Arbeitsschweiß und Maschinenrhythmus: „Stahlkocher“ als Thema eines Konzerts in Dortmund

Die Torte trägt einen Smoking, ist eingehüllt in Noten und fußt auf einer Klaviertastatur. Damit es endlich weitergeht, betätigt sich Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz ausnahmsweise destruktiv. Messer her, energische Schnitte, und schon landen die ersten saftigen Schokoladenkuchenstücke auf den Tellern.

Dortmunds GMD Gabriel Feltz schneidet seine Torte an. (Foto: Werner Häußner)

Das Produkt der Konditorenkunst gilt der Hommage an eine ansonsten durch und durch aufbauende Persönlichkeit: Gabriel Feltz feiert nach dem Zweiten Philharmonischen Konzert der Dortmunder Philharmoniker sein zehnjähriges Dienstjubiläum in der Stadt.

Da wird viel Harmonie bekundet: Oberbürgermeister Thomas Westphal, Theaterdirektor Tobias Ehinger und Orchestervorstand Hauke Hack singen Hymnen auf den rührigen GMD, heben Ideenreichtum, Innovationskraft, Energie und Fleiß hervor, lassen mit launigen Bonmots auch mal schmunzeln. Feltz dankt, bekundet seine Verbundenheit mit Dortmund und verteilt dann entschlossen das süße Präsent.

Künstlerisch hat das Philharmonische Konzert das Lob mit einem so originellen wie hochkarätig dargebotenen Programm unterfüttert. Einer der glückhaften Abende mit Feltz, von dem – der Kritiker hat die undankbare Aufgabe solcher Hinweise – es auch schon andere zu erleben gab. Ein Abend unter dem Motto „Stahlkocher“, denn diese Saison widmet das Orchester seiner Heimatregion, dem Ruhrgebiet. Die programmatischen Linien ziehen sich von unter Tage über Fußball, Flora und Fauna bis zum Tanz und mit der Taubenzucht auch hinauf in den früher gar nicht so blauen Himmel über der Ruhr.

Ein T-Shirt zum Jubiläum. (Foto: Sophia Hegewald)

Mit unbekannten Werken lassen die Philharmoniker also noch einmal die vergangene Landschaft der Schwerindustrie künstlerisch greifbar werden. Dass die Welt der Industriearbeit im Sozialismus zumindest dem Anspruch nach einen zentralen Schwerpunkt bildete, hat sich auch im musikalischen Schaffen niedergeschlagen. „In der Eisengießerei“ ist ein dreiminütiges Stück des in großen Musiklexika nicht auffindbaren Alexander Mossolow (1900-1973), das diesen Blickwinkel beispielhaft repräsentiert.

Mossolow, vor seiner Verurteilung als „Konterrevolutionär“ ein musikalischer Avantgardist, lässt das Orchester unter Missachtung herkömmlicher Regeln den Geräuschpegel einer Fabrik erzeugen: Lärmcluster, rhythmisches Stampfen, das regelmäßige Quietschen irgendeines mechanischen Teils, dumpfe und grelle Schläge – und dazwischen dürfen vier Hörner mit vollem Schalldruck Signale gellen lassen, bevor mit Gong und Knall die Maschinerie zum Stillstand kommt. Naturalistischer geht’s nimmer, und man fragt sich, was wohl geworden wäre, hätten Bert Brecht und Kurt Weill ihre von konservativen Kreisen in Essen hintertriebene „Ruhr-Oper“ tatsächlich geschrieben – oder Mossolow sein Ballett „Stahl“, das bis auf diesen Satz über die Fabrik unausgeführt blieb.

Mossolow hat noch andere solcher Werke wie „Die Traktorenbrigade fährt in die Kolchose ein“ hinterlassen; viele sind verschollen, fast alle wissenschaftlich unbearbeitet, aber die drei Minuten wecken Lust, zum Beispiel einmal eine seiner Sinfonien zu hören, die wohl einen wunderlichen Kontrast zu seinem Zeitgenossen Dmitri Schostakowitsch bilden würden. Denn Mossolow unterwarf sich später dem Diktat der sowjetischen Kunstdoktrin, um unauffällig sein Leben zu führen.

Das andere in den thematischen Rahmen passende Werk ist Sergej Prokofjews „Der stählerne Schritt“ op. 41, ein unverkennbares Propagandawerk, das nach Folklore-Fetzen, schrägem Pathos und verfremdetem Mussorgsky in eine hochvirtuos stilisierte Stahlfabrik führt, wo der neue „heroische“ Sowjetmensch in Richtung Kommunismus unterwegs ist. Dass die Entfremdung nicht aufgehoben ist, macht Prokofjews Musik – bewusst oder nicht – aber auch deutlich. Unter dem brutalen Stampfen des Rhythmus, dem Takt von Maschinen dem schrillen Kreischen unerkannt bleibender technischer Vorgänge droht das Individuum unterzugehen.

Vielleicht ist diese Lesart zu spekulativ: Aber Prokofjew sträubt sich dagegen. Er lässt immer wieder Soli durch die Kulisse des Lärmens brechen; zwei Fagotte haben viel zu tun, die anderen Holzbläser treten auf einmal mit einer Kantilene hervor und der Klang verschiebt sich immer wieder in neuen Instrumentenkombinationen. Die Dortmunder lassen keinen Arbeitsschweiß auf ihre Stirnen treten. Sie sind in jedem Moment souverän und reaktionsschnell bei der Sache, und Feltz plustert die dissonanten Blechbläser nicht auf, sondern strukturiert den Maschinenlärm, der weit stilisierter und „abstrakter“ gefasst ist als bei Mossolow.

Das ist eine der deutschen „Pacifics“ der Baureihe 01, wie sie Arthur Honegger musikalisch porträtiert hat. Solche Lokomotiven waren bis in die sechziger Jahre auch in Dortmund in großer Zahl anzutreffen. (Foto: Archiv Häußner)

Ein dritter Aspekt der Industrialisierung beschließt das Konzert. Arthur Honegger, wie übrigens auch Antonín Dvořák ein bekennender Eisenbahnfan, lässt in seinem Klanggemälde „Pacific 2.3.1.“ die Arbeitsgeräusche einer Schnellzug-Dampflokomotive zu einem raffinierten Musikerlebnis werden. Auch für dieses Stück kann man einen Dortmund-Bezug reklamieren: „231“ sagt in angelsächsischen Ländern etwas über Anzahl und Anordnung der Achsen einer Lokomotive. In Deutschland waren etwa die ab 1925 gebauten Dampfloks der Baureihe 01 solche „Pacifics“, und in Dortmund war bis zum Ende der Dampfzeit in den sechziger Jahren eine erhebliche Anzahl dieser Maschinen stationiert.

Das Orchester  bringt Honeggers beschreibende Musik mit Glanz und Verve zum Klingen, aber Feltz lässt sie nicht klangmalerisch schnaufen und pulsieren wie etwa Rossini in seinem köstlich-ironischen „Vergnügungszug“. Vielmehr stellt er heraus, dass Honegger eine gewitzte analytische Studie über Bewegung, Metrum und Rhythmus geschaffen hat.

Den Kontrast zu all diesen Reminiszenzen an das Industriezeitalter bildet Sergej Rachmaninows beliebtes c-Moll-Klavierkonzert op. 18, das Herz des Abends. Nikolai Lugansky hat am Anfang nicht die Entschiedenheit, den Flügel aus der Deckung des Orchesters treten zu lassen, aber die Balance findet sich rasch. Die dunkel timbrierten Streicher des Beginns münden in eine wirkungsvolle Steigerung, und dann findet der Pianist zu schwebenden Klängen, aparten Rückungen und Varianten im Tempo.

Der dritte Satz, ein „allegro scherzando“, gelingt konturenscharf, kraftvoll zupackend, aber nicht dröhnend. Brillanten Schritts geht es in Richtung Finale, es herrscht die Lust am saftigen Musizieren, das auch vor Pathos nicht zurückscheut. Rachmaninow als Gegenwelt – lassen da nicht die grünen Eilande des Ruhrgebiets grüßen, in die Denkmäler der Industrie als neue Orte einer Romantik ragen, die unseren schaffenden Vorfahren unwirklich vorgekommen wäre?

Das nächste Philharmonische Konzert, diesmal mit Christoph Altstaedt als Dirigent, trägt den Titel „Taubenzüchter“ und präsentiert Antonín Dvořáks „Die Waldtaube“, seine 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ und das farbig-sinnliche Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds mit Anna Tifu als Solistin. Termin: 14./15. November, jeweils 19.30 Uhr im Konzerthaus Dortmund. Tickets: www.theaterdo.de, Tel.: (0231) 50 27 222.




Wie es im Revier gewesen ist – Fotografien von Helmut Orwat

Taubenzüchter im Sonntagsanzug, Castrop-Rauxel, 1967. (Foto: Helmut Orwat)

Helmut Orwat war stets nah dran. Nah am Alltag und den Menschen im Ruhrgebiet, speziell in und um Castrop-Rauxel. Seit 1960 arbeitete er als freier Fotograf für diverse Zeitungen und Zeitschriften, von 1984 bis 2000 war er bei den Ruhrnachrichten festangestellt. Rund 150 ausgewählte Fotografien sind im LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg zu sehen.

Der Ausstellungstitel „Täglich Bilder fürs Revier“ lässt etwas von der Eile ahnen, mit der Orwat meist zu Werke ging. Aktuelle Geschehnisse mussten eben sofort festgehalten werden, und zwar unter härteren Bedingungen als heute, wo digitale Kamera- und Nachbearbeitungs-Technik die Sache doch deutlich erleichtert. Dennoch (oder gerade deshalb, weil eben noch viel mehr echte Handarbeit darin steckt) haben seine Bilder die Jahrzehnte überdauert und legen nun gültiges Zeugnis ab vom Ruhrgebiet, wie es einmal gewesen ist. Manche Besucher werden sich wehmütig erinnern.

Kernkraftwerk in Hamm-Uentrop, 1980. (Foto: Helmut Orwat)

Die besten Fotos haben gleichsam eine „Seele“, man merkt ihnen die Freude des Herstellens an. Ganz klar: Solche kontraststarken Ansichten müssen schwarzweiß sein, jede Kolorierung täte ihnen Gewalt an. Vorbilder Orwats waren Fotografie-Größen wie Chargesheimer und Otto Steinert, die sich gleichfalls im Revier umgetan hatten.

Die Auswahl ist in Kapitel gegliedert, zum Beispiel: Industrie und Landschaft, Kanal und Schifffahrt, Beruf und Arbeit, Stadt und Verkehr, Familie und Freizeit. Die Aufnahmen vergegenwärtigen inzwischen verblasste, typische Merkmale des Ruhrgebiets und seiner Menschen, zunächst vor allem im Umkreis des Bergbaus – nicht nur in den Zechen selbst, sondern etwa auch am Straßenrand, wenn haufenweise Kohle geliefert wurde und nun in den Keller geschaufelt werden sollte. Auch sieht man prominente Besucher der Castroper Zeche Erin mit kohleschwarzen Gesichtern als kalkuliertes Signal für „Volksnähe“: den früheren Bundespräsidenten Walter Scheel (1975) oder den damaligen CSU-Chef Franz Josef Strauß (1980).

Feuerlöschübung mit Ordensschwestern des St. Rochus-Hospitals, Castrop-Rauxel, 1972. (Foto: Orwat)

Vor allem aber hat Orwat die „ganz normalen“ Bewohner des Reviers in den Blick genommen. Die Camper am Dortmund-Ems-Kanal, den Taubenzüchter, die Frau von der Trinkhalle, den Klüngelskerl, Frauen in der Bochumer Opel-Montage, die Jury des Kleingartenwettbewerbs – und immer wieder spielende Kinder, ein Motiv-Genre, für das Helmut Orwat einen besonderen Blick hatte. Bemerkenswert auch die Fotos von einer Modenschau bei Hertie in Castrop oder vom Castroper Pferderennen und seinem Publikum. Da zeigt sich überdeutlich: Das einstige Revier war beileibe weder Paris noch Ascot, doch auch hier konnte man die karge Freizeit genießen, wenngleich längst nicht so edel stilisiert. Dafür aber ohne Dünkel.

Montagestraße Opel Kadett, Opel Werk I, Bochum, 1963. (Foto: Helmut Orwat)

Orwat, 1938 als Bergmannssohn in Castrop-Rauxel geboren, erfasste imposante, zuweilen auch beängstigende Industrielandschaften, zeichnete dann aber auch den Niedergang der alten Industrien nach. Die Folgen werden fassbar, wenn Arbeiter gegen Schließungen demonstrieren und Orwat ihre letztlich vergebliche Entschlossenheit zu zeigen vermag. Als schon etliche Zechen dicht waren, bekam er Götz George vor die Linse: 1981 als „Schimanski“ beim Dreh zum Duisburger „Tatort“. Es war ein bedeutsamer zeitlicher Schnittpunkt: Die Industrie war im Schwinden begriffen, eine Figur wie Schimanski trug jetzt zur Legendenbildung bei.

Das nahende Ende des früheren Reviers zeigt sich bereits in Aufnahmen wie jener des sterilen City-Centers Herne (1975) mit seiner ganz und gar nicht mehr regionaltypischen Anmutung. Das war keine wirkliche Alternative zum schmutzigen Hinterhof der alten Zeiten. Überhaupt dokumentierte Orwat einige brutale „Bausünden“ im Ruhrgebiet. Noch betrüblicher: Sein Beruf brachte es mit sich, auch Unglücke ablichten zu müssen. Das Auto, das aus dem Kanal geborgen werden musste, den explodierten Tanklaster, den Trauerzug nach einem Grubenunglück.

Helmut Ornat: Selbstporträt mit Leica-Kamera im Jahr 1965.

Leute wie Helmut Orwat gibt es nicht mehr. Tageszeitungen leisten sich kaum noch ambitionierte Fotografie. Statt dessen zücken häufig die Texter ihre Handys. Mit entsprechend dürftigen Ergebnissen.

„Täglich Bilder fürs Revier“. Pressefotografien von Helmut Orwat 1960-1992. Waltrop, LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg (Hafengebäude). Noch bis 4. Februar 2024. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Begleitender Bildband mit 150 Aufnahmen im Tecklenborg Verlag, 200 Seiten, 19,80 Euro.

Das LWL-Medienzentrum für Westfalen hat das fotografische Lebenswerk von Helmut Ornat übernommen. Eine Auswahl von über 3000 Motiven wurde digitalisiert und kann online recherchiert werden unter:

www.orwat-fotosammlung.lwl.org

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel erschienen: 

www.westfalenspiegel.de