tief in die Seele dringenden Musiktheaters gelungen. Nichts für einen netten Abend, nichts zum nebenbei Erleben, sondern zutiefst erschütternd und wahrhaftig: „Verismo“ auf einer ganz anderen Ebene als der fragwürdige italienische Stilbegriff meint.

Zwangsläufiges Geschehen jenseits der Logik

Im Prolog löst sich aus dem Hintergrund ein schwarzer, entstellter Mann, der einen anderen an der Kette heranzerrt: Es ist derjenige, der zuvor in einer rasanten Filmsequenz durch die Keller und Gänge des Opernhauses hetzt und an der Glastür zur Billettkasse schmerzlich scheitert. Es gibt kein Entkommen aus dem Raum des Theaters. Für ihn – es ist Canio – „muss Theater sein“. Das lesen wir auch auf dem Schild, das ihm der schwarze Prolog wie die Schandtafel eines Delinquenten umhängt. Canio, der „Bajazzo“, ein Opfer seiner Kunst, ein Gefangener schönen Scheins, gar einer bitteren Illusion? Die Kette der Assoziationen ist eröffnet, und sie lässt sich auch am Ende, als die „Commedia“ ihr blutiges Finale erreicht, nicht ganz schlüssig knüpfen. Das ist keine Schwäche, sondern einer der Vorzüge der Inszenierung. Denn ein Trauma, wie der Protagonist es hier auf schwarzglänzendem Boden in einem Raum voller Bruchstücke durchleidet, erfüllt sich nicht in Logik, sondern in der Zwanghaftigkeit eines Geschehens, das nicht aufzuhalten ist.

Diesen Raum füllt Schwab mit beziehungsreichen Chiffren. Tote, deren rotbeschuhte Beine aus den Leichensäcken ragen: Opfer des mannhaften Wahns von „echten“ Gefühlen, von zu Wahnsinn gesteigerter „Liebe“ und tödlich explodierender Eifersucht? Der Mann mit einer Blutwunde auf dem Unterhemd, zum Tode verletzt wie Amfortas und doch zum Leben, zum Spielen gezwungen? Der schwarze Mitspieler Tonio, nicht der drollig-gefährliche Krüppel wie sonst, sondern ein Gezeichneter und ein teuflischer Strippenzieher. Eine transzendierte Figur, die zum Höhepunkt der Tragödie mit einer Stange auf- und abgeht, während der weiß geschminkte Tod auf einem Hochrad über die Bühne huscht: ein Klingsor im bösen Reich entfesselter Lüste.

Komplexes Spiel enthüllt die Sehnsüchte der Personen

Auch das Theater auf dem Theater bleibt beziehungsreich unbestimmt. Keine putzige Wanderbühne, sondern ein Geflecht von Lichtern, aufgespannt wie eine Zirkuskuppel, dann herunterfahrend wie eine gierige Spinne an ihrem Faden, schließlich eine Arena, an deren Brüstung die gemordete Nedda über ihren Rücken hängt, wie auf einem surrealen Gemälde. Vorher hatten die junge Frau und ihr Geliebter Silvio mit der Lichterkette eine Verbindung zwischeneinander gezogen, im Liebesduett, im dem sie sich ihrer Sehnsüchte versicherten.

Szene auf der Bühne von Piero Vinciguerra für „Der Bajazzo“ am Aalto-Theater in Essen. Rechts Seth Carico als Tonio. Foto: Matthias Jung.

Und um Sehnsucht geht es in diesem Stück. Bei Canio, der von seinem jungen Findelkind geliebt sein will und bei dem er am Ende nicht einmal Mitleid und Gnade findet. Ein Schmerzensmann, der die Illusion der Liebe verinnerlicht hat und am Ende im Jähzorn abschlachtet. Bei Silvio, dem jungen Bauern, der sich schwärmerisch eine Zukunft ausmalt. Bei Beppe, dessen scheinbar leichtfüßige Harlekin-Arie erfüllt ist mit elegischem Begehren, das sich auf der Bühne im makabren Spiel mit einem der Frauenbeine als konkret fleischlich manifestiert.

Vor allem aber bei Nedda: Ihre langen blonden Haare machen sie aus der Perspektive der Männer zum Gegenstand der Begierde; sie selbst setzt sie auch als erotisches Signal ein. „Voller Leben und erfüllt von unnennbaren Sehnsüchten“, schnallt sie sich bei ihrer Vision von den frei fliegenden Vögeln die Flügel eines Engelchens um. Ihre roten Schuhe hat sie dazu abgelegt, sich befreit von diesem Zeichen sexueller Objektivation. Das komplexe Spiel mit visuellen Signalen und Chiffren überzeugt auch bei Tonio, bei dem die Seite der seelischen Bezauberung durch den Gesang Neddas, jäh zerstört durch den beißenden Spott der jungen Frau, in der Inszenierung allerdings kaum herausgearbeitet wird. Die maliziöse Gier gewinnt schnell die Dominanz.

Schwab stellt uns Menschen vor Augen, deren Sehnsucht im traumatischen Geschehen offenbar wird; das Spiel entlarvt die Innenseiten der gequälten Seelen. Was Leoncavallo in der Handlung der „Pagliacci“ aus dem Zusammenprall von Spiel (im Spiel) und (dargestellter) Wirklichkeit entwickelt, wird in Schwabs Inszenierung kongenial erfasst und auf eine neue Ebene geholt. Da kommt es auch nicht darauf an, dass die von Leoncavallo erzählte Story des Kriminalfalls als Vorbild der Oper längst als Fälschung entlarvt ist: Die Fiktion des Realen hat eine neue Wahrheit hervorgebracht, das Theater ist der magische Ort dafür – Hermann Hesses „Steppenwolf“ wird direkt zitiert.

Die Höhe des musikalischen Stils wird geschleift

Wäre das musikalische Glück ebenso vollkommen gewesen, man hätte von einem einzigartigen Opernabend zu berichten gehabt. Doch lassen die Sänger allesamt spüren, was ein kundiger Kritiker einmal „die Schleifung der Stilhöhengesetze“ genannt hat. Leoncavallo – und seine Kollegen wie Mascagni, Giordano oder auch Zandonai – stehen für eine damals neue Art des Singens: Addio zum stilisierten, kunstvollen „canto fiorito“ hin zum naturalistischen „Schrei“, in dem sich die Stimme exzessiv verausgabt und Schauer des Entsetzens oder der Wollust über die Rücken der Zuhörer treiben will.

Heute gilt im Singen von Verdi bis Puccini nicht einmal mehr das. Ein Beispiel ist der Bariton Seth Carico als Tonio: Ein robustes Material wird, kaum berührt von Differenzierungen in Farbe oder Tonbildung, robust eingesetzt und schindet mächtig Eindruck. Die subtilen Nuancen des Prologs, die emotionalen Zwischentöne dieses so geschundenen wie boshaften Charakters werden mit der immergleichen Präsenz herausgeschleudert. Schmerz, Zynismus, Verschlagenheit, oder auch einfach nur Kantabilität, dynamische Flexibilität, Schmelz oder Strahlkraft sind zu einem stählern gefassten, im Zurücknehmen schnell rissigen Klang zusammengepresst.

Sergey Polyakov als Canio. Foto: Matthias Jung

Der Canio von Sergey Polyakov versucht sich darin, seinen wuchtigen Tenor zu zähmen, ihm die Farben der Schmerzes, der unendlichen Enttäuschung, aber auch der ungebändigten Wut abzuringen. Die Höhe drängt anfangs sehr an den Gaumen, kann sich erst im zweiten Akt befreien. In „Vesti la giubba“ ersetzt Nachdruck den Ton der Resignation und der inneren Qual. Doch in den sich steigernden Ausbrüchen der Wut hat Polyakov seinen Weg gefunden. Carlos Cardoso bleibt dem elegischen vokalen Maskenspiel des Arlecchino einiges schuldig; Tobias Greenhalgh vermittelt mit schwacher Tiefe und einer in unbefreiter Lautstärke übertönten Lyrik nicht den Eindruck, seine Rolle über das Verismo-Klischee – laut und ungeschliffen – hinausheben zu wollen.

Abgeschlachtet in der Arena der Emotionen: Gabrielle Mouhlen (Nedda). Rechts Sergey Polyakov (Canio). Foto: Matthias Jung

Bleibt Gabrielle Mouhlen als Nedda: Ihr Timbre von der Härte eines Brillanten taucht ihre große Solo-Szene in ein kühles, klares Licht. Der Traum von den freien Himmelsvögeln schimmert wie Glas, die Farben der Sehnsucht bleiben hell und ungebrochen. Zu flexibler Phrasierung hat sie kaum Gelegenheit, denn Robert Jindra am Pult gibt ihr kaum den Raum zum Atmen, drängt auf Tempo und vor allem auf stabile, ungeschmeidige Metren. Bei einem so erfahrenen Kapellmeister wundert dieser Rigorismus – dass Leoncavallo gut mit dem Hohenzollernkaiser konnte, ist kein Argument für preußische Exaktheit.

Vom ausschwingenden Cantabile abgesehen lässt Jindra den Essener Philharmonikern viel Raum für fein ausgestaltete Soli und duftige Tutti, denen man die reduzierte Orchesterfassung von Francis Griffin nicht negativ anzukreiden braucht. Die filigrane Brillanz der Begleitung in der Nedda-Arie lässt keine Wünsche offen; die elfenhaften Staccati und Pizzicati zur Arietta Beppes haben den passenden Hauch des Künstlichen. Auch der Opernchor von Jens Bingert erfüllt seinen Part von den Rängen des Hauses, nur kurz von breitem Tempo irritiert, mit Glanz und einer in diesem Stück sonst kaum herstellbaren Transparenz. Noch einmal: Ja, so soll Theater sein. Und wir alle sollten froh sein, dass wir es wieder haben!

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit nur noch am 13., 18., 20. Juni 2021. Info: www.theater-essen.de