Schauspielkunst ausgebremst: „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ mit Maja Beckmann in Bochum

Maja Beckmann (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Zugegeben: Wenn Maja Beckmann nicht auf dem Besetzungszettel gestanden hätte, wäre ich wohl nicht hingegangen. Maja Beckmann – für den, der es nicht weiß – ist die etwas ältere Schwester der noch etwas bekannteren Lina Beckmann. Beide Schauspielerinnen stammen aus Herne, beiden ist, in unterschiedlichen Ausprägungen, ein Theaterspiel eigen, das, unter Frauen zumal, seinesgleichen auf deutschen Bühnen nicht leicht findet.

Zwei Schwestern

Wenn Lina der etwas zupackendere, offensivere Charakter ist, dann treffen auf Maja eher Attribute wie zurückhaltend, zögernd, schüchtern, unsicher, aber in diesen Valeurs wiederum auch zupackend und mutig zu. Mit dem vermeintlich falschen Ton am richtigen Platz wildgrubern sie beide ein bißchen, und ein bißchen auch ist gerade Maja die Gabe eigen, auf ganz entzückende Art mitunter in ihrer Rolle etwas neben sich zu stehen – wie es weiland Andrea Breths Liebling Wolfgang Michael zustande brachte oder durchaus auch, heutzutage, Bochums gefeierter Macbeth Jens Harzer. Dies nur in aller Kürze zur Attraktion des Abends.

Clee (Anna Drexler, links) und Cheryl Glickman (Maja Beckmann) (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Jetzt Zürich

Maja Beckmann spielte etliche Jahre in Bochum Theater und hat es mittlerweile bis nach Zürich gebracht. Das Stück, das an diesem Abend im großen Bochumer Haus zur Aufführung gelangt, heißt „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ und entstand, köstlicher Scherz, nach Miranda Julys Debutroman „Der erste fiese Typ“. Da haben die Schlauberger vom Schauspielhaus Zürich – von dort nämlich wurde das Stück übernommen – gleich zwei Sprachsignale im Titel untergebracht, Respekt. Und damit das ganze nicht so plump wirkt, wie es eigentlich ist, beginnt der Abend denn auch damit, daß die beiden Frauen auf der Bühne in einem kindlich schüchternen Dialog dem Publikum diese Titelwerdung erklären.

Clee (Anna Drexler, links) und Cheryl Glickman (Maja Beckmann) (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Großartige Anna Drexler

An diesem Punkt gilt es, das weitere Personal vorzustellen. „Miranda…“ ist im Kern ein Zweipersonenstück, auch wenn sich zu Spitzenzeiten fünf Leute auf der Bühne aufhalten. Maja Beckmann gibt die ältere Frau Cheryl Glickman (jenseits der 40), Anna Drexler Clee (um die 20), und auch sie beeindruckte nachhaltig. Nach einem Anlauf von wenigen Minuten ist sie eins mit ihrer Rolle, eine wilde, junge Frau, etwas verhuscht, etwas verschroben, etwas arrogant, manchmal fast noch ein Kind. Und dann plötzlich auch eine leidenschaftliche Liebhaberin. Anna Drexler spielt all das mit einer kraftvollen, offensiven Selbstverständlichkeit, die einem Respekt abnötigt. Sie und die Beckmann, ein Traumpaar. Jedenfalls auf der Bühne.

Feine Musik

Weiterhin wirken mit: Die Musikerin Brandy Butler, adipös und dunkelhäutig, und gerne geißelten wir an dieser Stelle Wokeness und Quotenunfug in den Theatern. Aber das wäre grob unfair. Butler macht sehr schöne, feine, sparsame Untermalungsmusik, ist in einigen Spielszenen ein zurückhaltender, dritter Pol (wenn man einmal so sagen darf), marschiert aber auch ganz vorne mit, wenn die beiden Hauptdarstellerinnen es so richtig krachen lassen. Vierte ist die Kamerafrau Anna Marienfeld, die nach Kräften videographiert und auch ein bißchen mitspielen muß, fünfter schließlich der Astronaut, dessen Gesicht wir nicht zu sehen kriegen und für dessen sprachlose Rolle gleich drei Besetzungen erscheinen (Anton Engelmann, Mia Kaufhold, Henri Mertens). So weit, so gut.

Raumgreifende Lebensbeschreibungen

Auch der Plot schien nicht ohne Reiz zu sein, ein (wie man hoffen konnte) angelsächsischer, nüchterner Erzählweise verpflichteter biographischer Stoff aus dem Alltag, der sich einreiht bei den derweil häufig anzutreffenden Lebensbeschreibungen scheinbar gänzlich unscheinbarer Menschen im raumgreifenden Stil (wenn man es Stil nennen möchte), beispielsweise einer Annie Ernaux. Bei Miranda July geht es sogar vergleichsweise dramatisch zu, Stichworte mögen eine heftige lesbische Liebesbeziehung und eine Schwangerschaft „aus heiterem Himmel“ sein. Maja Beckmann und Anna Drexler hätten das fraglos auch wunderbar herausgespielt. Wenn man sie denn gelassen hätte.

Es spritzt. Clee (Anna Drexler, links) und Musikerin Brandy Butler (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Zu viel Video

Doch Christopher Rüping läßt sie nicht. Dem Regisseur hat es gefallen, die dramatischen Veränderungen im Leben der beiden Frauen, ihren Liebestaumel, ihre obsessive Sexualität, ihre bedrohliche, herrliche Nähe und was der starken Momente mehr sind in die Form einer heftigen Video-Performance zu packen, in der viel gelaufen und gerauft wird und die durch große, naturgemäß dramatische (Portrait-)Aufnahmen der Heldinnen geprägt ist.

Man sucht nach dem tieferen Sinn für den massiven Maschineneinsatz, der sich jedoch nicht erschließen will. Wenn dann (es läuft bruchlos darauf zu) die Geburt ansteht, gibt es viel Geschrei, spritzt viel Wasser und Bühnenblut. Und all das ist von der Art, die Theater (häufig jedenfalls) so unattraktiv macht, weil bei großem Geräusch- und Bewegungsaufwand eigentlich nichts Handlungsrelevantes geschieht. Statt die mehrfachen heftigen Veränderungen in ihrer Beziehung mit den Möglichkeiten der Schauspielkunst nachvollziehbar zu machen, müssen Maja Beckmann und Anna Drexler sportlichen Einsatz zeigen. Ihrer beider Leistungsfähigkeit ist imposant, das immerhin.

Na gut. Einen Tag später hat sich die Erinnerung an zwei wunderbare Schauspielerinnen noch nicht verflüchtigt. Eher hat sich leichter Groll angesammelt auf eine Inszenierung, die ihnen zu wenig Möglichkeiten bot, ihre Kunst zu zeigen. Vielleicht zieht es Maja Beckmann demnächst ja noch einmal in ihre alte künstlerische Heimat, nach Bochum. Dann würde mal wohl wieder hingehen.

  • Termine:
  • Sa.03.06., 19:30 — 21:45
  • So.04.06., 17:00 — 19:15
  • Do.15.06., 19:30 — 21:45
  • Fr.16.06., 19:30 — 21:45

www.schauspielhausbochum.de




Eine Stadt, in Schwarzgelb gehüllt: Borussia Dortmund stand kurz vor der Meisterschaft – aber dann…

Die Kluft fürs Wochenende lag bereit. (Foto: Bernd Berke)

An einem einzigen Tor sind sie gescheitert… Bayern eins zu viel, der BVB eins zu wenig. Hallers verschossener Elfer, Adeyemis Verletzung. Ja, man könnte lange lamentieren. Doch was hilft’s? Borussia Dortmund hätte heute wirklich und wahrhaftig deutscher Fußballmeister werden können – erstmals wieder seit 2012, als es unter Jürgen Klopp sogar ein BVB-Double mit Pokalsieg gegeben hat. Hier die Zeilen, die vor dem entscheidenden Spiel gegen Mainz geschrieben wurden:

In der Stadt wird seit Tagen eigentlich über nichts anderes mehr geredet. Spätestens am Pfingstwochenende wird hier und im Umland so ziemlich alles in Schwarzgelb gehüllt sein, alle denkbaren Verrücktheiten im Zeichen dieser Farben inbegriffen. Nervosität und Vorfreude steigen von Stunde zu Stunde. Da wird sogar die gestern verkündete, überraschende (nur vorübergehende?) Rettung des Dortmunder Karstadt-Hauses zur lokalen Randnotiz, wenn auch zu einer erfreulichen.

Man muss nicht alles wieder herbeten, was dazu geführt hat, dass der Meistertitel in greifbar(st)e Nähe gerückt ist. Doch ein paar Faktoren sollten genannt werden: die immense Formsteigerung von Spielern wie Donyell Malen und Karim Adeyemi (welch eine pfeilschnelle „Flügelzange“!) oder auch dem immer stabileren Emre Can; die geradezu unglaubliche Wiederkehr des Sébastien Haller; der ungeahnte „zweite oder dritte Frühling“ von Mats Hummels; Gregor Kobel, der – wie man so schön sagt – immer mal wieder „die Unhaltbaren hält“. Na, und so weiter. Und natürlich hat Herzblut-Trainer Edin Terzic einen Riesenanteil an der ungemein erfolgreichen Rückrunde. Und nein: Es liegt keinesfalls nur an der Schwäche der Bayern, wenn es dem BVB gelingt. Es liegt auch und vor allem an eigenen Qualitäten. Jawoll!

Die tabellarische Ausgangslage ist bestens, doch kein Anlass zur Selbstzufriedenheit (was man der Mannschaft auch nicht nachsagen kann). Neben arg verfrühtem Siegestaumel bei etlichen Fans mehren sich nun auch die Unkenrufe aus allerlei Richtungen: „Vielleicht vergeigen sie es kurz vor der Ziellinie doch noch!“ Sollen wir uns nun ein nervenschonendes oder ein maximal spannendes Finale wünschen, das sich womöglich erst in der Nachspielzeit entscheidet? Mh. Dauerhafte Schnappatmung wäre der Gesundheit nicht unbedingt zuträglich. Und ob sie quer durch die Republik einen schönen Nervenkitzel haben, ist doch wohl zweitrangig, oder? Es soll bitteschön klar ausgehen.

Ich halte jedenfalls dafür, dass „zwischen Flensburg und Freiburg“ (um noch so ein Klischee zu bemühen) eine satte Mehrheit eher Dortmund den Titel gönnt als den Bayern. Natürlich bedeutet die Meisterschaft in dieser oft gebeutelten Stadt auch ungleich mehr als drunten im begünstigten Süden, wo sie es kaum noch anders kennen, als gelangweilt die Schale abzuräumen und wo sie schon zu Tausenden vorzeitig die Allianz-Arena (aka „Arroganz-Arena“) verlassen, wenn „dahoam“ vorentscheidend gegen Leipzig verloren wird.

So ähnlich hätte es wieder aussehen können: Impression vom Meister-Corso des BVB am 15. Mai 2011, hier mit (v. li.) Mario Götze, Lucas Barrios und Nuri Sahin. (Foto: Bernd Berke)

Wie es heißt, hat es vor dem entscheidenden Heimspiel gegen Mainz 05 weit über 300.000 Kartenanfragen gegeben. Zwar steht in Dortmund das größte deutsche Stadion, das immerhin knapp über 81.000 Zuschauer fasst, doch hört und liest man von exorbitanten Ticket- und Übernachtungspreisen, die die 1000-Euro-Marke überschreiten.

Für viel Ärger hat im Vorfeld dies gesorgt: Der Fußballsender Sky/Wow mag am Samstag partout keine großen Public Viewing-Ereignisse in Dortmund zulassen und es Kneipen mit Sky-Lizenz nicht einmal erlauben, ihre Bildschirme so zu drehen, dass sie von außen sichtbar sind. Wahrscheinlich ist es (ohne dass sie es zugeben dürften) auch der Stadt und der Polizei so ganz recht, weil dann nicht noch mehr riskante Events stattfinden. Der Sonntag mit einem möglichen Meister-Corso dürfte mit vorab geschätzten 200.000 bis 400.000 Fans zwischen Borsigplatz, Wallring und „Dortmunder U“ schon genug Probleme bereiten. Freilich: Gerade weil der Massenzulauf am Samstag vielleicht noch nicht richtig kanalisiert wird, sondern wahrscheinlich spontan entsteht, ist die Lage keineswegs ungefährlich. Kann und soll man sich beispielsweise mit Kindern in die City trauen?

Übrigens: Manche in Schwarzgelb frohlocken, dass heute Schalke absteigen kann. Andere sagen, sie würden jedenfalls das „Derby“ arg vermissen. Und wenn dann auch noch Bochum… Das wäre fürs Revier ja gar nicht auszudenken. Also bitte, Leute, gebt Euch einen Ruck: Daumendrücken hier wie dort. Und wenn’s nur wegen der Derbys ist.

 




Nicht schön, aber viel besser als früher – Bilder aus der „Eulenkopf“-Siedlung

Frontale Aufnahme auf dem Cover des Fotobandes von Merle Forchmann: „Eulenkopf“-Bewohnerin Rosi, die sich „damals“ so sehr über eine eigene Wohnungsklingel gefreut hat, hier aber eine durchaus abwehrbereite Haltung einzunehmen scheint. (Fotografie: © Merle Forchmann / Cover-Gestaltung: Verlag Kettler, Dortmund)

Das kann man wohl teilnehmende Beobachtung nennen: Rund zwei Jahre lang ist die in Düsseldorf lebende Dokumentar-Fotografin Merle Forchmann immer und immer wieder nach Gießen gefahren – und dort stets zur „Eulenkopf“-Siedlung. Mit der hat es seine spezielle Bewandtnis.

In den frühen 1950er Jahren wurde diese Siedlung in erbärmlicher Schlichtheit so errichtet, dass vormals Wohnungslose zwar ein notdürftiges Dach über dem Kopf hatten, aber ganz bewusst vom Rest der Stadt separiert und damit als „sozial Schwache“ oder gar „Asoziale“ gebrandmarkt wurden. Sie wohnten buchstäblich im Dreck und wurden behandelt wie „Schmuddelkinder“. Desolate soziale Verhältnisse mit häufiger familiärer Gewalt waren in dieser Frühzeit die unausbleibliche Folge. In den Nachkriegsjahren waren ringsum viele US-Soldaten stationiert. Sie haben in der Gegend so manche Kinder gezeugt und sind oft nicht bei ihnen und den Frauen geblieben. Familien mit mehr als fünf Kindern waren hier anfangs die Regel. Da wurde das Elend nicht kleiner.

Im Zuge der Studentenbewegung formierte sich in den frühen 1970er Jahren in Gießen ein Hilfsprojekt, das den „Abgehängten“ beistehen wollte und gründliche Sanierungen (unter Beteiligung der Betroffenen) voranbrachte. Besonders engagierte sich dabei auch der prominente Prof. Horst-Eberhard Richter, der damals die psychosomatische Klinik in Gießen leitete. Merle Forchmann ist seine Enkelin und hatte daher auch ein persönliches Interesse an einer ausgiebigen Spurensuche – etwa 50 Jahre nach Gründung jener studentischen Initiative. Sie konzentriert sich freilich nicht auf Meriten ihres Großvaters, sondern auf die jetzigen Bewohner der Häuser.

Zufrieden mit einem bescheidenen Leben

In dem angemessen schmucklosen Bildband „Eulenkopf. Eine Wohnsiedlung“ werden nicht lang und breit die Zusammenhänge aufgerollt. Wir erfahren das Nötige, lernen einige Bewohner anhand von Porträts, alltäglichen Szenen und kurzen Selbstaussagen kennen. Skizzenhaft, versteht sich. Da ist zum Beispiel Tamara, die tatsächlich Weltmeisterin im Powerlifting (eine Art Gewichtheben) gewesen ist und dann an Krebs erkrankte. Da ist Rosi, die noch heute von der Zeit schwärmt, als ihre Behausung ein eigenes Klo und eine eigene Klingel bekommen hat. Da ist Adelheid, die schon in fünf verschiedenen Häusern des Blocks gewohnt hat. Da ist Gela, seit 1969 hier, die auch künftig für immer bleiben will. Da ist Udo, der bereits dieses bescheidene Leben als „Luxus“ begreift.

Die Momentaufnahmen wirken vielfach wie pure Zufallsauswahl, sie beruhen aber just auf genauer Langzeitbeobachtung und zunehmend vertrauensvollen Gesprächen. Es sind visuelle Essenzen; Ansichten aus dem nachhaltig verbesserten, aber immer noch alles andere als komfortablen Alltag der Siedlungsbewohner, die übrigens auch einen eigenen Verein für Kraftsport und Fußball gegründet haben. Auch das hat ihnen über missliche Situationen hinweggeholfen.

Die Dinge sprechen ihre eigene Sprache

Es entspricht sicherlich nicht dem gängigen Mittelschichts-Geschmack, doch auch die Dinge, mit denen sie sich hier seit längerer Zeit umgeben, sprechen eine eigene, oft geradezu anrührende Sprache. Es finden sich Spuren gelebten Lebens darin, das beileibe nicht einfach war. Erst recht sind die Gesichter von Mühsal gezeichnet. Sie haben ihre kleine Welt ein wenig erträglicher gestalten können. Nach ihrem Maß. Schön ist das alles immer noch nicht, doch der Flecken ist durchsetzt mit einigen Vorzeichen eines lohnenden Lebens.

Die meisten Leute wohnen schon seit den 1960er Jahren hier bzw. sind hier aufgewachsen und inzwischen alt geworden. Insofern hat Merle Forchmann Bilder einer allmählich verblassenden Lebenswelt eingefangen. Und woher diese Siedlungstreue? Einerseits sind sie wohl geblieben, weil man nur schwer von dort wegkommt, andererseits scheint es einen sozialen Zusammenhalt zu geben, den sie selbst dann noch aufsuchen, wenn ihnen der „Absprung“ gelungen ist. Fast alle Verwandten und viele langjährig befreundete Menschen wohnen ja weiterhin hier. Selbst ein Sohn des Viertels, der es zum Gymnasiallehrer gebracht hat, kommt jederzeit zu Besuch, obwohl seine Partnerin mit all dem wenig anfangen kann.

Es lassen sich hier nicht zuletzt eigene Vorurteile überprüfen. Was hält man spontan vom Anblick dieser Menschen? Ändert man seine Meinung, wenn man ein paar Zeilen über sie liest? Kommen sie einem nicht nach Durchsicht des Bandes schon wesentlich vertrauter vor? Oder bleiben sie dennoch seltsam fremd?

Merle Forchmann: „Eulenkopf. Eine Wohnsiedlung“ (Hrsg.: Jonny Bauer). Verlag Kettler, Dortmund. 116 Seiten Softcover, Format 18×23 cm, Texte in Deutsch und Englisch. 19 Euro.

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Der Dortmunder Verlag Kettler – eine stille Sensation

Der Verlag Kettler darf als eine der stillen Sensationen von Dortmund gelten. In dieser Stadt werden ansonsten kaum noch Bücher hergestellt, seit etwa grafit (Regionalkrimis etc.) und Harenberg (populäre Lexika usw.) die einst stolzer geblähten Segel gestrichen haben.

Die wenigsten Einheimischen dürften schon von Kettler gehört haben, dabei produziert der Verlag im Schatten des „Dortmunder U“ (und mit eigener Druckerei im nahen Bönen) u. a. Kataloge für erstrangige Institute wie die Bundeskunsthalle (Bonn) oder den „Hamburger Bahnhof“ (Berlin). Mit solchen Publikationen zählt Kettler zu den führenden Kunstverlagen der Republik.

In der Region kooperiert man regelmäßig mit dem Emil-Schumacher-Museum (Hagen), dem NRW-Baukunstarchiv (Dortmund) oder dem Marta in Herford. Auch ein enorm anspruchsvoller, auf Katalog-Qualität versessener Künstler wie Christo vertraute Kettler eine voluminöse Werkübersicht über sich und Jeanne-Claude an. Eine Art Ritterschlag in dieser Branche.

 




Der schrecklichste Unhold ist der Krieg selbst – Kirill Serebrennikov inszeniert „Der Wij“ bei den Ruhrfestspielen

Szene aus „Der Wij“. (Foto: Fabian Hammerl/Ruhrfestspiele)

Ein dunkles Kellerloch, nur Taschenlampen geben Licht. Vier junge Männer streiten in höchster Erregung, was sie mit dem Menschenbündel machen sollen, das vor ihnen auf der Erde liegt. Zusammengeschlagen haben sie ihn schon. Umbringen? Eier abschneiden? Er ist einer von den anderen, seine Überlebenschance ist gleich Null.

Putin-Gegner

Weitere brutale Szenen werden folgen in diesem Stück von Bohdan Pankrukhin und Kirill Serebrennikov, das jetzt, als Produktion des Hamburger Thalia Theaters, bei den Ruhrfestspielen zu sehen war. Serebrennikov, richtig, ist jener auch im Westen relativ prominente Theatermann, der als erklärter Putin-Gegner in Rußland im Gefängnis saß und nun in Deutschland lebt und arbeitet. Er führte auch Regie.

Blicke töten

Den Titel des Stücks „Der Wij“ muß man erklären. Der Wij ist ein eher böser Geist aus der slawischen Mythologie, dessen Blick tötet. Allerdings hat er so schwere Augenlider, daß er sie ohne Hilfe nicht heben kann. Doch seine Nähe ist lebensgefährlich. Nikolai Gogol setzte dem Wij im Jahr 1835 mit der gleichnamigen Erzählung ein literarisches Denkmal, und angeblich – sonst müßte das Stück ja anders heißen – bezieht sich die Thalia-Inszenierung auf diese Figur.

Ukraine-Krieg

Doch begegnen wir ihr im eingangs beschriebenen Kulissen-Keller – zunächst – nicht. Eher muß man wohl die Gesamtsituation als eine Art Verkörperung des Wij begreifen, die den Ukraine-Krieg in seinen vielen Ungeheuerlichkeiten spiegelt und an der gemessen eine einzelne mythologische Figur fast niedlich erscheinen würde.

Die tödliche Bedrohung, die der Wij bedeutet, ist für die jungen Männer im Keller allgegenwärtig, Folter und Scheinhinrichtungen haben sie schon am eigenen Leib kennengelernt, sie haben panische Todesangst und vielleicht auch gar keine Überlebenschance mehr. Aber Monster sind sie nicht. Und wenn sie bei bedrohlich hohem Hormonspiegel zu klären versuchen, wie sie mit dem Menschenbündel umgehen sollen, sind die Beweggründe eher kümmerlich, folgen fragwürdigen Vorstellungen von Rache und Gerechtigkeit, Gehorsam und Moral. Arme Schweine, ohne Hoffnung. So jung schon.

Schaurige Motive

Eine junge Frau im Sarg wird plötzlich lebendig, sie war der Augenstern des Großvaters, ist aber auch Kriegerwitwe, die Übergänge in den Rollen sind nicht immer klar auszumachen. Die Mutter eines gefallenen Soldaten fürchtet um die Hinterbliebenenrente, und so gibt es der schaurigen Motive aus dem Krieg etliche mehr, flott gereiht und ineinander montiert, exemplarisch wie doch auch allgemein gültig.

Weitere Szene aus „Der Wij“. (Foto: Fabian Hammerl/Ruhrfestspiele)

Conferencier

Und dann tritt wirklich ein Wij auf, ein alberner, eitler Conferencier im garstigem Wij-Kostüm, der den Krieg in Shownummern präsentiert und das Publikum zum lachen auffordert, was erwartungsgemäß mißlingt. Lange hat er eine Sonnenbrille auf, doch auch wenn er sie für seinen Auftritt absetzt, ist sein Blick belanglos. Der wirkliche Wij ist der Krieg, und das ist ein weiterer Beweis dafür.

Wenig Erkenntnisgewinn

Sehr viel mehr Erkenntnisgewinn gibt es dann aber auch nicht. Die Schlußphase des Stücks gehört dem Menschenbündel, das wieder etwas zu Kräften gekommen ist und einen wütenden Monolog über seine hoffnungslose Situation hält. Genauer gesagt ist es eine kleine Reihung von Monologen, ausgelöst immer wieder durch Handyanrufe (der Soldat hatte fünf Handys bei sich, als er gefangen wurde). Er ist genau so ein armes Schwein wie die, die ihn zusammenschlugen, ein junger Mensch, gedrillt und in den Krieg getrieben, ganz ohne despektierliche Konnotation ein Opfer. Was auch sonst?

Gute Darsteller, gute Ausstattung

In der Darbietung unterschiedlichster Kriegsgreuel ist das Stück eine Fleißarbeit. Doch von der Schrecklichkeit der Dinge muß im Theater wohl niemand überzeugt werden. Entwicklung von Ereignissen und Personen findet nicht statt, erregte Momentaufnahmen reihen sich, was das Zuschauen zwei Stunden lang anstrengend macht, trotz guter darstellerischer Leistungen.

Es spielen Filipp Avdeev, Bernd Grawert, Johannes Hegemann, Pascal Houdus, Viktoria Miroshnichenko, Falk Rockstroh, Rosa Thormeyer und Oleksandr Yatsenko, Deutsche, Russen und Ukrainer, überwiegend in deutscher Sprache. Eindrucksvoll in ihrer qualvoll-aussichtslosen Kellerenge geriet die naturalistische Ausstattung, für die neben Serebrennikov (Bühne, Kostüme) auch Elena Bulochnikova (Kostüme) und Evgeny Kulagin (Lichtdesign) verantwortlich zeichneten. Das Publikum dankte den Künstlern mit reichem Applaus.

www.ruhrfestspiele.de




Unterm Baum ist alles möglich: Tschechows „Möwe“ an der Berliner Schaubühne

„Die Möwe“: Szene aus Thomas Ostermeiers Inszenierung mit Stephanie Eidt und Joachim Meyerhoff. (Foto: Gianmarco Bresadola / Schaubühne)

Welch grandioser Anblick! Eine gigantischer Baum steht wuchtig auf der Spielfläche und ragt in den Bühnenhimmel. Die Äste schwingen weit in den Raum hinein, die raschelnden Blätter schweben über den Köpfen des Publikums. Tribünen umzingeln den romantisch-verwunschenen Ort, an dem alles möglich scheint: Liebe und Hass, Neid und Eifersucht und natürlich der ewige Streit zwischen den Geschlechtern, der Kampf zwischen alt und jung, konventioneller Kunst und revolutionärem Aufbruch.

Hier, wo die Vögel fröhlich zwitschern, lässt es sich wunderbar verweilen und träumen, hier, wo die Sonne alles in mildes Licht tauscht, kann man sich verlieben und trennen, beleidigen und wieder versöhnen. Plötzlich zerreisst das grollende Donnern eines Kampfjets den weltflüchtigen Scheinfrieden, lässt das ritualisierte Gerede über neue Formen in der Kunst verstummen, die Gefühlswallungen der Liebenden erstarren. Ein kurzer, irritierender Moment. Dann geht alles wieder seinen gewohnten Gang. Würde nicht der unter emotionalem und intellektuellem Dauerdruck stehende Dichter Konstantin sich eine Kugel in den Kopf schießen, könnte das Leben sogar gut und schön sein.

Thomas Ostermeier inszeniert Tschechows „Die Möwe“ an der Berliner Schaubühne als luftig-verspielten, manchmal sogar komischen Sommernachtstraum. Zwar orientieren sich Handlung und Text weitergehend an Tschechows Text. Doch die Schauspieler dürfen sich ihren eigenen Reim machen und sich ihre Rollen nach Gusto zurechtbiegen. Vor allem Joachim Meyerhoff nutzt die Freiheit und zeichnet mit feiner Ironie und fahrigen Gesten einen schnoddrigen und zynischen, mit sich selbst und der Welt hadernden Großdichter Trigorin. Meyerhoff, im Nebenbenberuf selbst erfolgreicher Schriftsteller, kennt die Nöte eines Autors, den es an den Schreibtisch drängt und der vor Schreibdruck kaum je zum eigenen Erleben kommt, nur zu gut. Ständig fummelt er mit losen Zetteln herum, auf denen er alles, was er sieht und hört, notiert. Seine unterwürfige Liebe zur überdrehten Schauspiel-Diva Arkadina (Stephanie Eidt) oder seine romantisch verklärte Affäre mit Nina (Alina Vimbai Strähler), die gern so frei wäre wie die Möwe im esoterischen Text des frustrierten Bühnen-Brausekopfs Konstantin (Laurenz Laufenberg): Alles ist für Trigorin nur Material für mögliche neue Erzählungen und Theaterstücke.

Ob Meyerhoff in hautenger Unterhose halbnackt zum See watschelt, um zu angeln, oder ob er sich literweise Bier in die vom rhetorischen Firlefanz ausgetrocknete Kehle schüttet: Alles gerät ihm zur urkomischen und zugleich tragischen Slapsticknummer der Vergeblichkeit. Neben seiner raumgreifenden Präsenz und sprachlichen Raffinesse wirken alle anderen wie Statisten, unfertige Figuren, die um ihre Daseinsberechtigung kämpfen und sich in zu kurz gesprungene Klischees flüchten.

Landhausbesitzer Sorin (Thomas Bading) ist ein zittrig-zeternder, lächerlicher Greis, der den verpassten Chancen seines langweiligen Lebens nachtrauert. Gutsverwalter Schamrajew (David Ruland) poltert mit Berliner Schnauze und blutbeschmiertem Schlachtermesser durchs kunstsinnige Getriebe. Die immer ganz in schwarz gekleidete Mascha (Hevin Tekin) ist ein trauriger Punk mit Null-Bock-Allüren. Warum auch nicht. Unter dem schützenden Dach des riesigen Baumes und seines üppig wuchernden Blätterwaldes ist alles möglich.

„Die Möwe“, die nächsten Vorstellungen am 18., 19., 20. und 21. Mai, Berlin, Schaubühne. Tickets unter 030/89 00 23, ticket@schaubuehne.de




Buch der Enttäuschungen – Arnold Stadlers Roman „Irgendwo. Aber am Meer“

Ein Schriftsteller erzählt von seiner edel gerahmten Diskussions-Teilnahme auf Schloss Sayn im Westerwald. Dort hat doch tatsächlich jemand aus dem Publikum gerufen, er sei ein „Alter weißer Mann“ und sondere gestriges Geschwätz ab. Das muss man sich mal vorstellen.

Im Ernst: Der Zwischenruf löst beim Autor schier endlose Reflexionen voller Selbstzweifel aus. Wer will ihn überhaupt noch lesen und hören? Hätte das Publikum lieber Greta Thunberg als ihn erlebt? Ist er denn aus der Zeit gefallen? Tja, das sind Fragen. Und die Leserschaft darf mal wieder an den speziellen Problemen eines beruflich Schreibenden teilnehmen. Da möchte man gern auf Max Goldt zurückkommen, der den herrlichen Vergleich von allzeit gängigen „Künstlerfreundschaften“ mit bislang niemals gewürdigten „Elektriker-Freundschaften“ ersonnen hat.

Arnold Stadler (Jahrgang 1954) legt mit „Irgendwo. Aber am Meer“ ein Buch der Enttäuschungen vor, eine Ich-Beschau des Autors als alternder Mann. Der im Spätherbst des Lebens angelangte Schriftsteller fährt, wie er einige Male betont, einen Dacia Diesel und darf damit wohl (im Urteil der geistlosen Mitwelt, aber auch nach seiner eigenen Befürchtung) als „Loser“ gelten, der nicht allzu „finanzfrisch“ ist, sprich: eher Schulden als Rücklagen angehäuft hat.

Auf seiner Bahn-Heimfahrt von Sayn nach Tuttlingen (immerzu vielsagend kurzgeschlossen mit der dort angesiedelten Erzählung „Kannitverstan“ von Johann Peter Hebel) geht einiges schief. Das platte Land ist halt verkehrstechnisch „abgehängt“. Zu allem Überfluss ist der Handy-Akku leer, desgleichen die Autobatterie, als der Autor am Zielbahnhof einsteigen und losfahren will. Bei derlei Unbill kommen hier ziemlich schnell Todesgedanken auf. Wenn es erst einmal abwärts zu gehen scheint…

Kurz darauf (mit besagtem Dacia) der Aufbruch gen Ithaka – ein Ziel, das der Erzähler noch nie erreicht hat und auch diesmal nicht erreichen wird, eventuell auch gar nicht erreichen will. Man denkt dabei vielleicht an die immer neuen, vergeblichen Anläufe des Sisyphos. Der in Latein und Altgriechisch bewanderte Stadler aber denkt an die Irrfahrten des Odysseus und an die ebenso sprichwörtlichen Pyrrhos-Siege, die sich als verkappte Niederlagen erweisen. Wie denn überhaupt antikes Bildungsgut die Wege säumt.

Freilich wird das Lamento bei der Suche nach einem Ort in der Welt auch mit Selbstironie gewürzt. Das erzählende Ich berichtet, es sei schon öfter „Hallodri“ oder auch „Schwadroneur“ genannt worden, macht sich aber nicht allzu viel daraus. Dieses Ich hat sich in einer doch recht komfortablen Außenseiterrolle jenseits des Tagesgeschreis eingerichtet und sagt sich, dass so viele nicht ihr eigenes Leben führen, sondern eines, wie es erwartet wird. Das schmeckt nach Wahrheit.

Aber nicht nur das Ich ergießt sich in mäandernder Suada, auch missliche Weltzustände kommen hervor, die einen durchaus resignieren lassen können. Auf der Textstrecke flottieren die Assoziationen frank und frei – von tagespolitischen Blitzlichtern und Melina Mercouris nostalgischem Schlager „Ein Schiff wird kommen“ (auch von vielen anderen gesungen, darunter Caterina Valente und Lale Andersen) über den legendären griechischen Milliardär Aristoteles Onassis (nebst Jackie Kennedy und Maria Callas) bis hin zu Sartre und Heidegger, Rudolph Moshammer und John Lennon. Um nur einige Beispiele zu nennen. Eine bunte Mixtur, fürwahr. Trotz solcher Wechselspiele wirkt der Duktus des Romans hin und wieder redundant und zuweilen etwas in sich selbst versponnen. Schon der Titel scheint ja zwischen Unschlüssigkeit und Entschiedenheit zu oszillieren.

Sodann die finale Schiffsfahrt über die Adria nach Triest. Schon zu Beginn war die Rede von einer Reise zum Kilimandscharo. Dieser Roman handelt jedoch ebenso sehr vom Bleiben und Beharren wie vom Unterwegssein und von Veränderung. Und immer wieder vom Allbezwinger Tod. Bereits 1996 war Arnold Stadlers auch hier wieder erwähntes Buch mit dem unvergesslichen Titel erschienen: „Der Tod und ich, wir zwei“.

Nun dieses bilanzierende Zitat gegen Schluss: „Ach! All meine Straßen und Wege und Holzwege. Doch war mein Leben nicht auch so etwas Schönes? Schön, weil es wahr war? Und wahr, weil es schön war trotz allem?“ So werden Resignation und Melancholie von der Abendsonne vergoldet. Irgendwie. Aber am Meer.

Arnold Stadler: „Irgendwo. Aber am Meer“. Roman. S. Fischer Verlag. 224 Seiten, 24 Euro.

 




Das Volk leidet – „Pah-Lak“ beschreibt bei den Ruhrfestspielen tief bewegend die brutale Unterdrückung Tibets

Um Tibet ist es still geworden. Der Dalai Lama lebt in Indien und war schon lange nicht mehr im Fernsehen zu sehen, von Bemühungen der Volksrepublik China, das Land nunmehr mit geduldiger Überzeugungsarbeit für sich zu gewinnen, hört man aber auch nichts. Brutaler Anschluß bleibt das Mittel der Wahl; und als westlicher Nachrichtenkonsument hat man Tibet innerlich ja schon abgehakt, Hong Kong ebenso, nur ab und zu schaut man nach Taiwan – der Zynismus des real Existierenden.

Die junge Nonne Deshar (Kalsang Dolma). (Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrfestspiele)

Doch die Zeit macht aus Unrecht nicht Recht, die Wunde schärt. Was man nicht verändern kann, muß deshalb wenigstens erzählt werden. „Pah-Lak“ („Vater“) heißt das Stück des Autors Abhishek Majumdar, das uns exemplarisch etwas von tibetanischer Realität näherbringt und das jetzt bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen zu sehen war.

Politische Manifestation

„Pah-Lak“, ein Stück, das ausschließlich von tibetischen Darstellerinnen und Darstellern gespielt wird, entstand in Zusammenarbeit mit dem Tibet Theatre und dem Tibetan Institute of Performing Arts Dharamsala (Indien), auch die Tibet Initiative Deutschland und die Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft GSTF weisen auf ihr Mitwirken hin. Eine solche Kooperation legt natürlich nahe, über Politik, über Tibet und China, über Folter, Völker- und Menschenrechte ganz generell zu reden, statt lediglich über ein Bühnenwerk. Im nachfolgenden Publikumsgespräch geschah dies auch. Doch bleiben wir in dieser Besprechung beim Stück, so weit die Dinge überhaupt klar zu trennen sind.

Nonne Deshar (Kalsang Dolma, Mitte) in heftiger Diskussion mit dem chinesischen Polizeioffizier Deng (Lhakpa Tsering, links).

Nonne Deshar (Kalsang Dolma, Mitte) in heftiger Diskussion mit dem chinesischen Polizeioffizier Deng (Lhakpa Tsering, links). Rechts der Büttel Gaphel (Tenzin Lhundup), ein Tibeter, der sich den Chinesen angedient hat. (Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrfestspiele)

Umerziehung

Die Eisenbahn bringt chinesisches Militär zum Kloster, die Umerziehung der Tibeter und insbesondere des widerspenstigen Klosterpersonals muß energisch vorangetrieben werden. Polizeioffizier Deng (Lhakpa Tsering) führt eine heftige, harte Diskussion mit dem Abt, dem Rinpoche des Klosters (Tsering Dorjee Bawa), in dem er dem Kloster die Existenzberechtigung rundweg abspricht; seit Jahrhunderten lebe es auf Kosten des Volkes. Zusätzliche Dramatik erhält die Geschichte durch eine Selbstverteidigungsaktion der jungen tibetischen Nonne Deshar (Kalsang Dolma). Einem chinesischen Soldaten hat sie im Streit den Kiefer gebrochen und einen Zahn ausgeschlagen. Deshalb muß sie verschwinden. Die Chinesen wollen sie zur Terroristin stilisieren, die der Dalai Lama geschickt hat. Auch unter Folter gesteht Deshar nichts. Aber sie bietet ihr Leben an, zum Wohl der anderen.

Friedliche Konzepte fruchten nicht

Tibeter werden gefoltert, das Kloster wird dem Erdboden gleichgemacht, nichts anderes konnte man erwarten. Friedliche buddhistische Konzepte des Verzeihens, der Exkulpierung des feindlichen Gegenübers, der Nächstenliebe letztlich, fruchten nicht. Deshars Versuch der Selbstverbrennung soll Heil bringen und läßt sie mit schlimmen Verletzungen überleben. Doch fällt es schwer, im Akt der Selbstverbrennung mehr als eine Verzweiflungstat zu sehen, auch wenn dieses Stück mit seiner buddhistisch-gewaltfreien Grundierung ihn in seiner symbolischen, quasi-religiösen Bedeutung stark überhöht. (Untertitel des Stücks: „Den Opfern der Selbstverbrennungen gewidmet“.)

Nonne Deshar, von der mißlungenen Selbstverbrennung schwer gezeichnet, auf dem Foltersuhl (Mitte). (Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrfestspiele)

Naturalismus

Abgesehen von zwei Musikanten am Rand der Szene, die mit einer Trommel und landestypischen Perkussions-instrumenten den dramatischen Gang des Geschehens sehr schön untermalen, findet auf der Bühne ein recht nüchternes, naturalistisch gehaltenes (ein Kollege nannte es durchaus zutreffend „europäisches“) Theaterstück statt, das klar die Rollen zuweist und sich mit Nuancen in der Figurenzeichnung nicht lange aufhält. Sie wären in gewisser Weise auch kontraproduktiv, weil die Geschichte sich im weiteren Handlungsverlauf weg von der politischen Zustandsbeschreibung hin zur fraglos auch allegorisch gemeinten Schilderung tragischer Vater-Tochter-Beziehungen bewegt.

Töchter und Väter

In dieser Schilderung ist Nonne Deshar die theologische Tochter des Rinpoche wie auch die biologische des Widerstandskämpfers und Lehrers Tsering (Tenzin Wangchuk), beide haben nicht unbegründete Angst, sie zu verlieren. Aber auch der chinesische Kommandant Deng hat eine Tochter, und die kommt bei einem Attentat ums Leben. Wohin mit dem Schmerz? Wer hat die Schuld? Schafft es Erleichterung, weitere Leben auszulöschen? Politisches Unrecht und persönliches Leid vermischen sich untrennbar, und diese religiös ansetzende, gleichermaßen jedoch illusionslos ablaufende Beschreibung der Verhältnisse macht zu einem Gutteil die tragische Qualität des Stückes aus.

Bereicherung des Festspielprogramms

„Pah Lak“ wurde auch schon in englischer Sprache inszeniert; für Recklinghausen, so ist zu lesen, entschied man sich jedoch für das Tibetische. Kaum möglich sei es, die Texte ins Deutsche zu übertragen, ist zu hören. Das will sein, auf jeden Fall hätte es eine Menge Aufwand bedeutet. Und die deutschsprachigen, über der Bühne projizierten Übersetzungen liefen untadelig. Reicher Applaus für das Stück, für die tibetanischen Künstler und Künstlerinnen und gewiß auch für den Mut, dieses Stück nach Recklinghausen geholt zu haben.

www.ruhrfestspiele.de




Mord als schrecklich groteskes Kinderspiel – Shakespeares „Macbeth“ in Bochum

Wenn’s zum Schwur kommt: „Macbeth“-Szene mit gezückten Messern im Becken – mit (v. li.) Marina Galic, Jens Harzer und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Hat dieser Mann, Macbeth heißt er, erst einmal den grundsätzlichen Entschluss gefasst und einmal einen Mord begangen, so tötet es sich hernach furchtbar leicht. Einfach das Messer angesetzt und zugestochen. Dann wird noch demonstrativ eine Portion Theaterblut angerührt und über Mörder wie Leiche gegossen – und fertig. Gedanke und Tat folgen dann immer schneller aufeinander. Es ist fast wie ein Kinderspiel. Oder eben wie Theater.

Intendant Johan Simons hat Shakespeares blutrünstiges Drama „Macbeth“ auf die Bühne des Bochumer Schauspielhauses gebracht. Gar oft ist die Premiere verschoben worden, nahezu gefühlte zwei Jahre lang (hab’s nicht eigens nachgerechnet), gewiss nicht nur wegen der Corona-Pandemie. Nein, Simons und sein Team haben offenkundig mit diesem kaum auszulotenden, schwerlich auszuschöpfenden Stück gerungen, sie haben es wohl noch und noch von immer wieder anderen Seiten her betrachtet, um eine Form zu finden. Womöglich war es ein Prozess, der zur Entschlackung und zu einer Art Minimalismus geführt hat. Es ist nun, als wäre es ein Konzentrat geworden, das jedoch an manchen Rändern leichthin in Anflüge von Clownerie „ausfranst“ und neben dem Schrecklichen auch das Groteske aufruft. Nun gut, das Publikum will unterhalten und nicht nur entsetzt werden. Trotzdem ist es – alles in allem – eine Inszenierung, die einem nachgeht.

Den Text auf nur drei Figuren verteilt

Die Bühne (Nadja Sofie Eller) ist weitgehend leer, bis auf ein gekacheltes Becken. Eine unwirtliche Welt. Ganz hinten findet sich eine große Bild- und Videowand, die nur von Zeit zu Zeit sichtbar wird. Gespielt wird die Übersetzung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch, über der Szenerie läuft Shakespeares genialer englischer Originaltext synchron mit – eine eigentlich willkommene Dienstleistung, auf die man sich jedoch kaum konzentrieren kann, weil die Darstellenden sofort alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Fast wie ein Herz und eine Seele: weitere Dreier-Szene mit (v. li.) Marina Galic, Jens Harzer und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Es sind nur drei, auf die sich die Textmenge aller wesentlichen Figuren verteilt. Anfangs mag das etwas verwirrend sein: Wer ist er oder sie denn jetzt schon wieder? Doch es tritt rasch Gewöhnung ein. Entweder hilft die namentliche Anrede, oder einfache Gesten wie das Auf- und Absetzen der Krone markieren die Person, mit der wir es gerade zu tun haben. Es geht ja auch nicht so sehr um abgrenzbare Individuen, sondern ums große Ganze der Zustände. Bei all dem kommt die Aufführung mit sehr wenigen Zeichen und Symbolen aus. Krone und (schottische) Fahne, das wär’s beinahe schon.

Die Hexen sind eigentlich immer dabei

Die drei multiplen Gestalten gehen aus der anfänglichen Szene mit den drei berühmt-berüchtigten Hexen hervor, die Macbeth jene vieldeutigen Prophezeiungen einflüstern, denen er nach gehabtem Schlachten-Glück die kommende Königswürde entnehmen könnte, die jedoch auf vertrackte Art auch den Nachkommen seines Kampfgenossen Banquo zufallen soll. Höllischer Zwiespalt! Ihn nutzt seine Frau, Lady Macbeth, um dem Manne die Mordlust einzuimpfen, geradezu schmackhaft zu machen. Erst den regierenden König Duncan gemeuchelt, sodann alle anderen, die irgendwie im Wege stehen oder auch nur hinderlich zu sein scheinen. Doch es nützt nichts. Wieder tritt eine rätselhaft doppeldeutige Prophezeiung ein…

Sie müssen natürlich spätestens jetzt genannt werden: Jens Harzer ist zunächst eine der Hexen, fortan Macbeth, Duncan, Malcolm und ein Mörder. Marina Galic ist ebenfalls eine Hexe, aus der abwechselnd Lady Macbeth, Banquo, Macduff, Lady Macduff und deren Sohn hervorgehen. Stefan Hunstein schließlich ist und bleibt „Hexe“, sprich: eines jener Geistwesen, das in den Menschen wütet. Das wiederum bedeutet: Die Hexen sind eigentlich immer dabei, vom Anfang bis zum bitteren Ende. Sie sind in Hirne und Seelen der Handelnden gefahren und weichen nimmermehr. Das Böse und die Unnatur sind nun einmal in der Welt.

Plötzlich die Frage: „Und wenn das schiefgeht?“

Auch sitzen und lauern die Mordgelüste schon in den Menschen, Macbeth kommt schließlich aus einem Krieg, in dem er sich bereits durch diabolische Grausamkeit „ausgezeichnet“ hat. Im trügerischen Frieden schreckt er zu Beginn noch vor Einzelmorden zurück, doch das gibt sich bald. Gewaltsame Gelüste müssen nur noch hervorgekitzelt und mit tätiger, doch eher passiver, geschehen lassender Hexen-Mithilfe ausgeführt werden. So vollführt Stefan Hunstein Mordtaten gleichsam als Pantomime mit. Es gibt etliche Szenen, in denen ausgiebig posiert wird und sich die Darstellung in wortlose „Choreographien“ verlegt – bis an den Rand des Plakativen. Andererseits zeigt sich vielfach, dass das Mörderische auch in der Sprache wurzelt. Gewalt ist nicht zuletzt ein „Sprach-Ding“.

Mordgelüste bis zum Slapstick: Szene mit (v. li.) Jens Harzer, Marina Galic und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Das großartige, durchweg gleichwertig ausbalancierte Schauspiel-Trio hält das Geschehen in der Schwebe oder im steten Wechsel zwischen Schauder und Groteske, punktuell werden auch ästhetische Mittel des Horrorfilms nicht gescheut. Überhaupt bewegt sich die Inszenierung zuweilen ganz stil- und formbewusst an einer bloßen Oberfläche, die allerdings schon genug Schrecken bereithält.

Zwischendurch treten die Drei öfter kurz aus ihren eh schon zersplitterten Rollen heraus und schauen verwundert auf sich selbst. Dann klingt es reichlich naiv und kindlich hilflos, wenn etwa Macbeth auf einmal vor der Untat Bedenken äußert: „Und wenn das schiefgeht?“ Auch gibt es Passagen, in denen Jens Harzer als Macbeth in eine Art Polit-Gelaber oder gefälliges Parlando verfällt, hinter dem die Morde quasi verschwinden sollen. Hat nicht seine Lady gesagt, er solle sich nichts draus machen und kein schlechtes Gewissen haben, sondern seine tyrannische Machtfülle lustvoll genießen? Hat sie ihn nicht auch mit sexueller Gier und Gunst ins irgendwann Unvermeidliche getrieben? Dazu wird zwischendurch auch schon mal eine Platte mit dem brünstigen Stöhn-Song „Je t’aime – moi non plus“ aufgelegt. Sex und Macht – ein weites Feld der Wechselwirkungen.

Ausblick auf eine Welt ohne Menschen

All das könnte schiere Einbildung sein und sich im Inneren eines mörderischen Hirns abspielen – mitsamt dem Geist des ermordeten Banquo, der Macbeth so schauderhaft erscheint. Ist vielleicht alles ein von den Hexen ins Werk gesetztes (oder auch nur amüsiert beobachtetes), blutiges Spiel der Sinnlosigkeit? Sogar die Massenmorde des 20. Jahrhunderts könnten schon gemeint sein, denn wenn einmal die Schranken des Gewissens gefallen sind, dann ist alles möglich. Shakespeare hat denn auch Sätze geschrieben, bei denen man zutiefst erschrickt; Sätze, die bereits mitten ins erkaltete Herz des Nihilismus führen, die manches an Dostojewski, Kafka oder Beckett vorwegnehmen. Das Bochumer Programmheft zitiert derweil Leute wie den Rapper Eminem und den Horror-Autor Stephen King. Das ganze Spektrum soll es sein.

Ins Allgemeine und Apokalyptische greift eine Videoeinspielung gegen Schluss. Wir haben erfahren müssen, dass auch der nächste Herrscher nach dem Tod von Macbeth seinen geköpften Widersacher kannibalisch fressen will. Und immer so weiter. Das Elend der grenzenlosen Gewalt hört nie auf. Selbst der monströse Macbeth war nur ein Beispiel von vielen. Und nun sind auf der Videowand Käfer und Raupen zu sehen. Vermeintlich niederes Getier. Einfach so. Nicht allzu fern liegender Gedanke: Es sind Geschöpfe, die nach dem Ende der Menschheit überleben und auf ihre Art weitermachen werden.

Der Rest ist Schweigen. Und Finsternis.

Riesenbeifall für alle Beteiligten, sodann stehende Ovationen. In Bochum wissen sie halt immer noch, was sie an ihrem Schauspiel haben.

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Die nächsten Vorstellungen: 13. Mai, 2., 11. und 14. Juni.

www.schauspielhausbochum.de

 

 

 




Christoph Hein findet „Unterm Staub der Zeit“ Absurdes aus dem Kalten Krieg

Als Sohn eines Pfarrers wird dem vierzehnjährigen Daniel in der DDR Oberschule und Abitur verweigert. Wie schon sein älterer Bruder David, so wird 1958 auch Daniel von seinem Vater nach Westberlin geschleust, um dort in einem Schülerheim zu wohnen und das Gymnasium zu besuchen. Die Grenze zwischen Ost und West wird zwar bewacht, die Kontrollen sind lästig, aber noch ist es möglich, mit kleinem Gepäck und kleinen Lügen zwischen den politischen Blöcken hin und her zu pendeln.

Daniel wird sich schnell einleben in der ihm zunächst fremd erscheinenden Welt des kapitalistischen Westens. Mit seinen Mitschülern, die alle aus der DDR stammen und nur gelegentlich ihre Eltern im Osten besuchen können, erkundet er die Stadt, verdient sich als Zeitungsverkäufer ein Zubrot und gönnt sich in einer Billig-Kneipe am Kurfürstendamm auch mal eine Erbsensuppe und ein fades Bier. Wenn der amerikanisch Prediger Billy Graham die Massen verzückt, hört er aufmerksam zu, wenn Rock-Ikone Bill Haley den Sportpalast zum Kochen bringt, tanzt er mit.

Für den pubertierenden Jungen, der wenig von den Frauen und nichts von Sex, aber viel von Kunst und Literatur versteht, vergehen die Tage wie im Flug. Gern taucht er ab in die Welt seiner Romanhelden, manchmal feilt er auch an eigenen Theatertexten und schleicht sich in die Proben in der „Vagantenbühne“, ist fasziniert von den existenzialistischen Stücken, die man dort spielt, und ganz verzaubert von einer jungen Schauspielerin, die ihn mit auf ihr Zimmer nimmt und in die Kunst der Liebe einführt. Die große Politik scheint fern. Doch die Idylle ist brüchig. Als er gerade die Sommerferien bei seinen Eltern im Osten verbringt, wird Berlin abgeriegelt und die Mauer hochgezogen. Was tun? Schnell noch ein letztes Schlupfloch in den Westen suchen oder bleiben und ein neues, anderes Leben beginnen?

 „Unterm Staub der Zeit“ findet Christoph Hein manch bizarre Erinnerung an eine Jugend in Zeiten des Kaltes Krieges. Wer Leben und Werk des Autors kennt, merkt schnell, dass der neue Roman in weiten Teilen autobiografisch grundiert ist. Denn Hein, der 1944 im schlesischen Heinzendorf geboren wurde und nach Kriegsende in Bad Düben bei Leipzig aufwuchs, blickt auf einen ähnlichen Werdegang wie seine Roman-Figur Daniel zurück. Auch Hein wurde als Sohn eines Pfarrers in der DDR eine höhere Schulbildung verwehrt, er besuchte ein Gymnasium in Westberlin, wurde vom Bau der Mauer kalt erwischt, entschied sich, wie Daniel, für die DDR und begann, wie Daniel, eine Ausbildung als Buchhändler. Dass er später zum Schriftsteller avancierte und eine Zeitlang als Autor und Dramaturg an der Ostberliner Volksbühne tätig war, davon erzählt Hein in seinem autofiktionalen Roman (noch) nicht. Vielleicht beim nächsten Mal?

Die zwischen privaten Erlebnissen und politischen Erfahrungen klug balancierende Stofffülle ist auch genug für ein Buch und muss, um nicht auszuufern, verdichtet werden. Ohne in einen erklärenden oder belehrenden, larmoyanten oder zynischen Ton zu verfallen, erzählt Hein feinfühlig genau und oft mit feinem Humor, welche absurden Folgen die deutsch-deutsche Teilung für den Alltag der Menschen hatte. Aber auch, dass es immer irgendwie weitergeht; dass man als Lehrling in einer Buchhandlung überwintern kann, bis der richtige Moment kommt, um endlich Schriftsteller zu werden und eine ganz andere Geschichte anzufangen.

Christoph Hein: „Unterm Staub der Zeit“. Roman. Suhrkamp, Berlin. 224 Seiten, 24 Euro.




Mit Hopfen und Malz ins Operettenglück: Ausflug zu einer ungewöhnlichen Novität in Mecklenburg

In Daniel Behles neuer Operette am Landestheater Neustrelitz siegen am Ende die Liebe – und das Bier! (Foto: Theresa Lange)

Die Operette ist tot? Nö, sie könnte vor Lebensfreude sprühen, aber sie wird seit Jahren ausgehungert. In Neustrelitz ist jetzt eine nagelneue Operette zu sehen. Ihr Thema: das Bier. Also auf zu einem Ausflug nach Mecklenburg.

Die arme Operette. Sie ist ein Opfer von Sparwut, die Operettenensembles abgebaut hat, von Intendanten, die sie aus den Spielplänen tilgen, von mahlerisiert ehrgeizigen Generalmusikdirektoren, die sie höchstens als Metier ihrer stabwedelnden Unteroffiziere geringschätzen, und von humorlosen Regisseuren. Was die schlampige Routine der siebziger und achtziger Jahre nicht umgebracht hat, erledigen Darsteller, die sie vibratosatt zur „kleinen Oper“ entstellen oder mit Musicalgequäke hinrichten. Das Publikum wurde dabei selten gefragt, es durfte nach und nach still aussterben. Auch ein Barrie Kosky – einer der wenigen, die nicht bloß mit warmen Worten an die Operette glauben – kann nur Leuchtfeuer entzünden. In die Fläche strahlen die aber eher punktuell. Das Elend der Gattung ist ja selbst an Häusern, die sich dem „Unterhaltungs“-Theater widmen sollten, unübersehbar.

Zu viel Schaum würden den Genuss mindern

Es gehört also einiges dazu, wenn ein Tenor zum Notenprogramm greift und eine nagelneue Operette komponiert. Daniel Behle hat es gewagt und sein „Kind“ sogar zur Uraufführung bringen können. Im Januar 2023 erschien „Hopfen und Malz“ an einem jener ein bisschen aus der Zeit gefallenen Häuser, an denen Operette noch geschätzt und gepflegt wird: Das Stück über einen skurrilen Bier-Krieg zwischen zwei norddeutschen Dörfern hatte in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge Premiere und wird nun – was selbst für spannende neue Opern nicht so einfach ist – in Neustrelitz nachgespielt. Weitere Inszenierungen sind geplant, deutet Behle in einem Interview an. Keine schlechte Bilanz für ein Exponat einer für tot erklärten Gattung!

Das Landestheater Neustrelitz, ein Bau von Max Littmann aus den zwanziger Jahren. (Foto: Werner Häußner)

Also ab ins beschauliche Neustrelitz, das sein Herzogsschloss kurz vor Kriegsende durch einen Brand verloren, aber im Stadtbild klassizistische Eleganz bewahrt hat. Der Zuschauerraum ist gut besetzt. Im Graben lässt die Neubrandenburger Philharmonie unter Dirigent Daniel Klein ruhige, tiefe Streicherklänge gären, aber die Ouvertüre beginnt schnell zu schäumen. Marsch, Walzer, Galopp, beschwipste Tanzrhythmen, dazwischen perlt die Kohlensäure der Chromatik: Daniel Behle blättert schon mal auf, was im Lauf der kommenden zweidreiviertel Stunden musikalisch zu erwarten ist. Angst vor der Melodie hat er in seiner Operette nicht. Und Daniel Klein – ausgebildet an der Folkwang Hochschule in Essen und als Gastkorrepetitor auch mal am Aalto-Theater, in Gelsenkirchen und Hagen gewesen – nimmt diesen kunterbunten Stilmix nicht zu grell, sondern mit gebotener Dosierung und bedachtem Esprit. In der Musik wie beim Bier verhindert zu viel Schaum nämlich den Genuss.

Biergeister in der Wolfsbucht

Und so zieht sich das Thema „Bier“ wie ein goldener Fluss durch die Operette: Bierbrauer Horst Flens aus Ölsum – stimmgewaltig vorgestellt von Ryszard Kalus – gewinnt seit Jahren den regionalen Brauwettbewerb, den das brauende Paar Letty und Max Fisch aus Meersum gerne einmal für sich entscheiden würde. Aber wie? Ein bierkundiger Mönch und seltsame, an singende Bierkrüge erinnernde bayerische Biergeister kommen den beiden entgegen: Mit Hilfe des im protestantischen Norden auf Sündenforschungsreise weilenden Klosterbruders Theophil (Sebastian Naglatzki) und eines geheimnisvollen Rezepts aus dem Kloster Santo Demento brauen sie bei Vollmond in der Wolfsbucht – der Name ist kein Zufall – ein Freibier. Es schmeckt und versiegt obendrein nie. Heißa! Nach operettenüblichen Verwicklungen ist der Sieg der ihrige, am Ende tritt noch Mutter Cerevisia (schaumbekrönt: So Yeon Yang) auf und fordert alle zu „Maßhalten“ auf – oder ist doch eher das Maß Halten gemeint?

Der Mönch und die Brauersleute. (Foto: Theresa Lange)

Daniel Behle hat diesen Bierkrieg durch diverse Nebenhandlungen und -figuren teils unterhaltsam, manchmal aber auch etwas zähflüssig auf abendfüllende Länge gebracht und dazu viel Musik erfunden, deren melodische Stammwürze zu wohligem Genuss durchaus ausreicht. Wie es sich gehört, wird das Orchester nicht unterfordert: Die operettenseligen Rhythmen reihen sich mitunter recht schräg aneinander und Dirigent Klein darf schwungvoll und reaktionsschnell das Ruder herumreißen.

Unbekümmert mischt die Musik bajuwarisch tubasattes Humm-ta-ta mit Ragtime-Schwung aus dem klassischen Musical, fordernde lehareske Operettentenor-Kantilenen mit dem Harmoniegesang aus dem Madrigal. Tänzerische Energie und gleißende Lichtbögen, die von Richard Strauss gespannt sein könnten, verbinden sich mit Korngold’scher Harmoniensüße. Schmeichelmelodik und schmissige Mitsing-Schlager treffen ein bisschen Paul-Abraham-Wehmut, wenn Andrés Felipe Orozco in der Buffo-Partie des Ischias der Freundschaft zu seinem Wanderschafts-Kumpel Klaus nachtrauert. Das ist einer der wenigen Momente des Stücks, der dem Sentiment der Operette zu seinem Recht verhilft.

Wagner dient für Wortwitz

Man hätte sich mehr solcher Momente gewünscht, denn sie hätten den Figuren emotionale Tiefe geben können, die sich in den eher angerissenen als ausgespielten Liebeshändeln nicht einstellt. Wagner dient willig für Wortwitz: Dass die quirlige Senta (auch stimmlich prickelnd, Laura Scherwitzl) sich von ihrem Holländer Bernd (Robert Merwald, sportlich orangefarben) trennt, weil der die See, sie aber die Berge liebt, sorgt kaum für Drama. Und dass sich mit dem Wanderer Klaus prompt ein Operettentenor-Liebeskandidat findet, hat erst in einem fulminanten Duett gegen Ende des dritten Akts musikalische Folgen. Man spürt, dass hier ein Tenor komponiert: Behle gönnt seinem Kollegen die schönsten melodischen Exaltationen. Ein Richard Tauber wäre glücklich damit gewesen, für Bernd Könnes sind sie respektabel bewältigte Herausforderungen.

Frisch ans Werk! Einer der Juroren verkostet das Bier. (Foto: Theresa Lange)

Dazwischen streut Behle Szenen ein, die peripher bleiben und weder Handlung noch Figuren entscheidend weiterführen. So etwa eine für den unglücklichen Meersumer Brauer Max Fisch (Julian Younjin Kim). Dessen Frau Letty hat „schlechte Träume“ wie Klytämnestra und darf eine Ballade von einem geisterhaften Holländer mit Wohnwagen singen, was Anna Matrenina mit Lust am satten Mezzoklang bravourös absolviert. In diesen Szenen zeigt sich, warum die alten Operettenkomponisten wohlbedacht auf geschlossene Nummern gesetzt haben: Behles überquellende melodische Erfindung wäre formal kanalisiert weit wirkungsvoller als in den schnell verrauschenden offenen Episoden. Eine Disziplin, die vielleicht heute als einengend empfunden wird, aber auch dem Libretto von Behle und Alain Claude Sulzer gut getan hätte. Dass darin der Wortwitz eine tragende Rolle spielt, sorgt für heitere Anspielungen („Di quella Biera“ singt einer der Juroren des Wettbewerbs), trägt aber nicht über längere Abschnitte hinweg.

Mag sein, dass auch die kärgliche Ausstattung Sisse Gerd Jørgensens dazu beigetragen hat, dass die Szenen mit Chor und Tanzpaaren der Deutschen Tanzkompanie für eine zündende Operetteninszenierung nur blasse Blasen statt kräftigen Schaum bilden können. In der routiniert aufgestellten Regie von Rolf Heim wäre noch Luft nach oben. Doch der Abend in Neustrelitz hat ein deutliches Plädoyer für die Operette abgegeben: Tot ist die alte Dame noch lange nicht, und wer sie liebt, dem wendet sie ihr jugendfrisches Strahlen zu.

Info: Landestheater Neustrelitz, www.tog.de




Seele der ganzen Region – Fotoschau über Fußball im Ruhrgebiet (verlängert bis 20. Mai ’24)

Typisch Ruhrgebiet? „Schlechter Platz“, aber unbändige Begeisterung (Essen, März 1970). (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Marga Kingler)

Das kann doch wohl kein Zufall sein: Zwischen 1952 und 1957 erreichte die Steinkohleförderung im Revier ihre Gipfelpunkte. Just in dieser Phase machten Ruhrgebietsvereine die deutsche Fußballmeisterschaft hauptsächlich unter sich aus: 1955 war Rot-Weiß Essen an der Reihe, 1956 und 1957 folgte Borussia Dortmund, 1958 schließlich Schalke 04.

Gemeinsame Sache: Heinrich Theodor Grütter (li.), Leiter des Ruhr Museums, und Manuel Neukirchner, Leiter des Deutschen Fußballmuseums, vor dem Plakat der Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

In einer gemeinsamen Ausstellung auf Zeche Zollverein erzählen das dort ansässige Ruhr Museum und das (auch nicht von ungefähr) in Dortmund angesiedelte Deutsche Fußballmuseum die Geschichte(n) des Revierfußballs anhand von 450 prägnanten Fotografien aus etwa 100 Jahren. Die Auswahl war reichlich und dürfte einige Mühe (aber auch Freude) bereitet haben, beherbergt doch das Ruhr Museum unter seinen Millionen Fotografien allein rund 60.000 Fußballmotive – im weiteren Sinne. Denn das Spektrum der Bilder weist über den Fußball hinaus auf den Alltag der Region.

Neben fotografischer Ästhetik geht es vor allem um das Lebensgefühl, das sich im Ruhrgebiet so innig wie kaum irgendwo sonst in Europa mit dem Fußball verknüpft hat. Allenfalls England, bekanntlich das Mutterland dieses Sports, kann da (vorbildlich) mithalten.

Fußballfreunde, Essen, 25. Januar 1967. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Anton Tripp)

In elf Themenbereichen erkundet die vielfältige Schau zumal das oftmals schlichte soziale Umfeld der Fußball-Leidenschaft – bis hin zu in jeder Hinsicht „dreckigen“ Spielen auf Matsch- und Ascheplätzen. Die Fankultur kommt ebenso in Betracht wie Anfänge des Frauenfußballs oder hochartifizielle Aufbereitungen. So ist etwa Andreas Gurskys mittlerweile berühmtes, wandfüllendes Digitalbild der „Gelben Wand“ (Fans auf der Südtribüne des Dortmunder Stadions) zu sehen.

Schmerzlich spürbar werden die Brüche seit den 1950er Jahren. Um den Ausstellungstitel aufzugreifen: Dem Mythos folgte allmählich die Moderne. In der Nachkriegszeit kamen die Spieler noch längst nicht auf die Idee, sich derart PR-gerecht zu stilisieren wie heute. Auch war es undenkbar, dass ein Verein an die Börse gegangen wäre. Und die Spielergehälter lagen etliche Etagen unter den jetzt so wahnwitzigen Summen.

Heinrich Theodor Grütter, Leiter des Ruhr Museums, hält gleichwohl dafür, dass der Ruhrgebiets-Fußball im Bergbau seinen für lange Zeit fruchtbaren Humus gefunden habe. Die Ausstellung im Vorfeld der EM 2024 finde derweil in schicksalhaften Tagen statt: Wird der BVB doch noch Meister, kann Schalke den Abstieg abwenden, hält sich RW Essen in der Dritten Liga? Fragen über Fragen.

Übervolle Hütte: Zuschauer beim Revierderby Schalke 04 gegen Borussia Dortmund in der Glückauf-Kampfbahn, 5. März 1961. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Herribert Konopka)

Eröffnet wird die Schau am kommenden Sonntag (7. Mai) um 18 Uhr – eben dann spielt der BVB ab 17.30 Uhr abermals eine vorentscheidende Partie gegen Wolfsburg. Drum wird keine Dortmunder Kicker-Prominenz im Ruhr Museum erscheinen, wohl aber Dortmunds Oberbürgermeister Westphal. Er wird im Museum ehemaligen Spielern wie Bernard Dietz (MSV Duisburg), Ingo Anderbrügge (vor allem Schalke) oder Hermann Gerland (Wurzeln beim VfL Bochum) begegnen.

Apropos: Ob die Auswahl der Exponate „Schlagseite“ hin zu Schalke und eher weg vom BVB zeigt, mag das Publikum aus verschiedenen Perspektiven beurteilen. Womöglich haben die Leute vom Dortmunder Fußballmuseum das Schlimmste verhüten können. Frotzelei beiseite! Fakt ist, dass auch etliche andere Vereine vorkommen, darunter solche, die es längst nicht mehr gibt, die aber einst Legenden hervorgebracht haben. Überhaupt vermittelt die Ausstellung das erhebende Gefühl, dass es im Revier – aller Rivalität zum Trotz – jede Menge Gemeinsamkeiten gibt.

Neben den Fotografien sind nur ganz wenige „Reliquien“ zu sehen, so das Originaltrikot des 54er-Weltmeisters Helmut Rahn. Der Essener, der das entscheidende Tor zum deutschen Sieg über das hochfavorisierte Ungarn erzielte, ist im Schatten der Zeche Zollverein aufgewachsen. So schließt sich ein Kreis.

1. Kreisklasse vor Kulisse des Kraftwerks Springorum, 10. Januar 1973. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Manfred Vollmer)

Ausstellung wird bis zum 20. Mai 2024 verlängert

„Mythos & Moderne. Fußball im Ruhrgebiet“. 8. Mai 2023 bis 4. Februar 2024. bis 20. Mai 2024. Ruhr Museum in der Kohlenwäsche, Zeche Zollverein, Essen, Gelsenkirchener Straße 181, 45309 Essen. Geöffnet Mo-So 10-18 Uhr. Eintritt 10 €, ermäßigt 7 €. Jugendliche unter 18, Schülerinnen, Schüler und Studierende unter 25 freier Eintritt. Katalog mit über 480 Abb. 29,95 Euro.

Ermäßigung auch bei Vorlage einer Dauerkarte eines Ruhrgebiets-Vereins oder eines Tickets des Deutschen Fußballmuseums. Mit Ticket der Essener Schau wiederum gibt’s 20% Nachlass auf den Tageskassen-Eintritt ins Fußballmuseum.

www.ruhrmuseum.de

www.tickets-ruhrmuseum.de

 




Ruhrfestspiele starten mit wütenden Tieren und einer wütenden Eröffnungsrede

Im Wald unter Tieren: Kathryn Hunter als Janina Duszejko (Foto: Marc Brenner/Ruhrfestspiele)

Und dann steht sie da im Scheinwerferlicht, eine zierliche ältere Frau, Holzfällerhemd, Mikrophon in der Hand, und erzählt. Um sie herum herrscht Dunkelheit, in der aber immer wieder auch geheimnisvolle Bewegung, Unheimliches, Schemenhaftes, Geahntes stattfindet. Nur manchmal wird in den folgenden zweieinhalb Stunden Bühnenlicht für kürzere Zeit auch auf Ereignisse fallen, die in Janinas Erzählung – so heißt die ältere Dame – eine Rolle spielen.

Beeindruckende Schauspielerin

Janina Duszejko ist die Hauptfigur im Stück „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ (wörtlich übersetzt: „Zieh deinen Pflug über die Gebeine der Toten“), das die Londoner Theatertruppe Complicité (Regie: Simon McBurney) nach der Romanvorlage von Olga Tokarczuk einrichtete und das, entstanden in einer Koproduktion, die Ruhrfestspiele dieses Jahres eröffnete – in englischer Sprache übrigens.

Obwohl Würdigungen der Mitwirkenden üblicherweise erst am Ende einer Theaterbesprechung auftauchen, soll doch an dieser Stelle schon die Schauspielerin Kathryn Hunter gewürdigt werden, die die Janina in fast pausenloser Bühnenpräsenz gibt und einen unglaublichen Textberg abzuarbeiten hat. Sie tut dies in einem fein angemessenen Erzählton, engagiert, doch nicht zu laut, freundlich zurückhaltend, erklärend, nicht belehrend. In Spielszenen, etwa jener auf einer Polizeiwache, zeigt sie, daß sie auch aufdrehen kann, wenn es die Rolle erfordert. Eine angenehme Darstellerin, eine angenehme Darstellung.

Sterbende Tierverächter

Worum geht es? In dem winterlichen polnischen Dorf nahe der tschechischen Grenze, in dem Janina lebt, kommen Männer qualvoll ums Leben, denen eigen war, daß Tiere für sie nur tot einen Wert hatten. Sie jagten sie mit Gewehren, stellten brutale Fallen auf – und früh schon greift die unheimliche Ahnung, daß immer Tiere beteiligt waren, wenn einer dieser Tierverächter starb. Katze, Kalb und Fuchs und Hase auf dem Rachefeldzug? Am Ende ist es dann doch anders, als lange Zeit vermutet, aber die Geschichte, die Janina und das Buch erzählen, ist mit ihren zahlreichen Verästelungen durchaus (auch) ein würdiger Vertreter jener Literatur, die sich mit Serienmorden befaßt – hier eben mal aus etwas veränderter Perspektive.

Eher Hörspiel als Theatersück

Ein Theaterstück ist aus der Buchvorlage allerdings nicht geworden, bestenfalls ein Hörspiel mit einigen szenischen Einschüben und zugegebenermaßen stimmiger Bühnenausstattung. Kürzer, prägnanter, theatralischer hätte man sich das ganze gewünscht; wenn deutschen Literaturadaptionen im Theater häufig und zu Recht der Vorwurf gemacht wird, sie bedienten sich allzu beliebig aus der Vorlage („Steinbruch“), so ist es hier gerade umgekehrt, klebt die Inszenierung (so man überhaupt von einer durchgängigen Inszenierung reden mag) geradezu an der Literatur, ist sie eher Hörbuch als Theater. Gleichwohl: der Ansatz ist interessant, Kathryn Hunter eine sehr bemerkenswerte Künstlerin und Complicité eine spannende Truppe, von der man zukünftig hoffentlich noch hören wird.

Zum Eröffnungsritual der Ruhrfestspiele gehört neben den zahlreichen Begrüßungen, Glückwünschen und Lobhudeleien von Politik, Gewerkschaften und sponsernder Industrie bekanntlich auch, daß man sich eine Rede halten läßt. In diesem Jahr hielt sie die Autorin Anne Weber, deren aufsehenerregende Biographie der Antifaschistin und Befreiungskämpferin Annette Beaumanoir vor zwei Jahren mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Da konnte man sich was erwarten.

Anne Weber (Foto: Thorsten Greve/Ruhrfestspiele)

Wo ist der Kern der Rede?

Doch ach. Im Rückblick fällt es schwer, einen Kern der Rede auszumachen. Man erlebte einen wütend sich gebenden Vortrag mit viel genderndem Definitionsgehabe zunächst, mit geballter Umweltkatastrophenrhetorik sodann, schließlich mit zahlreichen diesbezüglichen Selbst- und Fremdbezichtigungen.

Da kriegten „reiche Gangster“, die den Planeten ausplünderten, um sodann mit privat finanzierten Raketen auf einen anderen Stern überzusiedeln, ebenso ihr Fett ab wie diejenigen (also wir), die in törichter Leugnung des Apokalyptischen zielstrebig dem Untergang der Menschheit entgegenstrebten. „Erderwärmung und Kapitalismuskälte“ war dabei ein besonders schönes quasi-antagonistisches Sprachbild, unfreiwillig (?) komisch gerieten andere wie jenes von uns selbst, die wir uns „auf fremden Rücken die Taschen füllen“. Diese oft ein wenig hysterioforme Predigt im Zustand der „Dauerwut“ – „Ich brenne aus Wut über mich selbst“ – bot der drastischen Formulierungen etliche mehr, aber genug davon. Freundlichen Beifall gab es reichlich. Doch manch einer im Publikum hatte sich von der Beaumanoir-Biographin mehr erwartet.

 




„Unser Geschäft ist die Fantasie“ – John Irvings Roman „Der letzte Sessellift“

Ob „Garp und wie er die Welt sah“, „Lasst die Bären los!“, „Bis ich dich finde“, „Letzte Nacht in Twisted River“: Alle Romane von John Irving wurden internationale Bestseller, manche auch erfolgreich verfilmt. Für das Drehbuch von „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ bekam Irving sogar einen Oscar. Seine Bücher sind oft viele hundert Seiten stark, auch der neue Roman, „Der letzte Sessellift“, ist mit 1079 Seiten gewichtig.

Irving greift noch einmal in die Trickkiste, entwirft ein üppiges Gesellschaftspanorama der USA, thematisiert die eigene Familiengeschichte und die politischen Abgründe Amerikas, beklagt die Bigotterie eines Landes, das Homosexuelle verfolgt, aber den von kirchlichen Würdenträgern begangenen Kindesmissbrauch vertuscht. Es gibt deftige Erotik, herbe politische Anklagen, bizarre Handlungsfäden, mit denen Irving meisterlich jongliert.

Wieder gibt es klein gewachsene Menschen und lange Passagen über das Ringen, jede Menge Sex, der zu unliebsamen Verletzungen führt, rätselhafte Familien-Verhältnisse und ungeklärte Vaterschaften, starke Frauen und schwache Männer, einen Erzähler, der in New Hampshire aufwächst und viele Jahre nach seinem Erzeuger sucht, also John Irving recht ähnlich ist: auch er ein passionierter Ringer, der mit einer starken, allein erziehenden Mutter aufwuchs und fast fünfzig werden musste, bis er die Identität seines Vaters herausbekam. Doch es gibt diesmal keine Bären, die einem die Hand abbeißen oder die man mit der Bratpfanne in die Flucht schlagen muss: dafür aber ein literarisches Alter Ego, das die USA nicht mehr ertragen kann, die kanadische Staatsbürgerschaft annimmt und – wie Irving – nach Toronto zieht.

Adam Brewster führt uns von seiner Geburt im Jahre 1941 bis in die direkte Gegenwart. Er hat eine kleinwüchsige Mutter, Rachel, genannt Little Ray, die eine erfolgreiche Ski-Läuferin war und bis ins hohe Alter als Ski-Lehrerin arbeitet. Bei einem Ski-Rennen in Aspen, da ist sie gerade einmal 18, lässt sie sich von einem Vierzehnjährigen schwängern. Sie benutzt den Jungen als Samenspender, denn sie ist lesbisch und lebt mit Molly zusammen, einer Pisten-Pflegerin und Ski-Retterin. Um die gesellschaftlich geächtete Beziehung zu kaschieren, heiratet sie pro forma einen Mann, der zu ihr passt: Auch er ist klein und schlüpft gern in Frauenkleider. Adam liebt dieses sensible Wesen abgöttisch. Er liebt auch die Großmutter, die ihm Melvilles „Moby-Dick“ vorliest und in die Geheimnisse der Literatur einweist, den dementen Großvater, der zum Kleinkind mutiert und in Windeln herumläuft. Er liebt Nora, seine lesbische Cousine: zusammen mit „Em“, die sich nur pantomimisch ausdrückt, tritt sie in einem New Yorker Comedy-Club auf, nimmt in ihrem Programm „Zwei Lesben, eine spricht“ die politischen und sexuellen Verirrungen in den Vereinigten Staaten aufs Korn und wird von einem homophoben Zuschauer während der Vorstellung erschossen.

Besonders absurd sind die Reisen, die Adam unternimmt, um seinen Vater kennenzulernen, einen kleinwüchsigen Schauspieler und Drehbuchautor, der in Aspen aufgewachsen ist und immer wieder an den Ort seiner Kindheit und ins Hotel „Jerome“ zurückkehrt. Als Adam im „Jerome“ absteigt, trifft er die Gespenster von Toten wieder, die er als Kind in seinen Alpträumen gesehen hat und die jetzt in der Bar abhängen und Country-Musik hören. Adam hat die Filme seines Vaters studiert, jetzt beschreibt er die Begegnung mit ihm als Drehbuch, mit Regie-Anweisungen, Dialogen, Voice-Over, Musik-Einspielungen: Ganz großes Kino, total abgedreht, allein diese Sequenzen lohnen die Lektüre des Romans, in dem Protagonisten aus dem Sessellift fallen und sich zu Tode stürzen, oder krank, alt und des Lebens überdrüssig nachts in eisiger Kälte auf dem Berg bleiben, sich mit Alkohol betäuben und den Freitod wählen, dann steif gefroren morgens mit dem Sessellift nach unten gebracht werden.

Das alles ist fürchterlich traurig, aber auch ungeheuer komisch. Zur großen Liebe seines Lebens sagt Adam einmal: „Es gibt einen Grund, warum wir Romane schreiben. Das wahre Leben ist zum Kotzen. Unser Geschäft ist die Fantasie.“ Damit ist der Roman so prall gefüllt, dass er fast überläuft.

John Irving: „Der letzte Sessellift“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. Diogenes, Zürich 2023, 1079 Seiten, 36 Euro.

 




Mehr Offenheit war nie: Nam June Paiks Musik-Momente in Dortmund

Bilder und Töne ringsum, erstmals in Deutschland zu erleben: Nam June Paiks „Sistine Chapel“ (Sixtinische Kapelle) in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Musik gehört in den Konzertsaal oder in den Szene-Schuppen, Kunst ins Museum. Wirklich? Solche Zuweisungen gelten schon längst nicht mehr. Einer, der diese und andere Künste schon früh vermischt hat, dass die Sinnfetzen nur so flogen, war der 1956 aus Korea nach Deutschland gekommene Nam June Paik (1932-2006). Von seiner ärmlichen Ankunft zeugt ein ramponierter Koffer mit allerlei Kram von nunmehr musealer Bedeutung.

Das Museum Ostwall im Dortmunder U widmet Paik eine Retrospektive, wie es lange keine mehr gegeben hat, erst recht nicht zu diesem Thema: Sie nimmt mit rund 100 Arbeiten Paiks musikalische Performance-Aktionen in den Blick – und „ins Gehör“. Die Schau „I Expose the Music“ (Ich stelle die Musik aus) empfängt das Publikum mit visuellen Erlebnissen und herausfordernden Klangcollagen, so dass sich am Ende Dankbarkeit einstellt, wenn man in einen meditativen, minimalistischen Zen-Bereich eintritt – gleichfalls ein Wesenskern des Werkes.

Kein Einfall war zu verwegen

Schon seit den frühen 1960ern hat Nam June Paik von Einfällen schier überbordende, oft geradezu „verrückte“ Aktionen ins Werk gesetzt, denen keine Hochkultur heilig war. Der Dortmunder Katalog enthält eine Chronologie solcher Vorführungen. Legendär etwa Paiks Zusammenarbeit mit der klassisch ausgebildeten Cellistin Charlotte Moorman, die dem Instrument mit seiner Hilfe allerlei Wagnisse abgewann. Mal spielte sie nackt, mal stieg sie zwischendurch in einen Wassertank und agierte triefend weiter, mal strich sie mit dem Bogen über Paiks Rücken oder traktierte ein von ihm konstruiertes Zwitterwesen aus Fernseh-Bildschirmen und Cello. Kein Einfall war zu verwegen. Das merkwürdige TV-Cello ist in Dortmund zu sehen.

Charlotte Moorman und Nam June Paik führen „Human Cello“ während John Cages „26’1.1499 for a String Player“ auf – im Café au Go Go, New York, 4. Oktober 1965 (© Nam June Paik Estate, Photograph by Peter Moore; Peter Moore Photography Archive, Charles Deering McCormick Library of Special Collections, Northwestern University Libraries; © Northwestern University)

Paiks Darbietungen gerieten mitunter zu ausgedehnten Gruppen-Ereignissen. Er arbeitete mit Kunstgrößen wie Joseph Beuys und Wolf Vostell oder mit Avantgarde-Komponisten wie John Cage (innig) und Karlheinz Stockhausen (wohl weniger innig). Später, in seiner New Yorker Zeit, bat Paik auch schon mal Rockstars wie Lou Reed oder David Bowie hinzu. Nach Erfahrungen mit dem gestrengen Stockhausen hat sich Paik von der Musik etwas abgewandt und auf Videokunst konzentriert, deren Pionier er geworden ist.

Es ist nicht leicht, derlei fluide Vorgänge für eine museale Präsentation „festzuhalten“, entziehen sie sich doch in ihrer spontanen Flüchtigkeit dem Zugriff. Fotos und Filmschnipsel aus jener Zeit lassen allerdings den ungezügelten Aufbruchsgeist spüren, der dieser Kunst innewohnt. Lebendige Zeitdokumente sind jene Aufnahmen des freudig überraschten und amüsierten Publikums, das anscheinend zu allen denkbaren Experimenten bereit gewesen ist. Mehr Offenheit war nie. Auch heute noch entlocken einem Relikte von Paiks Aktionskunst häufig ein Lächeln. Selten haben radikale Positionen zugleich einen solch entspannten Charme. So wird Paik in der Ausstellung zitiert: „Ich bin genauso ein Clown wie Goethe oder Beethoven.“ Da darf gefeixt werden.

Dortmund erweist sich als guter Ort, um Energien dieser Kunst nach Kräften zu erwecken, befindet sich doch im Eigenbesitz eine umfangreiche Sammlung zur Fluxus-Kunst, der Nam June Paik zugerechnet wird. Allzeit beweglich, allzeit im Fluss, das sind Signaturen dieser eigentlich richtungslosen „Richtung“.

Nam June Paik: „Schallplatten-Schaschlik“, 1963/1980, Museum Ostwall im Dortmunder U (© Nam June Paik Estate / Foto: Jürgen Spiler)

Dem Museum Ostwall gehört z. B. das „Schallplatten-Schaschlik“, ein Klassiker von Paik. Den luftig gestapelten, wie schwerelos schwebenden Platten lassen sich mit einer Tonkopf-Apparatur Sounds entlocken, ebenso wie den Magnetophonstreifen, die schräg gegenüber an einer Wand kleben, als sollten sie ein Straßennetz nachzeichnen. Paik war auch ein Vorläufer des etliche Jahrzehnte später bei DJs üblichen Scratchens („Kratzens“) auf Tonträgern.

Ausufernd muss man sich jene „Sinfonie für 20 Räume“ (1961) vorstellen, deren detaillierte Anweisungen – in Dortmund nahezu wandfüllend gezeigt – eine ganz ungewohnte Art von „Partitur“ ergeben. Im Laufe der Schau sollen vier Künstler(innen) die bislang niemals zum Klingen gebrachte Sinfonie zwar nicht (ur)aufführen, wohl aber performativ auf die Ideenfülle reagieren.

Nicht nur besagte Sinfonie erweist sich als Konzept, das nicht zwingend umgesetzt werden muss, um zu bestehen. Just diese Eigenschaft sorgt dafür, dass Paiks Arbeiten eine lange Haltbarkeit eigen ist. Sie können immerzu variiert werden, auch mit jeweils neuester Technik.

Mit Rudolf Frieling (gebürtiger Münsteraner, am San Francisco Museum of Modern Art wirkend) wurde einer der besten Kenner des Paikschen Werkkosmos‘ als Gastkurator gewonnen, der substanzielle Erkenntnisse über den Künstler beitragen konnte. Die Dortmunder Kuratorinnen Christina Danick und Stefanie Weißhorn-Ponert standen Frieling zur Seite.

Das Unterfangen kulminiert in einer nicht gar so heiligen Halle: Erstmals in Deutschland wird hier die gewaltige Rauminstallation „Sistine Chapel“ (Sixtinische Kapelle, Premiere 1993 im deutschen Pavillon der Venedig-Biennale) gezeigt. Quasi als Erbe Michelangelos hat sich Paik erkühnt, eine Räumlichkeit rundum zu bespielen, also auch Decken-„Gewölbe“ einzubeziehen. Es ist jedoch keine Malerei, sondern eine wahnwitzig vielfältige, per Zufallsgenerator stets wieder anders gesteuerte Bild- und Ton-Mixtur, die aus vielen elektronischen Rohren „abgefeuert“ wird. Wie hieß es doch so ergriffen bei Gottfried Keller: „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält…“

Nam June Paik: „I Expose the Music“. Museum Ostwall im Dortmunder U. Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Noch bis zum 27. August. Geöffnet Di/Mi/Sa/So 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr. Eintritt 9 €, ermäßigt 5 €. Katalog 29,90 Euro.

www.dortmunder-u.de/nam-june-paik

Tel.: 0231 / 50-24723

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ (Münster) erschienen:

www.westfalenspiegel.de