Sphärische Strahlkraft: Das Londoner Oktett VOCES8 erobert das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm mit Gesang

A-cappella-Gesang vom Feinsten: VOCES8 wurde im Jahr 2003 gegründet und 2005 von den Brüdern Paul und Barnaby Smith neu gruppiert, die schon als Knaben im Chor von Westminster Abbey sangen. (Foto: Markus Liesegang)

Ob es wohl süchtig macht, so singen zu können? Acht Stimmen zu einem einzigen Instrument verschmelzen zu lassen, kristallklar, lupenrein, homogen, mit sphärischer Strahlkraft?

Hunderttausendfach werden die Musikvideos des 2003 in London gegründeten Oktetts VOCES8 (sprich: ˈvo:tʃes eɪt) im Internet aufgerufen, die Alben millionenfach gehört. Wo das Oktett auch auftritt, zeigt es sich trotz hoher Gesangskunst nahbar. Es wendet sich seinem Publikum zu, sei es in London oder Tokio, in Amsterdam oder Peking.

Das Kulturbüro der Stadt Hamm konnte VOCES8 jetzt für zwei Konzerte gewinnen. Zuerst trat die Vokalformation im Gustav-Lübcke-Museum auf, mit ihrem Programm „London by night“, das unbeschwert durch 500 Jahre Musikgeschichte hopst. Ganz so kreuz und quer, wie sich das auf den ersten Blick liest, geht es dann aber doch nicht zu, denn der erste Teil des Abends bleibt „strictly british“.

Hier versammeln sich Werke aus dem goldenen Zeitalter der englischen Musik, von Thomas Tallis, William Byrd und Orlando Gibbons. Die Ergänzung durch Benjamin Britten, den „Orpheus britannicus“, und Arthur Sullivan, bekannt als die komponierende Hälfte des Opernduos Gilbert and Sullivan, wirkt nicht als Stilbruch, weil VOCES8 alles gleichermaßen transparent und lebhaft gestaltet: seien es nun komplexe Renaissance-Motetten oder Brittens ausdrucksstarke „Choral Dances“ aus seiner Oper „Gloriana“, samt Glockengeläut und Fischergesängen.

Obschon ein Flickenteppich aus lauter kurzen Stücken, verhindert das Oktett durch geschickte Moderation, dass Zwischenapplaus das Programm in seine Einzelteile zerlegt. So können Spannungsbögen entstehen, ruhevolle Momente wie in „O Nata Lux“ von Thomas Tallis, das in langen Legatobögen ausschwingen darf, und Arthur Sullivans melancholisches „The Long Day Closes“, das sich hier in noble Wehmut hüllt.

VOCES8 ist ein leuchtendes Beispiel für die englische Chortradition. Sie reicht bis ins 15. und 16. Jahrhundert zurück, als berühmte Chöre wie King’s College Cambridge und Christ Church Cathedral Oxford gegründet wurden. (Foto: Markus Liesegang)

Wenn die fünf Sänger und drei Sängerinnen die Notenpulte nach der Pause beiseitestellen, hat das eine Signalwirkung. Jetzt ist ein Hauch Showtime angesagt, in dezenter Dosis und mit britischem Understatement, denn nun driftet das Programm in Richtung Jazz und Musical. Es schlägt die Stunde der Arrangements. Johann Sebastian Bachs Bourrée II aus den „Englischen Suiten“, eigentlich ein Klavierstück, kommt als Folge launiger La-la-la und Dü-dü-dü-Laute daher, jazzig swingend. Sogar den Beat des Schlagzeugbesens auf dem Hi-Hat-Becken imitiert ein Sänger täuschend echt, leise durch die Zähne zischend.

Immer wieder entfalten diese Stimmen einen magischen Sog, fächern sich manchmal auch orgelgleich auf, zum Beispiel in Carroll Coates „London by night“ (Bearbeitung: Gene Puerling). Die Soli in Van Morrisons „Moondance“ werfen ein Schlaglicht auf die Exzellenz der einzelnen Mitglieder. Wer solch klangschönen, wohlgeformten, makellosen Gesang hören möchte, wird nur in der internationalen Spitzenklasse fündig.

Die ultimative Charme-Offensive starten VOCES8, wenn sie „Come fly with me“ von Sammy Cahn mit „Fly me to the moon“ von Bart Howard verschränken. Da sind sie wie nebenbei ihre eigene Schlagzeug-Combo. Am längsten klingen vielleicht die leisen Stücke nach. „Underneath the stars“ von Kate Rusby und „Timshel” von Mumford & Sons künden von einer Hoffnung, die Tod und Trauer überwindet. VOCES8 singen von diesem bittersüßen Trost, als wollten sie alle Erdenschwere hinter sich lassen: „Death will steal your innocence, but you are not alone in this, you are not alone.”




Jede Oper eine eigene Welt: Mit Peter Eötvös verliert die musikalische Welt einen prägenden Komponisten

Das Bild zeigt Peter Eötvös bei einem Gespräch am 25. Juni 2014 anlässlich der Uraufführung seiner viel gespielten Oper „Der goldene Drache“ in Frankfurt. (Foto: Werner Häußner)

Eine typische Selbsttäuschung: Zuerst wollte ich die Nachricht gar nicht glauben, dachte, es sei eine Falschmeldung. Doch schnell bestätigte sich: Peter Eötvös ist am Sonntag, 24. März gestorben, mit 80 Jahren. Innerhalb nur weniger Tage hat die musikalische Welt nach Aribert Reimann (1936-2024) einen zweiten prägenden Komponisten der letzten Jahrzehnte des 20. und ersten des 21. Jahrhunderts verloren. Nachrufe wird es genug geben, daher hier ein paar persönliche Erinnerungen an einen Herzblut-Musikmenschen, der auch mit dem Rheinland eng verbunden war.

Der Ungar Peter Eötvös, geboren 1944 in Székelyudvarhely in Siebenbürgen, war ein wunderbar kreativer Kopf. Seine vierzehn Opern sind jede für sich ein individuelles Meisterwerk, verbinden immer neu gedachte Musik und mitreißende Bühnenwirkung. „Jede Oper muss eine eigene Sprache, eine eigene Welt, eine eigene stilistische Klangsprache haben“, sagte er einmal. 1998 gelang ihm der internationale Durchbruch mit der in Lyon uraufgeführten Oper „Tri Sestri“.

Schon ein Jahr später brachte die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf das Werk nach dem Drama „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow nach Deutschland, wo es mehrfach nachgespielt wurde: Gabriele Wiesmüller inszenierte es mit scharfem Blick auf die ausweglose Situation der Figuren in Koblenz; im letzten Jahr war in Hagen eine Inszenierung von Friederike Blum zu sehen. Sie ließ erleben, wie die Menschen in folgenlosen Träumen und vergeblichen Sehnsüchten gefangen sind. Eötvös und sein Librettist Claus H. Henneberg weichen von der linearen Erzählweise Tschechows ab und nehmen in drei Sequenzen die Perspektive der Figuren Irina, Andrej und Mascha ein.

Auf dem Deckchen: „Tri Sestri“ in Hagen mit Vera Ivanovic (Natascha) in der Mitte. (Foto: Leszek Januszewski)

Über 200 Uraufführungen dirigiert

1998 war Eötvös bereits als Dirigent hervorgetreten. Zuvor hatte er 1958 mit Vierzehn das Studium an der Budapester Musikakademie bei Zoltán Kodály aufgenommen und ab 1966 in Köln Dirigieren studiert. Ab 1968 arbeitete er eng mit Karlheinz Stockhausen zusammen; zehn Jahre später übertrug ihm Pierre Boulez die Leitung des Ensembles „Intercontemporain“. Eötvös stellte das Komponieren zurück und widmete sich dem Dirigieren. Über 200 zeitgenössische Werke konnte er mit dem Ensemble uraufführen.

Aber er brachte mit seiner freundlichen Art und seiner Leidenschaft vielen großen Orchestern seinen Begriff von zeitgenössischer Musik nahe, vom Concertgebouw Orkest Amsterdam über die Berliner bis zu den Wiener Philharmonikern  – und nicht zuletzt seinem Radio Kammerorchester Hilversum, das er zehn Jahre bis 2004 leitete. Im Funkhaus Köln hatte Eötvös seine ersten Schritte getan; sein geplantes Konzert am 23. September 2023 mit dem WDR Sinfonieorchester mit eigenen Werken und Kompositionen seines Landsmanns György Kurtág und seines langjährigen künstlerischen Partners Karlheinz Stockhauen musste er bereits „aus anhaltenden gesundheitlichen Gründen“ absagen.

Stockhausen-Uraufführung in Mailand

Der Besetzungszettel der Uraufführung von „Donnerstag aus Licht“ aus dem Teatro alla Scala in Milano mit Peter Eötvös als Dirigent. (Repro: Archiv Werner Häußner)

Das erste Mal als Dirigent habe ich ihn in „Donnerstag aus Licht“ von Karlheinz Stockhausen 1981 an der Mailänder Scala erlebt. Das war die szenische Uraufführung des ersten Tages aus dem riesigen, alle sieben Wochentage umfassenden Zyklus des „Licht“-Musiktheaters.

Und die erste Oper, die ich von Eötvös gesehen habe, hat mich sofort fasziniert: „Love and other Demons“ 2009 in Chemnitz unter Frank Beermann hat in der subtilen Regie von Dietrich Hilsdorf den „magischen Realismus“ der Vorlage von Gabriel García Márquez eingefangen. Nichts in dieser Welt war so, wie es schien, Bilder und Figuren blieben unaufgelöst mehrdeutig: Die Offenheit erzeugte eine kaum mehr erträgliche Spannung. Dahinter blieb die Kölner Inszenierung von Silviu Purcarete 2010 in ihrer erzählenden Eindeutigkeit weit zurück.

Denn Eötvös erzählt in seinen Opern nicht einfach Geschichten. Ohne in platte Aktualisierung zu verfallen, greift er gesellschaftliche Entwicklungen auf. Dabei bleibt er aber nicht stehen, sondern gibt seinen Stoffen durch die Musik die Qualität erzählter Philosophie – etwa in der „Tragödie des Teufels“ durch einen vielfach gebrochenen, gleichnishaften Blick auf die in sich zerrissene menschliche Existenz, in „Liebe und andere Dämonen“ auf die unkalkulierbare Welt und den „romantischen“ Verdacht, hinter den erfahrbaren Eindrücken könnten noch ganz andere Kräfte stecken. „Angels in America“, in Frankfurt von Johannes Erath beklemmend intensiv inszeniert und in Münster von Carlos Wagner zu einer Weltentragödie erweitert, ist so nicht nur ein Stück über die zerstörerischen Folgen von HIV, sondern eines über die Zerbrechlichkeit des Menschen und seiner Beziehungen.

Bei der bislang einzigen Inszenierung seiner erfolgreichen, 2014 in Frankfurt uraufgeführten Oper „Der goldene Drache“ in der Rhein-Ruhr-Region 2019 in Krefeld durch Petra Luisa Meyer kam Eötvös zur B-Premiere nach Mönchengladbach und sprach – wie so oft andernorts – mit dem Publikum im Theatercafé. Zum „Requiem“ für ihn wurde nun die jüngste Uraufführung seiner Oper „Valuschka“ in Regensburg am 3. Februar 2024. Zur Premiere konnte er – schwer erkrankt – schon nicht mehr kommen, begleitete aber aus der Ferne den Produktionsprozess. Die groteske Tragikomödie über das Hereinbrechen einer Katastrophe thematisiert Angst, Macht und entfesselte Gewalt.

Peter Eötvös hat wie der am 13. März mit 88 Jahren verstorbene Aribert Reimann – dessen Oper „Bernarda Albas Haus“ in einer Inszenierung von Dietrich Hilsdorf in der vergangenen Spielzeit in Gelsenkirchen zu den Höhepunkten der Saison gehörte – gezeigt: Die Oper im 21. Jahrhundert ist keineswegs tot. Sie hat die Kraft, Menschen in ihren Bann zu ziehen und bleibt auch unter den Vorzeichen der Postmoderne ein unerschöpfliches „Kraftwerk der Gefühle“.




Die einen saufen so, die anderen so – zur wiederentdeckten Studie „Betrunkenes Betragen“

Wiederveröffentlichungen nach Jahrzehnten sind in der Belletristik nichts Ungewöhnliches, wohl aber im Sachbuchbereich. „Betrunkenes Betragen“ (Originaltitel „Drunken Comportment“) ist ein solch seltener Fall.

Die ethnologische Studie über den Umgang mit Alkohol bei den verschiedensten Völkern und Gruppierungen, verfasst von den kalifornischen Anthropologen Craig MacAndrew und Robert B. Edgerton, ist bereits 1969 erschienen. Der deutsche Schriftsteller und Psychiater Jakob Hein hat sie nun als wichtige Wiederentdeckung erneut herausgebracht und übersetzt. Vorworte zur alten und zur neuen Ausgabe markieren den historischen Abstand. Das Wort „Betragen“ mutet etwas antiquiert an und dürfte hierzulande vielen Leuten zuletzt auf Schulzeugnissen der 1960er Jahre begegnen sein. Es wird ganz bewusst abgegrenzt vom eher flüchtigen „Verhalten“ („behavior“).

Bis in die hintersten Winkel der Erde

Natürlich trägt ein 55 Jahre altes Buch Signaturen seiner Zeit und muss streckenweise auch „gegen den Strich“ gelesen werden. Das heißt aber keineswegs, dass die damals publizierten Erkenntnisse Makulatur sind. MacAndrew und Edgerton arbeiteten sich mit zahlreichen Beispielen aus aller Welt an der seinerzeit wie heute allgemein bedenkenlos geglaubten Hypothese ab, dass Alkohol eben immer und überall gleichermaßen enthemmend wirke. Die von ihnen emsig gesammelten und zitierten Aufzeichnungen von Ethnologen und sonstigen Beobachtern (bis in jene Zeiten praktisch ausschließlich Männer), die seit den Tagen der großen Entdeckungen in aller (entlegenen) Welt unterwegs waren, lassen freilich andere Schlüsse zu. Demnach gibt es äußerst vielfältige Formen der Trunkenheit, die letztlich auch unseren Umgang mit geistigen Getränken betreffen. Vielleicht hätten wir ja theoretisch mehr Wahlfreiheit, als uns bewusst ist?

Die wechselhaften Verhältnisse werden sozusagen bis in die hintersten Winkel der Erde ausgeleuchtet – von Süd- und Mittelamerika über afrikanische Regionen und Ostasien bis hin zu den indigenen Völkern auf dem Gebiet der heutigen USA. Tagelang ungemein ausschweifende Trinkfeste, so entnehmen wir einer Vielzahl von Augenzeugenberichten, hat es bei den allermeisten Gruppierungen gegeben – nicht erst seit dem fatalen Auftauchen europäischer Kolonisatoren, sondern schon zuvor: mit selbstgebrannten Substanzen von mancherlei Art und zuweilen höchstprozentiger Wirksamkeit.

Mörderische Orgien oder freundliches Beisammensein

Manche alkoholisierte Zusammenkunft artete wohl zu unvorstellbaren Orgien mit Mord und Totschlag aus, man liest hier Schilderungen von grauenhafter Bestialität, angesichts derer einem selbst das Oktoberfest, der Rosenmontag und dergleichen hiesige Besäufnisse wie überaus gemilderte Varianten erscheinen mögen. Oft wurde zunächst zugestochen oder gemeuchelt und erst dann eilends gezielt gesoffen, um eine vermeintliche triftige „Entschuldigung“ zu haben, die in etlichen Gesellschaften tatsächlich anerkannt wurde. Auch in der neueren Rechtsprechung haben sich Spuren davon erhalten. Doch das ist eine Entwicklung späterer Zeiten.

Vor allem dort jedoch, wo der Trunk von tradierten Ritualen eingefasst war, gab es (trotz vergleichbarer Unmengen alkoholischer Getränke) zumeist ein friedliches, freundliches und fröhliches Beisammensein, allenfalls mit Spott und Neckerei gewürzt. Etliche Völker aller Himmelsrichtungen verordneten sich seit jeher selbst „Auszeiten“, bei denen alle denkbaren (sexuellen) Norm-Übertretungen möglich, wenn nicht erwünscht waren. Selbst Kinder und Jugendliche waren wenigstens indirekt beteiligt. Männer wie Frauen duldeten es klaglos, wenn ihre Partner gleich neben ihnen anderweitig aktiv wurden oder „in die Büsche“ gingen, wie es hier mehrfach heißt. Einzig und allein das Inzest-Tabu hatte weiterhin Geltung. Hernach lebten sie wieder so kontrolliert, zivilisiert oder gar streng und freudlos „puritanisch“ wie zuvor; ganz so, als sei nichts geschehen.

Die Eroberer mit dem „Feuerwasser“

Sobald allerdings die (herrschaftlichen und kommerziellen) Interessen europäischer Eroberer sich Bahn brachen und Eingeborene mit „Feuerwasser“ traktiert wurden, lösten sich die wohltätig einhegenden und begrenzenden Bindungen auf. Nur mal nebenbei: Schiffsbesatzungen, die etwa im 18. Jahrhundert in Tahiti eintrafen, bekamen rund 4,5 Liter pro Tag und Mann an Bier, sie waren permanent beduselt. Gleichfalls bemerkenswert: Viele indigene Menschen wehrten sich anfangs vehement gegen den teuflischen Alkohol der Europäer, der für sie mit bösen Geistern zu tun hatte. Sie wurden aber nach und nach daran gewöhnt und gierten irgendwann danach.

Faszinierend die ungeheure Vielfalt der ursprünglichen Gesellschaftsentwürfe, die hier sichtbar wird. So wird etwa eine Ethnie geschildert, die ihre Babys vergöttert, die Kinder ab 5 Jahren aber total vernachlässigt. Andere wiederum sind nüchtern aggressiv und werden unter Alkoholeinfluss verträglich. Oder eben umgekehrt. Fast alles ist kulturell und situativ bedingt, stets zeigt sich, was die Menschen an Beispielen erlernt haben. Es geht eben nicht um Alkohol „an sich“, sondern um seine Wirkungen im gesellschaftlichen Kontext und Gefüge. Ethnologische Forschungen, auch das lernt man bei der Lektüre, sind eine aufregende Materie – bestimmt nicht nur, wenn sie sich um Suff und Sex drehen.

Craig MacAndrew / Robert B. Edgerton: „Betrunkenes Betragen. Eine ethnologische Weltreise“. Wiederentdeckt und übersetzt von Jakob Hein. Galiani Berlin. 296 Seiten. 24 Euro.

 




Entdeckung der Gelassenheit – „Das kleine Haus am Sonnenhang“ von Alex Capus

„Als ich noch ein ziemlich junger Mann war, nicht mehr Student und noch nicht Schriftsteller, habe ich für fast kein Geld im Piemont ein kleines Haus gekauft.“ Das marode Gemäuer, versteckt in einem Seitental an einem Sonnenhang gelegen, ist schwer und bei schlechtem Wetter nur zu Fuß zu erreichen. Es zieht durch alle Fugen und Ritzen, aber in den Augen des neuen Besitzers ist es genau das Richtige, um auszusteigen und sich neu zu erfinden.

Denn der junge Mann, der bisher ziellos durchs Leben geisterte und sich mit journalistischen Arbeiten über Wasser hielt, will seinen ersten Roman schreiben und Schriftsteller werden. Zwei, drei Jahre lang wird er sich in die Einsamkeit zurückziehen, die Ruhe genießen und die Gelassenheit entdecken, die er braucht, um aus seiner überbordenden Fantasie ein Buch zu formen. Irgendwann wird es fertig sein, dann wird er über verschneite Wiesen ins Tal hinabsteigen und ein neues Leben beginnen.

Schönheit der kleinen Dinge

Mit „Das kleine Haus am Sonnenhang“ entwirft Alex Capus nicht nur eine Philosophie der Langsamkeit und besingt die Schönheit der kleinen Dinge, er führt uns auch durch die schlingernden Pfade seines Daseins und öffnet die Tür in seine literarische Werkstatt. Capus, inzwischen längst ein Autor mit Bestseller-Garantie, beschreibt mit sanfter Ironie, wie er sich das schriftstellerische Handwerk selbst beibrachte und langsam begriff, dass Schreiben und Leben zwar zusammengehören, aber nie dasselbe sind.

Während er an seinem ersten Roman bosselt, in den Schreibpausen Reparaturen an seinem Haus vornimmt und manchmal ins nächste Städtchen wandert, in einer mit flackernden Neonröhren notdürftig beleuchteten Bar ein Glas Wein trinkt und mit den immergleichen Besuchern die immergleichen Gespräche führt, denkt er darüber nach, ob und wie ein Autor seine Biografie verwenden, verfremden und in Literatur verwandeln kann. Oder wie er das Chaos und den Zufall, der sein Leben beherrscht, in eine logische Kette von Wahrscheinlichkeiten verbiegen kann, die dem Leser glaubwürdig erscheint.

Als die Welt sich langsamer zu drehen schien

Reflektierend reist er durch die Weltliteratur und macht gelegentlich Station bei seinen eigenen, späteren Romanen. Wer würde ihm schon abnehmen, dass er – was der Wirklichkeit entspricht – fünf Söhne hat? Also belässt er es in einem autobiografisch grundierten Romane lieber bei drei. Wovon das Buch handelt, an dem Capus in seinem „kleinen Haus am Sonnenhang“ schreibt, bleibt im Ungefähren. Wichtiger ist, welche Gedanken ihm beim Schreiben durch den Kopf gehen oder wie er Macken und Marotten der kleinen Leute in dieser weltabgewandten Gegend (nicht ohne nostalgische Reminiszenzen) einfängt; damals, Mitte der 1990er Jahre, als mobile Telefone noch die Ausnahme waren, als man noch überall und immer rauchen durfte, an den Tankstellen noch persönlich bedient wurde und die Welt sich nur sehr langsam zu drehen schien.

Capus hat damals begriffen, was Zufriedenheit bedeutet, wie man Glück findet und ein gelassener Mensch wird: Warum sollte er ständig eine neue Pizza ausprobieren, wenn doch seine geliebte Pizza Fiorentina völlig in Ordnung ist? Und was bringt es, auf einer Urlaubsinsel täglich nach anderen Stränden zu suchen, wenn der eine – meistens gleich der erste – bereits gut genug ist und völlig ausreicht?

Alex Capus: „Das kleine Haus am Sonnenhang“. Hanser, München 2024, 160 Seiten, 22 Euro.




Zwischen Bühne und Familie – Jörg Hartmanns Chronik „Der Lärm des Lebens“

Gibt es überhaupt noch Fernsehprominenz ohne Buchveröffentlichung? Schwerlich. Jetzt ist endlich auch Jörg Hartmann (weithin bekannt als Dortmunds zur Depression neigender „Tatort“-Kommissar Faber) an der Reihe.

Bei seinem Buch „Der Lärm des Lebens“ handelt es sich um eine streckenweise sehr nachdenklich und zuweilen melancholisch, zwischendurch aber auch süffig erzählte Autobiographie. Eine lebensnahe Mixtur also, die vom etwas aufdringlichen Titel (Stichwort „Lärm“) gar nicht so recht erfasst wird.

Zungenschlag des östlichen Ruhrgebiets

Der 1969 im westfälischen Hagen geborene Hartmann ist im eher beschaulichen Herdecke bei Dortmund aufgewachsen. Wann immer er auf diese Vergangenheit zurückblickt oder spätere Besuche bei den Eltern schildert, gibt er die Dialoge in der charakteristischen Mundart des östlichen Ruhrgebiets wieder. Dabei stimmt nicht nur der Zungenschlag, auch die „Seele“ des Gesprochenen und der Sprechenden kommt glaubhaft hervor. Als in Dortmund aufgewachsener Mensch kann ich’s bezeugen. Stellenweise erzählt Hartmann auch hinreißende Dönekes mit Revier-Anklang: Wer hat denn nur einst die „Eier“ am Pferd des Kaiserdenkmals auf Dortmunds Hohensyburg poliert? Hier erfährt man’s. Übrigens haben zeitweise auch Roy Black und – viel später – Jürgen Klopp in Herdecke gelebt. Hätten Sie’s gewusst?

Zur Sache: Die zeitlich hin und her pendelnde Handlung setzt mit einem großen Traum des jungen Mannes ein, der dringlich bei der großen Regisseurin Andrea Breth an der Berliner Schaubühne vorsprechen und möglichst engagiert werden will. Wie das abläuft, wird hier nicht verraten. Zu jener Zeit ist Stuttgart Hartmanns Lebensmittelpunkt, die Alternativen am Theater heißen Wuppertal und Meiningen. Als dann noch der Mauerfall hinzukommt, erscheint Berlin demgegenüber noch attraktiver. Man kann’s nachvollziehen, wenn auch die Berlin-Schwärmerei mitunter ein wenig nervt.

Theater-Laufbahn mit Umwegen

Ein Umweg der Laufbahn führt über die Münchner Kammerspiele, wo Hartmann die Bühnen-Granden Thomas Holtzmann und Rolf Boysen um Beihilfe, Zuspruch und Fürsprache bitten möchte. Holtzmann ist quasi unansprechbar, Boysen erteilt immerhin telefonisch knappen, aber weisen Rat. Derweil wittert der gleichfalls schon etablierte Ulrich Matthes in seinem vermeintlichen „Doppelgänger“ Hartmann (nanu?) offenbar unliebsame Konkurrenz. In Berlin wird ihm Hartmann abermals begegnen…

Bis Jörg Hartmann tatsächlich eines Tages an der Schaubühne (ab 1999 unter Leitung von Thomas Ostermeier) reüssiert, dauert es seine Zeit. All die vorherigen Fährnisse lassen ahnen, dass der Berufseinstieg junger Schauspieler(innen) wahrlich mühselig ist und nicht nur vom Talent, sondern auch von Glücksumständen abhängt. Ohnehin hadert Hartmann auch hernach immer mal wieder mit der Profession, die ihn geradezu aufzufressen droht. Heute Lyon oder Brüssel, morgen Prag, irgendwann auch ein Gastspiel in Shanghai. Da kann man sich durchaus verlieren. Und das Privatleben leidet auch erheblich.

Pommesbude nach Feierabend

Ein zweiter Handlungsstrang ist Hartmanns Familie gewidmet, besonders seinen Eltern und hier wiederum vornehmlich dem Vater, der mit fortschreitendem Alter an Demenz leidet und vor der Zeit stirbt. In Herdecke und darüber hinaus war der Vater (Handwerksmeister im Stromwerk, phasenweise nach Feierabend Betreiber einer Pommesbude, außerdem bestens vernetzter Handball-Freak) bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund, was Jörg Hartmann mit einigen Anekdoten zu unterfüttern weiß.

Zunehmend rücken auch Hartmanns Frau und die drei Kinder in den Blickpunkt, womit die Handlung (seine Großeltern inbegriffen) vier Generationen umfasst, was wiederum zeitgeschichtliche Bezüge mit sich bringt – bis hin zur Gehörlosigkeit der Großeltern, die schon allein wegen dieses Leidens unter bedrohlicher Beobachtung der Nazis standen.

Es mag keine große, wortmächtige Literatur sein, die Jörg Hartmann verfasst hat, doch ist es eine durchaus achtbare Chronik der laufenden Ereignisse aus dem Bühnen- und Familienleben. Ein Gipfelpunkt wird, wie es sich wohl gehört, gegen Ende erreicht, als Hartmann eine blasierte Kita-Party bei stinkreichen Eltern in Berlin beschreibt. Da freut man sich inständig, dass man nicht dabei sein musste.

Jörg Hartmann: „Der Lärm des Lebens“. Rowohlt Berlin. 300 Seiten. 24 Euro.

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Lesungen (Auswahl – Einzelheiten bitte per Suchmaschine o. ä. ermitteln)

12. März Berlin (20 Uhr)
14. März Dortmund (19.30 Uhr / ausverkauft)
21. März Leipzig (10, 11, 15, 17 und 20.30 Uhr – Buchmesse)
6. April Münster (20 Uhr)
7. April Unna (18 Uhr)
11. April Gladbeck (19.30 Uhr)
13. April Menden (19 Uhr)
9. Juni Herdecke (18 Uhr)
29. Juni Essen (20 Uhr)




Märchenwelten: Das Musiktheater im Revier vereint Kurzopern von Tschaikowsky und Strawinsky zum reizvollen Doppel

Ein Garten wie eine Insel: Jolanthe (Heejin Kim) ist blind und lebt abgeschieden von der Welt. Doch Ritter Vaudémont naht (Khanyiso Gwenxhane. Foto: Pedro Malinowski)

Die Liebe lehrt sie sehen: Jolanthe, blinde Titelheldin von Tschaikowskys letzter Oper, gleicht einer Dornröschenfigur, die erwacht – und dadurch erwachsen wird. Von ihrem Vater streng behütet, erfährt sie erst durch einen fremden Ritter, dass es jenseits ihres abgeschiedenen Gartens eine sichtbare Welt voller Farben und Formen gibt.

Märchenhafte Züge trägt auch Igor Strawinskys Oper „Le rossignol“ (Die Nachtigall), ein Auftragswerk nach einer Vorlage von Hans Christian Andersen. Weil beide Werke nicht abendfüllend sind, erlebt man sie selten auf der Bühne. Das Gelsenkirchener Musiktheater (MiR) bindet sie jetzt zu einem reizvollen Doppel zusammen.

Das ist eine hübsche Alternative für alle, die dem engen Repertoire von Spielplänen entkommen möchten, die allseits bekannte Evergreens immer wieder neu auflegen. „Carmen“, „Die Zauberflöte“ und „Rigoletto“ bringen eben gute Publikumszahlen, und wer oder was würde heutzutage nicht an der Quote gemessen? Dabei gäbe es so viel gute Musik zu entdecken. Der neue Doppelabend in Gelsenkirchen ist dafür ein schöner Beweis.

Jolanthe (Heejin Kim) wird von ihren Dienerinnen eingekleidet (Foto: Pedro Malinowski)

Weil beide Kurzopern eine fantasievolle, optisch ästhetische Umsetzung erfahren, verzeiht sich manche Unbeholfenheit der Regie. Zu deren Verteidigung muss auch gesagt werden, dass Tschaikowskys „Jolanthe“ nach stimmungsvollem Beginn ins Sentimentale abrutscht. Das versucht Tanyel Sahika Bakir zu verhindern, indem sie das „Erwachen“ der Titelheldin nicht in allgemeines Gotteslob münden lässt, sondern Jolanthe von ihrer Insel der Seligen holt. Ihr Gartenrondell schwimmt wie eine Seerose in einem tristen Bühnenhalbrund, in dem schwer bewaffnete Männer die Herrschaft ihres Vaters durchsetzen (Bühne: Julia Schnittger).

Ihn, den König René, erkennt sie erst nach der Heilung durch den Arzt Ibn-Hakia als Despoten. Aber das erschließt sich erst nach der Lektüre des Programmhefts. Um zu diesem Ende hinzuführen genügt es nicht, eine gesichtslose Soldateska ausgiebig mit Gewehren herumfuchteln zu lassen. Eine Duell-Konstellation zwischen dem Ritter Vaudémont, der Jolanthe liebt, und König René, der die Tochter weiter unter Kontrolle halten will, wird nicht deutlich. Stattdessen scheint plötzlich jeder auf jeden zu zielen. Das hinterlässt Fragezeichen.

Mit Waffengewalt wird Jolanthes Welt beschützt (Foto: Pedro Malinowski)

Alles Weitere fügt sich in der Produktion so ineinander, dass dieser Jolanthe ein angemessener Liebreiz zuwächst: eben nicht süßlich, sondern lyrisch und licht. Dafür sorgen an erster Stelle das Gesangsensemble und die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Rasmus Baumann, die Tschaikowskys Partitur mehr und mehr in Fluss bringen.

Aus dem kammermusikalischen Beginn – nur Holzbläser und Hörner gestalten das Vorspiel – entwickelt sich ein grandioses Melos, das in die Seele der Hauptfiguren hineinleuchtet. Dazu gibt es lautmalerische Effekte, wenn die Ankunft des Königs mit Hörner- und Trompetenschall zelebriert wird, wenn Bratschen und Celli das Getrappel der Pferde nachahmen oder wenn der Arzt Ibn-Hakia sein Therapiekonzept mit orientalischen Melismen ausschmückt.

Heejin Kim versteht sich darauf, ihren Sopran aus innigem, beinahe schüchternem Piano aufblühen zu lassen. Auch wenn die große Entdeckung, die Jolanthe durch den Ritter Vaudémont macht, immer höhere Wogen schlägt, behält die Sängerin diesen hellen Schimmer bei, nimmt sie uns mit auf einen Wellenritt der Emotionen. Für ekstatische Höhepunkte hat sie genug Durchschlagskraft, setzt diese aber mit eleganter Zurückhaltung ein. Khanyiso Gwenxhane zeigt sich als Ritter Vaudémont auch stimmlich glänzend gerüstet: Sein Tenor vereint Geschmeidigkeit mit hellen Farben. Dem setzt Philipp Kranjc (König René) als sein Gegenspieler einen markigen Bass entgegen. Benedict Nelson mischt als Arzt Ibn-Hakia zweifelnde Töne in seinen warmen, empathisch klingenden Bariton.

Unterstützt werden die musikalischen Leistungen durch die Kostüme von Hedi Mohr, die unaufdringlich ein Aufeinandertreffen von Islam und Christentum andeuten, und die Beleuchtung von Patrick Fuchs, die das künstliche Rondell aus dem Dunkel herausschneidet, als sei es das verlorene Paradies.

Ja wo ist sie denn? Der Hofstaat sucht nach der Nachtigall, denn sie wird vom Kaiser von China erwartet. (Foto: Pedro Malinowski)

Deutlich bunter, ja beinahe comichaft geht es in Strawinskys „Le rossignol“ zu, in der sich die Regie von Kristina Franz sehr wirkungsvoll mit dem Puppentheater ergänzt. Das Märchen von der chinesischen Nachtigall, die in der kaiserlichen Gefangenschaft zunehmend versagt und leichtfertig durch einen Automaten ersetzt wird, deutet die Regie als Kampf zwischen Natur und Künstlichkeit, letztlich auch zwischen Leben und Tod. Auch dies erschließt sich eher im Programmheft als auf der Bühne, aber die szenische Umsetzung ist so hübsch anzusehen und Strawinskys Musik so originell, dass sich darüber hinwegsehen lässt.

Im Wesentlichen ist „Le Rossignol“ ein stimmlicher, mit Koloraturen und Spitzentönen gespickter Hochseilakt. Den meistert die belgische Sopranistin Lisa Mostin bewundernswert schwindelfrei; die Spezialisierung auf dieses Fach ist ihr anzuhören. Frei bewegt sie sich aber nicht nur stimmlich: Sie stellt auch in ihren Bewegungen ein Naturwesen dar, in einem unscheinbaren braunen Kleid, das sich von der farbenfroh gewandeten Hofgesellschaft absetzt (Kostüme: Hedi Mohr).

Eine Schachfigur erwacht zum Leben: Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma und Maximilian Teschemacher führen eine Puppe von Jonathan Gentilhomme (Foto: Pedro Malinowski)

Der zweite große Clou dieser Inszenierung sind die Puppen von Jonathan Gentilhomme, der einer kleinen weißen Schachfigur zunächst einen kleinen Kobold entsteigen lässt, der allmählich zum Riesen wächst (und laut Programmheft den Tod darstellen soll). Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma und Maximilian Teschemacher bewegen diese Figuren so kunstvoll, dass sie ein staunenswertes Leben gewinnen.

Vokaler Höhenflug: die belgische Sopranistin Lisa Mostin als Nachtigall (Foto: Pedro Malinowski)

Im Orchestergraben gelingt es Rasmus Baumann und der Neuen Philharmonie Westfalen, der Musik über den Bruch hinweg zu helfen, der sich durch die zwischenzeitliche Uraufführung von „Le Sacre du Printemps“ im Kompositionsprozess ergab. Klingt im ersten Akt noch Impressionistisches à la Claude Debussy durch, wird es im weiteren Verlauf deutlich moderner, ragt das Werk hörbar ins 20. Jahrhundert hinein. Dass „Le Rossignol“ sich auf der Opernbühne nie so recht durchsetzen konnte, ist nicht allein der Musik wegen schade. Kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs entstanden, besitzt die Fabel einen zeitlos aktuellen Kern: Mensch, Natur und Seele stehen auf der einen Seite, der kalte Mechanismus der Maschine auf der anderen.

(Karten und Termine: www.musiktheater-im-revier.de)




Loslassen lernen – Bernhard Schlinks Roman „Das späte Leben“

Martin ist sechsundsiebzig und blickt auf eine erfolgreiche Karriere als Jurist und Uni-Professor zurück. Spät hat der notorische Junggesellen noch das kleine private Glück gefunden.

Warum sich die viel jüngere Ulla, eine lebenslustige Frau und Malerin abstrakter Bilder, mit denen Martin nichts anzufangen kann, sich für den verschlossenen Juristen entschieden hat, ist ihm ein Rätsel. Doch er genießt ihre Liebe und freut sich jeden Tag darauf, Sohn David in den Kindergarten zu bringen und nebenbei noch als Autor von juristischen Aufsätzen gefragt zu sein.

Es bleiben nur wenige Wochen

Doch von einer Sekunde auf die andere zerbricht die Idylle, sind alle Träume von einem geruhsamen Alter dahin. Die Diagnose seines Arztes lautet: Bauchspeicheldrüsen-Krebs im Endstadium. Was fängt er an mit den wenigen Wochen, die ihm bleiben? Wie verabschiedet er sich und was kann er hinterlassen? Wie wäre es, wenn er seinem Sohn zeigt, wie man nachhaltig kompostiert? Soll er beim Buchhändler eine größere Geldsumme hinterlegen, damit David sich jederzeit mit neuem Lesestoff versorgen kann? Und ist es nicht eine schöne Idee, einen langen Brief zum kurzen Abschied zu schreiben, in dem er seinem Sohn die Welt erklärt, über Gott und Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit, Leben und Tod philosophiert?

Unaufgeregtes Erzählen, nah am Klischee

Wie sein literarischer Wahlverwandter, so hat auch Bernhard Schlink eine juristische Karriere hinter sich: Uni-Professor, Richter am Verfassungsgericht in Nordrhein-Westfalen, Gutachter am Bundesverfassungsgericht. Irgendwann fing er an, Krimis zu schreiben und startete dann mit dem (auch erfolgreich verfilmten) Roman „Der Vorleser“ (1995) international durch. Seine Bücher haben eine Bestseller-Garantie, das dürfte auch für seinen neuen Roman „Das späte Leben“ gelten. Bei Schlink weiß jeder, was er bekommt: unaufgeregtes, klassisches Erzählen, sympathische Figuren mit kleinen Macken und Marotten, eine Handlung, die ganz leicht am Klischee vorbei schrammt, mit Pathos ins Menschlich-Allzumenschliche driftet, nach einigen Wendungen zu einem harmonischen Ende findet.

Martin muss noch viel lernen, bevor er mit sich im Reinen ist und sich aufs Sterbebett legen darf. Dass er glaubt, noch als Toter die Zukunft seines Sohnes mitbestimmen zu können, indem er ihm Aufgaben und Briefe hinterlässt, geht seiner Frau gehörig auf die Nerven: „Deine Hand, deine Gedanken, dein Brief, deine Bücher, dein Kompost – alles dein. So kann es nicht bleiben. David muss dich loslassen, er muss sich finden – und mich. Warum machst du es mir so schwer? Es macht mir Angst.“

Auf sanfte Weise übergriffig

Klar, dass Martin Läuterung verspricht und Ulla schließlich besänftigen kann. Nett, dass er seiner Gattin einen Seitensprung verzeiht, den Liebhaber aufsucht und ihn bittet, sich nach seinem Tod um Ulla und David zu kümmern und gut zu ihnen zu sein. Aber ist das nicht auch schon wieder etwas übergriffig? Auch dass er, ohne seine Frau einzuweihen, eine Detektei beauftragt, nach ihrem verschollenen Vater zu suchen, hätte er wohl besser mit ihr absprechen müssen. Aber alles nicht so schlimm. Die Liebe heilt alle Wunden. Sterben heißt: Frieden schließen. Das ist zwar ziemlich kitschig, aber auch irgendwie tröstlich.

Bernhard Schlink: „Das späte Leben“. Roman. Diogenes. Zürich 2023, 240 Seiten, 26 Euro.