Vom Mysterium des Dirigierens: Klaus Mäkelä stellt sich als Porträtkünstler in Essen vor

Klaus Mäkelä (Foto: Marco Borggreve)
Da ist der Intendantin der Essener Philharmonie ein Coup gelungen. Noch bevor die Vermarktungsmaschinerie den 28jährigen Klaus Mäkelä richtig zwischen die Zahnräder bekam, hatte Babette Nierenz den kommenden Star für ein Künstlerporträt verpflichtet. Drei Mal kommt der gefragte junge Finne also nach Essen.
Das erste Konzert mit dem Concertgebouw Orkest, das er ab 2027 als Chefdirigent leitet, liegt bereits hinter ihm. Das zweite mit den Wiener Philharmonikern und der 1906 in Essen uraufgeführten Sechsten von Mahler findet am 19. Dezember statt. Und das dritte am 1. März 2025 bestreitet Mäkelä mit dem Orchestre de Paris, als dessen Musikdirektor er seit 2021 fungiert.
Es hat in den letzten Jahren keinen jungen Dirigenten gegeben, der so rasch und strahlend aufgestiegen ist wie dieses Wunder am Pult. Was ist sein Geheimnis? Wie fasziniert er die großen Orchester, die er in den letzten fünf Jahren quasi aus dem Stand heraus für sich gewonnen hat?
Mit 21 leitete er das Schwedische Radio-Sinfonieorchester, mit 22 ernannten ihn die Osloer Philharmoniker zu ihrem Chefdirigenten. Seither scheint es, als sammle er Orchester wie Trophäen: Münchner Philharmoniker, Bamberger Symphoniker, London Philharmonic Orchestra, Luzerner Festival Orchestra, Berliner Philharmoniker. In dieser Saison debütiert er mit den Wiener Philharmonikern und ist „Focus Artist“ im Wiener Musikverein. Ab 2027 folgt ein Chefposten bei gleich zweien der besten Orchester der Welt, dem Concertgebouw Amsterdam und dem Cleveland Orchestra. Wie geht das?
Schwindelerregender Terminplan
Ein Blick auf den Terminkalender seiner Webseite macht ebenfalls staunen und schwindlig: Anfang Oktober Mahlers Neunte in Paris, Mitte Oktober Mahlers Dritte in Cleveland. Dann eine Serie von Konzerten mit seinem Osloer Orchester in Brüssel, Stuttgart, Wien, Hamburg und am 3. November mit Strawinskys Violinkonzert und Tschaikowskys Vierter in Dortmund.
Drei Tage später das Orchestre de Paris mit Strauss‘ „Tod und Verklärung“, Messiaens „L’Ascension“, Faurés „Requiem“ und der Uraufführung von „Lux Aeterna“ von Thierry Escaich. Dann Zwischenspiel beim London Symphony Orchestra, bevor es mit dem Concertgebouw auf USA-Tour geht. In New York erklingt dasselbe Programm wie vor kurzem in der Essener Philharmonie: Schönbergs „Verklärte Nacht“ und Mahlers Erste Sinfonie. Man darf davon ausgehen, dass die Carnegie Hall ausverkauft sein wird – im Gegensatz zu Essen, wo erstaunlich viele Plätze frei geblieben sind. Es braucht offenbar mehr als eine Exklusivvertrag bei Decca und hochgerühmte Sibelius- und Schostakowitsch-Aufnahmen, um den Instinkt der Essener Kulturwelt zu animieren.
Jetzt sind wir im Fahrplan wohlgemerkt erst Mitte November. Bis Mäkelä vor Weihnachten nach Essen zurückkehrt, hat er noch seine Orchester in Oslo und Paris mit anspruchsvollen Programmen (Brahms, Berlioz) zu leiten, bevor er sich am 13. Dezember mit Mahlers Sechster im Wiener Musikverein vorstellt. Die Essener Konzerte sind komischerweise in seinem „schedule“ nicht aufgeführt – was man auch immer daraus schließen mag…
Schlichtweg eine Jahrhundert-Begabung
Ja, wie geht das? Dass in Mäkelä eine Jahrhundert-Begabung schlummerte, die sich nun vehement Bahn bricht, dürfte unbestreitbar sein. Denn er ist ja kein tourender Kapellmeister, der sich überall präsent setzen will. Dazu sind – bei allen Vorbehalten – die künstlerischen Ergebnisse zu bemerkenswert. Liegt das Geheimnis vielleicht in seinem Umgang mit den Orchestern? Pflegt er einen empathischen, partnerschaftlichen Stil, der bei den Musikern Höchstleistungen hervorruft, ohne Druck, ohne Zwang, ohne Beklemmung? Er ermuntere, statt zu fordern, heißt es. Er sehe die Musiker als Individuen, schaffe eine familiäre Atmosphäre, gehe auf die Einzelnen ein. Das klingt ein wenig nach Orchester-Wellness, doch Mäkelä kann nicht bloß der gute Kumpel am Pult sein; er begnügt sich nicht mit beflissener Spiel-Perfektion.
Und sein Alter? Kein Argument: Arturo Toscanini war 31, als er an der Scala debütierte, Hermann Scherchen im gleichen Alter, als er Nachfolger Furtwänglers in Frankfurt wurde. Claudio Abbado dirigierte mit 28 an der Scala. Daniel Barenboim begann seine Dirigentenkarriere mit 25 und war mit 32 Chefdirigent des Orchestre de Paris. Bruno Walter war 25, als er unter Mahler Kapellmeister an der Wiener Hofoper wurde.
Das Charisma der Großen
Vielleicht stimmt es doch, dass Dirigieren ein „Mysterium“ ist. Dass es jenes unbestimmbare, aber deutlich zu spürende Charisma ist, das einen versierten oder sogar perfekten Dirigenten von einem der Großen unterscheidet. Meine bisherigen Live-Erfahrungen mit Klaus Mäkelä waren zwiespältig: Bei Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ in Essen stimmte die Dramaturgie zwischen Idylle und Exaltation. Vor zwei Jahren lieferte er mit dem Concertgebouw Orkest in Köln eine Sechste, deren Scharfschnitt und Präzision geradezu unheimlich waren, weckte aber nicht den Eindruck, sich auf die wirklichen Abgründe Mahlers eingelassen zu haben. Die Chance, es mit Hilfe der Mahler-Erfahrung der Wiener Philharmoniker nun überzeugender zu machen, hat Mäkelä im Dezember.

Klaus Mäkelä und das Concertgebouw Orkest in der Essener Philharmonie. (Foto: Volker Wiciok/TuP)
Jetzt in Essen hinterlässt die Erste Symphonie einen gereifteren Eindruck. Brillanz und Streben nach Perfektion wirken nicht so glatt und geheimnislos wie der Kölner Mahler. Und das liegt nicht am Stück, denn Mahler war als 28-Jähriger bereits „fertig“, schrieb eine Musik jenseits des Suchens und Tastens nach dem persönlichen Ausdruck. Emotionale Extreme, das Aufeinanderprallen von Banalität und Transzendenz, musikalische Idiome zwischen Choral und Volksmusik – all das ist in der Ersten schon ausgereift.
Keine Ironie, keine Groteske?
Mäkelä scheint sich dennoch mehr für rein musikalische Vorgänge als für Stimmungen, Rhetorik oder gar Programmatisches zu interessieren (das Mahler, wie den hartnäckig weiterbenutzten Titel „Titan“, ja aus guten Gründen getilgt hat). Darin ist sein Blick klar und unbestechlich: Die Entwicklung von der gestaltlosen Klangfläche des Beginns über fragil gespielte motivische Ansätze bis zum liedhaften Thema ist unter seinen Händen ein wunderbar ausbalancierter Vorgang. Mäkelä achtet darauf, dass strukturell wichtige Momente wie das für die Durchführung bedeutende Motiv der Celli entsprechend hervorgehoben werden. Steigerungen hält er im Zaum, um das Fortissimo-Pulver nicht gleich zu verschießen. Die finale Trompetenfanfare und das Aufzischen der Becken ist minutiös vorbereitet. Der Effekt sitzt nicht als solcher, sondern als Kulminationspunkt einer logischen Entwicklung.
Neue Mahler-Lesart jenseits jeglicher Ironie
So ließe sich von der stampfenden Rhythmik des zweiten Satzes und seinen lockeren Kontrast im Trio über die düster lauernde Atmosphäre des „feierlich und gemessen“ betitelten Trauermarschs mit seiner makabren Ironie bis zur souveränen Strukturierung des Finalsatzes Punkt für Punkt Rechenschaft ablegen über Mäkeläs Scharfsicht. Und man fragt sich so langsam, ob dieser junge Kopf nicht auf blitzgescheite Weise eine Mahler-Lesart einführen will, die sich jeglicher Ironie, jeglicher Uneigentlichkeit, jeglicher Groteske oder Parodie „in Callot’s Manier“ (so Mahlers ursprüngliche Beschreibung des dritten Satzes mit Bezug auf E.T.A. Hoffmann) entziehen will – konzentriert auf die reine Musik, bedeutungslos wie ein Gemälde Gerhard Richters, bei dem man sich nicht fragen darf, was der Rausch der Farben bedeutet und worin die Transzendenz der Form liegen könnte. Die Antwort wird die Zukunft geben, live zu verfolgen im Dezember in der Philharmonie Essen.
Klaus Mäkelä kommt wieder mit dem Oslo Philharmonic Orchestra am Sonntag, 3. November ins Konzerthaus Dortmund und am Donnerstag, 19. Dezember mit den Wiener Philharmonikern in die Philharmonie Essen. Am Samstag, 1. März 2025 ist er hier auch mit dem Orchestre de Paris zu Gast. Info: www.theater-essen.de