Der doppelte Herbert: Fritsch und Grönemeyer mit dem schrillen Spaß „Pferd frisst Hut“ bei der Ruhrtriennale

Eine glückliche Braut sieht anders aus: Cécilia Roumi (als Hélène) und Christopher Nell (als Fadinard) im Slapstick-Operetten-Musical „Pferd frisst Hut“ (Foto: Thomas Aurin)

Da weiß einer nicht, was er will. Der Strohhut aus Florenz, dem Fadinard am Tag seiner Hochzeit wie verrückt hinterherjagt – das Original wurde nämlich von seinem Droschkenpferd gefressen – ist lediglich ein Symbol dafür, dass der Mann am liebsten Reißaus nehmen möchte: vor der Braut, der Verwandtschaft, der Hochzeitsgesellschaft, womöglich sogar vor sich selbst. Denn er scheint noch nicht einmal sicher zu sein, zu welchem Geschlecht er sich hingezogen fühlt.

In der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks zeigt die Ruhrtriennale jetzt eine neue Version von „Der Florentiner Hut“, einer Verwechslungskomödie von Eugène Labiche aus dem Jahr 1851. Das Stück hat diverse Spuren in den Künsten hinterlassen: Es gibt eine gleichnamige Oper von Nino Rota (der die Filmmusik zu „Der Pate“ schrieb), einen deutschen Film mit Heinz Rühmann (Regie: Wolfgang Liebeneiner), dazu noch zwei französische Filme.

Als Slapstick-Operetten-Musical präsentiert die Ruhrtriennale die deutsche Erstaufführung von „Pferd frisst Hut“, eine Produktion des Theaters Basel in Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin. Federführend sind zwei Männer, deren unverwechselbar Stil hier eigenwillig aufeinander prallt.

Herbert Fritsch, Propagandist des choreographischen Rauschs. (Foto: Christian Knörr)

Das ist zum einen der Regisseur Herbert Fritsch, dafür bekannt, seine Figuren auf der Bühne in einen hyperaktiven Irrsinn zu treiben: in ein kindliches, zugleich bis in die kleinste Geste hinein choreographiertes Herumtoben. Manche mögen sich erinnern, welchen Kultstatus seine Produktion „Murmel, Murmel“ an der Berliner Volksbühne erreichte, bevor er 2018 am Bochumer Schauspielhaus mit der „Philosophie im Boudoir“ von Marquis de Sade ein Skandälchen lostrat.

Für Zugkraft beim Publikum sorgt die Musik von Herbert Grönemeyer, der in seinen Jugendjahren musikalischer Leiter am Bochumer Schauspielhaus war, bevor er 1981 durch „Das Boot“ bekannt wurde und 1984 mit seinem Studioalbum „Bochum“ die Hitparaden stürmte. Aus seinen Melodien, Rhythmen und Texten hat Thomas Meadowcroft eine Partitur für Chor und Sinfonieorchester gemacht: geschickt instrumentiert, fröhlich zwischen Broadway-Musical, Rossini-Oper und Disney-Soundtrack irrlichternd. Die Bochumer Symphoniker und der Chor des Theaters Basel, die unter der Leitung des amerikanischen Dirigenten Thomas Wise Stimmung machen, streuen Glamour über diese unterhaltsame Mischung.

Herbert Grönemeyer war bei der Premiere in Duisburg persönlich anwesend. (Foto: Victor Pattyn)

Was aus der Zusammenarbeit der beiden Herberts entstand, ist so schräg und bunt, wie es die Bühne von Herbert Fritsch (unter Mitarbeit von Oscar Mateo Grunert) gleich zu Beginn erahnen lässt. Das temporeiche Tür-auf-Tür-zu-Spektakel kommt durch acht Zugänge in den Seitenwänden und ein Drehportal vor Kopf in Schwung. Selten war eine Handlung so sehr Nebensache: Hier geht es um eine Typenparade, um die große Orientierungslosigkeit, in der die Figuren haltlos herumstolpern.

So grell und banal das auf den ersten Blick scheint, so hintergründig ist es auf den zweiten, denn nichts und niemand ist in diesem Absurdistan ernst zu nehmen. Wir erleben leere Witzfiguren, die Sprechblasen absondern wie in einem Comic: „S’isch alles aus!“, jault der Schwiegervater bei jedem Auftritt in weinerlichem Dialekt, während der Bürgermeister bei jeder Gelegenheit stöhnt, wie heiß ihm doch sei. Das Gestotter und Gestammel der Hauptfigur Fadinard steckt voll absichtsvoller Versprecher. Wenn er mit Glottisschlag von den Baron*innen spricht, schiebt er stets das Wort „drinnen“ hinterher, wie um den Genderwahnsinn auf die Spitze zu treiben.

Die gesamte Hochzeitsgesellschaft gerät durch einen Strohhut in Turbulenzen. (Foto: Thomas Aurin)

Dazu zeigen die Schauspielerinnen und Schauspieler ein akrobatisches Bewegungstalent, als wollten sie sich für den Zirkus bewerben. Sie rutschen ganz beiläufig in den Spagat, hechten die von der Drehtür herabführenden Treppenstufen herunter, landen auf dem Bauch, überschlagen sich in der Luft. Es ist rasant, es ist sagenhaft. Fritsch hat jede Verrenkung durchgeformt, bis ins Detail, ja sogar bis in den Schlussapplaus hinein.

Der Grönemeyer-Sound ist der Musik bei allen Musical-Anleihen deutlich anzuhören: Vieles klingt in Duisburg irgendwie nach „Bochum“. Die Emotionalität der Songs steht oft seltsam quer zu der alles und alle umfassenden Ironie, die Fritschs rasantes Anarcho-Theater so vergnüglich macht. Aber es gibt Chornummern, die gut zünden, sogar zum Mitklatschen anregen. Der Chor des Theaters Basel zieht in den farbenfrohen Kostümen von Geraldine Arnold eine echte Show ab.

In Erinnerung bleibt ein schriller Spaß, der bei weitem nicht so flach ist, wie er zu sein vorgibt. Um es mit den Worten von Herbert Fritsch zu sagen: „Wir sind alle irre, wir kriegen nix gebacken, und wir kriegen gar nix hin.“ Wer wollte ihm in diesen Zeiten widersprechen?

(www.ruhrtriennale.de)




Erzählstoff überall – Judith Kuckarts „Die Welt zwischen den Nachrichten“

Jede(r) möge es für sich bedenken: Welche – mehr oder weniger vagen – Berührungspunkte hatte mein Leben mit der Sphäre der Nachrichten? Und was folgt womöglich daraus? Judith Kuckart schneidet derlei Fragen in ihrem neuen, autobiographisch grundierten Roman „Die Welt zwischen den Nachrichten“ keineswegs umweglos an, sondern vielschichtig, hintergründig, zuweilen auch irrlichternd.

Staunenswert, welche Zeitlinien bis in die westfälische Provinzstadt Schwelm reichten, in der Judith Kuckart am (west)deutschen Einheits-Feiertag (17. Juni 1959) geboren wurde. Da war etwa die Schwelmer Apothekertochter Ina, die öfter auf die kleine Judith aufgepasst hat und sich Jahre später in Berlin (im Gefolge des Attentats auf den Studentenführer Rudi Dutschke) links radikalisiert hat. Noch etwas später war sie auf Plakaten der RAF-Terrorfahndung zu sehen und dürfte sich danach in der noch real existierenden DDR versteckt haben. Womit ihre Geschichte noch nicht zu Ende war. Der „Deutsche Herbst“ ist überhaupt prägend gewesen: Als Judith Kuckart in Köln studiert, wird ganz in der Nähe der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt und bald darauf ermordet. Aber was ändern solche Koinzidenzen am täglichen Sein?

„Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“

Etliche Befunde und Annahmen über die Lebenswelt „zwischen den Nachrichten“ müssen in einem Roman erzählend überprüft und geformt werden. „Schreibe ich“, so lautet mehrfach das lakonisch innehaltende Zwischenfazit nach gewissen Erzählpassagen. Also kein blankes „So (und nicht anders) war es“, sondern „So ist es aus meiner Sicht gewesen“ oder noch skeptischer: „So könnte es gewesen sein“. Eigentlich, darauf läuft ein Hauptstrang des Buches hinaus, sind sowohl öffentliche als auch vermeintlich private Geschehnisse just Erzählstoff, der aus Buchstaben, Worten, Sätzen usw. besteht und sich hier wieder einmal zum Roman weitet. „Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“, heißt es schon auf Seite 57. Und kurz vor Schluss, auf Seite 186: „Am Ende gilt doch nur das Erzählen. Wer erzählt, kann Engel über Toronto fliegen lassen oder Möwen über den Bahnhof Zoo.“

Jegliches Menschenleben enthält exemplarische, aber auch scheinbedeutsame Vorfälle in Hülle und Fülle. Bei Lebensneugierigen wie Judith Kuckart steigern und verdichten sich die Kreuz- und Querbezüge wahrscheinlich. Jedenfalls werden sie ungleich schlüssiger erzählend verknüpft. Allerdings gilt erzählerische Distanz, denn: „(…) man weiß immer erst im Nachhinein, dass das, was man gerade erlebt, ein Stoff zum Erzählen ist. Denn wer sagt schon, Achtung, jetzt erlebe ich gerade eine Geschichte…“ Außerdem heißt es auf Seite 161, wie in Gedichtzeilen gesetzt:

„Das Seltsame an der Wirklichkeit ist
sage ich wieder und wieder –
dass jedes Ereignis auch ganz anders hätte stattfinden können.“

Eindrücke von Pina Bausch bis Pierre Brice

Nur mal ganz kursorisch aufgegriffen: Mit 15 Jahren taucht die tanzbegeisterte und dito begabte Judith ein einziges Mal inkognito beim nahe Schwelm gelegenen Wuppertaler Tanztheater der legendären Pina Bausch auf. Als Regisseurin und Tänzerin frönt die Schwelmerin später weiterhin der Tanzleidenschaft. Ihr Roman gliedert sich denn auch in eine Reihe von Theater-Kantinengesprächen. Nach dem Abi arbeitet sie vorübergehend in einer Lokalredaktion der Schwelmer Nachbarschaft und interviewt sogleich den Kino-Winnetou Pierre Brice. (Das erinnert mich, mit Verlaub, an meine Volontärzeit, die ein paar Jahre früher zeitweise in dieselbe Gegend – nach Gevelsberg – führte).

Die Eltern und sonstigen Vorfahren der Autorin kommen im Verlauf des Romans ebenso in Betracht wie eine Cousine, die mit zehn Jahren stirbt, die besonderen Frauen Ellen R. und Eva K., die Freundin „Bee“, die spiegelbildlich von ihren Vätern so benannten Judith Martina (also die Erzählerin) und Martina Judith, wodurch weitere biographische Vexierbilder entstehen. Liebhaber scheinen hingegen eher Randerscheinungen zu bleiben, zumindest treten sie nicht ins literarische Rampenlicht. Hier geht es vor allem ums Frauenleben – bis hinab zu den schauderhaften Abgründen einer erlittenen Vergewaltigung.

Heidegger und Genazino, nahezu geisterhaft

Judiths Vater Leo brachte es realiter vom Waschmaschinen-Vertreter bis zum CDU-Landtagsabgeordneten. In diesem Zusammenhang ist die kleine Judith einmal mit Franz Josef Strauß fotografiert worden. Als Kind mit ihren Eltern im Schwarzwald-Urlaub, sieht sie aus der Ferne schemen- und geisterhaft den steinalten Martin Heidegger, natürlich ohne Näheres über ihn zu wissen. Später haben u. a. der Schriftsteller Wilhelm Genazino und der Polyhistor Alexander Kluge ihre kurzen Auftritte, wobei Genazinos Part seltsam gespenstisch anmutet.

Und die große Historie, die Welt der Nachrichten? Seitdem die Autorin in Berlin lebt (wo sie anfangs Filmkritikerin beim „Tagesspiegel“ war), ergeben sich Geschichts-Ablagerungen wie von selbst, nicht zuletzt durch Erlebnisse des Zeitenwandels beim Transit in die DDR anno 1976, 1983, 1986 und dann nach der „Wende“. Damit können Schwelm oder Dortmund (wo die Autorin so manchen Kindheitssommer verbracht hat) denn doch nicht mithalten.

Schließlich finden sich solche Zitate, die man sich einfach zum Nachsinnen notieren sollte, um bald einmal darauf zurückzukommen: „Sie ist darauf gefasst, dass das Unglück so selbstverständlich ist wie der Tod und keine Sprache hat.“ – „Wir sitzen zu dritt in unserer Kindheit herum…“ – Oder jene (wiederum im lyrischen Zeilenfall aufscheinenden) aphoristischen Schlussworte:

Nicht wichtig
ist
was man aus uns gemacht hat
wichtig ist
was wir aus dem machen
was man
aus uns gemacht hat.

Judith Kuckart: „Die Welt zwischen den Nachrichten“. Roman. DuMont- Verlag, Köln. 190 Seiten, mit ca. 25 Schwarzweiß-Fotos. 24 Euro.