„Es musste etwas besser werden“ – Jürgen Habermas und die Pflicht zur Vernunft

„Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohende Regression aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv. Daher bin ich mit der Bezeichnung ,Philosoph und Soziologe‘ ganz zufrieden.“

So äußert sich Jürgen Habermas in einem neuen Buch, in dem er über die Motive seines Denkens, die Umstände, unter denen es sich entwickelte, und die Veränderungen, die es im Laufe der Jahrzehnte erfuhr, Auskunft gibt.

Debatten und Diskurse beispielhaft geprägt

Dass der inzwischen 95-jährige Intellektuelle, der mit seinen Beiträgen und Büchern wie kein anderer die politischen Debatten und wissenschaftlichen Diskurse in Deutschland geprägt hat, mit dieser Selbstbeschreibung tiefstapelt, weiß er natürlich auch. Denn Habermas war nie nur ein „Philosoph und Soziologe“, der sich im universitären Elfenbeinturm verschanzt und von oben herab seine neuesten Erkenntnisse zu gesellschaftlichen Transformationen, kulturellen Phänomenen und kommunikativen Strategien verkündet.

Ob als Hochschullehrer in Frankfurt und Heidelberg oder als Autor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Sich mit sozialwissenschaftlichen Argumenten und historischen Erkenntnissen in die aktuellen Debatten einzumischen, war stets sein größtes Bestreben, die Europäische Einigung sein größter Wunsch und die Abwehr rechtsnationaler Tendenzen der innerste Antrieb des enzyklopädisch gebildeten Großintellektuellen, der sich in jungen Jahren in einer von Alt-Nazis beherrschten Universitätslandschaft durchsetzen musste.

„Es musste etwas besser werden“, sagt Habermas (so auch der Titel des Buches), „und es lag an uns, ob sich die Welt zum Besseren verändern würde.“ Uns, das sind seine aus dem Exil heimgekehrten Kollegen von der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule: Adorno, Marcuse, Horkheimer, aber auch seine linksliberalen Mit-Studenten Karl-Otto Apel, Ernst Tugendhat und Michael Theunissen.

Wider die bleierne Zeit der Restauration

Im Gespräch mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos umkreist Habermas die Anfänge seiner wissenschaftlichen Biografie und die bleierne Zeit der bundesrepublikanischen Restauration, in der Habermas und sein Konzept einer auf die Demokratisierung der Gesellschaft und die Formulierung einer vernunftgeleiteten Kommunikation ausgerichteten Sozialwissenschaft wie ein Fremdkörper wirkte und als linksradikal diffamiert wurde.

Dabei hatte Habermas längst den ollen Marx neu interpretiert, auch Freuds Psychoanalyse und vor allem die US-amerikanischen Forschungen zur Linguistik und Sprechakt-Theorie in sein Werk einbezogen, Bücher verfasst, die heute legendär sind: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, „Erkenntnis und Interesse“, „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“, „Theorie des kommunikativen Handelns.“

Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Im kollegialen Diskurs schreitet Habermas die wichtigsten Stationen seines Lebens und zentrale Begriffe seines Denkens ab, plädiert eindringlich für das Projekt der Europäischen Einigung, fordert ein entschlosseneres Handeln zur Verhinderung der Klimakatastrophe, kommentiert den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine, mahnt Israel, bei seinem gerechtfertigten Krieg gegen den Terror der Hamas die zivilgesellschaftlichen Maßstäbe zu beachten, erinnert an die „Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft“. Habermas hat recht. Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Jürgen Habermas: „Es musste etwas besser werden.“ Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos. Suhrkamp, 254 Seiten, 28 Euro.




„Wut und Wertung“: Geschmacks-Debatten können so verletzend sein

Das Kulturwissenschaftliche Institut (KWI) in Essen hat sich für die nächsten Monate ein übergreifendes Thema erkoren, es nennt sich „guilty pleasures“, was etwas umständlich mit „schuldbesetzte Vergnügungen“ übersetzt werden könnte. Freuden also, die man mit einigermaßen schlechtem Gewissen genießt – Flugreisen etwa oder exzessiven Medienkonsum der seichteren Art. Oder auch kulturelle Vorlieben, die dem waltenden Zeitgeist zuwiderlaufen.

Zum Themenauftakt gab es dieser Tage eine (auch online zu verfolgende) Diskussionsrunde mit Johannes Franzen von der Universität Siegen. Der auch als Journalist (Zeit, Taz, FAZ) tätige Germanist und Anglist hat ein Buch über widerstreitende kulturelle „Geschmäcker“ geschrieben. Griffig zugespitzter Titel: „Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten“.

Üble Attacke auf der Party

Nun mögen sich manche souverän erhaben dünken, wenn es um ihre (allzeit gefestigten? bestens begründeten?) Geschmacksurteile geht. Franzen hingegen stellt eine fiktive, aber nicht ganz unwahrscheinliche Szene an den Anfang seines Buches, die ihm zufolge das Verletzungs-Potenzial von Geschmacksunterschieden offenbaren soll: Denken wir uns eine Party, auf der jemand einen Film über den grünen Klee preist, der auch emotional ungemein fesselnd sei. Da erhebt ein anderer Gast seine wortgewaltige Stimme und attackiert diese Auffassung als naiv und lächerlich. Welch eine Bloßstellung vor all den Leuten! Und welch ein Distinktions-Gewinn für den eloquenten Angreifer, der wohl fulminant „gepunktet“ hat. Ergo: Geschmacks-Konflikte können ziemlich verletzend sein.

Ironisch die Neigung zum „Kitsch“ gestehen

Wie wirkt sich das aus, wenn jemand mit seinen ästhetischen Vorlieben derart in Erklärungsnot und in eine womöglich peinliche Defensive gerät? Möchte er/sie nicht im Boden versinken? Oder zum Gegenangriff übergehen? Immerhin liegen, so Franzen, einige Techniken der Befriedung bereit, allen voran das alte, reichlich verschnarchte Diktum „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“. Auch könnte eine Reaktion darin bestehen, dass man ironisch seine gelegentlichen Vorlieben für „Kitsch“ eingesteht (womit wir bei den eingangs erwähnten „guilty pleasures“ angelangt wären) und dem Widersacher Wind aus den Segeln nimmt.  Überdies wirken der allgemeine Aufstieg der Populärkulturen sowie der Niedergang der „Hochkultur“ und des klassischen Kanons in solchen Fragen vermutlich entlastend. Die Zeiten der allmächtigen „Kulturpäpste“ sind eben vorüber.

Wenn sich jeder Mensch als Kritiker aufspielt

Dennoch: Zweifel am eigenen Geschmack sind wahrscheinlich allgegenwärtig. Selbst die Beschäftigung mit einem unstrittigen Genie wie Shakespeare sei nicht unbedingt davor gefeit. Franzen nennt mögliche Beispiele: „Kann ich überhaupt gut genug Englisch, um urteilen zu können? Habe ich vielleicht die weniger guten Inszenierungen gesehen?“ Und schon steckt man in der Falle…

Zu bedenken ist ferner der Unterschied zwischen professioneller und laienhafter Rezeption, der freilich im Internet, wo sich heute quasi jeder Mensch als Kritikus aufspielen kann, tendenziell zu schmelzen scheint. Ästhetischer Purismus scheint jedenfalls rasant auf dem Rückzug zu sein.

Was der „innere Deutschlehrer“ anrichtet

Im Verlauf der Diskussion wurde auch das Phänomen des „inneren Deutschlehrers“ gestreift, der einem seit Pennäler-Zeiten als kulturelles Über-Ich im Kopf sitzt und schulische „Zwangslektüren“ wie etwa Fontanes „Effi Briest“ nachhaltig vergällt. Mit dem herrschenden Kanon und solcher Pflicht-Rezeption werde ein lang andauernder „kultureller Gehorsam“ eingeleitet, hieß es. Dieser wirke oft auch im Streit über Geschmacksfragen nach. Wobei so manche Meinungsverschiedenheit ja nicht gleich zu Wutausbrüchen oder Verletzungen führen muss, sondern im gepflegten Gespräch (aka herrschaftsfreier Diskurs) einfühlsam erörtert werden mag. Längst nicht alle Leute sind Wutbürger, (hoffentlich) erst recht nicht die kultursinnigen.

Die Entgleisung des Clemens Meyer

Zu Beginn des Abends hatten Franzen und das Moderations-Duo (Stefan Hermes, Uni Duisburg-Essen, Roxane Phillips vom KWI) geradezu dankbar eine aktuelle Wut-Entgleisung im Literaturbetrieb aufgegriffen; auch dies wohl ein „guilty pleasure“, weil ziemlich boulevardesk. Anlässlich der Vergabe des Deutschen Buchpreises an Martina Hefter (für „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“) hatte der auf der Shortlist konkurrierende Clemens Meyer („Die Projektoren“, 1056 Seiten) die Jury-Entscheidung unflätig kommentiert und damit ein beinahe größeres Medienecho ausgelöst als die eigentliche Preisvergabe. Mal wieder einer dieser ach so skandalösen Fälle von Wut und Wertung, von denen die Literaturgeschichte und die Historie anderer Künste überquellen.

Johannes Franzen: „Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten“. S. Fischer Verlag. 432 Seiten, 26 Euro.

 




Stolz und Zuversicht: Gewichtiger Bildband „Ruhrgold“ feiert die Schätze des Reviers

Großer Auftritt im besprochenen Buch: Aral-Tankstelle an der Hauptverwaltung der Aral AG in Bochum, um 1958. (Foto: Aral AG)

Welch ein Trumm von einem Buch! Der wahrhaft aufwendig gestaltete Band „Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets“ feiert auf 700 farbig bebilderten Seiten im Kunstkatalog-Format nahezu alles, was das Revier zu bieten hat.

Dieser Wälzer liegt sehr gewichtig in den Händen – mit etwa 2708 Gram, also über 2,7 Kilo, wenn ich richtig gewogen habe. Entschieden zu schwer für ein schmuckes „Coffee Table Book“, das Tischlein könnte schier einknicken… Außerdem reicht die Ambition deutlich übers Dekorative hinaus. Dafür bürgt schon der Herausgeber, Prof. Ferdinand Ullrich, vormals langjähriger Direktor der Kunsthalle Recklinghausen, der auch als Fotograf einiges zu diesem Band beigesteuert hat.

Ein Standardwerk über die Region

„Ruhrgold“ ist jedenfalls ein repräsentatives, umfängliches Standardwerk geworden, das von nun an in jede vernünftige Revier-Bibliothek gehören sollte. Ferdinand Ullrich und der Wienand Verlag haben kundige Autoren für die Kapitel-Einleitungen gewonnen, darunter Johan Simons (Intendant des Bochumer Schauspielhauses), Norbert Lammert (kultursinniger CDU-Politiker), Neven Subotic (Ex-BVB-Abwehrspieler und Stiftungsgründer), Manuel Neukirchner (Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund), Prof. Theodor Grütter (Leiter des Ruhrmuseums, Essen) oder Hilmar Klute (Schriftsteller, Redakteur der Süddeutschen Zeitung). Zusätzlich hätte man sich wünschen können, dass auch noch der eine oder andere kritische Literat aus hiesigen Gefilden (Frauen inbegriffen) sich geäußert hätte. Aber das hätte vielleicht die feierliche Liturgie gestört. Schattenseiten des Reviers fristen hier lediglich ein – Schattendasein.

Landmarken und Entdeckungen

Wo soll man nur anfangen, wo aufhören? Das Motto könnte lauten: „Genug ist nie genug“. 350 Kunstwerke, Objekte und sonstige Phänomene aus nahezu allen Lebensbereichen des Reviers werden in 20 Kapiteln aufgeboten, mit rund 500 Illustrationen großzügig bebildert und in einem Anhang ausführlicher erläutert. Der (via RAG-Stiftung subventionierte) Preis von 60 Euro darf als vergleichsweise moderat gelten.

Natürlich werden markante Gebäude und Bauensembles wie etwa die Welterbe-Zeche Zollverein, die Villa Hügel (beide Essen), der Gasometer (Oberhausen) oder das Dortmunder U vorgezeigt. Die Museen, Theater, Konzertstätten und Unis der Gegend sind ebenso selbstverständlich vertreten, aber auch Verkehrsadern wie die B1 (streckenweise aka A 40 oder Ruhrschnellweg), Kanäle oder just die Flussläufe von Ruhr und Emscher. Auch als langjähriger Revierbewohner kann man hier noch Entdeckungen machen. Mir war beispielsweise die anheimelnde Siedlung Teutoburgia in Herne bislang kein Begriff. Asche auf mein Haupt. Auch der Hindu-Tempel in Hamm harrt noch einer näheren Erkundung. Und so weiter.

Objekte bis hin zur Aldi-Tüte

Dem Buchtitel entsprechend, gibt es hier auch veritable Goldschätze, namentlich die Goldene Madonna aus dem Essener Domschatz oder auch den „Cappenberger Kopf“. Nicht zuletzt werden prägende Persönlichkeiten der Region (z. B. Ostwall-Gründungsdirektorin Leonie Reygers, Jürgen von Manger, Tanja Schanzara, Uta Ranke-Heinemann, Hape Kerkeling, Christoph Schlingensief) gewürdigt. Und natürlich darf auch ein Exkurs zur ruhrdeutschen Mundart nicht fehlen. „Sprechende“ Objekte – vom Schrank im Stile des „Gelsenkirchener Barock“ über die prachtvolle Aral-Tankstelle von 1958 bis hin zur Aldi-Tüte – gehören gleichfalls zum Lieferumfang; ebenso einige wiederkehrende Ereignisse in der Spannweite zwischen Ruhrtriennale und Cranger Kirmes. Und natürlich hat auch die weltbekannte Dortmunder Südtribüne („gelbe Wand“) ihren gebührenden Auftritt – mit jener ebenfalls schon legendären Fotografie von Andreas Gursky.

Auch Großereignisse wie das „Stillleben“ (Vollsperrung des Ruhrschnellwegs über rund 60 Kilometer und Volksfest daselbst am 18. Juli 2010 – im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr) zieren den neuen Ruhrgold-Band. (Foto: picture alliance/ augenklick / firo Sportphoto)

Allenfalls zaghafte Kritik

Und wie fügt sich all das alles zueinander, welches Konzept steht dahinter? Nun, das allermeiste wirkt ziemlich „revierfromm“, es entspricht spürbar der fraglos positiven Sichtweise der RAG-Stiftung, die hinter dem monumentalen Buchprojekt steht. Und so ist immer wieder die Rede von Tradition, auf die man stolz sein könne und von zukunftsträchtiger Transformation zur „grünsten Industrieregion der Welt“, die bereits eingeleitet sei. Kritik ist nur sehr zaghaft vorhanden, eigentlich nur am kläglichen Zustand des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Diese Einsprüche dürften mehrheitsfähig sein.

Ansonsten ist es wie immer: Sobald man sich mit einer Materie (hier: Stadt) etwas besser auskennt, findet man auch Haare in der Suppe. Wohlan denn: Warum kommt eines der wohl wichtigsten Bauwerke der ganzen Region, die Dortmunder Westfalenhalle, überhaupt nicht vor? Und dann die etwas peinliche Sache mit dem Dortmunder Phoenixsee (Seite 357): Das Gewässer ist n i c h t, wie in der Bildzeile behauptet, auf dem Gelände eines früheren Bergwerks entstanden. Es war, wie wohl jedes Kind an den Gestaden der renaturierten Emscher weiß, ein Stahlwerk.

„Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets.“ (Das Ruhrgebiet in 500 Bildern aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). 700 Seiten mit lexikalischem Anhang sowie ausführlichem Orts- und Personenregister. Wienand Verlag, Köln. Gebundene Ausgabe 60 Euro, Luxus-Edition im Designschuber 180 Euro.

www.ruhrgold-das-buch.de

_______________________________________

P. S.: Schau’n wir spaßeshalber, wo die regionalpatriotische Publikation gefertigt worden ist: Verlag in Köln. Warum auch nicht? Dann aber: Gestaltung in Berlin. Graphik & Buchgestaltung in Freiburg. Druck in Italien (Vicenza). Waren diese Gewerke im Revier oder wenigstens in NRW nicht greifbar oder zu teuer?




Vibration des Ungehörten: Festival „NOW!“ in Essen

Babette Nierenz und Günter Steinke stellten das Programm des Festivals „NOW!“ bei einer Pressekonferenz vor. (Foto: TuP Essen)

Acht Uraufführungen, drei Deutsche Erstaufführungen, Werke der Essener Komponisten Nicolaus A. Huber und Günter Steinke, und dazu in 15 Konzerten jede Menge hörenswerter neuer Musik: Das Festival „NOW!“ verspricht in seiner 14. Ausgabe seit 2011 wieder ein Highlight für Musikfreunde weit über die Grenzen Essens und des Ruhrgebiets hinaus zu werden.

Längst ist man auch überregional auf das vom 26. Oktober bis 10. November dauernde Festival aufmerksam geworden, betont Mitorganisator Günter Steinke, Professor für Instrumentalkomposition an der Folkwang Universität der Künste: Namhafte Komponisten wie Enno Poppe oder Rebecca Saunders reisen an; Porträtkünstler der Philharmonie Márton Illés ist ebenso dabei wie der 1971 geborene Franzose Franck Bedrossian – von beiden werden Werke aufgeführt.

Der Komponist Márton Illés ist Porträtkünstler der Essener Philharmonie 2024/25. Seine Werke spielen auch beim Festival „NOW!“ eine wichtige Rolle. (Foto: Sven Lorenz)

Die stärkere Präsenz von Live-Elektronik, so Steinke, solle die jüngere Generation ansprechen; Kinder und Jugendliche kommen durch einen Workshop und das Kompositionsprojekt „Sound LAB“ mit zeitgenössischer Musik in Kontakt. „NOW!“ erreicht inzwischen über das Stammpublikum neuer Musik hinaus auch die Besucher der traditionellen Sinfonie- und Kammerkonzerte, vermerkte Babette Nierenz, Intendantin der Philharmonie, bei der Vorstellung des Programms.

Nicolaus A. Huber hat lange an der Folkwang Universität der Künste unterrichtet. Aus Anlass seines bevorstehenden 85. Geburtstags wird er beim Festival „NOW!“ gewürdigt. (Foto: Gisela Grönemeyer)

Bewusst setzt „NOW!“ auf Zweit- und Drittaufführungen: Für Komponisten wie Interessenten an zeitgenössischer Musikentwicklung ist es wichtig, einmal uraufgeführte Werke weiter zu verbreiten. Das diesjährige Festival ist außerdem eine kleine Hommage an Nicolaus A. Huber zum 85. Geburtstag, den der frühere Essener Folkwang-Kompositionsprofessor am 15. Dezember feiern kann. Von ihm spielt das WDR Sinfonieorchester am 8. November in der Essener Philharmonie die Werke „ … der arabischen 4“ und das Solo für 18 Röhrenglocken, dessen Titel der Veranstaltungsreihe 2024 das Motto gegeben hat: „Laissez vibrer“. Die Resonanzen und das Nachschwingen der Instrumente soll sinnbildlich dafür stehen, was das Festival erreichen möchte: Die neue Musik soll bei den Zuhörern, aber auch im Raum der Gesellschaft widerhallen und ihre Spuren hinterlassen.

Wandelkonzerte in der Innenstadt

Ein Überblick zu den Veranstaltungen: Schon am Samstag, 26. Oktober, geht das Festival in die Essener Innenstadt. Ab 15 Uhr stimmen am Sitz des neuen Kooperationspartners, der Gesellschaft für Neue Musik Ruhr, am Viehofer Platz 18 Wandelkonzerte auf das Kommende ein. Der Eintritt ist frei, um Anmeldung unter www.gnm.ruhr wird gebeten. Ab 20.30 Uhr wird dort in der Neue Musik Zentrale mit DJ-Set gefeiert.

Die Eröffnung am Donnerstag, 31. Oktober, 19 Uhr in der Philharmonie gestalten das Ensemble Ascolta, Dirigentin Catherine Larsen-Maguire und Sprecher Gerhard Mohr mit „Der Sandmann“ nach E.T.A. Hoffmann von Günter Steinke. Passend dazu spielt um 20.30 Uhr das Konzerthausorchester Berlin unter Johannes Kalitzke dessen Beethoven-Variationen zum Stummfilm „Hoffmanns Erzählungen“ von Max Neufeld aus dem Jahr 1923. Das Abschlusskonzert bestreitet am Sonntag, 10. November, das Gürzenich-Orchester Köln unter Gergely Madaras mit „Quicksilver“ von Milica Djordjevic, einem Klassiker der Neuen Musik, den Fünf Orchesterstücken Arnold Schönbergs und der Uraufführung der vollständigen Fassung von „Tér-Szín-Tér“ von Márton Illés.

Perkussion und Elektronik

Dazwischen locken Kammermusikalisches und Elektronik oder Ensembles nur mit Drums oder nur mit Trompeten. Beim Kooperationspartner Folkwang Museum präsentieren am 1. November (15 Uhr) Studierende des Folkwang-Masterstudiengangs Neue Musik Solowerke von Luciano Berio, der „Sequenze“ u. a. für Klavier, Viola, Harfe und Fagott geschrieben hat. Am Abend steht um 20 Uhr in der Philharmonie Moderne-Klassiker Karlheinz Stockhausen im Mittelpunkt eines Konzerts mit dem Pianisten Ciro Langobardi. Roberto Doati hat zu den „Klavierstücken“ elektronische Resonanzen komponiert, die unter dem Titel „Studio“ an die frühe elektronische Klangwelt Stockhausens anknüpfen.

Am 2. November begegnet „NOW!“ einem der maßgeblichen Protagonisten des Komponierens heute, Enno Poppe. In der Philharmonie spielt das Percussion Orchestra Köln ein Auftragswerk des Festivals, „Streik“ für 10 Drumsets. Der vielfach ausgezeichnete Komponist aus Hemer im Sauerland schrieb schon für die Salzburger Festspiele, das Klangforum Wien und das Ensemble Modern. Dass sein Drumset-Werk im Auftrag auch der Donaueschinger Musiktage, des Festivals November Music, des Huddersfield Contemporary Music Festivals und des Festivals Wien Modern entstanden ist, zeigt die internationale Vernetzung, die das Essener „NOW!“ inzwischen genießt.

Acht Trompeten

Eine deutsche Erstaufführung spielt das Trio Abstrakt am 3. November, 16 Uhr in der Philharmonie Essen: „puLsar“ von Giorgio Netti für Saxofon, Klavier und Schlagzeug. Im Sanaa-Gebäude auf Zollverein erklingen am gleichen Tag um 19 Uhr die acht Trompeten von „The Monochrome Project“: Thomas Neuhaus, Spezialist für Elektronische Komposition und Computermusik an der Folkwang Universität, hat für das Festival „there is a draught every time that crack opens“ geschrieben. Das neue Stück erklingt nach Márton Illés‘ „Rez-Tér“ für acht Trompeten und „Felsen – Unerklärlich“ von 2020, einem Werk der 1982 in Teheran geborenen Komponistin Elnaz Seyedi, die u.a. bei Günter Steinke an der Folkwang Universität studiert hat und als freie Komponistin derzeit in der Villa Waldberta München und am Deutschen Studienzentrum Venedig arbeitet.

Viel Neues von Gordon Kampe

Mit Christoph Sietzen als Solist bringt das WDR Sinfonieorchester am 8. November das Konzert für Schlagzeug und Orchester von Johannes Maria Staud („Whereas the reality trembles“) als Deutsche Erstaufführung in die Philharmonie Essen mit. Den Titel des Konzerts „mein Fleisch“ gibt das gleichnamige Werk von Gordon Kampe für zwei Stimmen und Orchester, ein Auftrag des Festivals „NOW!“ und des WDR. Kampe ist ein Schüler von Nicolaus A. Huber und hatte 2023 mit der Oper „Dogville“ nach dem Film von Lars von Trier einen überwältigenden Erfolg am Aalto-Theater Essen.

Gordon Kampe (Foto: Manuel Miete)

Derzeit probt das Theater in Münster seine neue Familienoper „Sasja und das Reich jenseits des Meeres“ nach dem Kinderbuch von Frida Nilsson, die am 10. November ihre Uraufführung erlebt. Schon eine Woche später, am 16. November, wird sein Musiktheater für Kinder „immmermeeehr“ an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt, gefolgt im Januar 2025 von „DESPOT“, einem Musiktheater für eine Stimme und Ensemble an der opera stabile in Hamburg. Und für den Terminkalender der Region ist der 1. Dezember interessant: Dann spielt das Ensemble Resonanz unter Riccardo Minasi Gordon Kampes „boxen!“ für Pauken und Kammerorchester im Konzerthaus Dortmund.

Weitere Uraufführungen vermeldet das Festival „NOW!“ für den 9. November in der Philharmonie mit neuen Werken des in London lehrenden Komponisten und Live-Elektronikers Richard Barrett und einem Werk für Kontrabassklarinette und Klavier der im Berlin lebenden japanischen Komponistin Chikako Morishita. Und wer es klassisch haben will, freut sich am 10. November, 16 Uhr, über ein Konzert im RWE-Pavillon der Philharmonie mit dem Trio Recherche und dem Streichtrio op.45 von Arnold Schönberg, dem Streichtrio von Brian Ferneyhough und den beiden Streichtrios Helmut Lachenmanns, der 2025 seinen 90. Geburtstag feiern kann.

Info: www.now-festival.de

 




Dortmunder Museum Ostwall: Künstlerinnen endlich aufwerten

Else Berg: Selbstporträt, 1917 (Sammlung Jüdisches Museum, Amsterdam)

Wie viele Kunstwerke im Bestand des Museums Ostwall im Dortmunder U stammen wohl von Frauen? Man ahnt es ja ungefähr – und doch verblüfft die Antwort: Es sind weniger als sieben Prozent. Seit einiger Zeit macht sich das weibliche Museumsteam daran, gezielt gegen die Dominanz weißer Männer anzugehen; neuerdings mit der Ausstellung „Tell these people who I am“, in der sämtliche Arbeiten von Frauen stammen.

Die gängige Zeitgeist-Formel für solche Identitäts-Suchen lautet, es müsse bislang Verborgenes endlich „sichtbar gemacht“ werden. Vor einiger Zeit verfolgten die Dortmunderinnen am Museum Ostwall (vielfach verwischte) Spuren schwarzer Geschichte im Expressionismus. Jetzt sind die Frauen an der Reihe. Die Prognose sei gewagt, dass demnächst die Kunst queerer Menschen in den Mittelpunkt rücken wird. Die Kunstsammlung NRW in Düsseldorf wird es ab September 2025 vormachen, indem sie die „Queere Moderne“ würdigt.

Zurück nach Dortmund. Warum nun eigentlich der anglophone Titel: „Tell these people who I am“? Es ist ein Zitat der heute nicht mehr allzu bekannten Keramik-Künstlerin Vally Wieselthier, die im US-Exil selbstbewusst mehr Beachtung für sich und ihre Mitstreiterinnen einforderte. Als Reaktion auf eine Zurechtweisung schrieb sie gegen Ende der 1930er Jahre die titelgebenden Worte in ein Telegramm an den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Er sollte den ignoranten Leuten sagen, wen sie da vor sich hatten!

Nur nackt ins Museum?

Zeitsprung über einige Jahrzehnte: 1989 fragte die Künstlerinnengruppe Guerilla Girls, (nicht nur) bezogen auf die US-Museumslandschaft: „Do Women have to get naked to get into the Museum?“ Mussten Frauen erst nackt sein, um (z. B. als von Männern gemalte  Aktmodelle) ins Museum zu gelangen?

Die jetzige Dortmunder Ausstellung basiert nicht zuletzt auf intensiver Forschung, um „Leerstellen“ in der Sammlung überhaupt erst einmal zu klären. In weiteren Schritten ging es auf die Suche nach passenden Kunstwerken, um solche Lücken schon mal ein wenig zu schließen. Mittel- und langfristig wird angestrebt, die künftige Sammlungspolitik danach auszurichten, also gezielt und dauerhaft mehr „Frauenkunst“ ins Haus zu holen.

An den Rand gedrängt

In Betracht kommen die beiden großen Sammel-Schwerpunkte des Museums Ostwall: der Expressionismus und sodann die Fluxus-Kunst der 1960er und 1970er Jahre. Es war wohl gar nicht so einfach, die weiblichen Perspektiven und Positionen aufzuspüren, sind doch viele Künstlerinnen – zumal aus der Zeit des Expressionismus – der Vergessenheit „anheimgefallen“ bzw. vom ehedem männlich beherrschten Kunstbetrieb willentlich beiseite gelassen oder an den Rand gedrängt worden. Andererseits muss ja auch vermieden werden, Qualitätsansprüche zu senken und womöglich „Quotenkunst“ zu zeigen. Die Ausstellung imponiert denn auch nicht so sehr durch überbordende Fülle, sondern hebt interessante Protagonistinnen hervor.

Bis 1919 nur in Privatschulen zugelassen

Bis 1919 durften Frauen in Deutschland keine staatlichen Kunstakademien besuchen und waren auf (von Kunstkritik und Kunstbetrieb geringgeschätzte) Privatschulen verwiesen. Die waren wiederum so teuer, dass der Weg eigentlich nur für Frauen „aus gutem Hause“ in Frage kam. Unter solchen Bedingungen war es kaum verwunderlich, dass es schien, als sei der Expressionismus eine Männer-Veranstaltung. Die Dortmunder Kuratorin Stefanie Weißhorn-Ponert will zeigen, dass dieser Eindruck nicht stimmt und präsentiert überschaubare Ausschnitte aus acht weiblichen Lebenswerken jener Kunstepoche.

Vally Wieselthier: Mädchenkopf mit Pagenschnitt, 1928 (Galerie bei der Albertina / Zetter, Wien)

Am bekanntesten ist noch die Bildhauerin Renée Sintenis, von der Tierdarstellungen, Sportler-Statuetten und Selbstporträts zu sehen sind. Von Sintenis stammt übrigens auch eine Urform des hernach so weit verbreiteten Berliner Bären, wie er auch als Ehrung bei der Berlinale in Gold und Silber vergeben wird. Manchen Cineasten ist auch noch die Filmemacherin Lotte Reiniger ein Begriff, die vor allem mit Scherenschnitten arbeitete, welche sie beispielsweise zum frühesten abendfüllenden Animationsfilm zusammenfügte, der noch erhalten ist: „Die Abenteuer des Prinzen Ahmed“ (1923-26) heißt das Opus, das aus rund 100.000 Einzelfotos der jeweils sukzessive verschobenen Scherenschnitte besteht. In Dortmund kann man das staunenswerte Ergebnis in Augenschein nehmen.

Erschütternd die Vita der gebürtigen Schlesierin Else Berg, die sich 1910 in Amsterdam niederließ und ab 1914 zu einer Künstlerkolonie in Schoorl bei Bergen aan Zee zählte. Mit ihrer expressionistischen Malerei gehörte sie in die erste Reihe der niederländischen Moderne, doch nachdem sie 1942 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, geriet sie derart in Vergessenheit, dass sie 1951 in einem Dortmunder Überblick zur neueren niederländischen Kunst gar nicht vertreten war. Der ihr gewidmete Raum ist gewiss ein Highlight der neuen Dortmunder Ausstellung.

Typisch „weibliche Genres“?

Madame d’Ora: Anita Berber und Sebastian Droste, Fotografie aus der Tanzproduktion „Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“, 1922 (Österreichische Nationalbibliothek, Wien © Madame d’Ora)

Sehenswert sodann die Tanzfotografien von Dora Kallmus („Madame d’Ora“), die die ausdrucksvollen Auftritte von Anita Berber und Sebastian Droste mit zeittypischem Gestus gültig festhielt. Schon der Titel ihres Kunstbuchs „Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ (1923) klingt expressiv.

Als Wiederentdeckungen dürfen die Grafikerin Emma Schlangenhausen (sakrale Motive, Tierszenen) oder auch die Keramikerin Kitty Rix mit ihrer Lehrerin Vally Wieselthier gelten. Ob Keramik oder auch Seidenstickereien (von Martha Worringer) als eher „weibliche Genres“ wahrgenommen werden, sei dahingestellt. Es wird wohl so gewesen sein, dass männliche Zeitgenossen derlei Kunst belächelt haben.

Unter Einsatz des Körpers

Ein ganz anderes gesellschaftliches Klima äußert sich in den Kunstwerken der Fluxus-Zeit (Kuratorin dieses zweiten Teils: Anna-Lena Friebe). Freilich waren auch damals die Benachteiligungen noch längst nicht vorüber, doch die Gegenwehr nahm – im Umkreis des erstarkten Feminismus‘ – andere Formen an. Mit allen Mitteln bis hin zur Performance und zum Happening zogen Künstlerinnen nun zunehmend Geschlechterrollen (Stichworte: liebende Frau und Mutter, aufopferungsvolle Sorgearbeit) in Zweifel; mitunter geschah dies auf so drastische Weise, dass nun vor einer Nische der Ausstellung eine jener heute weithin üblichen „Trigger-Warnungen“ vor Darstellungen von (sexualisierter) Gewalt zu lesen ist.

Keineswegs nur „dienende“, sondern eigenständige Protagonistin der Fluxus-Szene: „Charlotte Moorman performing Nam June Paik’s Opera Sextronique“, 9. Februar 1976 at Film Makers Cinematheque, NYC / Museum Ostwall im Dortmunder U. (© Dick Preston)

Selbsternannter Fluxus-Guru

Auch im Fluxus und artverwandten Kunstrichtungen ließ man(n) die Frauen nur ungern „mitspielen“. Als großer Guru gerierte sich George Maciunas, der auch Deutungs- und Auswahlhoheit beanspruchte. Da in den 1960ern der herkömmliche Werkbegriff geradezu zerbröselte, lassen sich einzelne Arbeiten eigentlich nur im Kontext der Zeitgeschichte und des Zeitgeistes angemessen beschreiben. Generell kennzeichnend sind die starken Alltagsbezüge und der entschiedene Einsatz des eigenen Körpers. Spontane Handlungen zählen mehr als Dauerhaftigkeit. Mit derlei Instrumentarium ließen sich (unterm Leitsatz „Das Private ist politisch“) persönliche Leidens- und Widerstands-Geschichten ganz anders erzählen, als etwa mit Gemälden oder Skulpturen.

Drastischer Körpereinsatz: Shigeko Kubota „Vagina Painting“, 1964 (Fondazione Bonotto, Colceresa, Italien / Foto Peter Moore © Northwestern University)

Yoko Ono, John Lennon und andere Paare der Kunst

Bemerkenswert zudem, wie sich in den 60ern und 70ern am Horizont ein neues Verständnis von Partnerschaft in Kunst und Leben abzeichnet. Nicht zuletzt sind hier John Lennon und Yoko Ono (in der Ausstellung von ihr zu sehen: die gefilmte Aktion „Cut Piece“, 1964) zu nennen, die einander beispielhaft inspirierten. Das berühmte Foto von ihrem „Bed-In“ aus dem Amsterdamer Hotel darf nicht fehlen, um auf die Erinnerungs-Sprünge zu helfen.

Weitere, eher fachweltlich erörterte Kunst- und Liebesbeziehungen führten Dorothy Iannone und Dieter Roth sowie Alison Knowles und Dick Higgins. Kunst- und Gesellschaftsgeschichte sind an diesen Punkten eng miteinander verwoben. Man versenke sich nur in die oft kleinteiligen, nicht selten hintersinnig-ironischen Handlungsanweisungen einiger Arbeiten. Die Einlässlichkeit kann auf lohnende Zeitreisen führen und dabei allerlei Denk- und Seinsblockaden lockern.

„Tell these people who I am“. Künstlerinnen in Expressionismus und Fluxus. 25. Oktober 2024 bis 23. März 2025. Museum Ostwall im Dortmunder U (6. Ebene). Geöffnet Di, Mi, Sa, So und feiertags 11-18 Uhr, Do und Fr 11-20 Uhr. Eintritt 9 Euro, ermäßigt 5 Euro.

Zur Ausstellung ist ein 222 Seiten starkes „MO-Magazin“ erschienen.

www.dortmunder-u.de
www.dortmunder-u.de/kuenstlerinnen

 

 




Momente großen Gesangs: Elīna Garança wird in der Philharmonie Essen gefeiert

Elīna Garança (Foto: Christoph Köstlin)

Perfekt, schlichtweg perfekt: Wie Elīna Garança die Arie „Mon cœur s’ouvre à ta voix“ aus Camille Saint-Saëns‘ „Samson et Dalia“ fließen lässt, erinnert an die größten Mezzosoprane der Gesangsgeschichte. Der Liederabend der Wiener Kammersängerin in der Philharmonie Essen wurde zum Ereignis.

Begonnen hat die lettische Sängerin im ersten Teil ihres Konzerts mit einem Liedprogramm. Von erinnerter, verschwiegener, verlorener Liebe sprechen die fünf Lieder von Johannes Brahms, denen sie Robert Schumanns Zyklus „Frauenliebe und Leben“ folgen lässt. Garança verbindet den dunkel leuchtenden Klang ihrer Stimme mit einer nie übertriebenen, aber auch nie dem schönen Ton opfernden Artikulation. Der diskret hoch über das Podium projizierte Liedtext ist in den meisten Fällen nicht nötig, hilft aber dem Verständnis und bewahrt vor dem Herumblättern im Programm. Ein Gewinn.

Garança gestaltet als Liedsängerin eher mit den Nuancen ihres abgerundeten Timbres als mit überdeutlicher Wortformung. So könnte der eine oder andere Konsonant prägnanter ausgesprochen sein. Aber wie sie in „Liebestreu“ eine fein nuancierte Dynamik einsetzt, um die Schlüsselworte „Lieb“ und „Treu“ zu akzentuieren, zeugt von eloquenter Gesangskunst. So färbt sie den Schlusssatz „Meine Treue, die hält ihn aus“ mit heroischem Ton zu einem trotzig-verzweifelten Bekenntnis.

Nächtlich duftende Stimmung

Kritik en detail trifft auf höchstes Niveau: „O wüsst ich doch den Weg zurück“ wird bei Elīna Garança zum poetisch sehnenden Zurückträumen in eine selige Kindheit. Dafür findet sie den zärtlich verhaltenen Ton. Aber wenn in der vierten Strophe zum zweiten Mal der Weg ins Kinderland beschworen wird, könnte die Vision eine Spur verhaltener, träumerischer erklingen. Dafür lässt sie die nächtlich duftende Stimmung der „Sapphischen Ode“ in verschattetem Timbre durch die Klänge wehen, ist sich am Schluss der erhabenen Größe des Moments bewusst. Und wenn in „Geheimnis“ die Blütenbäume flüstern, leuchtet die „Liebe süß“ am Ende schwärmerisch auf.

In solchen Momenten hat auch Garanças Klavierpartner Matthias Schulz innige Momente der Poesie und des Bei-Sich-Seins. Es kommt nicht oft vor, dass ein Intendant und Theatermanager – der Intendant der Berliner Staatsoper übernimmt 2026 das Opernhaus Zürich – eine Sängerin dieses Ranges begleitet. Aber Schulz hat am Mozarteum Salzburg Klavier studiert und offenbar seine pianistischen Fertigkeiten weiter gepflegt. Dass er Grenzen hat, wird in Schumanns „Arabeske“ op. 18 aber auch klar: Alle Sorgfalt der Artikulation und des Tempos verhindern nicht, dass die melodische Anmut oder die Frische der Bewegung in den „Kinderszenen“ op. 15/1 ein wenig matt bleiben.

Schumanns „Frauenliebe und Leben“ ist der Sängerin besonders ans Herz gewachsen, erzählt sie. Ihre Mutter, ebenfalls ein Mezzosopran, habe den Zyklus öfter gesungen. Elīna Garança kann „Seit ich ihn gesehen“ so zärtlich weltenthoben singen, dass der atemraubende Wirrwarr der Gefühle des frisch verliebten Mädchens im Klang der Stimme offen liegt. Die optimistisch verklärende Betrachtung des „Herrlichsten von allen“ strahlt in schimmerndem Mezzo-Gold auf. Ihr enthusiastischer Ton, die drängende Bewegung in der Stimme stellen den inneren Aufruhr unmittelbar dar, ohne dass Garança die Noblesse ihres Tons an künstliche Färbungen oder deklamatorische Schärfen verraten müsste. Berührend das tonlose Piano am Ende des letzten Liedes: Da hat sich ein Mensch wirklich in sein Innerstes zurückgezogen und ist „nicht lebend mehr“.

Oper in Feuerrot

Nach der Pause – wie es in Italien bei Gesangsrezitals stets erwartet wird – der Block mit den großen Arien, jetzt in feuerroter Robe. Zunächst heiße Liebesflammen aus Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“, gesungen mit saftiger Tiefe, einem phänomenalen Sprung über den Registerwechsel nach oben, einer blühenden Expansion, aber auch angestrengter Höhe. Dann die Arie der Dalila mit ihrer schmeichelnd-sinnlichen Glut in einem goldflüssigen Ton, der nicht freier, gerundeter, erfüllter erklingen könnte. Schließlich „Voi lo sapete“ aus „Cavalleria rusticana“, leidenschaftlich und wortsensibel, aber so edel geformt, dass der wilde Verismo Pietro Mascagnis – zu hören etwa bei seiner sich verausgabenden Uraufführungs-Santuzza Lina Bruna Rasa – nobel geglättet erklingt.

Das Finale sollte fröhlicher sein: Ruperto Chapí, Meister der spanischen Zarzuela, scheint seine charmanten Liebesgesänge der Garança auf die Stimme geschrieben zu haben, so edel, temperamentvoll und lebensfroh erklingen die beiden Stücke. Als Zugabe darf die Habanera der „Carmen“ nicht fehlen – wie bei der großen Teresa Berganza ohne Vulgarität, aber nicht so kühl dargeboten. Als sympathischer Gruß an ihre lettische Heimat eines der rund 600 Lieder und Liedbearbeitungen von Jāzeps Vītols, Gründer der lettischen Musikakademie, dem Institut, an dem Elīna Garança studiert hatte, bevor sie ihr erstes Opern-Engagement im thüringischen Meiningen unter der Intendanz der späteren Dortmunder Opernchefin Christine Mielitz angetreten hat. Herzlicher, langer Beifall.




„Try Praying“ – Endzeit-Gedichte von Sibylle Berg

Gedichte von Sibylle Berg? Na, das wird was sein. Bestimmt verdammt cool, hinreichend schnoddrig und von der Lebenswelt rundweg angewidert, oder? Mh. 

„Try Praying“ – ungefähr „Versucht`s mit Beten“ – heißt der schmale Band, der vermeintlich „Gedichte gegen den Weltuntergang“ versammelt. Doch sind es nicht eher Texte, die dem Weltuntergang und artverwandten Phänomenen folgen wie einem Sog, mithin Gedichte v o r dem oder z u m Weltuntergang, Endzeit-Gedichte, Singsang zum Tode?

„Es beinhaltet Trauer“

Zu den Gedichttiteln wird meist in Klammern eine lässig hingesetzte Angabe über Ingredienzen geliefert (z. B. „Es beinhaltet Nager und irgendwie auch einen Sonntag“, „Es enthält Fleischfresser“, „Es beinhaltet Trauer“, „Es geht irgendwie ums Geworfensein“ – na, und so weiter). Es sind bestimmt keine Klarstellungen.

„…er brachte noch den Müll hinaus“

Poesie wird hier offenbar nicht mit heiligem Ernst betrieben. Wohl aber mit einem gewissen Furor und manchmal sogar hitzig. Es geht ja durchaus entschieden zur Sache – zwischen völliger Lebensverfehlung aller Art, abgründigen Einsamkeiten und vorzugsweise Freitod. Da ist zum Beispiel jener bestürzend einsame Mann namens Frank (Frau gestorben, heilloses Alleinleben, selbst das Haustier verlässt ihn schließlich – für einen Hahn), dessen Ableben so lakonisch registriert wird: „Herr Frank zog seinen Mantel aus / er brachte noch den Müll hinaus / Dann machte er das Fenster auf / und warf sich in den Himmel raus.“ Das hört sich beinahe an wie pechschwarze „Struwwelpeter“-Verse. Soll man diesen Klang als Ausdruck von Mitleidlosigkeit verstehen? Oder als Ausfluss tiefster Enttäuschung und Betrübnis?

„Ihr habt genug herumgehampelt“

Ein andermal ergreift der Tod selbst das Wort und herrscht die Sterbenden an, sich nun hurtig ins Ende zu fügen:

Es kann doch nur noch besser werden.
Was war das für ein Stress auf Erden.
Habt gelitten und gestrampelt,
Und Ruhe jetzt, das sage ich –
Ihr habt genug herumgehampelt.

Wer will, mag sich hier vage an barocke Vergänglichkeits-Dichtung erinnert fühlen. Andererseits ist vielleicht auch eine Spur Comedy darin. Wahlweise Monty Python oder Otto Waalkes, um es mal mittelweit herzuholen.

Vom Unsinn zur Sinnlosigkeit

In dieser katastrophalen Welt ist der Mensch an und für sich prinzipiell allein, jede noch so sehr ersehnte dauerhafte Zweisamkeit erweist sich als lächerliche Illusion. Jenseits des Begehrens, überhaupt jenseits von Glaube, Liebe und Hoffnung schnurren oder klappern die (zuweilen auch schon mal etwas holprig) gereimten Gedichte gnadenlos ab. Auch der Geschlechtsverkehr erscheint als gar trüber Vorgang: „Die Frauen liegen danach nackt / Und ohne Frage sind sie munter / Sie müssen dann ins Bad noch gehn / Und holn sich traurig einen runter.“ Man vergleiche diesen Befund mit Robert Gernhardt, der einst exakt denselben Reim in ganz anderem Sinn bzw. Unsinn verwendet hat: „Der Kragenbär, der holt sich munter / einen nach dem andern runter“. Wo Gernhardt den Nonsens zelebriert, beschwört Berg die finale Sinnlosigkeit. Um präventiv abermals Gernhardt zu zitieren: „Nicht vergleichbar? Na, dann nicht!“

Doch noch ergreifende Momente

Hinter fast jedem dieser Gedichte erhebt sich die Frage, ob die ganze Quälerei (sei’s im Zwischenmenschlichen oder in der Arbeit) schon das Leben gewesen sein soll. Restliche Zuversicht, falls sie den Namen verdient, kommt allenfalls augenblickshaft vor. Demgemäß zeigt das Cover einen hellen Stern und Kometenschweif, als könne das Wünschen und Beten sekundenweise doch noch helfen. Eigentlich dementiert fast jede Zeile derlei Sehnsucht – und doch ahnt man, in berührenden Momenten, einen Drang zur Erlösung. Aus solchem Widerstreit entstehen denn doch einige ergreifende Gedichte, u. a. „Ein Trennungsgedicht“, „Ein Männer-Paar-Gedicht“ oder „Ein Meta-Mitarbeiter-Gedicht (Kann auch auf Alphabet, Spotify, alles mit Cloudkapital angewendet werden).“

Nach dem Ende der Menschheit, das hier selbstverständlich mehrfach in Betracht kommt, könnte wohl nur noch Künstliche Intelligenz (KI oder AI) Gedichte verfassen, doch Sibylle Berg versichert immerhin knapp, sie käme niemals auf die Idee, sich solcher Hilfsmittel zu bedienen (was angesichts des Endes der Gattung allerdings ziemlich wurscht ist).

Und der Schlussakkord? Kommt einigermaßen rüde daher. Um in diesen Zeiten zu überleben, gelte es hart zu werden und sich zu stählen, heißt es da sinngemäß. Schließlich die allerletzte Zeile: „…fickt euch ins Knie und gute Nacht!“ – Herzliche Grüße retour.

Sibylle Berg: „Try Praying. Gedichte gegen den Weltuntergang“. Kiepenheuer & Witsch. 112 Seiten, 16 Euro.

 




„Reality Check“ im Kunstmuseum Ahlen: Wirklichkeit auf dem Prüfstand

Theresa Möllers waldähnliche „Verwicklungen“: „Entanglements“ (2023), Acryl auf Leinwand, 140 × 170 cm (© Courtesy: She BAM! Galerie Laetitia Gorsy, Leipzig + VG Bild-Kunst, Bonn 2024)

Seit etlichen Jahren kursieren medial und zumal im Internet zahllose Fake News oder andere Lügen. Mit einer entfesselten KI-Revolution dürfte sich all das noch ungemein beschleunigen. Hohe Zeit also auch für die Kunst, die Realität und deren Gegenkräfte zu überprüfen. Obwohl: Bewegen sich die Künste nicht seit jeher irgendwo zwischen Wirklichkeit und Vorstellung? Ist nicht gerade das ihre eigentliche Domäne?

Nach fast jeder mittelprächtigen TV-Talkshow gibt es mittlerweile einen „Faktencheck“. Nun will das Kunstmuseum Ahlen die so genannte Wirklichkeit und deren divergierende Wahrnehmung ausloten. „Reality Check“ heißt die neue, von Museumsleiterin Martina Padberg kuratierte Ausstellung, die 16 aktuelle künstlerische Positionen mit rund 75 Arbeiten verschiedener Sparten (Malerei, Skulptur, Fotografie, Installation, Digitalität) versammelt. Der Untertitel lautet: „Wenn Dinge nicht sind, wie sie scheinen“.

Katalog in vierfacher Ausfertigung

Die Irritation beginnt schon mit dem Cover des Katalogs (20 Euro), das gleich in vierfacher Ausfertigung vorliegt und einem die Wahlmöglichkeit lässt: „Welche Version hast d u denn?“ Nun, das ist noch harmlos. Im Verlauf des Rundgangs kann man jedoch so manches Mal über Ausgeburten zwischen Realität und Irrealität oder über die spezielle Ästhetik allfälliger Katastrophen erschrecken. Die meisten Exponate, durchweg von achtbarem bis beachtlichem Niveau, lassen einen nicht unberührt.

Nun können wir hier nicht alle Künstlerinnen (11 an der Zahl, dazu 5 männliche Mitstreiter – in früheren Zeiten war’s meist umgekehrt) einzeln würdigen, sondern nur ein paar Schlaglichter werfen. Generell scheint es, als werde die Wirklichkeit gerade dann auf hintersinnige Weise fraglich, wenn sie in der Kunst überdeutlich, sozusagen fotorealistisch dargestellt wird. Frappierend beispielsweise die malerische (!) Arbeit von Jochen Mühlenbrink, der eine beschlagene Spiegelscheibe mit vermeintlich flüchtig hingeworfenem Strichmännchen-Gesicht als raffinierte Augentäuschung (Trompe l’loeil) vor uns hinstellt. Was mit einem echten Spiegel und flinker Fingerübung vielleicht zwei Sekunden dauern würde, erfordert größte Sorgfalt bei der malerischen Umsetzung.

Blick in einen Raum der Ahlener Ausstellung: vorne eine Skulptur von Ulrike Buhl („Implosion“), im Hintergrund Gemälde von Stephanie Pech. (Foto: Bernd Berke)

Sich vor lauter Linien den Wald vorstellen

In Theresa Möllers waldartigen Farblandschaften glauben wir nur deshalb lauter Bäume zu erkennen, weil uns echte Wälder so vertraut sind. In Wahrheit zeigt sich hier eine ganz andere Realität, jenseits unserer Erfahrungen. Die Konstruktion von Wirklichkeit hat überhaupt sehr viel mit nicht gerade objektiver Wahrnehmung zu tun. Letztlich nur folgerichtig, dass der Ausstellungskatalog auch einen Beitrag von Prof. Andreas Heinz enthält, seines Zeichens Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, der Wahrnehmungs-Verzerrungen in psychotischen Zuständen erläutert. Künstlerische Imaginationen und Halluzinationen sind beileibe nicht dasselbe, haben aber wohl subkutan damit zu tun und können bis zum mehr oder weniger kontrollierten Wahn eskalieren. Unterdessen führt uns diese Ausstellung sicherlich nicht zu finalen Wahrheiten, sie stellt aber mancherlei Gewissheiten in Frage. Was schon eine Menge ist.

Schmelzender Gletscher, „sprechende“ Pflanzen

Bemerkenswert Felix Contzens zunächst eher meditativ erscheinende, doch eigentlich beunruhigende Arbeit „Bradinnis“, in der sich das Abbild eines isländischen Gletschers mit dem gespenstisch überlagernden Prozess des Abschmelzens verbindet. Durch die Projektion wird eine unterschwellige, aber sehr wirkmächtige Realität sichtbar, die sonst womöglich übersehen werden könnte. Es ist in dieser Schau übrigens nicht das einzige Werk mit ökologischem Ansatz.

Katja Davar: „Still dreaming, she knew it was time to set sail“ (2023), Schwarzer Buntstift, schwarzes und silbernes Grafitpulver und Firnis auf 250-Gramm-Papier collé, 145 × 230 cm (Foto: Mareike Tocha, Köln, © Courtesy: Bernhard Knaus Fine Art, Frankfurt am Main und VG Bild-Kunst, Bonn 2024)

Sodann mag man sich in den subtil rätselvollen Zeichnungen von Katja Davar verlieren, die Formationen aus diversen Zusammenhängen und Jahrhunderten (darunter gar ein Fliesenornament aus dem Ahlener Museum) zu silbriggraublau unterlegten Traumszenen fügt – auf tatsächlich geradezu traumwandlerische Weise. Auch führt sie aus dem Reich des (für uns) Unsichtbaren vor, wie Pflanzen insgeheim miteinander kommunizieren. Das wollten wir doch immer schon mal gewusst haben. Und sei’s halt in der Imagination.

Bilder im chemischen Wandel

Silke Albrecht collagiert Schicht für Schicht Farbereignisse, die u. a. gesprayte, fotografierte und genähte Elemente enthalten. Auch experimentiert sie mit chemischen Reaktionen, die bestimmte Lacke auf Kupferplatten einleiten können. Wahrscheinlich werden solche Bilder eines Tages anders aussehen als jetzt, sie sind prinzipiell unfertig, so dass ihre Wirklichkeit eben dem Wandel und buchstäblich dem Wirken unterworfen ist. Während der begrenzten Ausstellungsdauer sind freilich noch keine grundlegenden Mutationen zu erwarten.

Das Thema wird immer wieder neu und anders umkreist: Caroline Hake hat sich von den glatten Oberflächen der Fernseh-Kulissenarchitekturen (Sendungen wie „Glücksrad“ und „Wahre Wunder“) zu großformatigen Bildern inspirieren lassen. Die Illusions-Welten werden bis zur Abstraktion ausgereizt und auf den bildlichen Begriff gebracht.

Achim Mohné: „Der Wolf vom Königsforst und das Mädchen“ (2020/24), multimediale Installation, 3-D-Rendering, 4K-Video, VR, AR, 3-D-Druck, Vintage-Figurinen und UV-Druck auf Tapete, Rauminstallation im Kunstmuseum Ahlen (© VG Bild-Kunst, Bonn 2024)

Virtuelle Welt mit Wölfen und Populisten

Beherzter Sprung ins oberste Stockwerk, wo Achim Mohné eine vielfältige, ständig anwachsende virtuelle Welt erschaffen hat, die mit eigenem Handy oder geliehener VR-Brille „belebt“ werden kann. Hier herrscht zwischen Wirklichkeit und Trug vollends Verwirrung, zumal der Künstler auch KI-generierte Szenen einbaut. Es geht zudem um politische Fakes, sieht man doch zwischendurch Björn Höcke und Donald Trump ihre wüsten Reden schwingen, wobei Höcke mit der abgehackten Kunstsprache von Chaplins „Der große Diktator“ unterlegt wird. Überdies geht es um das Auftauchen von Wölfen und ferner um eine Urfassung des „Rotkäppchen“-Stoffs, die gar nicht gut ausgeht. Dass das ganze Amalgam die Betrachtenden gründlich überfordert, gehört innig zum Konzept. Geht es uns denn heute nicht just so: dass wir oft kaum noch zu unterscheiden vermögen, ob etwas Substanz hat, ob es „stimmt“ oder nicht?

P. S.: Quasi als Katalog-Schlusswort wird Bundesliga-Schiedsrichter Sascha Stegemann zitiert, der geradezu philosophisch sinniert: „Die Menschen neigen dazu zu glauben, dass das, was sie sehen, Realität ist. Aber wie wirklich ist unsere Wirklichkeit wirklich?“ Bei der nächsten irrwitzigen VAR-Entscheidung * werden wir dran denken.

„Reality Check. Wenn Dinge nicht sind, wie sie scheinen“. Kunstmuseum Ahlen, Museumsplatz 1, 59227 Ahlen. Vom 13. Oktober 2024 bis zum 26. Januar 2025. Geöffnet Mi-Sa 15-18 Uhr, So und feiertags 11-18 Uhr.

www.kunstmuseum-ahlen.de

_____________________________

* Für Fußball-Laien: VAR = Video Assistant Referee, immer wieder umstrittenes Kontrollorgan für Schiedsrichter-Entscheidungen




Klangsammler mit feiner Feder: Das Konzerthaus Dortmund würdigte Beat Furrer zum 70. Geburtstag mit einer „Zeitinsel“

Der Komponist Beat Furrer deutet auf die schroffen Kalkgipfel im Gesäuse, einer Gebirgsgruppe in der Steiermark, die größtenteils zum Nationalpark erklärt wurde. (Foto: Konzerthaus Dortmund)

Er wehrt sich gegen das Bild des versponnenen Elfenbeinturm-Bewohners. Obwohl der Komponist Beat Furrer, gebürtiger Schweizer, in einem abgeschiedenen Forsthaus in den österreichischen Bergen arbeitet, beteuert er im Podiumsgespräch mit dem Konzerthaus-Intendanten Raphael von Hoensbroech: „Ich möchte mich nicht zurückziehen. Ich lebe in dieser Welt und nehme Anteil an ihr.“ Das Konzerthaus Dortmund würdigte Beat Furrer aus Anlass seines 70. Geburtstags mit einem fünftägigen „Zeitinsel“-Festival.

Nachdem die „Zeitinseln“ der vergangenen Jahre Sofia Gubaidulina und Arvo Pärt porträtierten, entwickelte das Konzerthaus-Team die aktuelle Ausgabe in enger, persönlicher Zusammenarbeit mit dem Komponisten. Wie hoch die Musikwelt Furrers Werke schätzt, lässt sich an seiner Vita ablesen: Er ist Träger des Ernst von Siemens Musikpreises, des großen österreichischen Staatspreises für Musik und des goldenen Löwen der Biennale von Venedig, zudem Gründer des Klangforum Wien. In diesem Sommer war er Residenzkünstler beim Lucerne Festival.

Beat Furrer wurde am 6. Dezember 1954 in Schaffhausen geboren. (Foto: Manu Theobald)

Furrer ist ein Künstler, der seine Worte abwägt. Der gründlich nachdenkt, bevor er sich über sein Werk äußert. Statt ihm ungeduldig ins Wort zu fallen, gesteht der Konzerthaus-Intendant ihm im Podiumsgespräch die Zeit zu, seine Gedanken zu sortieren. So erfahren die Besucher Interessantes über diesen Klangsammler, der im steirischen Nationalpark, dem so genannten Gesäuse, oft den leisen Stimmen der Natur nachlauscht: dem Glucksen von Wasser, dem Flüstern des Windes, den nachts aus dem Wald tretenden Tieren. Er bezeichnet das nicht als Idylle, sondern als Ort der Konzentration.

Als „Komponist des Leisen“ ist er schon bezeichnet worden, aber in derlei Schubladen mag er nicht gesteckt werden. Furrer mag keine Verkürzungen, keine Klischees. Tatsächlich spielt das Laute, der Schrei, in seiner Musik eine nicht minder wichtige Rolle. Wenn er in Wien sei, verschließe der Lärm der Stadt ihm aber die Ohren: „Das sind Geräusche ohne Raum.“ Auch die Sprache spielt in Furrers Schaffen eine wesentliche Rolle, weil die Musik sich immer nah an der Stimme entwickelt hat.

Vergleiche sind heikel, aber womöglich sind Salvatore Sciarrino und Helmut Lachenmann zumindest Geistesverwandte dieses Komponisten, weil auch sie stille, oft geräuschhafte „Hörmusiken“ schaffen, die die Wahrnehmung schärfen. Luigi Nono hat ihn in jungen Jahren stark beeinflusst. Das Hören, sagt Furrer, sei „ein Weg zum anderen“. Er findet es bedenklich, wie sehr es in unserer Zeit abhandenzukommen droht.

Dirigent Zoltán Pad und das Chorwerk Ruhr gestalteten den ersten Abend der Furrer-„Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Oliver Hitzegrad)

Blickt man auf die feine Notenschrift in Furrers Partituren, bekommt man eine Ahnung davon, wie dieser Klangsammler sein Material sortiert und strukturiert. Qualität und Schlüssigkeit sind ihm wichtig, kein Ton darf zu viel sein. Das zeigt sich deutlich in seinem siebenteiligen „Enigma“-Zyklus. Es handelt sich dabei um A-cappella-Chorwerke auf Texte von Leonardo da Vinci, die das Chorwerk Ruhr zum Auftakt der Zeitinsel mit Gesängen aus der Renaissance verschränkt.

Furrers tönende Rätsel nehmen das Ohr sofort gefangen. In „Enigma I“ säuseln und sirren die Frauenstimmen, wogen hin und her wie ein fortwährendes Echo. Die Männerstimmen treten geheimnisvoll und leise hinzu, bis sich die Musik zum Aufschrei steigert. Viel Mysteriöses ist auch im weiteren Verlauf zu hören: Von Atemgeräuschen erfüllte Pianissimogefilde, isolierte Vokale, raunender Sprechgesang. Zu den Worten „Aus dunklen Höhlen wird etwas hervorkommen“ pirscht sich in „Enigma VI“ ein düster-diffuser Klang heran, leise und bedrohlich.

Das Chorwerk Ruhr versteht sich glänzend auf Furrers klangliche Aggregatzustände, auf seinen komplexen Reichtum von Klanglichkeiten. Unter der Leitung von Dirigent Zoltán Pad kontrastieren sie seinen Zyklus mit liturgischen Gesängen von Orlando di Lasso, Giovanni Gabrieli und Antonio Lotti. Da tritt dem Dunklen und Geheimnisvollen strahlende Glaubensgewissheit gegenüber.

(www.konzerthaus-dortmund.de)




Abgründe der Liebe – „Das Buch der Schwestern“ von Amélie Nothomb

Die Liebe zwischen Nora und Florent ist ausschließlich und selbstsüchtig. Jeder andere ist ein Störfaktor, wenn sie sich mit Blicken verschlingen und vor Begehren kaum an sich halten können.

Was sollen sie mit einem Baby anfangen? Doch plötzlich haben sie eine Tochter, taufen sie auf den Namen Tristane, überlassen das traurige Wesen ganz sich selbst und seiner kindlichen Fantasie. Schnell merkt die einsame Tristane, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen muss.

Die schiere Lust an neuen Worten

Tristane bringt sich das Sprechen und Lesen bei, fängt Wörter mit einem imaginären Lasso ein: „Wenn sie hinreißende Wörter wie Tamburin oder Schaukelpferd aufschnappte, verfiel sie in helle Aufregung“, sie erschauerte vor Lust, „als sie zum ersten Mal so tollkühn war, das Wort Marienkäfer in den Mund zu nehmen; und als sie sich das Wort Gartenschlauch einverleibte, verging sie fast vor Entzücken.“

Amélie Nothomb, 1967 als Tochter eines belgischen Diplomaten im Japanischen Kobe geboren, ist in Frankreich und Belgien ein Literatur-Star, überrascht mit jedem Buch aufs Neue. Sie liebt feinsinnige Anspielungen und abgründige Irrfahrten durch die Welt der Worte, die mehr verbergen als aussagen. Ihren Geschichten haftet immer etwas Geheimnisvolles und Bizarres, Märchenhaftes und Absurdes an. In Leerstellen und im Unausgesprochenen stochern irritierte und zugleich entzückte Leser nach Bedeutung und Sinn der rätselhaften Romane.

Was die von ihren Eltern, die nur einander, aber sonst niemand anderen lieben können, vernachlässigte Tristane ertragen muss, um nicht im Meer der Einsamkeit unterzugehen, hat etwas Aussichtsloses und Traumatisches. Erlösung findet Tristane allein in der Liebe zu ihrer kleinen Schwester, Laetitia, ein fröhliches und unbeschwertes Wesen, das schon mit acht Jahren weiß, was sie einmal werden will: Gitarristin auf den Spuren von Jimi Hendrix und Jimmy Page und Sängerin in einer Hard-Rock-Band.

Die Eltern endlich verbannen

Ohne Laetitia, die sich selbstbewusst durchs Leben boxt und durch jeden Rückschlag nur noch stärker wird, würde Tristane, die von allen wegen ihrer Intelligenz geachtet, aber als „graue Maus“ von niemandem wirklich wahrgenommen wird, keinen Tag überleben und nicht alt genug werden, um im reifen Alter vielleicht doch noch ein spätes Glück zu finden und ihre selbstverliebten Eltern dahin zu verbannen, wohin sie gehören: in den Hades des Hasses und in den Orkus des Vergessens.

Überraschende Wendungen

„Das Buch der Schwestern“ ist eine raffiniert gebaute und sparsam erzählte Geschichte über die Abgründe der Liebe. Vieles von dem, was sich erst nur im Kopf der kleinen Tristane und später in ihrem von literarischen und erotischen Leidenschaften zerfressenen Leben ereignet, muss sich der Leser selbst zusammenreinem. An jeder Ecke wartet eine überraschende Wendung und ein stolpernder Neuanfang. Abenteuerreisen in die Literatur-Geschichte werden collagiert mit kernigen Rock-Songs; einfühlsame Liebesbriefe der Schwestern vermischen sich mit schmerzlichen Beleidigungen der Eltern.

Auch in gebildeten, gut bürgerlichen Familien lauert der Wahnsinn der Welt und die Verrücktheit der emotionalen Verlotterung. Die Vielschreiberin Amélie Nothomb, die fast jedes Jahr einen Roman herausbringt, hat ein schmales, aber ungemein reiches Buch geschrieben.

Amélie Nothomb: „Das Buch der Schwestern“. Roman. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes, Zürich 2024, 159 S., 23 Euro.




Vom Mysterium des Dirigierens: Klaus Mäkelä stellt sich als Porträtkünstler in Essen vor

Klaus Mäkelä (Foto: Marco Borggreve)

Da ist der Intendantin der Essener Philharmonie ein Coup gelungen. Noch bevor die Vermarktungsmaschinerie den 28jährigen Klaus Mäkelä richtig zwischen die Zahnräder bekam, hatte Babette Nierenz den kommenden Star für ein Künstlerporträt verpflichtet. Drei Mal kommt der gefragte junge Finne also nach Essen.

Das erste Konzert mit dem Concertgebouw Orkest, das er ab 2027 als Chefdirigent leitet, liegt bereits hinter ihm. Das zweite mit den Wiener Philharmonikern und der 1906 in Essen uraufgeführten Sechsten von Mahler findet am 19. Dezember statt. Und das dritte am 1. März 2025 bestreitet Mäkelä mit dem Orchestre de Paris, als dessen Musikdirektor er seit 2021 fungiert.

Es hat in den letzten Jahren keinen jungen Dirigenten gegeben, der so rasch und strahlend aufgestiegen ist wie dieses Wunder am Pult. Was ist sein Geheimnis? Wie fasziniert er die großen Orchester, die er in den letzten fünf Jahren quasi aus dem Stand heraus für sich gewonnen hat?

Mit 21 leitete er das Schwedische Radio-Sinfonieorchester, mit 22 ernannten ihn die Osloer Philharmoniker zu ihrem Chefdirigenten. Seither scheint es, als sammle er Orchester wie Trophäen: Münchner Philharmoniker, Bamberger Symphoniker, London Philharmonic Orchestra, Luzerner Festival Orchestra, Berliner Philharmoniker. In dieser Saison debütiert er mit den Wiener Philharmonikern und ist „Focus Artist“ im Wiener Musikverein. Ab 2027 folgt ein Chefposten bei gleich zweien der besten Orchester der Welt, dem Concertgebouw Amsterdam und dem Cleveland Orchestra. Wie geht das?

Schwindelerregender Terminplan

Ein Blick auf den Terminkalender seiner Webseite macht ebenfalls staunen und schwindlig: Anfang Oktober Mahlers Neunte in Paris, Mitte Oktober Mahlers Dritte in Cleveland. Dann eine Serie von Konzerten mit seinem Osloer Orchester in Brüssel, Stuttgart, Wien, Hamburg und am 3. November mit Strawinskys Violinkonzert und Tschaikowskys Vierter in Dortmund.

Drei Tage später das Orchestre de Paris mit Strauss‘ „Tod und Verklärung“, Messiaens „L’Ascension“, Faurés „Requiem“ und der Uraufführung von „Lux Aeterna“ von Thierry Escaich. Dann Zwischenspiel beim London Symphony Orchestra, bevor es mit dem Concertgebouw auf USA-Tour geht. In New York erklingt dasselbe Programm wie vor kurzem in der Essener Philharmonie: Schönbergs „Verklärte Nacht“ und Mahlers Erste Sinfonie. Man darf davon ausgehen, dass die Carnegie Hall ausverkauft sein wird – im Gegensatz zu Essen, wo erstaunlich viele Plätze frei geblieben sind. Es braucht offenbar mehr als eine Exklusivvertrag bei Decca und hochgerühmte Sibelius- und Schostakowitsch-Aufnahmen, um den Instinkt der Essener Kulturwelt zu animieren.

Jetzt sind wir im Fahrplan wohlgemerkt erst Mitte November. Bis Mäkelä vor Weihnachten nach Essen zurückkehrt, hat er noch seine Orchester in Oslo und Paris mit anspruchsvollen Programmen (Brahms, Berlioz) zu leiten, bevor er sich am 13. Dezember mit Mahlers Sechster im Wiener Musikverein vorstellt. Die Essener Konzerte sind komischerweise in seinem „schedule“ nicht aufgeführt – was man auch immer daraus schließen mag…

Schlichtweg eine Jahrhundert-Begabung 

Ja, wie geht das? Dass in Mäkelä eine Jahrhundert-Begabung schlummerte, die sich nun vehement Bahn bricht, dürfte unbestreitbar sein. Denn er ist ja kein tourender Kapellmeister, der sich überall präsent setzen will. Dazu sind – bei allen Vorbehalten – die künstlerischen Ergebnisse zu bemerkenswert. Liegt das Geheimnis vielleicht in seinem Umgang mit den Orchestern? Pflegt er einen empathischen, partnerschaftlichen Stil, der bei den Musikern Höchstleistungen hervorruft, ohne Druck, ohne Zwang, ohne Beklemmung? Er ermuntere, statt zu fordern, heißt es. Er sehe die Musiker als Individuen, schaffe eine familiäre Atmosphäre, gehe auf die Einzelnen ein. Das klingt ein wenig nach Orchester-Wellness, doch Mäkelä kann nicht bloß der gute Kumpel am Pult sein; er begnügt sich nicht mit beflissener Spiel-Perfektion.

Und sein Alter? Kein Argument: Arturo Toscanini war 31, als er an der Scala debütierte, Hermann Scherchen im gleichen Alter, als er Nachfolger Furtwänglers in Frankfurt wurde. Claudio Abbado dirigierte mit 28 an der Scala. Daniel Barenboim begann seine Dirigentenkarriere mit 25 und war mit 32 Chefdirigent des Orchestre de Paris. Bruno Walter war 25, als er unter Mahler Kapellmeister an der Wiener Hofoper wurde.

Das Charisma der Großen

Vielleicht stimmt es doch, dass Dirigieren ein „Mysterium“ ist. Dass es jenes unbestimmbare, aber deutlich zu spürende Charisma ist, das einen versierten oder sogar perfekten Dirigenten von einem der Großen unterscheidet. Meine bisherigen Live-Erfahrungen mit Klaus Mäkelä waren zwiespältig: Bei Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ in Essen stimmte die Dramaturgie zwischen Idylle und Exaltation. Vor zwei Jahren lieferte er mit dem Concertgebouw Orkest in Köln eine Sechste, deren Scharfschnitt und Präzision geradezu unheimlich waren, weckte aber nicht den Eindruck, sich auf die wirklichen Abgründe Mahlers eingelassen zu haben. Die Chance, es mit Hilfe der Mahler-Erfahrung der Wiener Philharmoniker nun überzeugender zu machen, hat Mäkelä im Dezember.

Klaus Mäkelä und das Concertgebouw Orkest in der Essener Philharmonie. (Foto: Volker Wiciok/TuP)

Jetzt in Essen hinterlässt die Erste Symphonie einen gereifteren Eindruck. Brillanz und Streben nach Perfektion wirken nicht so glatt und geheimnislos wie der Kölner Mahler. Und das liegt nicht am Stück, denn Mahler war als 28-Jähriger bereits „fertig“, schrieb eine Musik jenseits des Suchens und Tastens nach dem persönlichen Ausdruck. Emotionale Extreme, das Aufeinanderprallen von Banalität und Transzendenz, musikalische Idiome zwischen Choral und Volksmusik – all das ist in der Ersten schon ausgereift.

Keine Ironie, keine Groteske?

Mäkelä scheint sich dennoch mehr für rein musikalische Vorgänge als für Stimmungen, Rhetorik oder gar Programmatisches zu interessieren (das Mahler, wie den hartnäckig weiterbenutzten Titel „Titan“, ja aus guten Gründen getilgt hat). Darin ist sein Blick klar und unbestechlich: Die Entwicklung von der gestaltlosen Klangfläche des Beginns über fragil gespielte motivische Ansätze bis zum liedhaften Thema ist unter seinen Händen ein wunderbar ausbalancierter Vorgang. Mäkelä achtet darauf, dass strukturell wichtige Momente wie das für die Durchführung bedeutende Motiv der Celli entsprechend hervorgehoben werden. Steigerungen hält er im Zaum, um das Fortissimo-Pulver nicht gleich zu verschießen. Die finale Trompetenfanfare und das Aufzischen der Becken ist minutiös vorbereitet. Der Effekt sitzt nicht als solcher, sondern als Kulminationspunkt einer logischen Entwicklung.

Neue Mahler-Lesart jenseits jeglicher Ironie

So ließe sich von der stampfenden Rhythmik des zweiten Satzes und seinen lockeren Kontrast im Trio über die düster lauernde Atmosphäre des „feierlich und gemessen“ betitelten Trauermarschs mit seiner makabren Ironie bis zur souveränen Strukturierung des Finalsatzes Punkt für Punkt Rechenschaft ablegen über Mäkeläs Scharfsicht. Und man fragt sich so langsam, ob dieser junge Kopf nicht auf blitzgescheite Weise eine Mahler-Lesart einführen will, die sich jeglicher Ironie, jeglicher Uneigentlichkeit, jeglicher Groteske oder Parodie „in Callot’s Manier“ (so Mahlers ursprüngliche Beschreibung des dritten Satzes mit Bezug auf E.T.A. Hoffmann) entziehen will – konzentriert auf die reine Musik, bedeutungslos wie ein Gemälde Gerhard Richters, bei dem man sich nicht fragen darf, was der Rausch der Farben bedeutet und worin die Transzendenz der Form liegen könnte. Die Antwort wird die Zukunft geben, live zu verfolgen im Dezember in der Philharmonie Essen.

Klaus Mäkelä kommt wieder mit dem Oslo Philharmonic Orchestra am Sonntag, 3. November ins Konzerthaus Dortmund und am Donnerstag, 19. Dezember mit den Wiener Philharmonikern in die Philharmonie Essen. Am Samstag, 1. März 2025 ist er hier auch mit dem Orchestre de Paris zu Gast. Info: www.theater-essen.de




Seelenfenster geöffnet: Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in Krefeld-Mönchengladbach

Sofia Poulopoulou als Tatjana in der Inszenierung von Helen Malkowsky am Theater Mönchengladbach. (Foto: Matthias Stute)

„Eugen Onegin“ hat in diesem Jahr Konjunktur in Nordrhein-Westfalen. Bonn, Düsseldorf und Krefeld-Mönchengladbach zeigten Peter Tschaikowskys Meisterwerk. In Mönchengladbach wird die Inszenierung nun wieder aufgenommen.

Am 25. Februar dieses Jahres näherte sich Michael Thalheimer in Düsseldorf den „Lyrischen Szenen“ in einem harten hölzernen Verschlag von Henrik Ahr mit strengem, unbestechlich beobachtendem Minimalismus, gestützt von der leidenschaftlichen Lesart des neuen GMD der Rheinoper, Vitali Alekseenok (Wiederaufnahme war am 28. September). Nur eine Woche später präsentierte Regie-Shootingstar Vasily Barkhatov eine detailverliebte, psychologisch präzise Version der tragisch verfehlten Liebesgeschichte in opulenten Bildern von Zinovy Margolin an der Oper Bonn, begeisternd flexibel und transparent dirigiert vom neuen GMD des Theaters Hagen, Hermes Helfricht.

Einleuchtend erzählte Geschichten

Die Neuinszenierung in Mönchengladbach, die jetzt wieder aufgenommen und ab 16. November in Krefeld gezeigt wird, stammt von Helen Malkowsky, Wieder einmal stellt sie unter Beweis, wie einleuchtend sie eine Geschichte zu erzählen, wie unverkünstelt sie Figuren führen und Konstellationen entwickeln kann. Originelle, aber nie aufgesetzte Konzepte entwickelte die Professorin für Musiktheaterregie und Szenische Interpretation an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien schon vor 20 Jahren, als sie in Nürnberg „Der fliegende Holländer“ oder Aribert Reimanns „Melusine“ mit Sensibilität für metaphorische Bühnenlösungen in szenische Psychogramme verwandelte. In ihre Zeit als Operndirektorin in Bielefeld (2010 bis 2013) fielen die faszinierend doppelbödigen „Contes d’Hoffmann“; an den Vereinigten Bühnen Krefeld-Mönchengladbach entdeckte sie bereits in Tschaikowskys „Mazeppa“ ebenso wie in Verdis „Stiffelio“ und Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ die heute relevanten Aspekte der Stoffe.

Nun also „Eugen Onegin“: Der junge, schlanke Dandy bricht absichtslos in die bleigraue Welt auf Larinas Gut ein, sein goldener Rock (Kostüme: Anna-Sophie Lienbacher) spiegelt die zögerliche Faszination der Frauen wieder, stellt aber auch seine in diesen stumpfen Räumen schillernde Exotik aus. Malkowksy erfindet keine Charakterzüge über die im Stück angelegten hinaus, aber sie schärft das Profil der Menschen, indem sie – ähnlich wie Dietrich Hilsdorf in seiner sensationellen Kölner Inszenierung vor zehn Jahren – genau beobachtet. Sie arbeitet mit sprechenden Gesten und offenbarenden Konstellationen: Larina (Katarzyna Kuncio) ist eine pragmatisch gewordene Frau in mittlerem Alter, Filipjewna (Satik Tumyan) ein sympathisch mütterliches Wesen, gezeichnet mit feinem Humor.

„Das Glück, es war so nah“: Tatjana (Sofia Poulopoulou) und Onegin (Rafael Bruck) verfehlen sich auf tragische Weise. (Foto: Matthias Stutte)

Vor den vermauerten oder zugeklebten stilisierten Fenstern der Bühne Tatjana Ivschinas fehlt der verträumten Tatjana mit ihren langen dunklen Haaren ebenso die Wärme wie dem Licht, das eine Trauergesellschaft in fahle Helle kleidet. Offenbar ist der Gutsherr verstorben; Damen und Herren mit Mantel und Hut in Schwarz kondolieren. Der Vorsänger (Irakli Silagadze) singt tonschön und entspannt, wie es selten in dieser kleinen Partie zu erleben ist.

Nuancen von bösem Gelb

Die Briefszene gestaltet die vorzüglich dunkelglühend singende Sofia Poulopoulou – in weißem Kleid und barfuß ganz bei sich selbst – als einen verzweifelt-feurigen Ausbruchs- und Erweckungsmoment. Das Chaos ihrer Gefühls- und Gedankensplitter kritzelt sie auf Papier, das sie von den halb blinden, halb von Regentränen benetzten Fenstern kratzt, und bindet die Blätter zuletzt zu einem Konvolut. Das Öffnen eines der Fenster mag eine konventionelle Metapher sein: Malkowsky inszeniert es als ein ergreifendes Befreiungserlebnis. Die Zurückweisung Tatjanas wiederum wird zur Charakterstudie Onegins. Gelangweiltes Wohlwollen, unterschätzende Belehrung: Rafael Bruck gestaltet diesen Moment wort- und klangsensibel.

Beim Namensfest Tatjanas tragen die Protagonisten wie die geschwätzigen Gäste Kostüme in den Nuancen von bösem Gelb. Die Inszenierung schildert, wie sich Lenski, vom Alkohol benebelt, in seine Eifersucht hineinsteigert. Wie sorgfältig auch Nebenfiguren gezeichnet werden, ist am Triquet von Arthur Meunier abzulesen: Endlich einmal kein übergriffiger Fummler oder kasperlhafter Trottel, sondern ein sanft frustrierter, still mitwissender Charmeur mit leichtem Hang zur Selbstübersteigerung. Eine Studie, die Meunier auch durch solides gesangliches Gestalten aufwertet.

Nur die Olga der leuchtend leicht singenden Kejti Karaj aus dem Opernstudio Niederrhein bleibt etwas zu sehr am Rande. Das ist aber angemessen, denn das „Kind“ ist nichts weiter als eine Projektionsfigur der romantisch übersteigerten Wünsche des Dichters Lenski, die beim verhängnisvollen Tanz mit Onegin nichts, aber auch gar nichts provoziert. Lenski ist bei Woongyi Lee, ausgestattet mit einem fast überpräsent in der Maske gebildeten, in der Höhe gezwungenen und daher nicht immer intonationsreinen Tenor, ein verstiegener junger Mann, der sich im Duell todesbereit präsentiert. Seine Arie singt Lee mit gestalterischem Feinsinn. Nicht der widerstrebende Onegin erschießt ihn, sondern die Pistole entlädt sich, während jener mit dem Sekundanten ringt. Gereon Grundmann ist der düstere Hüter der Duellregeln und wirkt damit wie ein metaphorischer Repräsentant einer obstruktiven Ordnung, die es wieder herzustellen gilt. Matthias Wippich als balsamfrei singender Fürst Gremin ist im letzten Bild dann der Katalysator für die finale Lebenskatastrophe Onegins.

Die Niederrheinischen Sinfoniker und der Opernchor Krefeld-Mönchengladbach, einstudiert von Michael Preiser, haben in GMD Mihkel Kütson einen erfahrenen Kenner der russischen Romantik am Pult. Kütson hat auch „Mazeppa“ dirigiert und sich mit CD-Aufnahmen entlegenen russischen Repertoires etwa von Alexander Glazunov und Mili Balakirev hervorgetan. Das Orchester überzeugt mit einem dunkel-weichen Klang und ist auch in dramatischen Momenten nie unkontrolliert massiv. Kütson sorgt für sorgfältig gestaltete Tempi und Übergänge, einen überlegten Aufbau emotionaler Spannungen, lyrische Finesse und wehmütige Pastellfarben. Die Konkurrenz mit Düsseldorf und Bonn müssen die Niederrheiner nicht scheuen.

Eine weitere Vorstellung am 10. Oktober in Mönchengladbach-Rheydt. Premiere in Krefeld ist am 16. November, weitere Termine am 20.11., am 5., 14., 29.12 sowie 10.01., 4. und 14.02.2025. Info: https://theater-kr-mg.de/spielplan/eugen-onegin/