Gruppendynamische Selbstbeschau – „Spiegelneuronen“ in Salzburg

Irritierende Spiegelungen des Publikums – Szene aus „Spiegelneuronen“ bei den Salzburger Festspielen. (Foto: SF / Bernd Uhlig)

Der Vorhang hebt sich, sofort geht ein Raunen durchs Publikum. Der Bühnenraum ist durch einen riesigen Spiegel verstellt, der jeden Zuschauer und jede seiner Bewegungen und Gefühlsausdrücke offenlegt. Wenn jemand seinem Ebenbild zuwinkt und dabei fröhlich grinst, machen bald auch (fast) alle anderen das nach. Wenn jemand mit den Armen rudert oder eine Wellenbewegung andeutet, wird schnell (fast) die ganze Menschenmenge zu einem sanft wogenden Einheitskörper.

Wenn jemand mit seinem Handy leuchtende Kreise formt, wird (fast) der ganze Saal zur sich selbst bespiegelnden Fangemeinde. Wenn jemand es nicht mehr auf den harten Holzstühlen aushält und zu den aus dem Off dröhnenden Rhythmen seinen Körper in Wallungen bringt, wird schlagartig (fast) das ganze Theater zum schweißtreibenden Dancefloor. Mitmachen ist das Motto des Moments. Empathie das oberste Gebot. Einfach mal das Gehirn ausschalten und sich den Synapsen der Abertausenden Nervenzellen überlassen, die uns zu Handlungen verführen, von denen unser Bewusstsein gar nichts weiß. Wer will, wo so viele Menschen sich ausgelassen selbst bespiegeln und zu einem ununterscheidbaren Menschenklumpen mutieren, noch abseits stehen und den Spielverderber geben?

„Dokumentarischer Tanzabend mit Publikum“

Die international gefeierte Tanz-Compagnie von Sasha Waltz und das für seine szenischen Interventionen bekannte Theater-Kollektiv Rimini Protokoll, das mit dokumentarischen Recherchen auch mehrfach in Mannheim und Heidelberg für Furore sorgte, hat sich für die Salzburger Festspiele ein ebenso faszinierendes wie befremdliches Kunst-Projekt ausgedacht: „Spiegelneuronen“ nennen sie ihren „Dokumentarischen Tanzabend mit Publikum“.

Getanzt im Sinne eines theatralisch-künstlerischen Körper-Ausdrucks wird allerdings nicht. Sasha Waltz und ihre Mitstreiter mischen sich lässig unters Publikum und animieren es zu gymnastischen Verrenkungen, kuriosen Blödeleien und absurden Imitationen. Der Mensch möchte gern ein unverwechselbares Individuum sein, ist aber doch ein Herdentier. Will geliebt sein und hat Angst, aus der Gemeinschaft  ausgestoßen zu werden. Das ist, sagt uns eine Stimme aus dem Off, genetisch bedingt: Wurde man von seinem Stamm aus der Höhle geworfen, kam das einem Todesurteil gleich.

Erklärstimmen aus Psychologie und Soziologie

Die erklärenden Stimmen von Neurologen, Psychologen und Soziologen begleiten die theatralische Versuchsanordnung, bei der das Publikum selbst zum Akteur und Gegenstand des Interesses wird. Mehr als ein paar Gemeinplätze kommen aber nicht zu Gehör. Dass der Mensch durch Nachahmung lernt und sich ständig in einem Konflikt zwischen Anpassung und Aufruhr befindet, dass unsere Gefühle oft verrückt spielen und unser Handeln nicht zu unserem Denken passt, wussten wir schon vorher. Auch dass wir gern Teil einer Gruppe sind, obwohl wir auf unsere Selbständigkeit pochen, war uns nicht unbekannt. Müssen wir, um daran erinnert zu werden und uns bei der Selbst-Bespiegelung auch ein wenig lächerlich zu machen, wirklich ins Theater gehen?

Für Rimini-Protokoll-Konzeptkünstler Stefan Kaegi, der diesmal für Regie und Konzept verantwortlich zeichnet, ist die Antwort klar. Für das Theater interessiert er sich sowie nicht: „Das eigentliche Schauspiel findet in der Diskussion danach als zentrales Element gemeinsamen Erlebens statt.“ Statt wie sonst in ihren Dokumentar-Recherchen Theater-Laien als „Experten aus der Wirklichkeit“ auf die Bühne zu bringen und alte und neue Texte aus der Sicht von „Alltags-Experten“ neu zu verhandeln, wird jetzt das Publikum selbst zum Zentrum der Aufführung.

Wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt

Selbst wenn man (wie der Verfasser dieser Zeilen), das ganze Treiben kopfschüttelnd beäugt und eher abgestoßen davon ist, wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt, entwickelt der Abend doch auch einen optischen und akustischen Reiz. Gelbe Luftballons schweben durch den Raum und befördern den kindlichen Spieltrieb. Grelle Scheinwerfer suchen sich einzelne Personen und beleuchten, wer sich wohl fühlt im Gruppengemenge oder am liebsten fliehen möchte. Gemeinsam mit den Armen wedeln und herumzuhopsen und sich dabei über sein Spiegelbild zu wundern, ist für die meisten in Ordnung. Dem Vorschlag aber, den fremden Sitznachbarn zu berühren und Körpergrenzen zu überschreiten, mag nicht jeder nachkommen.

Den unterhaltsamen und neckischen, aber auch ziemlich überflüssigen Abend beschließt der Radiohead-Song „Creep“: ein Widerling („creep“) ist in ein wunderschönes, unnahbares Mädchen verliebt. Der „Spinner“ („weirdo“) würde so gern auch einen perfekten Körper haben, fragt sich aber: „What the hell am I doing here?“ Ja, was mache und was will ich eigentlich hier in diesem Theater der Selbstbespiegelung?

„Spiegelneuronen“, Salzburger Festspiele (Deutschlandpremiere am 29. August im Radialsystem Berlin).

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Zur deutsch-schweizerischen Künstlergruppe Rimini Protokoll gehören Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel.

Rimini Protokoll entwickelt theatralische Interventionen und szenische Installationen, bei denen Laien auftreten, die keine Dramen-Texte spielen, sondern sich selbst als „Experten aus der Wirklichkeit“ und „Alltags-Spezialisten“ mit ihrer Biografie einbringen.

In der Kunsthalle Mannheim haben sie die Installation „Urban Nature“ (2022) gezeigt, im Heidelberger Kunstverein die Ausstellung „Drei Fliegen mit einer Klappe“ (2010).

Mit ihrer Version von „Wallenstein“ (2005) waren sie bei den Schillertagen in Mannheim, auch „Call Cutta in a Box“ (2008) haben sie als „Interkontinentales Telefonstück“ im Nationaltheater Mannheim inszeniert.

 

 




Mit vokalem Volldampf durch Georgien: Der Trinity Cathedral Choir aus Tiflis bei der Ruhrtriennale

 

Der Georgian State Chamber Choir (oder Trinity Cathedral Choir) trat bei der Ruhrtriennale in der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle Bochum auf (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Fraglos erwartet man Außergewöhnliches von einem Chor, der zur Ruhrtriennale eingeladen wird, zumal das Festival mit dem Chorwerk Ruhr einen bewährten Partner mit glänzendem Ruf an seiner Seite hat. Aber die vokale Wucht und die Vielseitigkeit des Georgian State Chamber Choir sprengt dann doch die Vorstellungskraft. Für ihr Konzert in der Turbinenhalle der Jahrhunderthalle Bochum wurden die Gäste aus Tiflis stürmisch gefeiert.

Das Programm konzentrierte sich im ersten Teil auf moderne georgische Chormusik, nach der Pause auf traditionelle polyphone Gesänge. Zwei Dirigenten teilten sich den Abend: Svimon (Jiki) Jangulashvili nahm sich der Moderne an, Giorgi Donadze leitete durch die oft archaisch klingenden Tonfolgen, die nur unzureichend verschriftlicht wurden und daher vom Vergessen bedroht sind. Seit 2001 zählen sie daher zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO.

Gegründet wurde der Chor 1998 nach dem Neubau der Dreifaltigkeitskirche in Tiflis, die nach dem Zerfall der Sowjetunion errichtet wurde, als Symbol georgischen Kulturbewusstseins. 2001 wurde er in den Rang des „Staatlichen georgischen Kammerchors“ erhoben. Die Pflege der traditionellen georgischen Musikkultur liegt ihm besonders am Herzen.

Georgi Donadze dirigierte die zweite Konzerthälfte, in der die traditionelle georgische Polyphonie im Mittelpunkt stand (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Wer gerne mehr über solche Zusammenhänge erfahren hätte, mehr vor allem auch über die Komponisten, die als wahre Schöpfer im Zentrum jedes ernst zu nehmenden Konzerts stehen sollten, den lässt die Triennale im Regen stehen. Der Flyer, den es statt eines Programmhefts gibt, ist zwar kostenfrei, aber um welchen Preis? Er hätte kaum dürftiger ausfallen können: eine karge Auflistung von Namen und Stücktiteln, schlecht redigiert obendrein, die Umschrift der georgischen Namen ist verwirrend uneinheitlich (Zviad oder Swiat? Kechakmadze oder Kedtschakmadse?). Für die alten Gesänge fällt gerade einmal ein Satz als Inhaltsangabe ab.

Dabei ist es doch die Musik der georgischen Tonschöpfer, die im Mittelpunkt stehen sollte. Sie transportiert uns an diesem Abend in faszinierende Welten. Dirigent Svimon Jangulashvili ist sich dessen bewusst: Als Reaktion auf den begeisterten Beifall hebt er mehrfach die Partituren der Werke hoch über seinen Kopf, um mit dieser Geste auszudrücken, dass die Ehre zuerst den Komponisten gebührt, nicht den Interpreten.

Wie der Chor sich aber für die Musik seines Landes einsetzt, welche Bandbreite des Ausdrucks diese Männerstimmen erreichen, ist – man kann es nicht anders sagen – ein Ereignis. Zu Beginn lässt sich das noch nicht erahnen, denn es dominiert ein sakraler, hymnischer Charakter. Der Poesie der Kompositionen von Zviad Bolkvadze spürt der Chor mit äußerst fein abgestufter Lautstärke nach: singend, mystisch summend, meditativ auf Dauertönen verharrend.

In „Oh, die Kirschblüten“, entstanden nach einem japanischen Volksgedicht, stellt Bolkvadze dem Chor ein Vibraphon an die Seite, dessen Metallplatten auch mit einem Bogen gestrichen werden. Das tönt zart, zuweilen auch ein wenig süßlich. Wer sich davon eingelullt fühlt, wird jäh von einem Schwall knatternder Silbenfolgen geweckt: Ioseb Kechakmadze hat aus Yetim Gurgis Gedicht ein sehr rhythmisches Stück gemacht, das vorwärtsstürmt wie ein Pferd in gestrecktem Galopp. Der Chor schärft seinen Klang jetzt aggressiv, die Akzente sind wie eine Attacke mit dem Florett, gelegentlich vom Aufstampfen mit dem Fuß unterstrichen.

In Kechakmadzes „Übung“ bohren sich die Sänger so lange in die Vokale A, E, I, O, U hinein, bis Obertöne mitschwingen. Das Gesangssolo seines Stücks „Die Welt“ übernimmt der Komponist Zviad Bolkvadze höchstselbst. Er entfaltet dabei Autorität und Modulationsfähigkeit eines Gebetsrufers.

Einige wenige Instrumente kamen bei dem Chorkonzert ebenfalls zum Einsatz (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Was nach der Pause geschieht, gleicht einer aufregenden Reise in eine ferne Kultur. Archaisch klingen Quart- und Quintparallelen in einem vorchristlichen Ritualgesang aus Westgeorgien. Immer wieder treten Vorsänger aus dem Chor: Die Wechselgesänge, die dann angestimmt werden, sind viel körperlicher und erdiger als alles, was europäische Ohren sonst gewohnt sind. Zu bewundern gibt es viel, zum Beispiel eine dem Jodeln ähnliche Gesangstechnik, die fragile Schönheit eines ostgeorgischen Liebeslieds und einen Trinkspruch aus der Region Kachetien, aus dem uns die Weite des Landes anweht.

So reaktionsschnell die Sänger noch auf den kleinsten Fingerzeig von Svimon Jangulashvili reagieren, so bedingungslos vertrauen sie sich der Autorität von Giorgi Donadze an. Unter seiner Leitung gewinnen die Stimmen ein nachgerade triumphales Volumen. Es scheint ein regelrechter Sängerwettstreit auszubrechen, samt einer erregten Diskussion unter Dorfbewohnern. Gerne hätten wir mehr über die Hintergründe erfahren. In Erinnerung bleiben wird auch ein Arbeitslied, das die Fahrt mit einer Dampflokomotive lautmalerisch nachzeichnet. Zischende Laute, maschinenhafte Rhythmik, begleitet von heulend langgezogenen „Au“-Signalen: Es war das pure Hörvergnügen.

(www.ruhrtriennale.de)




Personenkult um einen deutschen Star: „I want absolute beauty“ wird durch Sandra Hüller zum Renner der Ruhrtriennale

Die Schauspielerin als Rockstar: Sandra Hüller in der Triennale-Produktion „I want absolute beauty“ in der Jahrhunderthalle Bochum (Foto: Jan Versweyveld)

Sandra Hüller. Muss hier wirklich noch mehr gesagt werden? Jawohl, unbedingt, sofern man nicht einfach sein Gehirn ausschalten und ein geliebtes Idol feiern möchte wie auf einem Rock-Konzert.

Nichts anderes ist die Triennale-Produktion „I want absolute beauty“ in der Jahrhunderthalle Bochum: eine lautstark wummernde, von Lichtgewittern durchzuckte Show um einen Star, ein auf Taschenformat eingedampfter Stadionkracher samt Videoleinwand und einem Tanzkollektiv, das schon an Madonnas „Celebration“-Tour mitgewirkt hat („La Horde“ aus Marseille).

Intendant Ivo van Hove und die britische Singer-Songwriterin PJ Harvey, die höchstpersönlich zur Premiere nach Bochum kam (Foto: Jan Versweyveld)

Aus seiner Liebe zur Musik von PJ Harvey und der Bekanntschaft mit der fabelhaften Schauspielerin, die nur knapp am Oscargewinn vorbei geschrammt ist, hat Regisseur Ivo van Hove ein Event geschmiedet, das starken Publikumszulauf nahezu garantiert – was ihm zum Einstand als neuer Intendant der Ruhrtriennale nicht ungelegen kommen dürfte. Er hat sich intensiv durch alle Alben der britischen Sängerin und Songwriterin gehört und versucht, ihre Songs in eine Reihenfolge zu bringen, die eine Geschichte erzählt.

Die „Hauptrolle“, die er schließlich Sandra Hüller gab, ist keine im herkömmlichen Sinne. „I want absolute beauty“ hat keinen Text und keine Handlung, sondern ist eine Abfolge von Songs, die van Hove in thematische Gruppen sortiert hat. Wer daraus Erkenntnis gewinnen möchte, muss in die Songtexte einsteigen, die bei der Ruhrtriennale als Übertitel eingeblendet werden, sowohl im englischen Original als auch in deutscher Übersetzung. PJ Harvey befasst sich darin, wie sollte es anders sein, mit allgemein menschlichen Themen: mit der Liebe und ihren Enttäuschungen, mit Einsamkeit und Rebellion und Prozessen der Selbstfindung, die ja keineswegs nur die Jugend betreffen.

Jede Menge Dynamik: Das Tanzkollektiv von „La Horde“ aus Marseille (Foto: Jan Versweyveld)

Das hat durchaus Gedankentiefe: Ivo van Hove hat recht, wenn er sagt, dass nicht nur die klassische Musik Sinn und Werte vermittelt. Ein Stück im Sinne einer stringenten Erzählung, einer geschlossenen dramaturgischen Form, wird daraus trotzdem nicht. Es bleibt bei einer guten Show mit Independent Punk-Rock, bei der man vor allem Sandra Hüller bewundert: wie wandlungsfähig sie ihre Stimme einsetzt, wie sie ihre blonde Löwenmähne wirft (es handelt sich dabei natürlich um eine Perücke), wie sie sich mit jedem Kostümwechsel zu einer anderen Figur häutet, wie frei und souverän sie sich mit den hoch professionellen Tänzern bewegt. Wenn sie zu Lichtexplosionen ins Mikrophon röhrt wie eine echte Rock-Lady, mutet es fast seltsam an, dass sie nicht für eine tobende Menschenmasse singt, sondern für ein andächtig stillsitzendes Festival-Publikum.

Wer Hunger nach Schönheit verspürt, wie ihn der Titel dieser Produktion formuliert, wird an der Ästhetik der Szene Nahrung finden. Das mit rötlicher Erde bedeckte Bühnengeviert, seitlich gerahmt von jungen Bäumen, wird durch die Spuren des Tanzes mehr und mehr schraffiert (Bühnenbild: Jan Versweyveld). Die Compagnie wirbelt – im Wortsinne – Staub auf, schlittert, rennt und rollt über diesen Boden, bis die durchtrainierten Körper regelrecht paniert sind. In stillen Momenten breitet sich eine Decke aus Bühnennebel darüber aus, in zauberhaft gemächlichem Fluss.

Gewohnt wandlungsfähig: Sandra Hüller macht sogar als Rockstar eine überzeugende Figur (Foto: Jan Versweyveld)

Videodesigner Christopher Ash hat sich erkennbar von den Plattencovern PJ Harveys inspirieren lassen. Seine Bilder entwickeln hypnotische Sogkraft, zeigen Stadt- und Naturimpressionen, aber auch Bilder einer Live-Kamera, mit der die Darsteller sich gegenseitig aufnehmen. Die Band, weit hinten auf der Bühne sitzend, gibt dem Abend unter der musikalischen Leitung von Liesa van der Aa einen Sound, der mächtig Stimmung schafft. Er mag anders klingt als der, den die Fans von PJ Harvey von ihren Alben kennen, funktioniert für die Show aber perfekt, zumal es Übergänge von einem Song zum nächsten braucht.

Es ist natürlich nicht verwerflich, wenn der Abend auf der Erfolgswelle mit surft, die Sandra Hüller derzeit weiter und weiter trägt. Eine kritische Frage sei gleichwohl erlaubt. Müssen wirklich Landesmittel in Formen der Unterhaltung fließen, die ohnehin schon jeden Winkel in nahezu jedem Lebensbereich durchdrungen haben? Deren Übermacht sich nichts und niemand mehr entgegenstellt, schon gar nicht quotenhypnotisierte Medien? Sollte nicht das gefördert werden, was es schwer hat? Es waren Produktionen wie „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann oder „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen, die auch Skeptikern verdeutlichten, dass die Ruhrtriennale leisten kann, wozu anderen Bühnen die Ressourcen fehlen. Und weshalb wir sie wirklich, wirklich brauchen.

(www.ruhrtriennale.de)




„Nachspielzeit“ des Lebens – Späte Lyrik von Jürgen Becker

Mit den vielen Lebensjahren wird der menschliche Handlungsradius spürbar kleiner und enger, es zählen nun zusehends Dinge und Zustände im Nahbereich. Was man sich darunter vorstellen kann, beschreibt der 1932 in Köln geborene Büchnerpreisträger Jürgen Becker in seinem Lyrik-Band „Nachspielzeit“, der – dem Untertitel zufolge – „Sätze und Gedichte“ enthält.

Eine „Nachspielzeit“ gibt es nicht nur in diversen Sportarten, sondern auch im Leben. Es ist jene Zeit, in der nach und nach die meisten Freunde und Weggefährten sterben und das Gefühl sich einstellt, man sei aus seiner Kohorte nahezu allein übrig geblieben. Es ist das Dasein im Wartestand, in „zugezählten Stunden“, wie es einmal bei Lessing hieß. Die Tage bestehen größtenteils aus Wiederholungen und Gewohnheiten. Keine Zeit für hochfliegende Hoffnungen oder große Entwürfe, sondern für leise, sanft verhallende Töne. Gleichwohl gibt es noch immer ein „Netz der Zusammenhänge“, in dem man sich auch verheddern kann.

Beckers Gedichte kreisen vor allem um Schwund und Verschwinden, vielfach auch um Leere und Alleinsein, wenn nicht Einsamkeit. Sehr innig und still verweilen Gedanken und Empfindungen bei Jürgen Beckers verstorbener Frau Rango Bohne. Wie ließe sich eine solch umfassende Abwesenheit auch verwinden?

In den Blickpunkt rückt nunmehr der kleinteilige Alltag, rücken die Gegenstände im Haus – buchstäblich von der Waschmaschine bis zur Eieruhr. Politische Ereignisse dringen, wenn überhaupt, eher als restliche Sinnfetzen, als allzu bekannte Partikel in diese eng gewordene Welt; ein Zustand, der vom lyrischen Ich offenbar gelegentlich als befreiend empfunden wird. Es gibt eben auch wohltuende Leere, sofern man die Medien beiseite lässt. Allerdings:

„Ich kann nur sagen, daß ich versuche,
mit der Leere zurande zu kommen, die jeden Morgen
aufs neue beginnt.“

Einmal zitiert Becker wörtlich das (zuweilen besonders ergiebige) Naherlebnis aus Gottfried Benns Gedicht „Was ist der Mensch“ herbei:

„Du mußt aus deiner Gegend alles holen,
Denn auch von Reisen kommst du leer zurück.“

Immer wieder geraten jedoch, zumal in den Träumen, Phänomene aus früheren Lebensphasen an die Tages-Oberfläche – besonders die als Kind in Thüringen durchlittenen Bombennächte des Zweiten Weltkriegs. Mehrfach werden Bezeichnungen von „damals“ aufgerufen, die bei jüngeren Menschen überwiegend in Vergessenheit geraten sind; Schockmomente auch hier inbegriffen. Beispiel:

„Das Fräulein vom Amt. Die Küchenmamsell.
Die Zugehfrau. Das Kinderfräulein. Die Handarbeitslehrerin.
Die Gouvernante. Die KZ-Aufseherin. Das Milchmädchen…“

Vergessen wäre vielleicht heilsam, doch es wird auf Erden nicht gewährt. Zitat:

„– glaub ja nicht, es sei vergessen,
was du einmal gesagt hast,
es kommt alles wieder (…)
irgendwo glimmt alles weiter
und das Gedächtnis kennt keine Gnade.“

Das höhere Alter bringt bekanntlich auch den Unwillen mit sich, ständig auf Veränderung zu sinnen. Hier gerinnt diese Haltung zur Absage an Rilkes berühmte Zeile „Du mußt dein Leben ändern“. Becker hingegen postuliert:

Du mußt dein Leben nicht ändern. Geändert hat sich schon alles allein.“

Jürgen Becker hat im Lauf der Jahrzehnte einen ganz eigenen Kosmos aus Lyrik und Journalen erschaffen. Seinem künstlerischen Können darf man sich lesend getrost anvertrauen. Diese späten Gedichte sind assoziativ, flüchtig, sie versammeln Momente und Fragmente, alles gerundet Ganze stünde wohl unter Lügenverdacht. Und doch spürt man in all diesen Zeilen mehr oder weniger deutlich, was – aus höchst subjektiver Sicht – eigentlich vorgeht.

Einzelne Worte wie „Gehöft“ oder „Häher“ scheinen überdies feinsinnig hinzudeuten auf die karge Nachkriegslyrik von Günter Eich, mithin auf eine Inventur von Restbeständen. Auch auf solch unscheinbare Weise können sich Traditionsstränge bilden.

Jürgen Becker: „Nachspielzeit“. Sätze und Gedichte. Suhrkamp. 106 Seiten. 24 Euro.




Start mit hoher Schlagzahl: Ivo van Hove verdichtet die Ruhrtriennale 2024 auf viereinhalb Wochen und drei Städte

Jüdische Prinzessin liebt römischen Kaiser: Isabelle Huppert spielt bei der Ruhrtriennale in der Deutschen Erstaufführung von Jean Racines Tragödie „Bérénice“ (Foto: Jean Michel Blasco)

Konzentration, Verdichtung, Schlagkraft: Unter diesen Vorzeichen legt die Ruhrtriennale 2024 am 16. August los. In seinem ersten Jahr als Intendant will der Belgier Ivo van Hove das Kunstereignis intensivieren, indem er es zeitlich und räumlich begrenzt.

Das Programmangebot ist gewohnt umfangreich, aber das Festival wird nur noch viereinhalb Wochen dauern. Von den Spielorten sind lediglich drei Städte geblieben: Bochum, Essen und Duisburg. Selbst beliebte Aufführungsorte wie die Zeche Zweckel in Gladbeck und die Zeche Zollern in Dortmund sind diesmal nicht dabei.

Ein Festival solle „wie ein Feuerwerk in Zeitlupe explodieren“, sagt der Intendant, der sich bei der Auftakt-Pressekonferenz noch ein wenig an einem Manuskript festhält, obwohl er exzellent deutsch spricht. Bereits am Eröffnungs-Wochenende bringt die Ruhrtriennale vier Premieren in Folge und will bis zum Abschluss am 15. September so kraftvoll durchziehen, dass die Besucher in einen Sog geraten, von einer Veranstaltung zur nächsten.

Sandra Hüller, Isabelle Huppert

Ivo van Hove wirkte bereits unter Gründungsintendant Gerard Mortier bei der Ruhrtriennale mit. Nun startet er in sein erstes Jahr als Festival-Intendant. (Foto: Thomas Berns/Ruhrtriennale)

Van Hoves Startposition sieht gut aus. Drei Viertel von insgesamt 41.000 Karten sind „bereits vergeben“, wie es offiziell heißt, in eleganter Umgehung des Worts „verkauft“. Etliche Produktionen sind ohne Zweifel stark gefragt, allen voran die Eröffnungspremiere mit der Beinahe-Oscarpreisträgerin Sandra Hüller, die in der zwischen Musiktheater und Ballett changierenden Produktion „I want absolute beauty“ in der Regie von Ivo van Hove Songs von PJ Harvey singt.

Ein weiterer weiblicher Gast-Star kommt aus Frankreich: Isabelle Huppert spielt in einer Deutschen Erstaufführung Romeo Castelluccis freie Adaption von Jean Racines „Bérénice“, der Tragödie um die jüdische Prinzessin, die sich in den römischen Kaiser Titus verliebt. Die Uraufführung des Tanzstücks „Y“ von Anne Teresa de Keersmaeker ist bereits an so vielen Tagen ausverkauft gemeldet, dass kaum noch ein Fuß dazwischen passen dürfte.

Wildes Leben in freier Kommune: Szenenfoto aus der Produktion „The Faggots and their friends between Revolutions“, basierend auf dem Kultroman aus den späten 1970er Jahren (Foto: Tristram Kenton)

Etwas skurril sind die Verrenkungen, die das Triennale-Team bei der Ankündigung der Produktion „The Faggots and their friends between Revolutions“ unternimmt. Es ist ein Musikspektakel, das Ted Huffman und Philip Venables nach einem Kultroman von Larry Mitchell geschaffen haben. Weil der Titel ein Schimpfwort für schwule Männer benutzt, veröffentlicht die Triennale vorauseilende Erklärungen und Entschuldigungen (faggot bedeutet so viel wie Schwuchtel, das englische Wort für das Musikinstrument Fagott lautet bassoon). So weit, so verständlich. Aber dass die Produktion als „entschlossenes Musiktheater“ beworben wird, als gäbe es auch ein unentschlossenes oder gar zweifelndes, wirkt, mit Verlaub, ziemlich durchgedreht.

Die neue Nachhaltigkeit

Szenenfoto aus dem Operetten-Slapstick-Musical „Pferd frisst Hut“ mit Musik von Herbert Grönemeyer. (Foto: Thomas Aurin)

Weil jeder selbst durch das Programm blättern oder scrollen kann, sei Weiteres hier nur stichpunktartig skizziert. Schräg und komisch verspricht das Slapstick-Operetten-Musical „Pferd frisst Hut“ von Herbert Grönemeyer in der Regie von Herbert Fritsch zu werden. Edvard Griegs einziger Liederzyklus „Haugtussa“ inspirierte die Regisseurin Eline Arbo zu einer szenischen Fassung. Kirill Serebrennikov setzt dem im Westen kaum bekannten Filmregisseur Sergey Paradjanov in „Legende“ ein Denkmal. Es handelt sich dabei um eine Koproduktion mit dem Thalia Theater und der Kirill & Friends Company. An diesem Beispiel lässt sich eine weitere Neuerung ablesen: Ivo van Hove legt Wert auf Nachhaltigkeit. Alle Produktionen, die bei der Triennale zur Premiere gelangen, werden danach in die Häuser von Kooperationspartnern im In- und Ausland wechseln.

Meldestellen und Vertrauenspersonen

Es könnte alles so schön sein, stünden da nicht die Vorwürfe einer intendantentypischen Willkür im Raum, zu denen van Hove bei der Pressekonferenz natürlich auch befragt wird. Beschuldigungen, es habe am Internationalen Theater Amsterdam unter seiner Leitung Einschüchterung, Machtmissbrauch und verbale Gewalt gegeben, wurden von einer Kommission untersucht, die Ende Juli ihre Ergebnisse veröffentlichte. Van Hove, der die Vorfälle bereits öffentlich bedauert hat und versicherte, an einer Aufklärung mitarbeiten zu wollen, antwortet diesmal beherrscht und knapp, beinahe ein wenig schmallippig. Bei der Ruhrtriennale seien bewährte Strukturen vorhanden, an denen er „nicht rütteln“ wolle, sagt er mit Blick auf Meldestellen und Vertrauenspersonen.

„Lasset die Spiele beginnen!“

„Longing for tomorrow“ ist das Motto der diesjährigen Festival-Ausgabe, womit die Sehnsucht nach einem neuen Morgen gemeint ist. Es soll daran erinnern, dass dem Menschen stets die Kraft zur Neuerfindung, zu Wandel und Verbesserung innewohnt. Mit Blick auf die Kunst gibt es in den kommenden Wochen genug zu entdecken: eine Literaturreihe mit dem Titel „Brave new voices“, außergewöhnliche Konzerte mit dem Chorwerk Ruhr, das zum Beispiel Musik von Björk und Bruckner kombiniert, sowie den Komponisten Julius Eastman, den die Triennale aus dem Schatten seiner berühmten Kollgen Philip Glass und Steve Reich holt. Dazu begehbare Installationen (teils kostenfrei) und Workshops, Vermittlungsangebote, einen Festivalcampus von zehn Hochschulen, Publikumsgespräche und mehr. Nach dem Erlöschen des olympischen Feuers in Paris kann es im Ruhrgebiet erneut heißen: Let the games begin!

www.ruhrtriennale.de




Das Kabarett neu justiert – ein paar Zeilen zum Tod von Richard Rogler

Richard Rogler, 2016 beim Dortmunder Festival „Ruhrhochdeutsch“ im Spiegelzelt an der Westfalenhalle. (Foto: Bernd Berke)

Welch ein Verlust! Der Wahl-Kölner Richard Rogler ist mit gerade einmal 74 Jahren gestorben. Er war im üblichen Wortsinne weder Kabarettist noch gar Comedian, sondern einer, der die Kabarett-Kunst an den entlarvenden Schnittstellen zwischen Privatleben und Politik recht eigentlich neu justiert hat. Insofern ein Pionier seines Metiers.

Stationen seines Werdegangs (darunter auch Kindertheater) und die zahlreichen Preise lassen sich vielfach nachlesen. Ich möchte es bei einer flüchtigen und doch prägnanten Erinnerung belassen. Ich meine Roglers erzkomische Nummer rund um die damalige pakistanische Premierministerin Benazir Bhutto (in diesem Amt 1988-1990 und 1993-1996), eine ausgesprochen schöne Frau, was ja eigentlich nicht viel zur politischen Sache tut. Jedoch…

Richard Rogler stellte sich jedenfalls vor, wie die damalige Weltelite der Staatsmänner bei einem internationalen Treffen untereinander tuschelt, was wohl bei der Bhutto „geht“ und wie man an sie herankommt. Wunder über Wunder: Die Herrschaften waren auch nur Männer. Da „saß“ einfach jedes Wort und jeder verstohlene, hinterhältige Tonfall. Man wusste sogleich, dass hier ein Großer seiner Zunft zugange war. Seltsam oder auch nicht, dass ich mich ausgerechnet daran zuallererst bzw. zuallerletzt erinnere.

Für diesen und viele andere Auftritte einfach nur danke. Die ihn auf der Bühne oder medial erlebt haben, werden ihn nicht vergessen.




Medaillen, Hymnen und so weiter

Abspielgerät aus der Zeit, als Hymnen noch anders gewertet wurden: Grammophon auf dem Flohmarkt. (Foto: Bernd Berke)

Schon etwas seltsam (Running Mate Tim Walz würde wohl sagen: „weird“), dass man diesen nationalistisch angehauchten Quatsch immer noch beachtet. Muss ich mich jetzt der verstohlenen Blicke auf schnöde Ziffern schämen? Kaum hatte Olympia in Paris etwas Fahrt aufgenommen, habe ich tatsächlich wieder täglich auf den Medaillenspiegel geschielt und mit gemischten Gefühlen bemerkt, wie sehr Deutschlands Sportlerinnen und Sportler vielfach hinterdrein hechelten.

Aus gar vielen Gründen blieben die Athleten aus Germany zurück, auch in hierzulande vordem sehr erfolgreich betriebenen Sportarten wie z. B. Fechten, Segeln und Ringen. Auch beim Radfahren überwog die Enttäuschung. Bei manchen Wettbewerben war kaum fassliches Missgeschick im Spiel. In der Gesamtbilanz landete l’Allemagne – einzelnen Glanztaten zum Trotz – mit 33 Medaillen (davon 12 Gold) nicht nur weit, weit hinter den rivalisierenden Global-Giganten USA (126) und China (91), sondern sehr deutlich auch hinter Frankreich (64 – naja, deren Heimspiele halt) und Großbritannien (65), die derzeit beide arge gesellschaftliche Probleme wälzen und wohl nach sportlicher Kompensation dürsten. Der „Kater“ folgt wahrscheinlich.

Doch das ist nicht alles. Desgleichen liegen zum Beispiel auch die wesentlich kleineren (bevölkerungsärmeren) Niederlande (34 Medaillen) vor den Deutschen Olympioniken. Die deutschen Olympia-Funktionäre haben bereits für die nächsten Sommerspiele wieder die Rückkehr unter die sechs weltbesten Nationen als Ziel ausgerufen, diesmal war es lediglich Rang zehn. Sollten etwa die landesüblichen Bürokraten in der Sportförderung hinderlich gewesen sein?

Vollends verblüffend wirkt übrigens die Erfolgsbilanz Australiens, das mit seinen gerade mal rund 26 Millionen Einwohnern formidable 53 Medaillen gesammelt hat. Auch die Teams aus Neuseeland (20) oder Kanada (27) holten mehr, als es nach reinen Bevölkerungszahlen zu erwarten gewesen wäre, jene aus Indien (6) hingegen ungleich weniger.

Nein, wir betreiben jetzt keine Ursachenforschung, schon gar nicht spekulativ. Von etwaigem Doping-Verdacht und aggressiver Sportpolitik bestimmter Regime gar nicht erst zu reden. Wobei Russland diesmal aus bekannten Gründen außen vor geblieben ist.

Allerdings könnte man jene etwas andere Tabelle aufstellen: Einwohnerzahl geteilt durch Medaillen. Den Rechenaufwand erspare ich mir. * Statt dessen stelle ich mir mal wieder die Frage: Wer hat eigentlich die klangvollste Hymne – für den Fall, dass jemand ganz oben auf dem Treppchen zu stehen kommt? Aber das ist wohl schon wieder so ein Quark von vorgestern.

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* Mittlerweile hat ausgerechnet die „Bild“-Zeitung eine solche Tabelle erstellt und heute (13. August) online publiziert.




Nüchterne Inventur: Ulrich Peltzers „Der Ernst des Lebens“

Nur selten liest man Bücher, die so unaufgeregt und nüchtern daherkommen wie Ulrich Peltzers Roman „Der Ernst des Lebens“. Dabei geht es doch ums Ganze.

Der Autor ist offenbar jedem Getue abhold – ebenso wie sein Antiheld Bruno van Gelderen. Der zieht Zwischenbilanz, hält Inventur. Was ist der Treib-, Schmier- und Klebstoff (s)eines Lebens? Immer wieder das Geld, das halt komfortabel ausreichen sollte, aber wohl doch nicht überbewertet werden darf. Auch andere große Beweger wie Heimat, Sucht und Tod kommen in Betracht. Liebe auch, aber fast schon nebenher. Und die Sinnfrage „Wozu das alles?“ lauert stets am Wegesrand. Na, wenn schon.

Entscheidungen treffen

Was fehlt, was bleibt? Was wäre noch möglich und denkbar (gewesen)? Was ist versäumt worden? Regiert nicht eigentlich der Zufall? Oder sind eben zum richtigen Zeitpunkt Entscheidungen zu treffen und dann die Konsequenzen zu tragen? Tatsächlich bleiben auch am Ende viele offene Fragen. Doch unfehlbar wird man beim Lesen das eigene Dasein überdenken. Wie verhält es sich denn nun mit dem oft beschworenen „Ernst des Lebens“, den man uns schon in Kindertagen eintrichtern wollte?

Der von einem Hof aus der flachen Niederrhein-Landschaft stammende und letztlich auch geprägte Bruno van Gelderen ist, vor allem in Berlin, in einige grundverschiedene Verhältnisse geraten und hat sich halbwegs hindurch laviert. Zwar ist er nach eigenem Bekunden kein Abenteurer und scheut größeren Reiseaufwand, doch hat er etlichen Lebensstoff eingesammelt. Eine Zeitlang hat er sogar auf der Straße gelebt. Freilich macht er kein Aufhebens davon.

Folgen der Spielsucht

Er war schwerstens spielsüchtig und hat Automaten in Kneipen gefüttert, bis er völlig überschuldet war. Eine missliche Folge waren seine dilettantischen Überfälle auf einen Berliner „Späti“ und eine Kinokasse. Das wiederum beschert ihm eine Zeit im Knast, wo er die Gefangenen-Bibliothek stark frequentiert und gar ambitionierte Lyrik liest. Ingeborg Bachmann und so.

Nach der Freilassung findet er Unterschlupf als karg bezahlter Lohnschreiber im Berliner Lokalsport. Noch so ein Perspektivwechsel. Noch so eine (wenig glanzvolle) Lebensmöglichkeit. „Überleben im Kapitalismus“ könnte eine Kapitel-Überschrift lauten. Betrifft uns ja irgendwie alle. Auch Brunos zwischenzeitlicher Knochenjob als Roadie, Backstage im Rock-Business, fällt in diese Kategorie.

Bei den Unternehmern

Sodann abermals ein völlig anderes Milieu: Im Schlepptau des schillernden Georgiers „Koba“ (Kobiashvili) verdingt sich Bruno als Vermögensberater. Um Kundschaft für „Merkur Invest“ zu ködern, heuern sie den abgehalfterten, aber noch nicht vollends vergessenen TV-Promi Sabert-Kress an. Hierdurch lernt Bruno auch gediegene Unternehmer im deutschen Südwesten kennen. Zwischendurch sieht es so aus, als solle er mit der Tochter einer steinreichen Familie verkuppelt werden. Wird nix draus. Macht aber nix.

Auch diese Episode geht vorüber, wie denn überhaupt diese oder jene Frau vorkommt, woraus freilich weder sonderliche Dramen noch übermäßige Gefühlswallungen entstehen. Die Schlussfolgerungen sind denn auch nicht allzu aufregend. Einmal heißt es „Weder verzweifeln noch sich in die Tasche lügen.“ Ein andermal lesen wir, dass es nutzlos sei, in der Vergangenheit von Leuten herumzustochern. Statt dessen zähle das Hier und Jetzt: „Nimm die Leute, wie sie dir begegnen, eine Vergangenheit hat jeder.“

Nichts Glamouröses

Schließlich beginnt Bruno, sich auch noch in die Kunstszene einzufuchsen. Er plant, eine Galerie in Köln zu eröffnen. Nichts Glamouröses, sondern in einem eher verrufenen Viertel, was ja in manchen Kreisen besonders gut ankommt. Keine hochfliegenden Pläne. Und dennoch interessiert es einen als Leser, wie es mit diesem Projekt wohl weitergehen mag. Seltsam, oder? Sieht so aus, als hätte uns der Autor längst beim Wickel.

Ulrich Peltzer erzählt in einem alltäglich anmutenden, schmucklosen Stil, dem er wohl bewusst keinen eleganten Schliff gibt. Das wäre womöglich verlogen und also unpassend. Alles bleibt nah an der mündlichen Rede, woraus sich keineswegs Geschwätzigkeit, sondern ein angenehmes Fließen und Gleiten ergibt. Es klingt manchmal so, als würde einer bei ein paar Bier sein wechselhaftes Leben erzählen; angenehm unprätentiös, doch durchaus hintergründig.

Ulrich Peltzer: „Der Ernst des Lebens“. Roman. S. Fischer. 301 Seiten. 24 Euro.