Abgründe der Liebe – „Das Buch der Schwestern“ von Amélie Nothomb
Die Liebe zwischen Nora und Florent ist ausschließlich und selbstsüchtig. Jeder andere ist ein Störfaktor, wenn sie sich mit Blicken verschlingen und vor Begehren kaum an sich halten können.
Was sollen sie mit einem Baby anfangen? Doch plötzlich haben sie eine Tochter, taufen sie auf den Namen Tristane, überlassen das traurige Wesen ganz sich selbst und seiner kindlichen Fantasie. Schnell merkt die einsame Tristane, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen muss.
Die schiere Lust an neuen Worten
Tristane bringt sich das Sprechen und Lesen bei, fängt Wörter mit einem imaginären Lasso ein: „Wenn sie hinreißende Wörter wie Tamburin oder Schaukelpferd aufschnappte, verfiel sie in helle Aufregung“, sie erschauerte vor Lust, „als sie zum ersten Mal so tollkühn war, das Wort Marienkäfer in den Mund zu nehmen; und als sie sich das Wort Gartenschlauch einverleibte, verging sie fast vor Entzücken.“
Amélie Nothomb, 1967 als Tochter eines belgischen Diplomaten im Japanischen Kobe geboren, ist in Frankreich und Belgien ein Literatur-Star, überrascht mit jedem Buch aufs Neue. Sie liebt feinsinnige Anspielungen und abgründige Irrfahrten durch die Welt der Worte, die mehr verbergen als aussagen. Ihren Geschichten haftet immer etwas Geheimnisvolles und Bizarres, Märchenhaftes und Absurdes an. In Leerstellen und im Unausgesprochenen stochern irritierte und zugleich entzückte Leser nach Bedeutung und Sinn der rätselhaften Romane.
Was die von ihren Eltern, die nur einander, aber sonst niemand anderen lieben können, vernachlässigte Tristane ertragen muss, um nicht im Meer der Einsamkeit unterzugehen, hat etwas Aussichtsloses und Traumatisches. Erlösung findet Tristane allein in der Liebe zu ihrer kleinen Schwester, Laetitia, ein fröhliches und unbeschwertes Wesen, das schon mit acht Jahren weiß, was sie einmal werden will: Gitarristin auf den Spuren von Jimi Hendrix und Jimmy Page und Sängerin in einer Hard-Rock-Band.
Die Eltern endlich verbannen
Ohne Laetitia, die sich selbstbewusst durchs Leben boxt und durch jeden Rückschlag nur noch stärker wird, würde Tristane, die von allen wegen ihrer Intelligenz geachtet, aber als „graue Maus“ von niemandem wirklich wahrgenommen wird, keinen Tag überleben und nicht alt genug werden, um im reifen Alter vielleicht doch noch ein spätes Glück zu finden und ihre selbstverliebten Eltern dahin zu verbannen, wohin sie gehören: in den Hades des Hasses und in den Orkus des Vergessens.
Überraschende Wendungen
„Das Buch der Schwestern“ ist eine raffiniert gebaute und sparsam erzählte Geschichte über die Abgründe der Liebe. Vieles von dem, was sich erst nur im Kopf der kleinen Tristane und später in ihrem von literarischen und erotischen Leidenschaften zerfressenen Leben ereignet, muss sich der Leser selbst zusammenreinem. An jeder Ecke wartet eine überraschende Wendung und ein stolpernder Neuanfang. Abenteuerreisen in die Literatur-Geschichte werden collagiert mit kernigen Rock-Songs; einfühlsame Liebesbriefe der Schwestern vermischen sich mit schmerzlichen Beleidigungen der Eltern.
Auch in gebildeten, gut bürgerlichen Familien lauert der Wahnsinn der Welt und die Verrücktheit der emotionalen Verlotterung. Die Vielschreiberin Amélie Nothomb, die fast jedes Jahr einen Roman herausbringt, hat ein schmales, aber ungemein reiches Buch geschrieben.
Amélie Nothomb: „Das Buch der Schwestern“. Roman. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes, Zürich 2024, 159 S., 23 Euro.