Was uns im Museum blüht: Dortmund zeigt „Flowers!“

Ernst Ludwig Kirchner: „Stillleben mit Früchtekorb“, 1918/19, Öl auf Leinwand, 64 x 80,5 cm (Courtesy Galerie Henze & Ketterer & Triebold, Riehen/Basel – Foto: Courtesy Galerie Henze & Ketterer & Triebold, Riehen/Basel)

Wenn eine Ausstellung „Flowers!“ (nur echt mit dem Ausrufezeichen) heißt und stadtweit blumig plakatiert wird, dann könnten optischer Seelenbalsam, Harmonie und farbenprächtige Idyllen zu erwarten sein. Doch so bruchlos darf man das Thema natürlich (!) längst nicht mehr angehen. Also muss man sich jetzt beim Besuch im Dortmunder Museum Ostwall auch auf irritierende oder gar verstörende Momente gefasst machen.

Feministischer „Feldzug“: Frau zerschlägt mit Blumen-Nachbildung (Fackellilie) als „männlich“ gedachte Autoscheiben. – Momentaufnahme aus: Pipilotti Rist „Ever Is Over All“, 1997, 2-Kanal-Videoinstallation, 4:09 min (Zyklus Smash) bzw. 8:25 min (Zyklus Flower); Farbe. Sound © Anders Guggisberg & Pipilotti Rist, Maße variabel, Edition 1/3 + e. a. (Privatsammlung | © VG Bild Kunst, Bonn 2022, Foto: Ron Amstutz)

Die Schau mit rund 180 Arbeiten von 50 Künstlerinnen und Künstlern spürt der immensen Vielfalt des Blumenmotivs in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts nach – kreuz und quer durch die Stilrichtungen seit dem Expressionismus, zudem garniert mit etlichen prominenten Namen von Gabriele Münter, Max Beckmann und Max Ernst über Andy Warhol und David Hockney bis hin zu Gerhard Richter und Pipilotti Rist. Ja, die inspirierte und somit inspirierende Auswahl reicht bis in die unmittelbare Gegenwart, in der auch schon mal „Künstliche Intelligenz“ (KI) zur Genese ungeahnter floraler Erscheinungen eingesetzt wird. Wo soll das alles enden?

Einsatz „Künstlicher Intelligenz“: Hito Steyerl „Power Plants“, 2019, Mehrkanal-HD-Video, Farbe, Loop. Environment: Stahlgerüste, LED-Module, LED-Text-Module, zementbeschichtete MDF-Kästen, Kies (Courtesy die Künstlerin; Neuer Berliner Kunstverein; Andrew Kreps Gallery, New York; Esther Schipper, Berlin – © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 – Foto: Neuer Berliner Kunstverein / Jens Ziehe)

Gewiss: Die Ästhetik blüht hier stellenweise prächtig auf, doch stellen sich im Laufe des Rundgangs auch mancherlei ernsthafte und schwerwiegende Fragen, etwa nach dem Spannungsfeld zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit. Kurzum: eine Ausstellung zwischen Augen- und Gedankenlust.

Eine ausführliche Besprechung folgt demnächst im Kulturmagazin Westfalenspiegel (www.westfalenspiegel.de) und später dann auch an dieser Stelle.

„Flowers!“ Blumen in der Kunst des 20. & 21. Jahrhunderts. Museum Ostwall im Dortmunder U, 6. Ebene, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. 30. April bis 25. September 2022. Öffnungszeiten Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So und feiertags 11-18 Uhr. Katalog 29,90 Euro.

Weitere Informationen:

www.dortmund.de/museumostwall
www.dortmunder-u.de




Dieses ausweglose Leben – „Beyond Caring“: Schaubühne zeigt krasse Sozialstudie über Putzkräfte

Ensemble-Szene aus „Beyond Caring“ mit (v. li.) Kay Bartholomäus Schulze, Hevin Tekin, Jule Böwe, Damir Avdic, Julia Schubert. (Foto: © Gianmarco Bresadola / Schaubühne Berlin)

„Mich interessiert nicht die Repräsentation von Leben, mich interessiert das Leben.“ Mit „Love“ porträtierte der britische Autor und Regisseur Alexander Zeldin Menschen, die Weihnachten in einer Notunterkunft des Sozialamtes zubringen müssen. Jetzt inszeniert er an der Berliner Schaubühne sein Stück „Beyond Caring“, das die prekäre Arbeit und schwierige Lebenssituation von Reinigungskräften thematisiert.

Mit krassem Realismus will er uns eine soziale Klasse, die für die bürgerlichen Schichten der Theaterbesucher sonst ziemlich unsichtbar ist, näherbringen, sie aber nicht als Aussätzige vorführen, sondern als Menschen, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, die uns daran erinnern, wie schnell es bergab gehen und unser schönes Leben im Mahlstrom des Turbo-Kapitalismus unter die Räder kommen kann. „Beyond Caring“ ist fundamentale Sozialstudie und Aufruf zur Mitmenschlichkeit, ohne die unsere gespaltene Gesellschaft vollends zerfallen würde.

Nachts in der Fleischfabrik

Wir begegnen den Putzkräften nachts in einer Fleischfabrik, es sind drei Frauen und zwei Männer. Jan ist ihr Vorarbeiter, Michael angestellte Teilzeitkraft, Sonja und Becky sind über eine Fremdfirma als „Sub-Unternehmerinnen“ angestellt, Ava kommt über eine Maßnahme des Arbeitsamtes: Die klassische Arbeitsgesellschaft mit gemeinsamen Interessen und gewerkschaftlicher Vertretung ist längst Schnee von gestern.

Kurze Pause von der Schufterei: Szene mit Kay Bartholomäus Schulze, Hevin Tekin, Jule Böwe. (Foto: © Gianmarco Bresadola / Schaubühne Berlin)

Ab und zu gibt es eine kleine Pause, dann blättern sie in Zeitschriften, essen, trinken, hören Musik, spielen mit dem Handy, reden nur das Nötigste. So geht das tagein, tagaus, immer reinigen sie die blutbesudelten Fleischmaschinen und verschmierten Wände, sammeln Müll ein, führen die gleichen Pausen-Gespräche. Immer hoffen wir vergeblich, dass sich etwas ändern möge, dass sie den Weg aus der sozialen Sackgasse finden, der Tristesse ihres Alttags entfliehen können.

Nur ein Moment der Anarchie

Einmal fallen in purer sexueller Not zwei Putzkräfte übereinander her, reißen sich die Kleider vom Leib, erleben einen kurzen Moment der Anarchie, bevor sie peinlich berührt auseinander driften. Aus dem Jammertal ihrer kaputten Existenz werden sie sich nicht befreien: Kein Ausweg, nirgends.

Spielfläche und Zuschauerraum sind von grellem Neon-Licht permanent ausgeleuchtet, alles ist jederzeit sichtbar, alles starrt vor Dreck und Blut, überall Fett- und Fleischreste, Plastik-Behälter mit Fleischkadavern, Reinigungsmitteln und Putzlappen. Manchmal rennt jemand hinaus auf die Straße, um sich Luft zu verschaffen oder eine Zigarette zu rauchen.

Der Fiesling, gegen den niemand ankommt

Der Vorarbeiter ist ein Wichtigtuer und Schwätzer, der allen das Leben zur Hölle macht. Gegen diesen Fiesling, der, wenn er nicht gerade sein Team mitleidlos zur Sau macht, sich auf seinem Handy an Pornos aufgeilt, kommt niemand an – weder die dünnhäutige Becky, die ihre Tochter so vermisst, noch die duldsame Ava, die sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten kann, und schon gar nicht die still leidende Sonja, die Vorräte hortet und sich zum Schlafen in die Fleischfabrik schleicht, weil sie keine Wohnung hat und eigentlich auch kein richtiges Leben.

Ein niederschmetternder Abend. Nirgendwo ein Funken Hoffnung. Was die fünf Akteure (Damir Avdic, Jule Böwe, Julia Schubert, Kay Bartholomäus Schulze und Hevin Tekin) leisten, verdient großen Respekt. Doch als Zuschauer dieser fast zwei Stunden währenden Tortur hilflos ausgesetzt zu sein, kann man auch, gerade in den emotional ohnehin schwierigen Zeiten von Krise und Krieg, als Bühnen-Qual empfinden.

Schaubühne: „Beyond Caring“, nächste Vorstellungen täglich vom 2. bis 5. Mai und vom 25. bis 29. Mai.

Weitere Infos hier




Die „neue“ WAZ: Mal wieder gründlich aufgeräumt

Wenn sich die WAZ, die größte Zeitung des Ruhrgebiets, nach rund zehn Jahren ein neues Erscheinungsbild verpasst, so ist das schon ein regionales Thema. Wie will das altgediente Blatt in aufgefrischter Form wohl wirken?

Erscheinungsbild nach Relaunch: heutige Ausgabe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ).

Allererster Eindruck: Die WAZ sieht jetzt ungefähr so aus wie gefühlt 60 Prozent der bundesdeutschen Gazetten, die man so kennt. Luftiges Erscheinungsbild, praktisch kein Fettsatz mehr, kaum noch aufdringliche Farb-Elemente, also nicht marktschreierisch, mithin betont seriös. Selbst häufig wiederkehrende Kleinigkeiten wie die Autorenzeilen sind verändert worden (kein „Von“ mehr vor den Namen). Ob derlei Entschlackung auch immer zum Stil dieser Zeitung und zu den Inhalten passt, ist eine andere Frage.

Für die Überschriften hat man eine schlanke, magere Typographie gewählt. Effekt: Auch „harte“ Nachrichten kommen visuell nicht mehr so streng und wuchtig daher, sondern so, wie man es früher im Feuilleton vermutet hätte, eher leichthin und spielerisch also. In den alten Kohle-Zeiten des Reviers waren die Hände nach der WAZ-Lektüre bisweilen schwarz von der Druckfarbe. Heute ist das völlig anders. Man könnte fast meinen, dies sei gar nicht mehr die Westdeutsche Allgemeine, sondern ein geklontes, etwas steriles und nicht mehr gar so handfestes Produkt.

Nun ist ein neues Layout mitsamt veränderter Schriftgestaltung allerdings stets Gewöhnungssache. Bei der Westfälischen Rundschau (WR) hatten wir einen solchen Relaunch alle paar Jahre. Es gab und gibt gewisse Layout-„Päpste“, die in recht kurzen Abständen immer wieder andere Features zur zeitgemäßen Optik hochjazzen – und wahrlich nicht schlecht daran verdienen. Immer aber heißt es hernach, die Zeitung wirke nun „aufgeräumter“ und lesefreundlicher als vorher. Bis dann alles wieder anders aussehen muss. Und so weiter.

Mit leichtem Bauchgrimmen erinnere ich mich an eine solche Maßnahme, in deren Gefolge der damalige WR-Chefredakteur uns Redakteurinnen und Redakteure im Konferenzraum an eine Batterie von Telefonen setzte, auf dass wir den Unmut weiter Teile der Leserschaft beschwichtigen sollten. „Rufen Sie uns an!“ Was man da alles zu hören bekam! Da drohte so mancher eherne Westfale, er werde nicht nur selbst abbestellen („Wenn der Schwachsinn morgen nicht aufhört“), sondern auch alle Mitglieder seines Vereins etc. zum selben Schritt bewegen.

In diesem Sinne: Beste, mitfühlende Grüße an die Kollegenschaft, die ja auch mit neuen Computerbefehlen und sonstigen Regeln klarkommen muss. Der Redaktör hat’s manchmal schwör, die Redaktörin nicht minder.




Der nächste Promi im Osthaus Museum: Dieter Nuhr als Fotograf

Vom Hagener Museumsdirektor aufgenommen: Dieter Nuhr mit digitaler Fotografie in seinem Atelier. (Foto: © Tayfun Belgin)

Die Zielrichtung ist unverkennbar: Schon wieder setzt das Hagener Osthaus Museum mit Aplomb auf den Promi-Faktor.

Wir erinnern uns, mehr oder weniger flüchtig: Zuerst hat der weltberühmte Hollywood-Star Sylvester Stallone („Rambo“, „Rocky“) hier seine Gemälde präsentiert, dann kam der Popmusiker Bryan Adams mit seinen Fotografien an die Reihe. Und jetzt? Stellt wieder jemand aus, den man aus anderen Bereichen kennt, allerdings eher im deutschen Sprachraum.

„Von Fernen umgeben“

Man weiß ja nicht einmal so recht, wie man seine Berufssparte bezeichnen soll. Ist er Comedian? Kabarettist? Satiriker? Naja, vielleicht irgend etwas in dieser groben Richtung. Es ist jedenfalls Dieter Nuhr, der – weit abseits seiner sonstigen Tätigkeit – „in fast 100 Ländern“ auf den Auslöser gedrückt hat und jetzt (vom 8. Mai bis zum 26. Juni) einige Resultate seiner digitalen Fotografie im Museum vorzeigt. Poetisierender Titel der Schau: „Von Fernen umgeben“. Man ist ja dankbar, dass die Chose nicht etwa „Nuhr belichtet“ oder so ähnlich heißt. Tatsächlich ist es technisch mehr als das. Laut Vorankündigung des Museums malt Nuhr, der auch einmal Kunst studiert hat, mit dem „digitalen Pinsel“, erzeugt also Bilder aus fotografischen Daten.

„Linke“ werden kaum begeistert sein

Wie auch immer: Etwas weiter „links“ angesiedelte Leute werden sich bei der bloßen Namensnennung mit Grausen abwenden und vielleicht alpträumen, dass der bei ihnen ebenso verpönte Harald Martenstein womöglich einen Katalogtext verfasst hat (was nicht der Fall ist). Oder sie bleiben gelassen und sagen sich feixend: Hauptsache, Dieter Nuhr steht nicht auf der Bühne. Mit Fotos kann er ja wohl nicht so viel anrichten. O, wie hinterhältig wäre das. Aber immer noch besser als „Cancel Culture“, oder?

Altbau des Hagener Osthaus Museums, bei Regen durch die Frontscheibe des Autos aufgenommen. Und nein: Das Bild soll nicht „trübe Aussichten“ bedeuten. (Foto: Bernd Berke)

„Demnächst“ eine Ausstellung in Russland?

Osthaus-Direktor Tayfun Belgin ist sozusagen in die Schlusskurve seiner aktiven Museumslaufbahn eingebogen. Offenbar hat er sich für die letzte Strecke vor dem Zieleinlauf vorgenommen, nicht mehr nur der hehren Kunst zu frönen, sondern auch noch einmal ordentlich „Betrieb“ zu machen und mit gesteigerten Besuchszahlen zu glänzen. Man darf schon jetzt gespannt sein, wer mit welchem Konzept seine Nachfolge antreten wird. Und wie es überhaupt weitergeht.

Ach so, übrigens: „Demnächst“, so heißt es auf der Museums-Homepage ganz nebenbei, werde Nuhr seine Fotografien auch im Puschkin-Museum zu St. Petersburg ausstellen. In Russland. Stimmt das wirklich? Immer noch?




Faszination der Farbe Grau: Bottrop zeigt Werke des US-Malers James Howell

James Howell, 48.17 bis 73.20 02/16/02, 2002, Acryl auf Leinwand, sechsteilig, 168 × 168 cm, Serie 10© James Howell Foundation / Courtesy Bartha Contemporary, London (Foto: Mareike Tocha, Köln)

Das Josef Albers Museum Quadrat Bottrop zeigt eine Ausstellung mit Werken des Malers James Howell (1935-2014).

Das Museum will die Arbeiten in den Kontext der Bottroper Albers-Sammlung stellen, da Howell, so die Pressemitteilung, wie der 1888 in Bottrop geborene und 1976 in New Haven (Connecticut) gestorbene Albers „die Grenzen von Form und Farbe“ auslotete, um zu einem „erfüllten Ausdruck des Bildes zu gelangen“. Die Ausstellung unter dem Titel „Resolution and Independence“ entstand in Zusammenarbeit mit der James Howell Foundation und ist bis 10. Juli 2022 zu sehen.

James Howell wurde bekannt durch Bilder, in denen er den Übergang von Licht zu Schatten mit mathematischer Präzision konstruierte und dennoch den Eindruck von selbstverständlicher Leichtigkeit zu erzeugen wusste. Zu seinen Schlüsselwerken gehört „Series 10“ (1996). In den Bildern dieser Reihe verschattet sich die Farbe Grau von oben nach unten zunehmend in unmerklichen Schritten. Ein gleichmäßig weicher Farbverlauf lässt die Bilder leicht und ungreifbar erscheinen. „Grau verkörpert für mich Zeitverläufe“, erklärte Howell, „es ist mysteriös … und ich mag seine Weichheit; es ist auch Einfachheit und Raum.“

James Howell, 48.17 08/30/00, 2000, Acryl auf Leinwand, 102 × 102 cm, Serie 10 © James Howell Unifikation / Courtesy Bartha Contemporary, London (Foto: Mareike Tocha, Köln)

Der 1935 in Kansas City geborene Maler interessierte sich schon als Kind für Malerei, erwarb bereits mit 18 Jahren eine Pilotenlizenz und studierte Englische Literatur und Architektur in Stanford. Nach seinen Abschlüssen arbeitete Howell als Architekt in Seattle und Bainbridge Island. Ab 1962 widmete sich der Autodidakt auf den Feldern Malerei und Zeichnen ausschließlich der Kunst.

Unter dem Einfluss von Fairfield Porter (1907-1975), der ihn zur Acrylmalerei ermutigte, arbeitete Howell zunehmend abstrakt. Von seinem Studio auf San Juan Island (Washington) aus konnte er in der Natur die fließenden Veränderungen von Wasser und Licht beobachten, die er in reduzierter Farben- und Formensprache in seinen Bildern reflektiert. 1992 ging Howell nach New York, wo er 2014 mit 78 Jahren starb. Seinen künstlerischen Durchbruch erfuhr Howell erst in den neunziger Jahren; in Deutschland waren seine Bilder zuerst 1997/98 auf Ausstellungen in Köln und Düsseldorf zu sehen.

http://quadrat.bottrop.de




„Wenn List das Weib als Waffe schwingt“: Ermanno Wolf-Ferraris „Vier Grobiane“ haben keine Chance

Feinsinnig, stellenweise aber auch turbulent: Ermanno Wolf-Ferraris Komödie „Die vier Grobiane“ an der Folkwang Hochschule in Essen-Werden. (Foto: Gustav Glas)

Sie haben keine Chance. Sie mögen noch so vehement ihre Allmachts- und Gewaltfantasien ausmalen, sie mögen ihre Frauenverachtung noch so lautstark bekunden. Gegen weibliche Solidarität kann die Kumpanei der vier alten Machos nichts ausrichten.

Ihre larmoyante Besingung früherer besserer Zustände ist vergeblich. In Ermanno Wolf-Ferraris Buffa-Spätblüte „Die vier Grobiane“ setzen sich die Frauen mit ihrem humanen Anliegen durch. Immerhin geht es um Liebe und Selbstbestimmung: Die jungen Leute, die nach der Vorstellung der Patriarchen aneinander verschachert werden sollen, ohne sich je vor der Hochzeit gesehen zu haben, bekommen dank vereinter Frauenpower wenigstens eine Chance.

Das war mutig für das ausgehende 18. Jahrhundert am Vorabend der französischen Revolution, als Carlo Goldoni seine Komödien schrieb, um schlechte Sitten lächerlich zu machen. Das war auch noch mutig, als Wolf-Ferrari auf den Stoff zurückgriff, um 1906 der wilhelminischen Gesellschaft mit leichter Hand einen Spiegel vorzuhalten. Denn so harmlos die Konversation daherkommt, so viele Rückzieher auf dem Weg einer Emanzipation auch zugestanden werden: Der Stoff hat’s in sich. Die vier unmanierlichen reichen Herren, die da konspirieren, haben mit gierigen venezianischen Handelsherren ebenso viel zu tun wie mit dem saturierten Untertan der Vorkriegszeit. Und wer will, schafft problemlos den durch Heiterkeit erleichterten Transfer in den Sexismus unserer Tage.

An der Folkwang Universität der Künste in Essen-Werden, wo Wolf-Ferraris einst erfolgreiche, seit ein paar Jahrzehnten aber weitgehend vergessene Petitesse wieder einmal aufgeführt wird, belässt Regisseur Georg Rootering das Stück diesseits einer zupackenden Deutung. Ein Spielpodium, ein paar Venedig-Dias für den Hintergrund, fertig ist die Bühne. Alina Fischers Kostüme deuten die Nachkriegszeit an, als die Jugend sich anschickte, mit Rock’n‘Roll und Doo Wop aus ihren biederen Elternhäusern zu fliehen.

Rootering meidet kalauernd überzeichnete Komik und führt die Figuren mit leichter Hand, kann aber den Studenten auf der Bühne auch nur so viel komödiantische Grazie entlocken, wie sie selbst zu geben bereit sind. Und da gibt es, ebenso wie bei den Stimmen, merkliche Unterschiede. Komödie ist zudem ein anspruchsvolles Genre, das selbst erfahrenen Profis alles abfordert. Am schwersten tun sich die jungen Männer, die anachronistisch verstaubte Väter darstellen sollen; der tochterverhökernde Lunardo von John Lim gelingt da noch am überzeugendsten.

Bogil Kim als Filipeto. (Foto: Gustav Glas)

Bogil Kim wird als Typ vorteilhaft eingesetzt, um den verschüchterten Kaufmannsjungen Filipeto zu charakterisieren, der nur dank der Durchsetzungskraft seiner Unterstützerinnen das Mädchen zu Gesicht bekommt, das er heiraten muss. In seiner Arie „Lucieta xe un bel nome“ (gesungen wird auf Deutsch, wie bei der Münchner Uraufführung 1906), einem kleinen Juwel der Buffo-Oper, zeigt Kim einen klangfeinen, noch nicht ganz sicher positionierten, aber weitgehend entspannten Tenor.

Auch bei den Damen gelingt es nur in Ansätzen, die unterschiedlichen Typen zu charakterisieren. Jeanne Jansen fehlt weder die Süße für das naive Töchterlein noch die Leichtigkeit für ihre aparten Klagen über die Langeweile; lediglich in der Höhe wird der Ton eng und löst sich vom Körper. Kejti Karaj umkleidet ihre subversive Zähigkeit mit einem wohllautenden Mezzo, sollte sich aber in der Tonproduktion nicht so sehr auf das Vibrato verlassen. Tante Marina (Natalija Radosavljevic) verbirgt hinter reizenden Ariosi, dass sie durchaus willens wäre, die Krallen auszufahren, würde sie sich nur trauen.

Mit dem Mumm zu Widerstand hat Jiajia Zhang als Felice kein Problem: Galant, aber unverfroren und knallhart gibt sie den Männern Paroli und lässt deren autoritätsheischendes Gehabe zielstrebig verpuffen. Die Erkenntnis kommt spät: „Es kann kein Mann sich wehren, wenn List das Weib als Waffe schwingt“. In der Banja ringen sich die Herren der Schöpfung zu der bitteren, vom Fagott witzig-grimmig kommentierten Erkenntnis durch, dass es „ohne Weiber“ eben nicht geht – eine Erkenntnis, die ein Jahrzehnt später Emmerich Kálmán in seiner „Csárdásfürstin“ zum Schlager ausgebaut hat.

Wolf-Ferrari reiht im Orchester federleichte Passagen und blitzende Juwelen im Detail aneinander, wechselt graziös vom Konversationston ins Arioso, lässt melodische Schmetterlinge für ein paar dutzend Takte auf den Blüten eines delikaten Terzetts, Quartetts oder Quintetts landen und gleich darauf in entzückenden instrumentalen Details weiterflattern. Diese Kunst der leichtfüßigen Grazie, der eleganten Artikulation findet ihren szenischen Widerhall in den Choreografien von Victoria Wohlleber: Drei Harlekine (Sandro Haehnel, Biran Sariyer, Natalia Stellmach) huschen immer wieder über die Bühne, verharren einmal wie ein Möbelstück auf allen Vieren, umtänzeln ein anderes Mal die Darsteller oder eine augenzwinkernd am Rand des Podiums postierte Statuette des Michelangelo-David aus Florenz.

Xaver Poncette, der seit 1994 an der Folkwang Hochschule unterrichtet und sich Ende Juli in den Ruhestand verabschiedet, hat dem Orchester mit Erfolg vermittelt, wie die Musik Wolf-Ferraris zu gestalten ist: mit Feinsinn und Geschmack; ein Soufflé, kein üppiger Panettone.

Noch eine Aufführung am Samstag, 23. April, 19.30 Uhr, in der Neuen Aula der Folkwang Hochschule in Essen-Werden. Info: https://www.folkwang-uni.de/home/hochschule/veranstaltungen/veranstaltungen-des-laufenden-monats/veranstaltung-detail/11836-die-vier-grobiane/




Genie für jede Gelegenheit: Erfinder Daniel Düsentrieb wird 70 Jahre alt

Daniel Düsentrieb gewidmet: Titelseite des neuen Heftes „Micky Maus präsentiert“, Nr. 39. (@ 2022 Egmont Ehapa Media / Disney)

Als Gastautorin schreibt die 12-jährige Stella Berke über einen berühmten Einwohner von Entenhausen:

Der geniale Erfinder hilft den Mitbewohnern der kleinen Stadt oft beim Lösen ihrer Probleme: Daniel Düsentrieb selbst wurde 1952 erfunden und ist jetzt 70 Jahre alt.

Zum Beispiel ist er Phantomias, dem Superhelden Entenhausens, schon oft zur Hand gegangen. Daniel Düsentrieb hat einige neue, brauchbare Funktionen in den Wagen des Helden eingebaut, unter anderem einen Hebel zum Fliegen. Auch Daisy Duck käme ohne Düsentriebs Erfindungen nicht aus. Sie lässt ihn oft ihre Haushaltsgeräte verbessern. Sogar für den so geizigen Dagobert Duck erfindet er gerne. Leider zahlt dieser meistens nicht, allerdings bleibt das Genie treu und verlangt keinen Lohn.

Das Problem an seinem ständigen Erfindungsdrang ist, dass er meist an nichts anderes mehr denken kann. Zum Beispiel macht er in einer Geschichte zusammen mit Donald Duck Urlaub. Er versucht zwar, sich zu entspannen, allerdings erfindet er auch dort wieder etwas für die Touristen, während Donald nichts merkt.

Ohne seinen kleinen elektronischen Freund ,,Helferlein“ wäre Daniel Düsentrieb vermutlich nur halb so genial. Natürlich hat er Helferlein ebenfalls selbst erfunden – ein Gerüst aus Metall mit einer Glühbirne als Kopf. Oft hat die kleine Kreation hilfreiche Ideen oder räumt im Labor auf. Man muss regelmäßig seine Glühbirnen wechseln, sonst funktioniert er nicht.

In den neuen Heften kann man unter anderem nachlesen, wie Daniel Düsentrieb einst überhaupt nach Entenhausen kam und in sein Labor gezogen ist. Außerdem ist eine ganze Seite mit vielen Informationen über ihn enthalten.

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Neuerscheinungen, in denen Daniel Düsentrieb vorkommt:

Micky Maus 09/2022 (3,99 €), „Micky Maus präsentiert“ No. 39 (3,50 €) und „Lustiges Taschenbuch LTB 558 „Das Zeitportal“ (kommt am 26. April heraus, 7,99 €)

Einen Erfinde-Wettbewerb gibt’s auch. Bis zum 15. Juni können Ideen an erfinder@micky-maus.de geschickt werden.




Historie in der Horizontale: „Was im Bett geschah“

Wenn man nur lange genug über ein Thema nachsinnt, scheint der Stoff schier uferlos zu werden. Beispielsweise das Bett und alles Drumherum. Was lässt sich da nicht alles erzählen! Es lassen sich damit zahllose Bücher füllen, beispielsweise das im Titel etwas anzüglich klingende „Was im Bett geschah“ (im Original noch eine Spur aktiver: „What We Did in Bed“), das als „Eine horizontale Geschichte der Menschheit“ firmiert.

Nadia Durrani und Brian Fagan kommen aus der Archäologie und fangen zwar nicht bei Adam und Eva, wohl aber bei unseren frühen Vorfahren vor einigen Tausend Jahren an, die verwertbare Funde hinterlassen haben. In der Vorzeit, so erfahren wir, haben Menschen wohl auf Bäumen geschlafen, andere wiederum in Hockstellung auf dem Erdboden. Wir lernen sodann sehr detailreich, wie es vor allem die alten Ägypter, Griechen, Römer und Chinesen mit dem Schlafe hielten und wann die Vorläufer der Betten gebaut worden sind.

Die vom Boden abgehobene Bettstatt mit Füßen entstand zunächst vor allem als Zeichen sozialer Hierarchie und Distanzierung. Die Höhergestellten waren sozusagen auch Höhergelegte, sie hoben sich somit buchstäblich von ihren Bediensteten und sonstigen Minderbegüterten ab. Im Laufe der Historie wurden daraus unvorstellbar reich ausgestattete Prunkbetten. Ihre Kostbarkeit zu schildern, ja darin verbal zu schwelgen, unternimmt das Autorenduo immer und immer wieder, in dieser Hinsicht wird es durchaus wiederholungsträchtig.

Staatsgeschäfte zwischen den Laken

Ansonsten werden praktisch alle Aspekte rund ums Bett durchgearbeitet: der Schlaf an und für sich, der Sex, das Bett als Ort der Geburt und des Sterbens, als geheimes Machtzentrum von Pharaonen, Königen und sonstigen Potentaten – mit den recht bizarren Gipfelpunkten zur Zeit des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. und der englischen Königin Elizabeth I. Oft genug wurden gewichtige Staatsgeschäfte wesentlich vom Bett aus besorgt, so auch noch von Winston Churchill.

Eine der spannendsten Fragen betrifft die Privatsphäre, von der sich frühere Zeiten noch gar keinen Begriff machten. Daheim teilten ganze Großfamilien die Lagerstatt. Reisende, sofern nicht bestens betucht, hatten in den Herbergen keine Liegefläche für sich allein. Wann und wie aber ist die Vorstellung eines Rückzugsbereichs und folglich der Intimität entstanden? Sollte es etwa mit dem Heraufkommen der bürgerlichen Gesellschaft zu tun gehabt haben? Das christliche Sündenbekenntnis (Beichte) und die abgesonderte Buchlektüre haben jedenfalls bahnbrechend gewirkt. Insofern waren die 1969 im Bett abgehaltenen Presse-Empfänge von John Lennon und Yoko Ono als Manifestationen einer Gegenbewegung tatsächlich geschichtsträchtig.

In der Flut des Materials ertrinken

Zahllose Phänomene werden erwähnt. Man denke sich irgendein Stichwort zum Thema, es wird mit ziemlicher Sicherheit in diesem Buche vorkommen. Es ist, als hätte man bloß nichts auslassen wollen. Allerdings ertrinkt man auf diese Weise in der Flut des Materials. Nadia Durrani und Brian Fagan haben bienenfleißig Fundsachen zusammengetragen, sie lassen alles Mögliche und Unmögliche Revue passieren, finden aber nur selten zur Analyse von Strukturen. Ein tiegfründelndes Buch ist dies gewiss nicht, eher eine leidlich unterhaltsame Materialsammlung, deren verstreut umher liegende Elemente noch der weiteren Deutung harren.

Auch die Zukunft des Schlafens wird erwogen – vor allem in Form eines schnellen Streifzugs durch die globalen Möbelmärkte. Stehen uns Kapselbetten ins Haus, die die Schlafenden als Vereinzelte völlig umschließen und vielfach (virtuell) verwöhnen? Werden unsere Wohnungen auf Knopfdruck tagtäglich wandelbar sein? Werden wir uns völlig schwerelos auf magnetisch schwebenden Kissen zur Ruhe legen? Fragen über Fragen. Lasst uns mal ein paar Nächte drüber schlafen.

Nadia Durrani & Brian Fagan: „Was im Bett geschah. Eine horizontale Geschichte der Menschheit“. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Hanowell. Reclam Verlag, 270 Seiten (mit Bibliographie und Registern), 24 Euro.

 




Aufbrüche aller Art: Spuren der 60er und 70er Jahre in der Wuppertaler Sammlung

Andy Warhol: „Mao Tse Tung“, 1972. Zehnerserie, je 91,5 x 91,5 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc.)

Wuppertals Von der Heydt-Museum kreist weiterhin produktiv um sich selbst, genauer: um seine eigene Sammlung, deren Schätze noch gar nicht komplett gehoben zu sein scheinen und noch immer Aha-Erlebnisse mit sich bringen. So entstehen neue Perspektiven aufs Vorhandene. Kostensparend sind derlei Ausstellungen ohne Leihgaben obendrein.

Kürzlich begann die Reihe der „Freundschaftsanfragen“ mit künstlerischen Stellungnahmen zu ausgewählten Beständen des Hauses, die Premierenschau läuft noch bis zum 10. Juli. Und schon gibt es eine weitere Ausstellung, die selten oder sogar noch nie vorgezeigte Arbeiten aus den Depots holt. „Fokus Von der Heydt“ lautet der Obertitel, ins Blickfeld rücken dabei „ZERO, Pop und Minimal“ sowie weitere Richtungen der ungemein vitalen und vielfältigen 1960er und 70er Jahre.

Gerhard Richter: „Scheich mit Frau“, 1966, Leinwand, 140 x 135 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © Gerhard Richter)

Das Wuppertaler Museum, im Kern wesentlich mehr „klassisch“ aufgestellt, war bislang nicht so bekannt für nennenswerten Eigenbesitz aus dem genannten Zeitraum. Seit eineinhalb Jahren aber sind die Magazine gründlich durchgesehen worden – und es kam manch Überraschendes ans Tageslicht. Seinerzeit war Wuppertal mit der legendären Galerie Parnass (finale 24-Stunden-Aktion mit Beuys, Vostell, Charlotte Moorman, Bazon Brock und vielen anderen am 5. Juni 1965) ein Fixpunkt der Avantgarde. Und siehe da: Damals wurde vom Museum zumindest punktuell klug und vorausschauend angekauft – sozusagen „am Puls der Zeit“, wie Von der Heydt-Direktor Roland Mönig findet. Doch seither sind viele Werke für Jahrzehnte im archivarischen Dunkel verschwunden. Bis jetzt.

Vieles musste erst einmal restauriert werden

Etliche Bilder, Objekte und Skulpturen mussten überhaupt erst einmal wieder restauratorisch für die Ausstellung aufbereitet werden werden, wie die Kuratorinnen Beate Eickhoff und Anika Bruns erläutern. Paradebeispiel ist eine veritable Wiederentdeckung, jene filigrane Skulptur von Harry Kramer, die von einem kleinen Motor über Spulen in Bewegung versetzt werden soll und nicht mehr funktioniert hat. Die Reparatur ließ sich fachgerecht bewerkstelligen, weil man einen früheren Assistenten des 1997 verstorbenen Künstlers aufgespürt hat und fürs Vorhaben gewinnen konnte.

Rune Mields: „Komposition“, 1970. Leinwand, 150 x 100 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Der Rundgang im 2. Obergeschoss hat keinen erschöpfenden, sondern eher kursorischen Charakter. Er umfasst 130 Arbeiten von nicht weniger als 95 Künstlerinnen und Künstlern, darunter viele bekannte, aber auch (aus welchen Gründen auch immer) verblasste Namen. Trotz der relativen Fülle kann jede Ausprägung nur vage „angetippt“ werden, denn die Bandbreite reicht von der Gruppe ZERO (Uecker, Mack und Piene) über Op-Art, kinetische Kunst, konkrete Kunst, Minimal Art und Fluxus bis hin zur Land-Art (naturgemäß nur in Relikten und auf Fotografien vorhanden), neuen Realismen und Pop-Art. Doch halt! Es würde zu weit führen, hier alle Spielarten und Protagonisten aufzuzählen. Die Ausstellung ist als Langzeit-Projekt bis (mindestens) zum Hochsommer 2023 angelegt, zwischendurch sollen auch schon mal Exponate ausgewechselt werden.

Die 60er und 70er waren jedenfalls eine Zeit, in der nach und nach mit allem Denk- und Sichtbaren experimentiert wurde, mal ernsthaft und beflissen, mal eher spielerisch oder auch frech. Licht und Bewegung wurden zu neuen Grundelementen der Kunst, die Gattungsgrenzen wurden allseits gesprengt, die Skulpturen von den Sockeln geholt, Nachkriegs-Dogmen der abstrakten Kunst überwunden. Aktionen, Performance und Happenings kamen auf. Nichts schien dauerhaft zu sein.

Konrad Klapheck: „Die Sexbombe und ihr Begleiter“, 1963. Öl auf Leinwand, 89 x 69,5 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Einige der damaligen Kunst-Bewegungen drängten entschieden aus den Museen heraus und in den Lebensalltag hinein. Insofern haftet ihrer jetzigen Präsentation im musealen Zusammenhang auch etwas Widersprüchliches an; ganz so, als würde da etwas einstmals Lebendiges eingezäunt oder gezähmt. Doch wie soll’s denn anders gehen?

Soll man einzelne Arbeiten hervorheben? Wozu? Allzu verschieden sind die künstlerischen Positionen, so dass sich jede(r) die eigene Schneise des Beliebens schlagen sollte. Zieht es einen zu Warhols Mao-Siebdrucken, zur Zeichnung von Cy Twombly, zum Lichtrelief aus der ZERO-Gruppe, zu Wolf Vostells furioser Übermalung des Kennedy-Attentats, zu Horst Antes‘ „Kopffüßler“-Vorläufer oder zu Dieter Kriegs frappierend realistischer „Malsch-Wanne“? Man sollte Parcours nicht stur geradeaus geradeaus absolvieren, sondern sich spontan treiben lassen. Gut möglich, dass einem dann noch etwas mehr vom damaligen Zeitgeist einleuchtet.

„ZERO, Pop und Minimal – Die 1960er und 1970er Jahre“ („Fokus Von der Heydt“). Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Seit 10. April 2022 bis 16. Juli 2023. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12, ermäßigt 10 Euro. Katalog erst gegen Ende des Jahres 2022.

Tel. 0202 / 563-6397

www.von-der-heydt-museum.de

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Beim Pressetermin erhob sich noch eine Quizfrage für Spezialisten: Was wurde anno 1902 früher eröffnet – der Vorläufer des Wuppertaler Von der Heydt-Museums (damals noch Städtisches Museum Elberfeld) oder der Vorläufer des Osthaus-Museums, das damalige Folkwang-Museum in der benachbarten Stadt Hagen?

Lösung: Hagen am 9. Juli 1902, Wuppertal am 25. Oktober 1902. Was aber weiter nichts besagen will, schon gar nicht qualitativ.




Die Kunst kann keinen Krieg beenden

(Foto: Bernd Huber)

Gastautor Bernd Huber über das Verhältnis von Kunst und Krieg in diesen Zeiten:

Ich bin verwirrt, weil sich mir Fragen aufdrängen. Die wichtigste Frage ist wohl die, ob die Kunst in Kriegszeiten „rein“ bleiben kann. Ich möchte es absichtlich mal auf die Spitze treiben und fragen: „Reicht es, ,Imagine‘ zu singen?“

Wenn die Kunst fordernd anklagt, fühle ich mich immer peinlich berührt. Die politischen Missverhältnisse bleiben von ihr unberührt. Diesbezüglich vermag die Kunst nichts. Die Kunst, wenn sie Kunst ist und nicht von vornherein ihre Werke auf dem Politischen aufbaut, sondern das nur in Krisenzeiten tut, verliert ihre Kraft der Unschuld. Der politische Missstand lässt sich nur durch Politik bekämpfen. Kein Spruch lächerlicher, als der, der da proklamiert: „Make Music, Not War“. Als ob ein Mensch wie Putin einen solchen Gedanken überhaupt in Erwägung ziehen könnte!

Im Krieg muss man eine eindeutige Position einnehmen, das ist schon schlimm genug. Im Grunde hieße das für den Künstler, dass er seine Kunst dort lassen muss, wo sie hingehört. Die Kunst hat im Krieg keine Position, der Künstler schon. So wäre es immer sinnvoller, der populäre Künstler bezöge eine politische Position, indem er sagt: „Sofort alle Embargo-Möglichkeiten umsetzen“ – oder ähnliches.

Kunst und Krieg haben keine Gemeinsamkeiten, während die kriegerischen Handlungen anhalten. Ein Kunstwerk wie Picassos „Guernica“ entsteht erst als künstlerischer Reflex auf den Krieg. Die Idee, dass die Kunst den Krieg beenden könne, ist in ihrer Naivität nicht zu überbieten. Achja, und dann gibt es ja auch den zynischen Begriff der „Kriegskunst“. Aber wir alle wissen ja, dass Krieg und Kunst gar nichts miteinander zu tun haben und dass es Kriegskunst nicht gibt. Es gibt ja auch keine Kunst des Mordens.




Gezähmte Dämonen: Sinfoniekonzert der Duisburger Philharmoniker mit Marie Jacquot am Pult

„Romantische Dämonie“ war das neunte Philharmonische Konzert der Duisburger Philharmoniker überschrieben, doch in Robert Schumanns a-Moll-Klavierkonzert war von romantischen Anmutungen wenig zu hören.

Ab 2024 Chefdirigentin an der Königlichen Oper Kopenhagen: Marie Jacquot, Erste Kapellmeisterin an der Rheinoper. (Foto: Werner Kmetitsch)

Erst Felix Mendelssohn Bartholdys Vertonung von Goethes „Faust“-Vorstudie „Die erste Walpurgisnacht“ ließ im farbenreichen Orchester und in exzessiv ausgekosteter Chordramatik die Dämonen vorüberziehen: „Menschen-Wölf‘ und Drachen-Weiber“ rasen da in dampfendem „Höllenbrodem“ über den Himmel. Carl Maria von Webers Wolfsschlucht lässt grüßen und die effektsichere Musik Mendelssohns gibt eine Ahnung davon, wie es hätte klingen können, hätte der hochbegabte Berliner Jung‘ jemals die Chance gehabt, eine Oper zu komponieren.

Wer da das Duisburger Orchester und den erstmals nach der Pandemie-Zwangspause wieder in großer Form auftretenden Philharmonischen Chor anspornt, bringt ausgiebige Opernerfahrung mit: Marie Jacquot, seit 2019 Erste Kapellmeisterin an der Deutschen Oper am Rhein und ab 2024 Chefdirigentin der Königlichen Oper Kopenhagen, versteht es, Ensembles sicher zu führen. Klare Zeichen vom Pult helfen den breit aufgereihten Sängerinnen und Sängern in der Mercatorhalle zu größtmöglicher Präzision; Marcus Strümpe hat den Chor klangbewusst und rhythmisch hellwach vorbereitet. So überzeugen vor allem die Frauen mit kraftvoll-strahlendem Klang, während die Tenöre ein paar Stimmen mehr vertrügen, um den freien Frühlingswald mit Glanz zu besingen und das „Licht“ intensiv strahlen zu lassen, das Goethe beschwört und Mendelssohn pathetisch musikalisch herausstellt.

Das Licht als Aufklärungs-Chiffre

Um den aufklärerischen Begriff des Lichts geht es in der weltlichen Kantate, die 1832 entstand, aber erst 1843 in einer überarbeiteten Fassung vom Leipziger Gewandhaus aus ihren Weg in die musikalische Welt fand. Goethe setzt – historisch überholt – einen Konflikt zwischen Druiden und „dumpfen Pfaffenchristen“ voraus, in dem die heidnischen Priester mit einem listig entfesselten Spuk die Christen mit deren eigener Höllenangst in die Flucht schlagen. Die vom Rauch gereinigte Flamme, das Licht des alten Glaubens werden emphatisch besungen: aufklärerische Chiffren für eine vernunftgeleitete, idealistisch von Aberglauben befreite Religion.

In Mendelssohns Tonsprache hören wir die wilde Chromatik des „Hebriden“-Meeres und erahnen die Wogen von Wagners „Holländer“. Wenn sich die Druidenwächter im Wald verteilen, klingt der Chor nach Heinrich Marschners „Vampyr“-Dämonen. Und der Glanz der Lichtbeschwörung lässt an Mendelssohns „Elias“ denken. Bei Marie Jacquot schäumt das Unwetter in der Ouvertüre und die Duisburger Philharmoniker ahnen im Übergang zum Frühling in zarten Bläserstaccati und lichtem Streichersatz schon den Traum der Sommernacht. Effektvoll musizieren sie den exotischen Klang aus, mit dem Mendelssohn den Druiden mit tiefen Streichern, leisem Trommeldonner und Pianissimo-Becken eine charakteristische Sphäre schafft. Und wenn Kauz und Eule ins „Rundgeheule“ einstimmen, demonstrieren die Damen des Chores, was pointierte rhythmische Schärfe bedeutet.

Mit nur wenigen Sätzen bedacht hat Mendelssohn die Solisten: Einzig der Bariton Johannes Kammler kann als Priester seine warme, blühende Stimme länger zur Geltung bringen. Patrick Grahl pflegt als Druide und christlicher Wächter einen vornehmen Oratorienstil; Thorsten Grümbels Bass ist für seine kurze Szene eine luxuriöse Verschwendung. Anna Harveys schmeichelnde, (zu) lyrische Stimme hat für die „alte Frau aus dem Volk“ weder die tragende Tiefe noch die vorwurfsvolle Schärfe.

Schumanns Abgründe als Glitzerkram

So beeindruckend Marie Jacquot und die Ensembles also Mendelssohns dramatisches Geschick in der „Walpurgisnacht“ ausleuchten, so unterbelichtet bleibt in Schumanns Klavierkonzert, was „Romantik“ oder „Dämonie“ bedeuten könnten. Das liegt nicht an Dirigentin und Orchester, sondern an der Pianistin Mariam Batsashvili. Denn die 28jährige Georgierin, die als „große musikalische Hoffnungsträgerin“ vermarktet wird, lässt jeden persönlichen Zugang zu Schumanns facettenreicher Welt vermissen. Statt der im Werbesprech gepriesenen „aufrichtigen Emotionen“ hört man viele Flüchtigkeiten und noch mehr Pedal; statt eines gestaltenden Zugriffs kalt kristalline Monotonie.

Das viel gerühmte „kunstvolle Durchweben“ von Solo-Instrument und Orchester interessiert Batsashvili offenbar wenig. So sehr sich das Orchester um Impulse müht, das Echo bleibt matt. Da mögen die Violinen noch so weite Kantilenen phrasieren – Batsashvili antwortet ohne innere Bewegung. Da spielt die Klarinette im zweiten Satz zum Niederknieen seelenvoll – die Pianistin bleibt unbeeindruckt bei einer neutralen Korrespondenz: Geschäftsbrief statt Liebespost. Und der lebhafte dritte Satz mit seinem fulminanten Finale, das Marie Jacquot eben nicht vordergründig aufdreht, wird als prinzessinenhaftes Spielwerk durchgezogen. Schumanns Abgründe als Glitzerkram – das will man wirklich nicht hören.




Künstliche Intelligenz gibt es nicht – Ausstellung im Dortmunder „U“ geißelt grenzenlose Computergläubigkeit

Wenn Biometrie die Menschen bewertet, kann auch Unsinn dabei herauskommen. „Decisive Mirror“ von Sebastian Schmieg, 2019 (Bild: Franz Warnhof/HMKV)

Die „Künstliche Intelligenz“, abgekürzt KI, über die Computer neuester Bauart angeblich verfügen sollen, gibt es nicht. Der Begriff ist schlicht falsch. Computer sind genauso intelligent wie, sagen wir mal, ein Gurkenhobel.

Eigentlich haben wir das ja immer gewußt, obwohl die elektronische Datenverarbeitung, bleiben wir für einen Moment bei diesem altehrwürdigen Begriff, heute in Gestalt attraktiver junger Damen wie Alexa daherkommt, die uns richtig gut zu kennen scheinen und ohne bösen Hintersinn bemüht sind, uns jeden Wunsch zu erfüllen. Da kann man natürlich schon ins Grübeln kommen, ob nicht vielleicht doch mehr dahintersteckt als die systematische Anwendung zugegebenermaßen hochkomplexer Algorithmen. Oder?

Vermessenes aus „Hypernormalisation“ von Aram Bartholl von 2021 (Bild: HMKV)

Neue Perspektive

Erstaunlicher als die (eben nicht) erstaunliche Einsicht, daß Computer dumm wie Brot, jedoch keineswegs harmlos sind, ist vielleicht noch der Ort, an dem Erkenntnis dem Publikum zuteil wird. Der Dortmunder Hartware Medienkunstverein, der mit seiner Ausstellungsfläche im dritten Stock des Dortmunder „U“ residiert, ausgerechnet der, hat sich die computerkritische Perspektive zu eigen gemacht und präsentiert nun „künstliche Intelligenz als Phantasma“ in seiner neuen Ausstellung „House of Mirrors“, was sinnvoll mit „Spiegelkabinett“ übersetzt werden kann. Daß die Ausstellung ausgerechnet hier stattfindet ist deshalb erstaunlich, weil der Medienkunstverein bisher doch ein eher positives Verhältnis zur Computerei zu haben schien, zu den Ergänzungen und Weitungen, die der Einsatz elektronisch betriebener Medien letztlich eben auch der Kunst bringen könnte. Ein wirklich Widerspruch ist dies indes nicht, wir wollen fair bleiben. Eher könnte man vielleicht von einem Perspektivwechsel sprechen, der im ganzen großen Themenkontext sicherlich Sinn macht. Außerdem scheint auch ein wenig „Wokeness“ im Spiel zu sein.

Ein Gestell, viele Smartphones: die Arbeit „– human-driven condition“ von Conrad Weise thematisiert die Situation der vielen (menschlichen) Mikroarbeiter, die in stark fragmentierten Arbeitsprozessen für das Funktionieren der „KI“ sorgen (Foto: HMKV)

Alte Datenmuster

Große Spiegel strukturieren den Raum in dieser hübsch aufgebauten Ausstellung; die meisten werfen lediglich das Bild zurück, manche sind aber auch von einer Seite zu durchschauen, wieder andere sind Teile von Kunstobjekten. Warum die Spiegel? Inke Arns, seit etlichen Jahren die rührige Chefin des Medienkunstvereins, erläutert es. Der Prozeß der Spiegelung, wir formulieren frei, verdeutliche den beschränkten Nutzen des Computereinsatzes in vielen Anwendungsbereichen, bei der Erkennung von Personen zum Beispiel (Zollkontrollen, Fahndung) oder von Situationen („autonomes Fahren“ etc.). Gespiegelt wird, was man dem Spiegel zeigt, algorithmische Raster, biometrische Daten, situative Schemata, Statistik.

Was man nicht zeigt, kann auch nicht gespiegelt werden, heißt für den Computerbetrieb: er reagiert nur beim Wiedererkennen hinterlegter Datensätze. Erkennt er das Geschehen nicht, reagiert er nicht oder falsch. Auch mit allergrößten Datenmengen ist die Computerintelligenz also ein menschengemachtes Bewertungskonstrukt, dem ein gerüttelt Maß Subjektivität eigen sein dürfte und das zwangsläufig „computeraufbereitete Realität mit vergangenen Datenmustern erkennen“ (Arns) soll. Wenn aber heutiges Geschehen an den Mustern von gestern abgeglichen wird, hat das normierenden, mitunter gar disziplinierenden Charakter. Von „automatisierter Statistik“ spricht in diesem Zusammenhang Francis Hunger, der die Ausstellung zusammen mit Marie Lechner kuratiert hat.

Hier geht es um die Wahrnehmungen „autonomer“ Fahrzeuge: „VO“ von Nicolas Gourault (2022) (Bild: Courtesy of Le Fresnoy, Studio national des arts contemporains/HMKV)

Viele Bildschirme, viele Projektionsflächen

So viel zunächst einmal zum Ansatz dieser Schau. Wie aber nun macht man aus technischen, soziologischen, politischen, psychologischen Einsichten Kunst? So ganz einfach ist das nicht, denn anders als alles Mechanische ist Elektronisches zunächst einmal sehr unsinnlich. Letztlich, und so auch hier, läuft es darauf hinaus, daß viel Botschaft über Bildschirme und Projektionsflächen läuft, denen (so gut es eben ging) ein paar Requisiten beigegeben wurden. Einige schöne Raumsituationen gibt es gleichwohl, wie das von einem gemütlichen Sofa beherrschte Zimmer Lauren Lee McCarthys, in dem diese eine Woche lang die Funktion von Amazons virtueller Assistentin Alexa übernahm. Das war 2017 und streckenweise recht lustig, wie die Dokumentation zeigt, die auf dem Bildschirm läuft.

Sinnfrei

Ein Großteil der Arbeiten thematisiert Teilaspekte der „KI“. Gleich am Eingang scannt Sebastian Schmiegs „Decisive Mirror“ (2019) Gesichter der Besucher und berechnet dann Sinnfreies: „Zu 42 Prozent noch am Leben“, „zu 65 Prozent imaginär“, „zu 17 Prozent einer von ihnen“ und so weiter. Projiziert werden die Daten auf einen Spiegel, und schon in dieser ersten Installation erahnt man die Respektlosigkeit dessen, was folgen wird.

Neues Gesicht aus dem Computer: „The Zizi Show, Deepfake drag Artist close up“ (2020) von Jake Elwes (Bild: Courtesy of the artist, VG Bild-Kunst/HMKV)

Wunsch und Wirklichkeit

Doch wir beginnen nachdenklich. In der zentral gelegenen Rotunde vergleichen Pierre Cassou-Noguès, Stéphane Degoutin und Gwenola Wagon in ihrer üppigen Videoarbeit „Welcome to Erewhon“ (2019) Wunsch und Wirklichkeit des technischen Fortschritts über Jahrhunderte hinweg. Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen ist das Buch „Erewhon; Or, Over the Range“, das ein gewisser Samuel Butler 1872 veröffentlichte und das die Übernahme der Macht durch die Maschinen thematisierte, die sich schneller und effektiver weiterentwickelt hatten als die Menschen. Schließlich zerstörten die Menschen die Maschinen und bauten keine neuen mehr. „Erewhon“ ist übrigens ein Anagramm von nowhere, nirgendwo. Weiterhin gibt es hier auf den Bildschirmen computergesteuerte Haushaltsmaschinen des 21. Jahrhunderts zu sehen, Saug- und Wischroboter etwa, von denen noch keine große Bedrohung auszugehen scheint. Auch eine Performance ist hier dokumentiert, die zeigt, zu welchen Albernheiten eine Bürogemeinschaft fähig ist, wenn die Computer all ihre Arbeit übernommen haben. Es gibt der Aspekte etliche mehr. Eingestimmt und neugierig wandern wir weiter.

Kuh oder Sofa

Simone C Niquilles raumgreifend angelegte Videoinstallation „Sorting Song“ (2021) führt auf großer Leinwand bildmächtig das Dilemma eines überforderten Erkennungsprogramms vor, das den zu bestimmenden Gegenstand mal als Kuh, mal als Sofa identifiziert und abbildet. Anna Ridlers „Laws Of Ordered Form“ (seit 2020) befaßt sich mit elektronischem Bilderkennen und –benennen in enzyklopädischen Dimensionen und vergleicht dies mit traditionellen, nach Stichworten strukturierten Formen der Archivierung. Die „Mikroarbeiter“, Männer wie Frauen natürlich, haben ihren Platz in der Ausstellung, jene vielen tausend Menschen, die isoliert zu Hause und unter oft miserablen Konditionen in der ganzen Welt als „Datenreiniger“ oder „Klickarbeiter“ händisch all das machen, was die „KI“ nicht hinbekommt. Die Italienerin Elisa Giardina Papa, die selber als Datenreinigerin für Unternehmen arbeitete, und der Kölner Conrad Weise erinnern in ihren Arbeiten an sie.

Kein Alter Meister, sondern ein Bild aus der Arbeit „Laws of Ordered Form“ von Anna Ridler (2020), in der es um Bilderkennung geht. (Bild: HMKV)

Diskriminierung

Überhaupt: die Zukurzgekommenen, die Diskriminierten, die rassistisch Ausgegrenzten. Etliche Arbeiten beleuchten diskriminierende Aspekte der Algorithmen – die Diskriminierung dunkler Hautfarbe beispielsweise in Gesichtserkennungs-programmen, die Diskriminierung von ausländischen Akzenten oder „Unterschichtsprache“ in Spracherkennungsprogrammen. „KI“ ist nicht woke, im Gegenteil. Unübersehbar ist es das Anliegen wenn schon nicht dieser Ausstellung, so doch sicherlich etlicher Arbeiten, die diskriminierenden Eigenschaften von „KI“ vor allen im Überwachungswesen herauszuarbeiten. Und dagegen ist auch nichts zu sagen.

Ein weit gefaßter Kunstbegriff

Eher schon könnte man in Nachdenklichkeit verfallen über den hier doch sehr, sehr weit gefaßten Kunstbegriff. In vielen Arbeiten ist schwerlich mehr zu erkennen als das Zitat eines „KI“-typischen Problemfelds. Ein gewisses Unwohlsein hinsichtlich der künstlerischen Valeurs scheinen auch etliche der 21 Teilnehmer zu empfinden, die als Berufsbezeichnung in ihre Biographien zusätzlich „Forscher“ hineingeschrieben haben. Auf jeden Fall jedoch funktioniert diese insgesamt sehr schöne, kompakte, schlüssige Ausstellung durch die Summe der Exponate. Anders ausgedrückt: Wer sich für das Themenfeld interessiert, sollte hingehen. Gut geeignet auch für technikaffine Besucher.

    • „House of Mirrors: Künstliche Intelligenz als Phantasma“
    • HMKV Hartware Medienkunstverein
    • im Dortmunder U, Ebene 3
    • Leonie-Reygers-Terrasse
    • Bis 31 Juli.
    • Geöffnet Di-Mi 11-18 Uhr, Do-Fr 11-20 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr
    • Eintritt frei
    • www.hmkv.de

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Eine teilweise ähnlich gelagerte Ausstellung zur „KI“ läuft seit November 2021 und noch bis zum 9. August 2022 in der Dortmunder DASA (Deutsche Arbeitswelt Ausstellung). Hier ein Link zu unserem DASA-Bericht.

 




„Tot wie ein Dodo“ – Dortmunds Naturmuseum nimmt Ausrottung der Tierarten in den Blick

Schockierend konstruierte Szenerie mit einem Ranger, der nicht mehr verhindern konnte, dass dem Breitmaulnashorn die Hörner abgehackt worden sind… (Foto: Bernd Berke)

„Tot wie ein Dodo“ heißt, denkbar lakonisch, die neue Sonderausstellung im Dortmunder Naturmuseum. Die Benennung geht zurück auf die englische Redewendung „as dead as a dodo“, die mit Betonung auf Endgültigkeit ungefähr als „mausetot“ zu übersetzen wäre, was jedoch das grundfalsche Tier aufruft – ebenso wie der Internet-Sprachdienst Linguee, der sie mit „ausgestorben wie ein Dino“ übersetzt. Nix da Dino. Dodo!

Womit wir beim richtigen Dodo angelangt wären. Den hat es nämlich wirklich gegeben, nur ist er leider um das Jahr 1700 auf der Insel Mauritius ausgestorben – durch gewaltsame menschliche Einwirkung. Die flugunfähigen, mutmaßlich etwas tollpatschigen Vögel hatten keine Fressfeinde und waren daher so zutraulich, sich ohne Arg den Seefahrern zu nähern, die damals auf dem Weg nach Indien gern Zwischenhalt auf Mauritius machten. Hier nahmen sie Proviant auf und entdeckten auch das (wohl etwas zähe) Fleisch der Dodos für sich, um die es alsbald geschehen war. Den Rest gaben ihnen eingeschleppte Tiere wie Ratten, Schweine und Affen, die die Eier der Dodos fraßen. Nur noch wenige Skelette und karge Notizen künden von ihrem exemplarischen Erdendasein. Und jetzt gibt es den Dodo im Dortmunder Museumsshop als flauschiges Stofftier…

Weiteres Diorama in der Dortmunder Dodo-Ausstellung: Ein nicht allzu sympathischer Seemann (übrigens klischeegrecht mit Holzbein) hält feixend einen gerupften Vogel hoch, dessen noch lebender Artgenosse schaut zu. (Foto: Bernd Berke)

Ein Dodo-Diorama mit brutalem Seemann, der eines der getöteten Tiere gerupft hat, markiert den Eingangsbereich zur Dortmunder Ausstellung. Doch es geht längst nicht nur um diese Vögel, sondern um Tausende ausgestorbener und aussterbender Arten, deren Schicksal mit weiteren Dioramen, Vitrinen-Exponaten und Schautafeln vergegenwärtigt wird. Dabei geht es recht schaurig zu.

Mitleid mit der geschundenen Kreatur weckt etwa das akut bedrohte südliche Breitmaulnashorn, für dessen Hörner immense Beträge gezahlt werden und das daher zahllose Wilderer auf den Plan ruft. Hier sehen wir eine Szenerie mit blutig abgehackten Hörnern. Neben dem verendenden Tier hockt ein Ranger, der es eigentlich vor Wilderern hätte beschützen sollen. Doch seine Ausrüstung ist kläglich und der Schwarzmarkt-Preis eines einzigen Horns (pro Kilo 45.000 Dollar!) beträgt das eineinhalbfache seines Jahresgehalts, wie Julian Stromann (im Museum zuständig für Bildung und Vermittlung) ergänzend zu berichten weiß. So sind denn auch schon viele Ranger im Dienst erschossen worden.

Auf einer Bildtafel sind sogenannte „Endlinge“ versammelt, buchstäblich die Letzten ihrer jeweiligen Arten, darunter beispielsweise „Lonesome George“, mit dem die Geschichte einer Riesenschildkröten-Spezies aufgehört hat. Es folgt ein lebensgroßes, dramatisch zugespitztes Szenenbild mit dem gigantischen Laufvogel Riesenmoa, der einst auf Neuseeland gelebt hat und hier von einem Maori-Ureinwohner angegriffen wird.

Weitaus schlimmer aber wüteten die Angehörigen der kolonisierenden Völker und deren Pioniere: Seefahrer waren bereits die Hauptschuldigen am Aussterben der Dodos, sie hatten auch den pinguinartig aussehenden Riesenalk (ausgestorben durch brachiales Erwürgen der letzten Exemplare am 3. Juni 1844) und die Stellersche Seekuh auf dem Gewissen. Letztere Meerestiere waren so sozial, dass sie erlegten Artgenossen zur Hilfe eilten, so dass sie nicht mehr einzeln gejagt werden mussten, sondern gleich massenhaft getötet werden konnten.

Noch eine dramatisierende Ausstellungs-Inszenierung: Ein Seemann nähert sich in unguter Absicht den letzten Riesenalk-Exemplaren. (Foto: Bernd Berke)

Gruselig sodann eine Zusammenstellung von geschmuggelten touristischen Mitbringseln wie etwa Kroko-Täschchen oder gar Spielwürfeln aus Krokodilknochen. Höchst bedenklich zudem die in Asien verbreitete medizinische Praxis, die z. B. Haifischflossen, Seepferdchen-Pulver oder (angeblich potenzfördernde) Schlangenschnäpse verabreicht. Vor allem Tiger werden für heilkundliche Zwecke nahezu rundum ausgeweidet.

Ein Schaubild mit „Zeitschnecke“ veranschaulicht, dass menschliche Wesen den rund 4,6 Milliarden alten Planeten gleichsam erst in den letzten Sekunden bevölkert haben, wenn man das Erdalter auf ein einziges Jahr umrechnet. Der Mensch als in mancherlei Hinsicht verspätetetes Wesen: Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand in der Wissenschaft überhaupt ein Bewusstsein davon, dass es etliche ausgestorbene Tierarten gibt. Haben wir seither grundlegend dazugelernt? Eher im Gegenteil, was das Handeln und den schier schrankenlosen Konsum betrifft. Das Tempo der vom Menschen betriebenen Naturvernichtung hat sich ungemein beschleunigt und bedroht längst auch sein eigenes Dasein. Hier setzt die Ausstellung an, indem sie größere Zusammenhänge von Klimawandel, Vegetation und Nahrungsketten aufgreift. Und ja: Natürlich hat auch der Eisbär auf schmelzender Scholle dabei seinen traurigen Auftritt.

„Tot wie ein Dodo. Arten. Sterben. Gestern. Heute.“ Naturmuseum Dortmund, Münsterstraße 271. Vom 8. April bis 20. November 2022. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 4 Euro, ermäßigt 2 Euro, unter 18 Jahren frei. Zutritt derzeit nach 2G-Regelung, Änderungen während der langen Laufzeit möglich.

Gesponsert von der örtlichen Sparkasse, werden 160 kostenlose Schulklassen-Führungen angeboten.

Tel. für Buchungen und Infos: 0231 / 50-248 56.

Tickets online: www.naturmuseum-dortmund.de

 




Dortmunder Nächte sind lang – oder etwa nicht?

Wenn es Nacht wird in Dortmund… (Foto: Bernd Berke)

Ganz ehrlich: Übers Dortmunder Nachtleben – sofern es ein solches geben sollte – kann ich nicht mehr so richtig fundiert mitreden. Man ist schließlich kein Student mehr. Doch hört man ja gelegentlich dies und jenes über vorzeitig hochgeklappte Bürgersteige und dergleichen Unerfreulichkeiten.

Etwas ältere Einwohner werden sogleich bedauernd ausrufen, dass zum Beispiel rund um den Ostwall ein ganzes Kneipenviertel verschwunden sei. Und überhaupt. Aber: das Kreuzviertel! Aber: rund ums „Dortmunder U“? Aber: rings um den Hafen? Tut sich da nicht was? Wird da nicht gut scholzisch etwas „auf den Weg gebracht“?

Dennoch erstaunlich, dass am 1. und 2. September eine internationale „Nightlife-Konferenz“ erstmals just in Dortmund stattfinden soll.  Laut kommunaler Pressemitteilung wird das Event ausgerichtet von der Stadt und von einem Verband mit aparter Sprachdesigner-Schreibweise: LiveMusikKommunikation (kurz Livekomm). „Kommße heut‘ nich, kommße morgen.“ Ach, hat nichts zu bedeuten, ist nur so ’ne alberne Assoziation.

Besagtem Verband gehören jedenfalls „mehr als 700 Musikspielstätten, Clubs und Festivals aus allen Bundesländern“ an. Bislang haben sie in Berlin konferiert, jetzt also in Dortmund. Vermutlich wollten sie endlich mal die langweilige Kapitale hinter sich lassen und in eine brodelnde Großstadt kommen. Da fallen einem gleich passende Songzeilen ein: Bright Lights, Big City. Dortmunder Nächte sind lang. Wie bitte? Statt Berlin hätte man unter den üblichen Verdächtigen auswählen sollen? Hamburg, München, Frankfurt, Köln? Ach was! Wenn schon, dann an den Gestaden der Emscher mal so richtig einen draufmachen. Okay, es hätte auch Hannover sein können.

Vielleicht ist es ganz gut, dass die Konferenz nur zwei Tage dauern wird. In derart kurzer Zeit kann wohl nicht so offenbar werden, dass Dortmund – Psssst! – nicht gerade das aufregendste Nachtleben der Republik hat. Wobei der Kongress ganz vorsichtig „Stadt nach acht“ heißt. Um diese Uhrzeit könnte sogar noch…




Ein Beitrag, der jetzt gestrichen werden muss

Seit den monströsen Kriegsverbrechen von Buschta (oder Buchta oder Butscha – sucht euch die Schreibweise aus, es ist zweitrangig) „gehen“ Texte wie der folgende, eilig gestrichene eigentlich nicht mehr, es verbietet sich jede auch noch so eingehegte Launigkeit. Da wir aber andererseits keine (Selbst)-Zensur ausüben wollen, bleiben die Ende März verfassten Zeilen noch notdürftig erkennbar.

Überhaupt vergeht einem schon seit einiger Zeit ganz gründlich die Lust auf kulturell oder feuilletonistisch angehauchte Betrachtungen. Obwohl gerade die Künste, sofern sie den Namen verdienen, ein dauerhaftes Gegengewicht sein und bleiben könnten… Ars longa, vita brevis.

Ceterum censeo: Jetzt endlich selbst das russische Gas abdrehen – und sei es „nur“ als starkes Zeichen ohne entscheidende Wirkung!

Was waren das noch für selige Zeiten, als „wir“ lediglich eine Nation von 40, 60 oder 80 Millionen Fußballtrainern gewesen sind. Gewiss, Länder- und Vereinsmannschaften stellen wir auch heute noch linkshändig auf, notfalls für Frankreich, England und Spanien gleich mit. Aber nur noch nebenbei. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.

Inzwischen haben wir nämlich anderweitige Karrieren draufgesattelt. Zunächst bekanntlich als Top-Virologen, die sich ganz geläufig über komplizierteste Fachfragen ausgetauscht haben. Mit Corona und Konsorten kennt sich doch heute jeder Depp aus. Nun gut: Zuweilen ist da auch ein bisschen Besserwisserei im Spiel. Das bleibt halt nicht aus, wenn man viele Semester eines Fachstudiums und praktischer Forschung kurzerhand überspringt. Dann muss man eben beherzt behaupten.

Neuerdings haben sich viele, die das vorher nicht von sich selbst erwartet hätten, dem verschrieben, was hirnparalysierte Vorväter „Kriegskunst“ zu nennen beliebten. Zeitenwende eben. Oder richtiger: Zeitenbruch. Als Generalissimus von eigenen Gnaden widmet sich nun so mancher Mann überschlägigen ballistischen Berechnungen, intelligenter Nachschub-Logistik, effektiven Abwehrsystemen oder der schlagkräftigen Koordination verschiedenster Waffengattungen bis hin zu… Nein, wir wollen es nicht auch noch hier leichtfertig herbeireden. Frauen sind auf diesem Felde jedenfalls hoffnungslos in der Minderheit. ER wird es ihnen beizeiten zu erklären versuchen – wie einst das Abseits.

„Blamiert“ sich Russland militärisch – oder sollte man es nach wie vor „nicht unterschätzen“? Hockt Putin schon im Bunker? Dreht er uns den Gashahn zu? Gibt er sich mit dem Donbass zufrieden? Was machen die Chinesen? Derlei gravitätische Fragen werden Tag für Tag in mancherlei Medien erwogen. Im Gefolge solcher Gedankenspiele haben sich einige Leute außerdem flugs zu Flüchtlings-Kommissaren und Energie-Experten mit ungeahnt fossilen Präferenzen promoviert. Zwei bis drei Talkshows gucken – und schon kann man wieder mitpalavern. Wo liegt denn nur wieder die Generalstabskarte mit den vielen Pfeilsymbolen?