Im Dunstkreis russischer Propaganda: Teodor Currentzis dirigiert Verdis „Messa da Requiem“ im Konzerthaus Dortmund

Teodor Currentzis nimmt im Konzerthaus Dortmund den Beifall entgegen. Rechts ist der Sänger Matthias Goerne zu sehen. (Foto: Holger Jacoby)

Darüber lässt sich keine übliche Konzertkritik schreiben: In Dortmund tritt ein Dirigent auf, der sich bisher erfolgreich um eine eindeutige Distanzierung von Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine gedrückt hat, sich mit seinem Ensemble aber nach wie vor von Sponsoren mit Putin-Nähe fördern lässt.

Teodor Currentzis bringt ins Konzerthaus  statt der angekündigten konzertanten „Tristan und Isolde“-Aufführung Giuseppe Verdis „Messe da Requiem“ mit. Ein Statement gegen den Krieg? Der Abend in Dortmund sieht nicht so aus: Die bürgerliche Kunstreligionsfeier geht ungebrochen vor sich; im Programmheft ist kein Wörtchen zu lesen, das der Aufführung irgendeine über den Event selbst hinausgehende Bedeutung geben würde. Das Publikum im nicht ganz vollbesetzten Saal begrüßt Chor und Orchester von MusicAeterna mit verhaltenem, aber langem Beifall. Als Currentzis mit viertelstündiger Verspätung aufs Podium springt, gibt es bereits einzelne Bravos. Der Schlussbeifall ist ebenfalls durchmischt mit – künstlerisch verdienten – Anerkennungsrufen. Gilt’s also nur der Kunst?

Auf Gazprom-Tournee

Wenn es so einfach wäre, hätte sich die Kunst tatsächlich aus der gesellschaftlichen Relevanz verabschiedet. Denn im Falle von Currentzis und MusicAeterna geht es nicht um moralische Bewertung privater Meinungen oder um idealistischen, von den Niederungen der Politik elfenbeinern abgeschiedenen Musik-Enthusiasmus, sondern es geht um ein Ensemble und einen Dirigenten, die auf Gazprom-Konzerttour gegangen sind, als die sogenannte Spezialoperation längst im Gange war. Das Verdi-Requiem, das nun in Dortmund zu hören war, gab es kurz zuvor in Sankt Petersburg – und das etwa ohne Förderung von Gazprom oder der sanktionierten VTB-Bank, deren Sponsoring schon vor dem Krieg auf Kritik stieß?

Currentzis hat sich medial wahrnehmbar nicht einmal mit einer allgemein gehaltenen Aussage gegen Krieg und Gewalt von dem distanziert, was da seit Monaten in Europa an Grausamkeiten verübt wird. Er schweigt und entzieht sich den Fragen von Medien – und die machen, wie der Musikjournalist Axel Brüggemann dokumentiert hat, problemlos mit. Wo sonst um jede Straßenumbenennung eine Debatte geführt wird, ist die Haltung eines Nutznießers des Putin-Systems offenbar nicht der hartnäckigen Nachfrage wert. Dabei ist es naiv anzunehmen, man könne in der gegenwärtigen politischen Situation einfach nur Kunst um der Kunst willen genießen: Currentzis wird, ob er will oder nicht, Bestandteil der russischen Propaganda; ein Teil eines kulturellen Krieges, der nicht nur auf den Schlachtfeldern in der Ukraine ausgefochten wird.

Problematische Finanzierung

Die Kölner Philharmonie hat klare Kante gezeigt und ein Konzert mit Currentzis und dem SWR Sinfonieorchester abgesagt. So weit gingen weder der Ex-Dortmunder Benedikt Stampa in Baden-Baden noch Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech. Dem Bayerischen Rundfunk sagte er über die Finanzierung, er halte sie für kritisch, wisse aber, dass das nicht so schnell änderbar sei. Das mag so sein, aber wenn ein Ensemble keinerlei Indizien erkennen lässt, dass es seine Finanzierung von problematischen Sponsoren unabhängig gestalten könnte, ist das auch ein Statement. Und ob ein Klangkörper mit einem Sony Classical Exklusivvertrag und Hochglanz-Auftritten in ganz Europa – einem umstrittenen Event bei den Salzburger Festspielen dieses Jahres eingeschlossen – beim Abschied von problematischen Sponsoren gleich an den Rand seiner Existenz geraten würde, ist fraglich: Vielleicht hätte sich nach einer Distanzierung ein neuer Sponsor gefunden, der solchen Mut gewürdigt hätte?

Immerhin schließt von Hoensbroech weitere Auftritte von MusicAeterna im Konzerthaus Dortmund vorerst aus. Einige Musiker, die sich in sozialen Medien für den Krieg positioniert hatten, wurden suspendiert – ob nur für den Auftritt in Dortmund oder auf Dauer, ist unklar. Dazu zählt auch der Geiger, der in einem Video-Post angekündigt hatte, er zerstöre Deutschlands Wirtschaft, und dazu ein Heizkörperventil aufgedreht hat. Den Witz muss man nicht verstehen. Aber er könnte wohl auch als Indiz für die Haltung in Teilen der Orchesters verstanden werden und damit mehr als nur eine individuelle Entgleisung darstellen.

Die Kunst muss sich nicht verstecken

Um die Kunst soll es nun aber auch gehen – und in dieser Hinsicht braucht sich MusicAeterna nicht zu verstecken. Schon im „Te decet hymnus“ gibt der Chor eine erste Probe seiner Präzision, die sich im Verlauf des „Dies irae“ und in der „Sanctus“-Doppelfuge atemberaubend bestätigt. Selten ist diese oft als musikalisches Schlachtengemälde missverstandene Sequenz so durchhörbar und genau gestaltet zu erleben. Currentzis wägt sorgfältig ab, welche Gruppen im Orchester gerade dominieren und welche zurücktreten sollen, erzeugt so einen tief gestaffelten, bei aller Wucht variablen Klang, lässt hören, dass Verdi hier keine bloße Überwältigungsstrategie fährt und die differenziert ausgearbeitete Partitur nicht als Lektürevergnügen, sondern als blutvoll ausmusizierte Vorlage dienen soll.

Dass Currentzis mit seinen Manierismen nicht bricht, ist jedoch auch hörbar. Die Celli zu Beginn sind in ihrer absteigenden Dreiklangfigur kaum wahrnehmbar: Ein solch übertriebenes Pianissimo ist nicht im Sinne Verdis, der von den Instrumenten einen leisen, aber sonoren Klang verlangt. Der Chor singt das erste „Requiem“ nicht, sondern murmelt es vor sich hin, so wie er in „Quantus tremor“ das Zittern vor dem Weltenrichter flüsternd skandiert. Die Piano-Abstufungen gestaltet er jedoch meisterlich, auch wenn ihm dann die süße Wendung zum „lux perpetua“ nicht so recht gelingen will. Das „Te decet“ setzt nicht nur einen entschiedenen Kontrast, sondern platzt heraus: Da wäre weniger mehr gewesen. Zum „Dies irae“ bringt sich Currentzis in Stellung, aber er verzichtet tatsächlich auf Effekthascherei, schafft es stattdessen, den Sinn des Textes ausdeuten zu lassen, schafft es auch, „teste David cum Sibylla“ entspannt zurückzunehmen, damit sich die Kräfte der Dynamik wieder ballen und erneut losbrechen können.

Teodor Currentzis mit seinen Solisten. (Foto: Holger Jacoby)

Die Auswahl der Solisten hängt wohl mit dem ursprünglich geplanten „Tristan“ zusammen: Weder Andreas Schager – einer der führenden Tristan-Sänger heutiger Tage –, noch der Liedsänger Matthias Goerne passen in Verdis vokales Profil. Und sie harmonieren nicht mit dem Sopran Zarina Abaeva und dem Mezzo Eve-Maud Hubeaux, was vor allem im nur leise harmonisch gestützten Quartett („fac eas de morte transire ad vitam“) durch zerrissenen Klang Schmerz bereitet. Andreas Schager müht sich bewundernswert darum, seine Soli textsinnig und klangschön zu gestalten, aber schon das „Kyrie“ ist nicht leuchtend, sondern nur laut. Ein schönes Legato fällt ihm schwer. Im „Ingemisco“ sucht er den bittenden Ton, aber die Stimme ist nicht geschmeidig genug, auch nicht, um das „Inter oves“ in seinem fast kindlichen Flehen in einen schwerelosen Klang zu kleiden. Zarina Abaeva erweist sich dagegen als stilgewandte Verdi-Sängerin, die sich nicht zu vibratosatter Tongewalt hinreißen lässt und die Höhe auch im Piano sicher ans Zentrum anzubinden weiß. Ihr „Libera me“ erfleht sie sich von der Chorempore herab; vielleicht bleibt seine innere Bewegung deshalb etwas blass.

Eve-Maud Hubeaux und Andreas Schager. Foto: Holger Jacoby)

Nichts bleibt ungesühnt

Bei Matthias Goerne spürt man die Qualität des Liedgestalters: Kaum einer singt das dreimalige „mors“ jedes Mal anders aufgeladen – erschüttert, bitter, resigniert; kaum einer gestaltet die rhythmische Feinheit des „Hostias“-Beginns so klug wie Goerne. Aber schon im Kyrie befremdet der gewohnte, weit hinten gebildete, kehlige Klang der Stimme, der sich zu gurgelnder Intensität steigert und einen sinistren Gegensatz zum schlank-samtigen Timbre von Eve-Maud Hubeaux aufbaut. Die Schweizer Mezzosopranistin – die Amneris der Salzburger Festspiele 2022 und Eboli der Wiener Staatsoper 2020 – ist kein breiter italienischer „Contralto“, sondern eine präsent artikulierende Sängerin mit einer definierten Emission, die nur im Wechsel in die Bruststimme („latet apparebit“) ihren ästhetischen Ton nicht mitnehmen kann.

Hubeaux singt in der mittelalterlichen „Dies irae“-Sequenz den einen Satz, der sich in der gebannten Stille nach dem Verklingen des letzten „Libera me“ (und eines prompt einsetzenden Handy-Gebimmels) aufdrängt: „Nil inultum remanebit“. Nichts bleibt – glaubt man denn an einen Gott und ein Weltgericht – ungesühnt. Dieser Satz sollte den Mächtigen in den Ohren gellen, die heute ihre Gewaltorgien in der Ukraine und in vielen Teilen der Welt toben lassen. Der gerechte Gott ist die Hoffnung der Opfer. Das wäre das Statement dieses Requiems.




Funkelnder Geist, fröhlich voraus – zum Tod von Hans Magnus Enzensberger

Hans Magnus Enzensberger, am 20. Mai 2006 in Warschau (Polen). (Wikimedia Commons / Own work of © Mariusz Kubik, editor of Polish Wikipedia). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/deed.en

Eine erfreulich lange Lebenszeit war ihm vergönnt. Nun aber trauert die literarische Welt: Hans Magnus Enzensberger, der wohl brillanteste Intellektuelle seit den frühen Jahren der Bundesrepublik, ist mit 93 Jahren in München gestorben. Unter den Lebenden fällt einem allenfalls noch jemand wie der ebenso vielseitige Alexander Kluge ein, wenn es um derart funkelnden Verstand geht, der sich aus gutem Grund an alle Themen wagt.

Enzensberger war alles andere als ein Schriftsteller aus dem Elfenbeinturm, wusste er doch auch die Klaviatur der Medien zu bespielen wie kaum ein anderer. Sehr früh und beispielhaft hat er die Sprache von Augsteins „Spiegel“ analysiert und später das deutsche Fernsehen fachgerecht seziert. Sein ganzer Habitus und sein geradezu elegantes Denken waren eine Absage ans alte Deutschland, sie schienen einer luftigen übernationalen Sphäre anzugehören.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit hat der 1929 in Kaufbeuren geborene und dann in Nürnberg aufgewachsene Mann sich u. a. als Schwarzhändler und Barmann verdingt, was durchaus nach wertvoller Lebenserfahrung klingt. Später hat er edlere Berufungen mit Leben erfüllt, er war Rundfunkredakteur beim Schriftstellerkollegen Alfred Andersch und Lektor im Suhrkamp-Verlag.

Der weltläufige Enzensberger blickte zeitig weit über Deutschland hinaus: 1960  hat der polyglotte Sprachkünstler den wunderbaren Gedichtband „Museum der modernen Poesie“ herausgegeben, mit dem er herausragende Lyrik aus aller Welt einsammelte und den poetischen Stand der Dinge als sinnliche Bestandsaufnahme reflektierte. Mit dem Band „Ach Europa“ (1987) hat er zudem seine Vision für diesen unseren vielfältigen Kontinent entworfen. Er dürfte denn auch – neben Böll und Grass – durch all die Nachkriegs-Jahrzehnte der international bekannteste deutsche Autor gewesen sein.

Enzensberger hat auch kaum zu überschätzende Verdienste als Herausgeber und Anreger. So publizierte er nach dem „Museum der modernen Poesie“ das um 1968 ungemein wichtige „Kursbuch“, gegen Ende der 70er Jahre die ambitionierte Kulturzeitschrift „TransAtlantik“ (gemeinsam mit Gaston Salvatore) und von 1985 bis 2004 die von Franz Greno herrlich gestaltete bibliophile Reihe „Die andere Bibliothek“. Eine Spezialität: Enzensberger war überdies ein Liebhaber der Mathematik, von deren Schönheit er auch andere gern überzeugen wollte – nachzulesen in „Der Zahlenteufel. Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben“.

Bereits 1957 und 1960 waren Enzensbergers frühe Lyrikbände „Landessprache“ und „Verteidigung der Wölfe“ erschienen, mit denen ein unerhört neuer, geradezu „frech“ auftrumpfender, sogleich einnehmender Tonfall in die deutschsprachige Literatur kam, nein: Einzug hielt. Kleiner Schwenk ins Persönliche: Wir hatten eine recht junge Deutschlehrerin, die uns Mitte der 60er Jahre zumal auf Enzensberger und Ingeborg Bachmann aufmerksam machte, wofür man noch heute dankbar sein darf. Den furiosen Debüts folgten Dutzende weiterer Bücher, die wir hier nicht aufzählen wollen. Entsprechende Listen finden sich vielfach in Druckwerken und im Netz. Auf dem Foto sind ebenfalls ein paar Titel zu erkennen.

Je nun, im heimischen Billy-Regal befinden sich auch ein paar Bücher von Enzensberger. Ehrensache. (Foto: BB)

Enzensberger betätigte sich praktisch auf allen Feldern des Schreibens und Debattierens. Auch und gerade als Essayist setzte er neue Maßstäbe, wobei er stets wundersam wandelbar blieb und sich nie auf eine starre Meinung festnageln ließ. Sein luzider Duktus konnte an Größen wie die Freigeister Montaigne oder Lichtenberg erinnern. Ja, auf solchen Höhen war er unterwegs, immerzu formvollendet.

Dem allgemeinen Stand der Diskussionen war Hans Magnus Enzensberger in aller Regel weit voraus. Wer immer geglaubt haben mag, er habe ihn bei der oder jener festgelegten Denkfigur „erwischt“, dem war dieser höchst bewegliche, niemals dogmatische Geist schon wieder frisch und fröhlich enteilt. Bei ihm wusste man nie im Voraus, wie er sich zu einer Sache stellen und wie er argumentieren würde. Deshalb waren seine Texte eigentlich immer überraschend und spannend.

Mehr noch: Oft ertappte man sich bei der dringlichen Frage, was wohl Enzensberger zu dieser oder jener Wendung der Zeitläufte sage? Um maßlos zu untertreiben: Es gibt heute nicht mehr so furchtbar viele Schriftsteller und Intellektuelle, auf die derlei Wünsche gleichfalls zuträfen. Heißt im Umkehrschluss: Hans Magnus Enzensberger wird uns fehlen. Sehr.




Alles so schön aufgeräumt – die Welt im Kinderduden von 1970

1970? Ganz schön lange her. Über ein halbes Jahrhundert. Andererseits haben die Älteren unter uns jenes Jahr schon bei recht wachen Sinnen erlebt. Insofern gehört es zum überschaubaren biographischen Bestand, frei nach Peter Rühmkorf waren es „Die Jahre, die ihr kennt“.

Warum die Vorrede? Nun, mir ist ein just 1970 erschienener „Kinderduden“ in die Hände gefallen, der vorwiegend als (ziemlich ungelenk gezeichnetes) Bildwörterbuch mit 28 Schautafeln aus etlichen Lebensbereichen angelegt ist. Die zweite Hälfte besteht aus einem alphabetisch sortierten Lexikonteil. Dabei handelt es sich um eine – nach den Maßstäben der Zeit „kindgerechte“ – Auswahl aus dem damaligen „Großen Duden“ (Band 1, Rechtschreibung).

Gleich die erste Tafel heißt „In der Küche“ und beginnt so: „Ganz modern ist Mutters Küche. Alles hat seinen festen Platz.“ Gut kann ich mich entsinnen, dass die Hausfrau und Mutter eines Schulfreundes gern und stolz gesagt hat: „Die Küche ist m e i n Reich!“ Auch bei den Kindern im Duden ist die Rollenverteilung schon klar: „Nun hilft Monika der Mutter und deckt den Tisch. Peter hat sich schon auf seinen Stuhl gesetzt und wartet gespannt darauf, was es heute zu essen gibt.“ Dem Bübchen würden sie wohl heute was husten. Oder doch nicht?

Technik war nur spärlich vorhanden

Das alles scheint wirklich mindestens ein halbes Jahrhundert her zu sein. Rund um die Figuren und Gegenstände verstreut, markieren Ziffern die Zuordnung der Wörter, scheinbar ganz objektiv, nüchtern und sachlich, wie es zumal Bildwörterbüchern eigen ist: 1 der Braten 2 das Brettchen 3 der Eierbecher 4 die Flasche 5 das Glas 6 der Herd… 9 die Kartoffel 10 die Katze… Tatsächlich scheint alles seinen unverrückbar festen Platz zu haben, so auch im Bad der rosa Puschelbezug auf dem Toilettendeckel und desgleichen die fußwärmende Umrandung, wobei man seinerzeit noch „Klosett“ und „Klosettpapier“ zu sagen pflegte. Technik war hingegen im Haushalt nur spärlich vorhanden, ein Röhrenfernsehapparat (womöglich ein Farbgerät) war das höchste der Gefühle.

„So sollst auch du leben!“

Es ist jedoch eine rundum heile Welt, die den Kindern hier bestens portioniert vorgestellt und anempfohlen wird. Unausgesprochen schwebt der Spruch „So sollst auch du leben!“ girlandenhaft über allen Szenen. Alles ist in schönster Ordnung, ganz gleich, ob in den einzelnen Zimmern der elterlichen Wohnung (im Wohnzimmer dürfen die Kinder nur zu Weihnachten spielen), im Straßenverkehr, selbst auf dem „Rummelplatz“ (wie man damals sagte), in der Schule, beim Arzt, auf Bahnsteig und Flughafen, auf dem Bauernhof, im Lebensmittelgeschäft (schon mit Einkaufswagen, aber noch kein richtiger Supermarkt), wo Peter einholen soll und – o keimfreier Witz – die Maßeinheiten verwechselt: „Ein Pfund Eier, einen Liter Puddingpulver…“ Darüber lachen die erwachsenen Einkäufer. An anderer Stelle dieser Fibel heißt es, Kinder dürften ihrerseits keine Erwachsenen auslachen. Damit das klar ist.

Auch die Autobahn erscheint – trotz eines Unfalls – vor allem aufgeräumt und geradezu adrett zu sein, gelbes Fahrzeug des Automobilclubs inbegriffen. Es ist alles da, was man erwartet, es fehlt an nichts. Überall bescheidener Wohlstand und Anstand. Nichts irritiert, nichts gibt Rätsel auf. Ohne Sorge. Sei ohne Sorge. Dies wiederum frei nach Ingeborg Bachmann (Gedicht „Reklame“).

Perlenkette und Zigarrenkiste

Und dann erst das familiäre Weihnachtsfest, an dem „Mutti“ eine Perlenkette und Vater eine Kiste wirtschaftswunderlicher Zigarren bekommt, die er gleich unterm Baum zu paffen beginnt. Monika freut sich derweil geschlechtergerecht über eine Puppe und Peter über eine Autorennbahn. Mehrfach (Wochenmarkt, Postamt) wird Monika so angesprochen: „Na, kleines Fräulein…“, wobei auch hinter dem Schalter ein „Fräulein“ sitzt, nur halt kein kleines. Hat man zu der Zeit eigentlich selbst so daher geredet oder sich bereits davon abgesetzt? Nun ja, man hat immerhin „Pardon“, Spiegel und Stern gelesen – damals eine dreifache Speerspitze des Nicht-mehr-weiter-so.

Gar häufig haben sich in den 70er-Kinderduden solche grundbiederen Kern- und Merksätze eingeschlichen: „Mütter haben immer etwas zu nähen oder zu stopfen.“ Es war auch die Zeit, als Kinder in der Bahn sofort für Ältere aufgestanden sind und als sie daheim wie in der Schule noch geschlagen („gezüchtigt“) wurden, was natürlich nicht im Kinderduden steht. Kinderduden? Eher schon „Kinder dulden“. Sie hatten artig, brav und folgsam zu sein, Diener oder Knicks zu machen. Worte, die es heute praktisch nicht mehr gibt. Jetzt sind wir mit allfälligem Stinkefinger und „expliziten“ Texten im Gangsta-Rap oft beim auch nicht wünschenswerten Gegenteil angelangt.

Die Mondlandung und „Max Hackemesser“

So altbacken das Ganze durch und durch ist, so modern und fortgeschritten gibt sich eine Bildseite, die von der Mondlandung handelt. Kein Wunder. Am 21. Juli 1969 hatte die Nation, um nicht zu sagen weite Teile der Menschheit, nachts vor den Fernsehgeräten gesessen, um live „dabei“ zu sein. Hienieden aber war alles noch wie längst gehabt und gewollt: Da heißt der Metzger am idyllischen Marktplatz „Max Hackemesser“ und einige Jahrzehnte vor den Smartphones bediente man sich der „Fernsprechzelle“. Wie hieß noch der Spruch, der darauf pappte? Ach ja: „Fasse dich kurz“. Drum höre ich jetzt auf.




Bonner Ausstellung sucht nach „Peinlichkeiten“ in der Kunst

Maria Lassnig: „Selbst als Almuth“ oder „Selbst als Almkuh“ (beide Titel sind zu finden), 1987, Öl auf Leinwand (Bild: Bundeskunsthalle / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Maria Lassnig Stiftung)

Auch das „Advanced Learner’s“, das im Bücherregal seit ewigen Zeiten ein weitgehend unbehelligtes Dasein fristet, kannte es nicht, das Wort „camp“ in seiner besonderen Bedeutung für das Kunstgeschehen. Also Wikipedia, wo zu lesen ist, daß „camp“ „eine stilistisch überpointierte Art der Wahrnehmung kultureller Produkte aller Art (Film, Musik, Literatur, Bildende Kunst, Mode, Schminke etc.) (meint), die am Künstlichen und der Übertreibung orientiert ist“. Je nachdem kann man auch „campy“ sagen, das ist dann aber schon etwas despektierlich. Wieso interessiert der Begriff „camp“? Weil die Bundeskunsthalle in Bonn jetzt in einer Ausstellung Kunst zeigt, die – auch, manchmal – campy ist. Oder sein soll.

Schlagworte

„Ernsthaft?! Albernheit und Enthusiasmus in der Kunst“ heißt die Schau, deren Titel den Betrachter zunächst einmal ziemlich ratlos macht. Auch ein weiteres Schlagwort des textlichen Begleitmaterials, die „enthusiastische Peinlichkeit“, bringt ihn nicht wirklich weiter. „Peinlich“ ist uns ja vor allem als wertender Begriff aus dem Teenager-Sprech gegenwärtig („Mama/Papa, du bist peinlich“). Aber peinliche Kunst? Das läßt fast an Nazi-Formeln denken. Oder ist das alles nur Scherz? Wohl nicht.

Trubel im historischen Vergnügungspark – Blick in die Austellung mit Arbeiten von Adrien Rovero und Jim Shaw (Foto: Mick Vincenz, 2022, © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Historisch

Die Kunst, die in Bonn gezeigt wird, ist schön, aber weniger spektakulär als der Ausstellungstitel befürchten läßt. Verständlicher wird das ganze, wenn man auf die insgesamt sieben Kapitel schaut, in denen Jörg Heiser und Cristina Ricupero als Kuratoren „enthusiastische Peinlichkeit“ zu entdecken vermeinen. Grellrotbunter Blickfang – und erklärtermaßen Kapitel Nr. 1 – ist in prominenter Raumesmitte eine Installation von Adrien Rovero, die mit der Anmutung eines historischen Vergnügungsparks spielt. Hier wird das eigentlich Kleine groß und bunt und dramatisch gemacht, um Aufmerksamkeit zu erlangen. In dieses Umfeld wurde Jim Shaws ebenfalls ziemlich raumgreifende Arbeit „Labyrinth: I Dreamt I was Taller than Jonathan Borofsky“ (2009) platziert, deren Elemente wirken wie überdimensionierte  Pappe-Aufsteller mit großem Mitteilungsdrang. Auf der einen Seite werden anonyme Menschenmassen zusammengepfercht, während auf auf der anderen  ein überdimensionaler Staubsauger mit Ganovengesicht Menschen aufsaugt, die in Panik zu fliehen versuchen. Dominiert wird das alles von einem riesigen, traurigen Clown mit Vollbart, Tutu und Netzstrümpfen.

Vorbild für Rovero war der Luna Park auf Coney Island (New York), der 1903 als erster seiner Art eröffnete. Gemessen an Titel und Anspruch der Schau könnte man also fragen: Enthusiasmus? Na ja. Albernheit? Nicht wirklich. Aber auf jeden Fall ein kluges Spiel mit Proportionen in einer skulpturalen Überwältigungsarchitektur.

Wenn sie nur nicht so schielen würden! Hans-Peter Feldmann malte das Paar mit schielenden Augen (Cross-eyed couple) 2012. Öl auf Leinwand (Foto: Bundeskunsthalle, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Jan Windszus)

Was Künstler wollen

Die meisten anderen Werke sind erheblich kleiner, stehen im Raum oder hängen an der Wand, doch fast immer schwebt ein gerüttelt Maß Ambivalenz über dem Ganzen, zumal die Ausstellung der Frage wenig Bedeutung beimißt, ob Albernheit, Peinlichkeit und ähnliches nun der künstlerischen Intention entsprechen oder im Widerspruch zu ihr stehen.

Bei „Dada“ (zweites Kapitel) fällt die Antwort leicht; die Welt, der im Weltkrieg alle Gewißheiten abhandengekommen waren, sollte sich in der Kunst spiegeln, im „respektlosen Humor“ (Katalog) etwa von Alfred Jarry oder Marcel Duchamp. Die schrillen fotografischen Selbstinszenierungen der Baroness Elsa von Freytag-Lohringhoven aus den 20er Jahren wirken in diesem Kapitel gut aufgehoben. Eine Radierung Pieter Bruegels d.Ä. von 1642 („Die Narren“) hier unterzubringen, wollen wir allerdings mutig nennen. Doch eigen ist ihr wie den anderen Genannten, daß der Künstler der erklärte, quasi aktive Possenreißer ist.

MRZYK et MORICEAU: „Ohne Titel“, 2021, Tinte auf Papier (Foto: Bundeskunsthalle, © Courtesy the artists and Air de Paris, Romainville, Marc Domage)

Musentempel

„Das moderne Museum“ ist  Kapitel III übertitelt, das den Widerspruch zwischen der Feierlichkeit des Musentempels mit seinen Vorschriften, Absperrungen, Sockeln und der Respektlosigkeit der Künstler sehr schön pointiert. Hier gibt es Surreales von Magritte und de Chirico zu sehen, knallbunte Publikumsverhöhnung von James Ensor und einiges von Martin Kippenberger, dem die Bundeskunsthalle vor einiger Zeit ja eine umfangreiche Retrospektive widmete. Da hing viel Gutes, und etwas beispielsweise aus dem Projekt „Lieber Maler male mir“ hätte auch der aktuellen Ausstellung sicherlich gutgetan.

Kuratoren-Slapstick

„Trockenen Humor“ macht die Ausstellung in manchen Hervorbringen der Minimal Art/Konzeptkunst aus. „Man kann dieses Kapitel als einen sehr kühlen White Cube beschreiben, mit sich bewegenden Wänden und sich verschiebenden kleinen Objekten von Robert Breer und Sigmar Polke, mit Kuhportraits von Jef Geys oder den gefundenen, von Wollfäden umspannten Sonntagsmalereien von Lara Favaretto. Zusammen bilden diese Werke einen (fast) stummen Slapstick-Film“, meint die Pressemappe. Erfolgte der Aufbau der Arbeiten mithin in diffamierender Absicht? Selbst wenn es so wäre, kann der Rezensent den unernsten Eindruck aus eigener Anschauung nicht bestätigen, den die Ausstellungsmacher offenbar von dieser Kunst haben. Und es fragt sich schon, warum gerade sie schlecht wegkommt bei diesem gewaltigen Rundumschlag der Kunstbetrachtung.

Der schlechteste Regisseur aller Zeiten darf  nicht fehlen

Erstmal geht es jetzt aber weiter mit den B-Movies, entsetzlich schlecht gemachten Horrorfilmen aus den 50er Jahren, mit denen sich bekanntlich untrennbar der Name des Regisseurs Ed Wood verbindet, des „schlechtesten Regisseurs aller Zeiten“. Doch auch andere machten peinliche Filme (hier paßt das Wort direkt mal), die Bonner Ausstellung zeigt Filmplakate auch von Hervorbringungen wie „Die Satansweiber von Tittfield“ oder „Angriff der Killertomaten“ sowie aus dem asiatischen Raum.

Da wundern sich die Kuscheltiere: Paul McCarthys „Skunks“ von 1993 haben bemerkenswerte Pimmel. (Foto: rp)

Lustige Figuren

Die letzten Kapitel schließlich arbeiten sich an bereits erwähnten Begriff „camp“ und an „Post-Surrealismus/Post-Internet“ ab, an gegenwärtiger Kunst, deren Peinlichkeits- bzw. Spaßvaleurs, falls vorhanden, sich nicht immer unmittelbar erschließen. Auf dem Weg durch die Kapitel, der übrigens weit davon entfernt ist, so etwas wie eine Zwangsführung zu sein, gibt es jedenfalls viel Lustiges zu sehen. Besonders gefällt Hans-Peter Feldmanns Ölgemälde eines wohlhabenden bürgerlichen Ehepaars des 19. Jahrhunderts, das nur leider ganz grauenvoll schielt und dem damit jede Feierlichkeit abgeht. Auch Feldmanns Nofretete, hier mit Zweitauge, schielt zum Gotterbarmen.

Das Dortmunder Fotografenehepaar Anna und Bernhard Blume ist mit Bildern aus der „Holterdiepolter“-Serie von 1977/78 ebenso vertreten wie Isa Genzken mit ihrer Figureninstallation „Family on the Beach“ (2015) oder George Grosz mit der Zeichnung „Schwejk: ,melde gehorsamst, daß ich blöd bin’“ von 1928. Ausgesprochen stark ist Maria Lassnigs „Selbst als Almuth“ (oder „Selbst als Almkuh“) (1987), geradezu umwerfend sind Paul McCarthys „Skunks“ von 1993 mit ihren stattlichen Pimmeln, wie sie sich für süße Stofftiere doch eigentlich nicht gehören, auch wenn sie überlebensgroß sind.

Ein Platz in der Kunstgeschichte?

Und so weiter, man könnte endlos aufzählen. Dabei fällt schon auf, daß der Auswahl der Werke eine gewisse Beliebigkeit eigen ist, die im Gegensatz zu den relativ eng gefaßten Betextungen steht. Ob der Begriff der Peinlichkeit, der enthusiastischen zumal, seinen Platz in der Kunstgeschichte finden wird? Dann hätten sich die Kuratoren ein veritables Denkmal gesetzt. Immerhin hat es schon mal für eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle gereicht, hernach wird sie in Hamburg (Deichtorhallen/Sammlung Falckenberg) und in Graz zu sehen sein.

  • „Ernsthaft?! Albernheit und Enthusiasmus in der Kunst“, Bundeskunsthalle, Bonn, Helmut-Kohl-Allee 4
  • Bis 10. April 2023.
  • Eintritt 13 Euro, erm. 6,50 Euro, bis enschl. 18 Jahre frei.
  • Allg. Informationen Tel. 0228 9171 200

www.bundeskunsthalle.de




Familienfreuden XXIX: Ohren bohren

Nix einfacher als Ohrlochstechen. (Bild: Albach)

„Ohrlochen stechen GRATIS!“, stand in verschnörkelten Lettern auf roséfarbenem Grund am Eingang des Modeschmuck-Ladens, an dem ich vorbeieilte. Ohrlöcher stechen? Gratis? Das klingt ja vertrauenerweckend, dachte ich bei mir und musste grinsen. Es gab eine Zeit, da hätte Fi ihre Füße in den Boden gerammt und versucht, mich in den Laden zu zerren.

Fi gehört wahrlich nicht zu den Kindern, die, kaum dass sie einen geraden Satz herausbringen konnten, schon nach Löchern in den Ohren verlangten. Und auch ich betrachtete Babys, bei denen nicht nur ihr Lächeln, sondern auch Schmucksteine strahlten, eher mit Argwohn. Als die Grundschulzeit sich aber dem Ende näherte, drehte der Wind. Als hätte jemand den Schmuckschalter umgeworfen, gab es für Fi plötzlich kaum einen dringenderen Wunsch als jenen, ihre Ohren durchbohren zu lassen. Sicherlich wirkte die Tatsache, dass all die Freundinnen ringsum vorlegten, wie ein Brandbeschleuniger. Plötzlich blinkten und glitzerten an den kleinen Lauschern Blumen, Sterne oder Einhörner um die Wette.

Ohrringe? Jetzt schon?

Anfangs bäumte sich noch ein klein wenig Gegenwehr in mir auf. Ohrringe? Jetzt schon? Dann aber schlich sich meine eigene Geschmeide-Geschichte in mein Gedächtnis zurück, die wohl auch schon in der Grundschule begonnen hatte – und ich stimmte zu.

Bei mir damals hatte einfach der Juwelier ein Gerät angesetzt, das einem großen Tacker verdächtig ähnelte und ohne viel Federlesens dem Schmerz in ihrer Zierlichkeit entgegengesetzte, kleine Sternchen in meine Ohrläppchen geschossen. Heute, lernte ich, soll das hygienisch nicht mehr der letzte Schrei sein. Und somit hatte Fiona wenige Tage später gemeinsam mit einer Freundin einen Termin – im Piercing-Studio.

Ich muss gestehen: In ein solches hatte ich selbst noch nie einen Fuß gesetzt. Zu der Zeit, als es gerade schwer in Mode war, alle sich anbietenden Körperteile (und auch die anderen) durchstechen zu lassen, kam für mich allein ein Stecker in der Nase in Frage. Und den redeten meine Eltern mir mit Verweis auf meine heftigen Allergien erfolgreich aus. Also auch für mich: Premiere!

Grinsende Totenköpfe allüberall

Als wir den Laden betraten, war klar, dass kleine Kinder nicht die durchschnittliche Klientel darstellten: Ein Totenkopf grinste uns vom Empfangstresen entgegen, seine kleineren Geschwister grüßten von diversen Schmuckstücken. In den Glasvitrinen reihten sich Rosen, Kreuze, Pistolen und allerlei Kinkerlitzchen, die auch Jack Sparrow gut zu Gesicht gestanden hätten. In der Kategorie „Was Kunden vor ihnen interessiert hat“ zeigte eine Galerie an der Wand, dass Tiger, Schmetterlinge, Krieger und Skelette auf diversen Körperteilen unter den Top Ten waren.

Weitere Motive schlängelten sich auf den Armen der jungen Frau, die uns fröhlich mitteilte, dass Martin, der Piercer, gerade noch mit dem Durchbohren anderer Kundschaft beschäftigt war. Beeindruckt setzten wir uns auf knatschende Ledersofas und warteten. Ein weiterer Totenkopf auf dem Couchtisch leistete uns zähnebleckend Gesellschaft. Die Aufregung wuchs. „Wenn Ihr 18 seid, kann ich Euch ja ein Tattoo stechen“, flachste die Mitarbeiterin in Richtung Fi und ihrer Freundin.

Wir konnten das Thema nicht weiter vertiefen, weil Martin plötzlich vor uns stand. Lange weiße Haare, weißer Bart, rundliche Statur, kurze Hose, Hawaiihemd, Turnschuhe. Martin sah aus, wie der coole Bruder des Weihnachtsmannes, der statt Geschenken lieber Nadeln sprechen ließ.

„Dann wollen wir mal!“, sagte er und klatschte in die Hände. Fi quetschte meine Hand. Die Aufregung wuchs weiter.

Die Stunde der Wahrheit

Der Piercing-Raum war im Vergleich zum Entrée überraschend klinisch und nüchtern. Martin setzte sich auf einen Rollhocker und erklärte, munter rollend, mit sonorer Stimme, was nun geschehen würde. Bei ihm klang das so einfach wie Einkaufen. Die Aufregung wuchs trotzdem weiter.

Martin spürte wohl, dass der entscheidende Moment noch nicht gekommen war. Er zog den letzten Trumpf zur Vorab-Beruhigung: eine Kiste, in der winzige Steinchen glitzerten. Schmuckauswahl. „Aurora borealis, das Polarlicht. Gute Entscheidung“, brummte Martin, als Fi und ihre Freundin einstimmig auf den gleichen Stein zeigten.

Die Stunde der Wahrheit. Martin klatschte erneut in die Hände. „So Mädels! Wer von Euch will zuerst?“ „Ich!“, rief Fi (für mich) überraschend. „Prima!“ Als wir uns gemeinsam auf die „Behandlungs“-Liege setzten, war die Durchblutung meiner Hand inzwischen arg gefährdet.

Die Möglichkeit eines Einhorns

Martin aber machte eine der erstaunlichsten Transformationen durch, der ich je beiwohnen durfte. Dieser doch recht gestandene Mann von eher derbem Humor und zupackender Art redete nun ganz sanft. Erzählte von seinen Töchtern. Seiner Frau. Seinen Plänen für den Abend. Schließlich sogar von dem letzten Barbie-Film, den er mit seinen Kindern gesehen hatte. Hätte Martin sich in ein Einhorn mit bunter Mähne verwandelt, es hätte mich auch nicht überrascht. Schließlich nickte Fi. Martin griff zur Nadel. „Oh Gott! Ist die groß!“, dachte ich und hätte jetzt beinahe umgekehrt Fionas Hand zerquetscht. Martin zögerte nicht lang. Ein Stich. Zwei. „Das war’s“, sagte er. „Ehrlich?“, fragte Fiona überrascht. Und ich atmete wieder aus.

Einige Zeit später glitzerte es endlich in insgesamt vier kleinen Ohren. Auch Martin war erleichtert. Ungerührt hatte er seinen Feierabend mindestens um eine halbe Stunde nach hinten geschoben. Intuitiv wusste er wohl genau: das Stechen der ersten Ohrlöcher ist ein Ereignis, das sich in das persönliche Erinnerungs-Tagebuch brennt. Vielleicht war ja etwas dran an der Verwandtschaft zu Santa Claus.

Persönliche Polarlichter

Für das Erinnerungsfoto platzierte er sich zwischen den Mädels. Alle drei setzten einen ultracoolen Gesichtsausdruck auf, als hätte es nie etwas einfacheres gegeben, als diesen Termin, die Hände vor der Brust verschränkt. An den Ohren strahlte weithin: das Polarlicht. Und das passt ja irgendwie zum Weihnachtsmann.




Pläne im Museum Folkwang: Digitale Abenteuer, Ideen für Krisenzeiten

In der digitalen Welt: Rafaël Rozendaal „much better than this, 2006″, Multimedia-Installation, Times Square, New York City, 2015. (© Rafaël Rozendaal / Upstream Gallery, Amsterdam)

Das Jubiläumsjahr neigt sich dem Ende zu: Essens Museum Folkwang besteht seit 100 Jahren und hat den Anlass vielfältig begangen, u. a. mit der opulenten Kunstschau „Renoir, Monet, Gauguin“, aber auch mit etlichen Festivitäten und Aktionen im Stadtgebiet, worauf Folkwang-Direktor Peter Gorschlüter besonderen Wert legt – ebenso wie auf Nachhaltigkeit, die sich neuerdings in Photovoltaik auf den Flachdächern des Museums manifestiert.

Derart viel „Wumms“ (sagt man heute manchmal so) wird es 2023 wohl nicht geben können. Derweil erfordert es einige Phantasie, um sich Details zum einen oder anderen Projekt überhaupt vorzustellen.

Da wäre etwa eine Ausstellung des Niederländers Rafaël Rozendaal (21. April bis 20. August 2023), der in New York lebt und als Digital-Künstler von sich reden macht. Als eines der ersten Institute wagt sich das Museum Folkwang dabei aufs Terrain der „NFT“-Kunst, die sich aus der ihrerseits nicht leicht zu begreifenden Blockchain-Technologie herleitet und sich noch im Pionierstadium befindet.

Die Abkürzung NFT steht für „Non Fungible Token“ (ungefähr: „nicht austauschbare Wertmarke“) und bezeichnet digitale Dateien, denen vertragsähnliche Merkmale implementiert werden, so dass die entsprechenden Kunstwerke nicht frei im Netz schweben, sondern als Besitz existieren, der eindeutig zugeordnet werden kann. Einstweilen klingen die Pläne etwas kryptisch, so werden im Museum „Transit-Räume“ eingerichtet. Lassen wir uns überraschen, was sich hinter all dem verbirgt und wie es zu vermitteln ist. Thomas Seelig vom Folkwang-Leitungsteam (Spezialgebiet: fotografische Sammlung) findet jedenfalls, dass sich die Museen zur aufkommenden NFT-Kunst positionieren sollten, es betreffe ja auch die Zukunft ihrer Sammlungs-Tätigkeit. Wir werden sehen.

Henri Matisse: „Icare“ (Ikarus), Blatt 1 aus dem Portfolio „Jazz“ (1947), Druckgrafik, 42 x 65,5 cm (© Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Beinahe konventionell mutet demgegenüber eine Ausstellung an, die wiederum mit drei berühmten Künstlernamen umschrieben wird: „Chagall, Matisse, Miró – Made in Paris“. (1. September 2023 bis 7. Januar 2024). Aber was heißt in diesem Kontext schon konventionell? Diese und andere Künstler erprobten seit Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls neuartige Strategien, die ihrer Zeit voraus waren. Es geht um Mappenwerke, Editionen und Künstlerbücher, deren Urheber auf weite Verbreitung (Fernziel: „Kunst für alle“) abzielten. Im Vordergrund steht Druckgraphik, die u. a. durch Zeitschriften in hohen Auflagen verbreitet wurde. Herausragende Beispiele sind Henri Matisse mit seiner Scherenschnitt-Mappe „Jazz“ oder Marc Chagall mit einem Zyklus um die antiken Gestalten „Daphnis und Chloé“. In jenen Jahren wurden, zumal in Paris, immer mehr auf künstlerische Druckgraphik spezialisierte Werkstätten gegründet, die unternehmerisch arbeiteten und Gewinn anstrebten. Vereinzelt existieren sie bis heute. Auch dieser Aspekt soll ausführlich dargestellt werden.

Die vielleicht aufwendigste Ausstellung des nächsten Jahres erfordert wiederum Vorstellungsvermögen, sie heißt „Neue Gemeinschaften“ (ab 24. November 2023) und blickt zurück auf utopische Lebensentwürfe in den Künsten und sozialen Bewegungen der letzten 120 Jahre. Vielleicht sind ja Energien zu entdecken, die auch in der heutigen Krisenzeit Impulse geben können. Es erhebt sich also die gewaltige Frage, wie wir künftig leben wollen, ohne den Planeten weiter zu zerstören.

Der Reigen beginnt mit frühen Lebensreform-Ideen (Stichwort Kolonie Monte Verità) im erhofften Einklang mit der Natur. Ferner geht es um die kristalline Bauweise der Architektur-Gruppierung „Gläserne Kette“ in den 1920er Jahren, um die Hippie-Kultur der späten 1960er Jahre, um „Afro-Futurismus“ und um Überwindung des Menschen-Zeitalters („Anthropozän“). Ganz recht: Was all das zu bedeuten habe, wird sich – so oder so – wohl erst vollends in der Ausstellung zeigen können. Die Pläne klingen nach geistigem Abenteuer und nach tastender Suche.

Übrigens wird auch noch in diesem Jahr eine bemerkenswerte Ausstellung eröffnet: Am 2. Dezember beginnt im Museum Folkwang eine Retrospektive zu Helen Frankenthaler (1928-2011), die als eine Leitfigur der Farbfeldmalerei und des Abstrakten Expressionismus gilt.

Weitere Infos, auch zu Plänen der fotografischen Abteilung:
www.museum-folkwang.de

P. S.: Und wie wappnet sich das Museum gegen Attacken mit Kartoffelbrei und sonstigen Substanzen? Mit Taschenkontrollen – und mit weiteren Maßnahmen, die man nicht öffentlich ausposaunt. Außerdem, so heißt es, stehe man im vertrauensvollen Dialog mit Klima-„AktivistInnen“.




„Arbeits- und Klassenverhältnisse im Comic“ – ein virtuelles Treffen zum Stand der Forschung

Eine Kiste mit Donald-Heften gehört mitunter auch in hochliterarisch interessierte Haushalte. (Foto: Bernd Berke)

Hotelbuchungen und Saal-Anmietungen waren nicht nötig. Sozusagen heimlich, still und ziemlich leise vollzieht sich gerade die (virtuelle) Jahrestagung der Gesellschaft für Comicforschung, die im Revier organisiert wird, genauer: von Iuditha Balint, Direktorin des Dortmunder Fritz-Hüser-Instituts (FHI) für Literatur und Kultur der Arbeitswelt sowie Markus Engels von der Uni Duisburg-Essen (UDE). Das Thema des Online-Treffens klingt griffig, geht es doch drei Tage lang um „Arbeits- und Klassenverhältnisse im Comic“.

Wer dächte da nicht gleich an die beiden berühmten Antipoden aus Entenhausen: Dagobert und Donald Duck. Just dem reichsten Mann (pardon: der reichsten Ente) der Welt und dem armen Schlucker Donald galt denn auch bereits der einleitende Fach-Vortrag. Christoph Schmitt (Schwäbisch Gmünd) gab Einblick in seine laufende Dissertation mit dem vorläufigen Titel „*Bling* – Vom ersten Kreuzer zum Geldspeicher. Arbeits- & Klassenverhältnisse in Entenhausen.“

Da ging es aber gleich zur Sache! Christoph Schmitt stellte klar, dass der Entenhausener Kosmos auf seine Weise eine durchaus realistische Lebenswelt abbildet, in der halt die Gesetze des Kapitalismus gelten. Ein Befund: Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs (im Extrem: „vom Tellerwäscher zum Milliardär“) legitimieren das gesellschaftliche System und zementieren es zugleich. Nicht am Werk von Carl Barks, dem sich die Donaldisten geradezu inbrünstig widmen, sondern an ausgewählten Geschichten des Zeichners und Texters Don Rosa macht Schmitt seine Erkenntnisse fest. Anregende Leitgedanken finden sich zumal in Don Rosas Sammelband „Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden“.

In Entenhausen geht es radikal marktliberal zu

Den Geschichten rund um Dagobert kann man laut Christoph Schmitt geradezu prototypische Regeln und Normen für sozialen Aufstieg, aber auch fürs Scheitern abgewinnen. Bemerkenswert schon, dass Dagobert mit zarten 13 Jahren aus Schottland in die USA aufgebrochen ist, wo die Aufstiegschancen angeblich grenzenlos sind. Dieser Aufstieg verlangt freilich außerordentlichen Fleiß, Verzicht und Askese. Anfangs tut sich Dagobert erbärmlich schwer und verrichtet die niedrigsten Jobs. Doch auch der spätere Reichtum ist stets bedroht. Nicht nur die Panzerknacker wollen an Dagoberts Geldspeicher heran, auch direkte Konkurrenten setzen ihm ständig zu. In Dagoberts Welt geht es derweil radikal marktliberal zu, der Staat soll allenfalls den „ehrlichen Wettstreit“ schützen, aber möglichst keine Steuern kassieren.

Betrüblich auch: Dagobert ist im Zuge seines ungeheuer gewachsenen Reichtums fast völlig vereinsamt, auch seine Jugendliebe (Bardame „Nelly“) hat er irgendwann aufgegeben. Demgegenüber hat der notorische Pechvogel Donald ein enorm spannendes und irgendwie doch intaktes Sozialleben – allerdings ohne ausreichende Geldmittel und mit etlichem Stress.

Kurzum: Christoph Schmitt führte schon einmal vor, wie interessant Comics als Forschungsgegenstand sein können. Im weiteren Verlauf der Tagung sollen noch einige andere einschlägige Themen aufgegriffen werden, u. a. geht es um „interkulturelle und postkoloniale Perspektiven“, wobei das Spektrum von polnischen Ghetto-Comic bis zum amerikanischen Superhelden-Comic reicht. Bis zur Abschlussdiskussion am Freitag dürfte also reichlich Material vorliegen.

 




Empathiemangel in Zeiten der Cholera – Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ in Bochum

Szene mit (v.l.) Amelie Willberg, Anne Rietmeijer, Guy Clemens, Dominik Dos-Reis, Victor Ijdens (Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Bochum)

Sie kommen einem alle so bekannt vor, der Weltverbesserer, der liebestolle Tierarzt, der prügelnde Trinker, die enttäuschte Gattin, das aufsässige Dienstmädchen und all die anderen. Mag sich die bürgerliche Gesellschaft im alten Rußland auch im Niedergang befinden, ihre Vertreter wußten auf der Bühne, in ungezählten Inszenierungen vergangener Jahrzehnte, zuverlässig zu begeistern. Jedenfalls in den Stücken von, beispielsweise, Maxim Gorki, „Die Kleinbürger“, „Nachtasyl“, „Die Sommergäste“.

Starke Charaktere sind sie, getrieben ebenso wie reflektiert, auf tragische Weise unvollkommen. Jetzt gibt es in Bochum, in der Regie von Mateja Koležnik, Gorkis „Kinder der Sonne“ zu sehen. Und etwas irritiert fragt man sich, was aus den Helden von einst geworden ist.

Anna Blomeier (Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Bochum)

Wie von Hopper gemalt

Auf eigentümliche Weise wirken die Auftritte der Figuren wie Soli, sogar dann noch, wenn sie miteinander reden. Sie tun dies eher leise, trotz elektronischer Verstärkung. Schon in den vorderen Reihen gibt es manchmal Verständnisschwierigkeiten. Aber wahrscheinlich ist das Absicht, ebenso wie die Körperpositionen der Schauspieler und Schauspielerinnen, die sehr dazu neigen, sich voneinander abzuwenden. Die (Bühnen-) bilder, die so entstehen, wirken wie von Edward Hopper gemalt, dem großen amerikanischen Maler der Beziehungslosigkeit. Farbigkeiten und Proportionen des Bühnenbildes (Raimund Orfeo Voigt), Dekorelemente und Möbel könnten ebenso von Hopper sein, und auch der wenig ansprechende Swing-Titel, der in der ersten Szene schon aus der Musiktruhe erklingt, paßt dazu.

Im Lauf der Inszenierung verfestigt sich der Eindruck: Diese ja eigentlich privilegierte Gesellschaft, diese „Kinder der Sonne“ eben, die sich in existenzbedrohlichen Zeiten der Cholera so ganz ihren Beziehungsproblemen hingeben, sind in Koležniks Bochumer Inszenierung eine Ansammlung von Autisten, denen lediglich ihre Unfähigkeit zur Empathie gemein ist.

Keine beglückenden Lösungen

Da man heutzutage auf der Bühne mit den Stoffen ja fast alles machen darf, ist die Frage nach der Zulässigkeit einer solchen Zeichnung müßig. Zu fragen wäre aber, ob es Sinn hat, Gorkis doch oft recht pralle Bühnengestalten aus Fleisch und Blut, wenn man einmal so sagen darf, durch gewollt flach agierende Statthalter zu ersetzen. Zumindest spricht für die nun in Bochum zu erfahrende Ausdeutung, daß die Resultate eigentlich die selben sind. Kraftvolle Charaktere gelangen bei Gorki ebenso wenig zu beglückenden Lösungen wie in Bochum die einsamen Autisten. Ob es fast zwei Stunden dauern muß, um diesen Aspekt so herauszuarbeiten, sei dahingestellt.

Szene mit (v.l.) Emily Lück, Anne Rietmeijer, Guy Clemens (Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Bochum)

Einige Lacher

An Andeutungen, daß hier durchaus Schauspiel-Künstler auf der Bühne agieren, mangelt es nicht, doch legt ihnen der Inszenierungsstil Zurückhaltung auf. Lediglich Jele Brückner (jetzt wieder fest im Bochumer Ensemble), die als liebestolle Witwe Melanija die Frau des Chemikers Protassow zu überreden versucht, ihr ihren Mann zu überlassen, macht da eine unterhaltsame Ausnahme, die das Publikum mit dankbaren Lachern quittierte.

Volle Hütte

Nun denn. „Kinder Sonne“ ist in Bochum eine konzentrierte, gelassene, naturalistisch gehaltene Produktion, die alles in allem doch erfreulich respektvoll mit der Vorlage umgeht. Einem aufmerksamen Publikum weiß sie die dem Stück innewohnenden Konfliktlinien sehr wohl nahezubringen, sicherlich auch gerade wegen ihres staubtrockenen Inszenierungsstils. Dankbarer und anhaltender Applaus. A propos: Die Vorstellung, wiewohl nicht Premiere, war sehr gut besucht. Man gewinnt den Eindruck, daß Bochum sein Publikum nach jahrelangen Corona-Einschränkungen wiedergewonnen hat.




„Geh nicht durchs Gewischte!“ – Torsten Sträters „Heimspiel“ in der großen Westfalenhalle

Mit der weithin berühmten Mütze: Torsten Sträter (Aufnahme vom Januar 2020). (Foto: © Harald Krichel / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Torsten Sträter war spürbar und eingestandenermaßen richtig gerührt, als er jetzt vor Tausenden in der Dortmunder Westfalenhalle 1 (also in der „Großen“) aufgetreten ist. Beim „Heimspiel“ ließ er sich nicht lumpen und stand solo beachtliche zweieinhalb Stunden auf der Bühne, Pause nicht mitgerechnet. Allein das war schon eine reife Leistung.

Die veranstaltungslose Zeit der Pandemie, so bekannte der Comedian, habe ihn in wirkliche Depressionen gestürzt. Und überhaupt: Für den gebürtigen Dortmunder (Jahrgang 1966, aufgewachsen im stark vom Bergbau geprägten Ortsteil Eving) war gerade dieser Abend etwas Besonderes. In jungen Jahren sei ihm Dortmund immer wie die „große weite Welt“ erschienen, auch heute hänge er an dieser Stadt. Ja, hömma!

Der Titel des Programms („Schnee, der auf Ceran fällt“) tat nicht viel zur Sache, Sträter hatte ihn des geschmeidigen Klangs wegen gewählt. Ansonsten war von Schnee und Ceran keine Rede.

Aus zahlreichen Fernsehauftritten kennt man ihn mit der typischen Wollmütze. Diesmal legte er sie zu fortgeschrittener Stunde ab und offenbarte damit sein „eigentliches“ Aussehen. Dazu nur dies: Er kann sich durchaus auch ohne Mütze blicken lassen. Trotzdem würde man sein Markenzeichen auf Dauer vermissen. Ein Herbert Knebel geht ja auch nicht ohne Kappe auf die Bühne.

Torsten Sträter begann nicht um Punkt 20 Uhr, sondern etwas später. Dennoch sickerten immer und immer wieder noch zahlreiche Nachzügler (gegendert: Nachzügelnde???) in die Halle, als das Programm schon längst lief. Sträter begrüßte sie allesamt einzeln oder grüppchenweise, äußerte einerseits Verständnis (wg. langwieriger Parkplatzsuche), hatte aber auch einige Anmeier-Sprüche parat. Was tun Spaßmacher nicht für einen Gag! Aber nichts ist bös gemeint. Echt nicht.

Der Meister der Abschweifung kam mal wieder verbal von Hölzchen auf Stöckchen. Bemerkenswert: Es gibt beileibe nicht viele Comedians, die auf der Bühne erwähnen, wie ihr Vater sie einst verdroschen hat. Auch Sträters heute 19jähriger Sohn („Der ist viel schlauer als ich“) kam vor, beispielsweise mit genüsslich zitierten Äußerungen wie: „Ich hab‘ gottlos Bock auf Pommes.“ Solche Wendungen muss man sich merken.

Worum ging’s noch? Um alles oder nichts – in bunter, kaum vorhersehbarer Reihenfolge. Zum Exempel um hassenswerte Nahrung (Kürbis, Knäcke, Spekulatius) oder einen Tesla, den Sträter als Leihwagen fahren durfte. Gewiss, das Spaltmaß beim Tesla ähnele dem eines chinesischen Hochzeitsschranks. Doch das hochtechnisierte Modell zeige so viel auf dem Riesendisplay, dass man gar nicht mehr zum Fenster rausschauen müsse; eine veritable Vergünstigung, wenn man etwa durch Bottrop fahre… Überdies zeichne der Tesla mit seinen Kameras rundum fast alles auf, z. B. wenn „sein“ Fahrer mal ans Raststätten-Gebüsch pieseln geht, um die elende Sanifair-Gebühr nicht bezahlen zu müssen.

In einer der stärksten Passagen grub Sträter familiäre Redensarten von früher aus – von der 20-Watt-Funzel, die stets geradezu ehrfürchtig die „groooße Lampe“ genannt wurde, bis hin zur dringlichen Aufforderung an Putztagen: „Geh nicht durchs Gewischte!“ Zugegeben: Schriftlich kommt das gar nicht so eminent rüber, doch w i e Sträter das live vorbringt, ist wirklich zum Gackern.

Sträter kann sehr kalauerhaft und albern zum Wortwerk gehen, er ist aber auch durchaus nachdenklich und reflektiert. Eine gute Mischung. Da lässt sich auch darüber hinwegsehen, dass eines seiner gar zu häufig eingestreuten Lieblingsworte „Pimmel“ lautet. Und wenn man mit teils trivialen Kinofilmen nicht so vertraut ist wie er, versteht man auch die eine oder andere Anspielung nicht so gut. Aber dennoch hat sich Bolle (und nicht nur er) ganz prächtig amüsiert.

Am Samstag, 12. November, gastiert Torsten Sträter in Duisburg (Mercator-Halle im CityPalais), am 14. 11. in der Stadthalle Neuss und am 15.11. in der Essener Lichtburg. Danach geht’s kreuz und quer durch die Republik.  Für die NRW-Termine gilt: Alles um 20 Uhr, jeweils nur noch vereinzelte Restkarten oder schon ausverkauft (mit vager Hoffnung auf zurückgegebene Tickets).




Begegnung musikalischer Kulturen: Das Essener Festival „NOW!“ öffnet neue Horizonte

Alexej Gerassimez, in Essen-Werden geboren, war Solist in Tan Duns „The Tears of Nature“ in der Philharmonie Essen. (Foto: Alexej Lund)

15 Ur- und deutsche Erstaufführungen, ein weiter Blick auf außereuropäische Musik von Indien über Afrika bis Indonesien, ein Schwerpunkt auf Korea und spannende Experimente, die europäische klassische Instrumente mit solchen aus anderen Kulturen kombinieren: Die 12. Ausgabe des Essener Festivals „NOW!“ kann eine respektheischende Bilanz vorlegen.

Die „Neuen Horizonte“, die das Motto versprach, wurden tatsächlich erreicht. Eigentlich wäre jede einzelne der so sorgsam kuratierten 17 Veranstaltungen wert, ausführlich betrachtet zu werden. Das Herauspicken von „Highlights“ ist nicht gerecht, denn wenn das eine Konzert mit Opulenz und Aufwand aufwartet, punktet das andere mit konzentrierter Intimität oder außergewöhnlichem Programm. Und so spektakulär etwa „The Tears of Nature“ auftrumpfen konnte mit den üppig besetzten Duisburger Philharmonikern, allein fünf Schlagzeugern im Orchester – plus Alexej Gerassimez als Solisten – und Komponistennamen wie Tan Dun oder dem persönlich anwesenden Toshio Hosokawa: Die jungen koreanischen Studenten, zwischen 26 und 40 Jahre alt, die sich im Eröffnungskonzert präsentierten, verdienten genauso Aufmerksamkeit.

Younghi Pagh-Paan, Grande Dame unter den koreanischen Komponistinnen. Nach ihr ist ein Wettbewerb benannt, dessen Sieger in Essen vorgestellt wurden. (Foto: Si-Chan Park)

Sie haben den seit 2015 bestehenden Kompositionswettbewerb gewonnen, der nach der Grande Dame der koreanischen Komponisten, Younghi Pagh-Paan benannt ist. Vier der fünf sind Frauen: Yonghee Kim kreuzt in ihrem Stück „Croquis in the Air“ das koreanische zitherähnliche Instrument Geomungo mit europäischen Streichern. Gitbi Kwon lässt ein koreanisches Gayageum mit der aparten Kombination von Gitarre, Flöten, Violine und Cello auftreten. Laewang Jang untersucht in seinem „Isomere“, wie sich europäische und fernöstliche Instrumente unterscheiden, aber auch in ihren Klangfarben annähern und ergänzen. Hongjoo Jung verbindet Ätherisches und Tänzerisches, und Yeoul Choi – die unter anderem in Essen studiert hat – fächert in ihrem Trio „Passenger 1“ den Tonraum in zunehmender Zerstreuung auf.

Vielfältiges Spektrum heutigen Komponierens

Wie vielfältig das Spektrum heutigen Komponierens auch unter dem Einfluss eines internationalen Austauschs geworden ist, war in den Konzerten zwischen 27. Oktober und 6. November sinnfällig erfahrbar. Deutlich wurde auch, wie weit hergeholt manche Theorien einer „kulturellen Aneignung“ bei einem Festival wirken, das auf gegenseitigen Austausch auf Augenhöhe, auf den staunenden Blick auf Fremdes und Eigenes, auf Durchdringen, aber auch Schärfen von Identitäten setzt.

Exemplarisch mag dafür das jahrelang vorbereitete Projekt des Italieners Riccardo Nova stehen, eines Experten für indische Musik, der in Austausch mit zahllosen Musikern in Südindien steht. „Hier entsteht wirklich Neues“ resümiert der Essener Komponist Günter Steinke, von dem eine Uraufführung im Abschlusskonzert erklang. Denn Nova arbeitet in seinem „Mahābhārata“, der Instrumentalsuite aus einem großen Opernprojekt, mit indischen Instrumenten und Musikern, Schlagwerk und Elektronik. Mit Varijashree Venugopal holte er eine führende indische Sängerin in die Essener Philharmonie.

Lukas Ligeti (Foto: Markus Sepperer)

Das nicht einfache Vorhaben, Musik aus einem Kontinent, der „klassische“ Musik im westlichen Sinn nicht kennt, zum Festival „NOW!“ zu bringen, löste Lukas Ligeti, Sohn von György Ligeti, mit den Musikern von „Burkina Electric“ aus Burkina Faso und dem Ensemble BRuCH. Eine faszinierende Begegnung: Rhythmen und Klänge traditioneller westafrikanischer Musik, verbunden mit Dance Grooves aus dem 21. Jahrhundert, treffen auf ein Kammermusik-Ensemble aus Sopran (Maria Heeschen), Flöte, Cello und Klavier.

In den pazifischen Teil der Welt führte „GAME-land“, ein Konzert mit dem indonesischen Gamelan-Ensemble Kyai Fatahillah und dem Perkussionisten Max Riefer. Er hat lange Zeit in Indonesien gelebt und spielte in einer Uraufführung des Komponisten Dieter Mack, einem weltweit renommierten Spezialisten für Gamelan-Musik. Ungewöhnlich an den Werken des Leiters des Gamelan-Ensembles, Iwan Gunawan ist, dass sie in europäischer Weise notiert sind: Kyai Fatahillah ist das einzige indonesische Ensemble, das Noten liest und nach Aufgeschriebenem musiziert. Gunawan und Mack wurden ergänzt von Werken des Niederländers Klaus Kuiper und des in Indonesien geborenen Roderik de Man.

Triumph des Rhythmus bei Tan Dun

Natürlich ermöglichte „NOW!“ wieder die Begegnung mit Werken der „großen Namen“ der Neuen Musik, etwa Georges Aperghis, Luciano Berio, Brian Ferneyhough, Iannis Xenakis, Isang Yun oder Bernd Alois Zimmermann. „The Tears of Nature“, das bekannte Schlagzeugkonzert Tan Duns, erklang im Konzert der Duisburger Philharmoniker unter der souveränen Leitung von Jonathan Stockhammer mit dem in Essen-Werden geborenen Alexej Gerassimez als Solisten. Hier triumphiert tatsächlich der Rhythmus, und die Perkussion ist nicht eine solistische Beigabe, sondern der Herzmotor der gesamten Komposition – ob er sich am Anfang in der robusten Harfe und dem trockenen Knall von aufeinander schlagenden Kieselsteinen äußert oder im weichen Sound des Marimbaphons.

Malika Kishino (Foto: TuP Essen)

Mit einer einsamen rhythmischen Figur zweier Holzklötzchen beginnt auch die Uraufführung des Percussion-Konzerts der in Köln lebenden Malika Kishino, die selbst erzählte, wie sie mit den zeremoniellen Instrumenten in einem buddhistischen Tempel in Kyoto aufgewachsen ist und jetzt japanische Claves, Becken und Metallplättchen für ihr neues Konzert nutzt. Das beginnt Gerassimez mit nuanciertem Spiel u.a. auf verschieden intonierten Holzblöcken, begleitet von einem rhythmisch-geräuschhaften Orchester. Einen signifikanten Wechsel der Klangfarben bringt dann der Übergang auf diverse Metallstäbe und –platten. Die fünf Schlagzeuger im Orchester sorgen für eine veritable Orgie an perkussivem Kolorit – dabei schreibt Kishino aber über weite Strecken kammermusikalisch fein, verzichtet auf fette Tutti und massierte Volumina. Das zyklisch angelegte Konzert endet fast, wie es begonnen hat, aber der Zuhörer, der mit dem musikalischen Material einen Prozess durchlebt hat, hört das hölzerne Ticken dann mit anderen, vielleicht weiseren Ohren.

Dass sich diese Klangwelten öffnen können, ist einer beispielhaften Kooperation vieler Unterstützer mit der Philharmonie Essen zu verdanken: der Folkwang Universität der Künste mit dem unermüdlichen Günter Steinke als Inspirator, der Stiftung Zollverein – mit einem eigenen Konzert mit dem Gitarristen Fred Frith & Friends –, der Kunststiftung NRW, dem Kultur- und Wissenschaftsministerium des Landes und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung, ohne die mancher künstlerische Höhepunkt und die vielen Aktionen für Kinder und Jugendliche nicht möglich wären.

In Zeiten, in denen schon wieder versucht wird, vorzutäuschen, durch Kürzungen in der Kultur könnten finanzielle Probleme gelöst werden, sind solche manifesten Bekenntnisse zum aktuellen und produktiven Musikleben mehr als nur Gold wert.




Wie ein Fluss ohne Ufer: Ulrike Anna Bleiers Roman „Spukhafte Fernwirkung“

Ulrike Anna Bleiers Roman Spukhafte Fernwirkung entfaltet ein Panorama der gegenwärtigen Gesellschaft. Es können zweihundert Personen sein, von denen wir etwas erfahren, vielleicht sind es mehr, vielleicht weniger. Ungeheuerliches wird erzählt, ein Amoklauf in einem Einkaufszentrum, eine fragwürdige, aber medienwirksame Geiselnahme in einer Zeitungsredaktion, es werden Pistolen und MPs herumgetragen und benutzt, eine Frau begegnet ihrem Stalker wieder, der ihr die Karriere als Schauspielerin versaut hat, eine Schiffskatastrophe mit Todesopfern wird geschildert, Auto- und Bahnunfälle und anderes von großer Tragweite.

Menschen in alltäglichen Berufen und ohne Beruf, Menschen am Rande der Gesellschaft wie Silvana, die keine Beine hat, auf der Straße sitzt und hyperbolische Räume häkelt; ein Mensch wie Erika, die beim Fernsehen kluge Gedanken zum Verhältnis von Dingen und Menschen in Werbespots und Vorabendfilmen anstellt; oder Irma, die um ihre Weiterbeschäftigung in der Redaktion einer Lokalzeitung bangt und Angst vor Konferenzen hat. Aber manchmal geht es auch um eine Katze, einen Hund mit gelben Augen, zwei Esel oder einen Fuchs.

Unhierarchisches Nebeneinander

Ein Roman des Nebeneinander; es sind Einzelschicksale, aus denen sich unsere Gesellschaft zusammensetzt, deutlich mehr als die wenigen exemplarischen Protagonisten, mit denen Romane normalerweise aufwarten. In Spukhafte Fernwirkung gibt es keine Heldinnen und Helden; es ist ein Anspruch der Autorin, so zu erzählen, dass keine Hierarchien entstehen, keine Person, keine Handlung wichtiger als eine andere ist. So erscheint das Außerordentliche unspektakulär, während andererseits Alltägliches zu einem staunenswerten Ereignis werden kann. Mathildas Interesse an Kernphysik nimmt ihren Ausgang in einer Shopping Mall, durch den eher zufälligen und etwas ratlosen Kauf einer Tasse, deren Dekor ein Atommodell aufweist. Die mit einem Gutschein erworbene „Thementasse“ wird Mathilda später zum Anlass nehmen, nach Genf zu fahren, um das CERN zu besichtigen.

Nicht-Orte und das Dazwischen

Mit der Figur der Mathilda, aber nicht nur durch sie, kommen zwei der bevorzugten Schauplatzarten des Romans zusammen, Einkaufszentren und Verkehrswege – „Nicht-Orte“ und das Dazwischen. In ihrem Blog WHEREAMiNOW hat sich die Autorin mit dem kanadischen Geographen Edward Relph beschäftigt, der in seinem 1976 erschienenen Buch Place and Placelessness die Frage erörtert, was Orte (places) und Räume (spaces) sind, und was Ortlosigkeit (placelessness) bedeutet; ebenso mit Marc Augés Begriff der Nicht-Orte (non-lieux; 1992), der auf die bereits von Michel Foucault formulierte „Heterotopie“ zurückgreifen konnte. Shopping Malls, Autobahnen, Busbahnhöfe oder Krankenhäuser sind auch bevorzugte Schauplätze und Themen in Ulrike Bleiers Roman.

Rätselhafte Verschränkungen

In Jim Jarmuschs Film Only Lovers Left Alive (2013) sagt die von Tilda Swinton verkörperte Vampirin zu ihrem Mit-Vampir Adam: „Erzähl mir von der Verschränkung und von Einsteins spukhafter Fernwirkung.“ Ulrike Anna Bleier kommt diesem Wunsch auf ihre Weise nach. Freilich kann auch sie das von Albert Einstein entdeckte Rätsel der „Spukhaften Fernwirkung“, der Verschränkung von nicht kausal erklärbaren und somit wissenschaftlich überhaupt unerklärlichen Phänomenen, nicht begründen. Einstein, der den Begriff prägte, schrieb in einem Brief an Max Born vom 3. März 1947, er könne an eine solche spukhafte Fernwirkung nicht ernsthaft glauben. Immerhin wurde für Experimente mit verschränkten Photonen in diesem Jahr (2022) der Nobelpreis vergeben – für Physik, nicht für Literatur. Ohne esoterisch daherzukommen, gibt es in Ulrike Bleiers Roman immer wieder Momente, die eine solch spukhafte Fernwirkung nahelegen. Wird in Bleiers Roman aber Physik verhandelt, Teilchenphysik, Astrophysik, ist sie stets so geerdet wie Mathilda mit ihrer Teetasse oder Silvana mit den gehäkelten hyperbolischen Räumen.

Raum und Zeit

Der Roman ist in acht Teile gegliedert, deren Namen wie „Mit der Zeit“, „Bahnen“, „Gegen den Raum“, „Weltlinien“ oder „Freie Weglängen“ andeuten, dass Raum und Zeit hier große Themen sind. Im ersten Teil („Mit der Zeit“) ist die Angabe der Uhrzeit über die einzelnen, meist kurzen Texte gesetzt, sie sind jedoch nicht streng chronologisch angeordnet. In einem Liveticker aus der Zeitungsredaktion, in der Irma arbeitet, lesen wir – dem Gesetz solch eines Tickers gemäß – die neueste Meldung zuerst und erfahren dann erst nach und nach ihre Vorgeschichte.

Im Kapitel „Bahnen“ befinden sich Kilometerangaben über den einzelnen Texten, aber auch diese Zahlen sind nicht fortschreitend angeordnet. Als bildete die gegen die „Lokalität“ – der Grundannahme der klassischen Physik, nach der Vorgänge unmittelbare Auswirkungen nur auf ihre direkte räumliche Umgebung haben – verstoßende Quantenmechanik eine Art Hintergrundstrahlung. Im Umgang mit der Zeit könnte die Autorin ein anderes bekanntes Zitat Albert Einsteins illustrieren wollen: „Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist für uns Wissenschaftler eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige.“

Ohne äußeres Ordnungsgerüst

Mit dem äußeren Gerüst der Einteilung des Romans in Kapitel (oder Teile) und Überschriften zu den kurzen Texten scheint die Autorin mit dem Bedürfnis der Welt nach Ordnung ihr Spiel zu treiben. So sind beispielsweise im Teil 2 („Reset“) über die Texte mathematische oder physikalische Formeln und kryptische Zeichen gesetzt, die teilweise dem Nicht-Experten unmittelbar einleuchten, zum Teil aber auch physikalische Kenntnisse oder aber eine Liebe zu pataphysischen Scheinlösungen voraussetzen. Wie zum Beweis, dass sie auch ohne ein äußeres Ordnungsgerüst auskommt, fügt die Autorin zwei Teile ohne Zwischenüberschriften ein, die ebenfalls sehr gut funktionieren: Teil 4, der „Gegen den Raum“ bezeichnet ist, und den achten Teil, dem das mathematische Unendlichzeichen, die „liegenden Acht“ voransteht.

Doch alle acht Teile – ob mit oder ohne Überschriften – beweisen die innere Harmonie des gesamten Romans, wunderbare Wechselspiele, verblüffende Korrespondenzen; sie zeigen, wie sehr die Autorin ihren Figuren und der Kraft ihrer eigenen Sprache vertrauen darf. Erscheint die Anordnung der einzelnen Geschichten mitunter willkürlich – sie gehören doch zusammen wie die Wörter auf einem Zettel, der in einem Einkaufswagen im Supermarkt liegen geblieben ist. Mögen die Leserinnen oder Leser ein Kochrezept daraus ableiten. Bei Spukhafte Fernwirkung lohnt sich detektivisches Lesen ganz besonders; es gibt in dem Buch viel zu entdecken.

Einordnung

Auch wenn der Roman den Wunsch nach Festlegung immer wieder lustvoll zu hintertreiben scheint, soll hier eine kurze Einordnung versucht werden, mit was für einer Art Roman wir es zu tun haben. Vorweggenommen: Das Buch ist unvergleichlich und ihre Autorin sehr erfinderisch. Andere Romane mögen ihre Wirkung daraus beziehen, dass die Lesenden einer Romanfigur über eine längere Strecke folgen, Empathie empfinden oder sich gar teilweise mit ihr identifizieren. Bei U. A. Bleiers Figuren ist Identifikation gar nicht nötig, um das Interesse über 410 Seiten wachzuhalten. Das schafft die Autorin mit ihrer Sprache. Die Figuren werden von außen betrachtet; es gibt keine Erzählerin, die sich in ihre Gedanken einschleichen würde, es wird nicht personal erzählt. Zeitweise nimmt die Erzählerin eine geradezu olympische Position ein, etwa wenn sie in die Zukunft blickt und weiß, wie lang eine Person eine andere überleben wird. Die Figuren sind kaum durch eigene Sprechweisen unterschieden – außer vielleicht Irma.

Es ist kein psychologisierender Roman; ist es ein soziologischer Roman, ein Gesellschaftsroman? Vielleicht, jedoch fern des Naturalismus; keine Studien prekärer Lebensverhältnisse, wenngleich manche der Figuren sich in solchen befinden. Wo hätten wir in der Literaturgeschichte schon einmal Vergleichbares gelesen? In John Dos Passos‘ Manhattan Transfer (1925) vielleicht, der ebenfalls ein breites gesellschaftliches Panorama entwickelt – in diesem Fall der Großstadt New York? Ulrike Anna Bleier hat im Vergleich dazu die Figurenvielfalt bei weitem gesteigert und fokussiert weniger einzelne Schicksale; außerdem lässt sie sich keineswegs auf ein Generalthema festlegen – wie bei Dos Passos etwa das Leiden seiner Figuren unter dem Moloch Manhattan. Bleiers Ort Lasslingen ist universell, und das Dazwischen, die Wegstrecken, die „Nicht-Orte“, sind mindestens ebenso wichtig.

Keine bekannten Muster

Was andere Autorinnen und Autoren als dramatische Höhepunkte präsentiert hätten, passiert bei U. A. Bleier fast nebenbei, als ginge es weniger um die Geschichten als um das Universum, in dem sie spielen. Keine Romanhandlung, die zielgerichtet wäre, keine Spannungsbögen, keine plot points wie in einem Drehbuch; man kann die Stories weder als „character driven“ noch als „plot driven“ bezeichnen; sie sind so ganz ohne die gängigen Konstruktionsanleitungen für einen „verdammt guten“ Roman geschrieben und fügen sich dabei doch zu einem verdammt guten Roman zusammen, ja, zu einem Ausnahmewerk. In der Epoche des Sturm und Drang hielt man für Autoren, die sich über jegliche Regelpoetik hinwegsetzten und dabei Außerordentliches zustande brachten, den Begriff des Originalgenies bereit. Den dürfte die Autorin Ulrike Anna Bleier allerdings nicht auf sich beziehen wollen, schon aus Skepsis gegenüber (meist maskulin konnotierter) Selbstherrlichkeit. Überhaupt müsste man auf Pathos verzichten, um der Autorin gerecht zu werden, denn Pathos passt nicht zur Sprache ihrer bisher erschienenen drei Romane. Der Modus, in dem hier erzählt wird, ist nüchtern, ohne langweilig, lakonisch, ohne zynisch zu sein, und erzeugt dabei einen Sog, der die Lesenden in das Buch hineinzieht.

Kühne Sätze klingen nach Freiheit

Aber lassen wir doch die Autorin endlich selbst zu Wort kommen. Welches der zahlreichen Beispiele ihres Stils sollte man da wählen? Vielleicht gleich eines aus den ersten Seiten: Einmal sagt Marius, was wolltest du eigentlich sagen heute Morgen, wieso was, sagt Irma, und Marius, vorhin in der Konfi, meine ich, ich meine, hattest du einen Vorschlag, war nicht, sagt Irma dann, so wichtig, und Marius schaut sie komisch an, von der Seite her, und Irma registriert es, aber tut so, als habe sie es nicht, auch für sich selber hakt sie es ab, und auch das registriert sie. (S. 19/20)

Bei Ulrike Bleier klingen grammatisch kühne Sätze nach Freiheit und nach Emanzipation von vorgegebenen Ausdrucksmitteln. Missachtung guter Ratschläge zum Verfassen verdammt guter Romane, wie sie die Schreibschulen im Dutzendpack liefern, ist aber noch lange kein Garant für ein außergewöhnliches Werk. Etwas Wesentliches muss hinzukommen. Aber was? „Wenn manche mystische Kunstliebhaber, welche jede Kritik für Zergliederung, und jede Zergliederung für Zerstörung des Genusses halten, konsequent dächten: so wäre Potztausend das beste Kunsturteil über das würdigste Werk. Auch gibts Kritiken, die nichts mehr sagen, nur viel weitläuftiger“, schrieb Friedrich Schlegel im 57. seiner Kritischen Fragmente.

Über einen Platz in der Literaturgeschichte entscheiden weder Kritiker noch hohe Verkaufszahlen (die der Autorin und dem mutigen lichtung verlag aus Viechtach allerdings zu wünschen wären). Literaturwissenschaftler erkennen den Rang eines Werkes meistens erst mit jahrzehntelanger Verspätung. Sollte Spukhafte Fernwirkung aber vergessen oder übersehen werden – umso bedauerlicher für die Literaturgeschichte.

Der Roman ist ein Fluss ohne Ufer, der in alle Richtungen weiterlaufen könnte; ein Anschreiben gegen jede Festlegung und eine Feier des fließenden Lebens. Die Texte könnten ohne die Buchdeckel (Hardcover), die es begrenzen, fortgesetzt werden. Ein offenes, endloses Schreiben. Potztausend ist so überhaupt kein Wort, das auf Ulrike Anna Bleiers Roman passen würde. Aber mit einem modischen „Wow!“ möchte man ihn ebenso wenig abspeisen. In ihrer Sprache ist Ulrike Anna Bleier auf der Höhe der Zeit. Wäre doch nur unsere Zeit auch auf ihrer Höhe.

Ulrike Anna Bleier: Spukhafte Fernwirkung. Roman, lichtung Verlag, Viechtach, 2022, Hardcover, 416 S., 24 Euro.