„Ausgeliefert“ – Klassenkampf mit Apps und GPS

Damn, clusterfuck, cringe as fuck, shiny. Nur eine kleine Auswahl zwischendurch hingeworfener Wörter aus dem Prolog zum eigentlich auf Deutsch verfassten Buch. Sollte das etwa besonders „cool“ klingen?

Orry Mittenmayers Buch „Ausgeliefert“ prangert jedenfalls die Methoden gewisser Essens-Lieferdienste an, enttäuscht allerdings am Anfang, wo es doch gerade in den Text locken sollte. Auch der einschläfernde Bandwurmsatz des Untertitels ist in diesem Sinne nicht hilfreich, er lautet: „Wie Lieferdienste ihre Fahrer ausbeuten, warum uns das alle ärmer macht – und was wir dagegen tun können.“  Erst der konkrete, recht späte Einstieg in die eigentliche Materie liest sich dann deutlich spannender.

Lückenlose Überwachung

Da erfährt man endlich einiges aus dem miesen Alltag der Auslieferungsfahrer („Rider“). Es geht – am Beispiel Köln – um die lückenlose Orts- und Zeit-Überwachung per GPS; um die fiesen Kontrollanrufe der oft gerade mal dem BWL-Studium entronnenen „Dispatcher“, die schon bei der kleinsten Verzögerung ihr armseliges Repertoire zwischen geheuchelter Jovialität, Herablassung und Drohung abspulen. Zynischer noch: Sie verkaufen den gehetzten Radfahrern den ausbeuterischen Knochenjob als sportlichen Startup-Lifestyle. Die sportive „challenge“ bestand u. a. darin, kaum Zeit für Toilettengänge oder sonstige Pausen zu haben. Der Algorithmus der Firmen-Apps gab den gnadenlosen Takt vor.

Wo ist nur das Trinkgeld geblieben?

Der aus einfachen Verhältnissen stammende Mittenmayer war dringend auf den (kargen) Lohn angewiesen, weil er die Zeit bis zum BAföG überbrücken, die Abendschule besuchen und anschließend studieren wollte. Für ein 2024 erscheinendes Buch ist das Geschehen schon recht lange her und eventuell nur bedingt aktuell: Ab 2016 nahm der Autor Jobs bei Foodora und Deliveroo an, zwischen 9 und 10 Euro gab’s damals pro Stunde. Der Umgang mit umso dringender benötigtem Trinkgeld war wohl alles andere als transparent. Sollte da vielleicht mancher per Karte oder Überweisung zugezahlte Euro in der Unternehmenskasse statt in den Taschen der Fahrer gelandet sein?

Schon zu Beginn mussten die Fahrer für die Lieferboxen offenbar je 50 Euro Pfand entrichten. Auch danach trugen sie alle Risiken, beispielsweise mussten sie etwaige Schäden am eigenen Fahrrad auf eigene Kosten beseitigen. Von Gefahren im hektischen Straßenverkehr mal ganz großzügig abgesehen.

Unaufhörliches Lob der Gewerkschaft

Als Mittenmayer und andere sich wehrten, versuchten die Firmen alles, um die Gründung von Betriebsräten zu verhindern. Doch mit der rasant anwachsenden Protest-Aktion „Liefern am Limit“ erlangten er und seine Mitstreiter bundesweite Aufmerksamkeit – nicht zuletzt durch die Hilfe der Gewerkschaft. Solidarität hat eben auch im Klassenkampf neuerer Machart keineswegs ausgedient.

Gegen Schluss plätschert das Buch leider etwas entkräftet aus. Mittenmayer betont noch und noch, was er bis dahin schon vielfach mitgeteilt hat: Wie wichtig Gewerkschaften (hier besonders: die NGG) seien, wie ihn der Kampf für Arbeitnehmerrechte „empowered“ habe, wie er als Schwarzer und (Hör)-Behinderter gegen alle Wahrscheinlichkeit und viele Widerstände doch noch höhere Bildungsabschlüsse erlangt habe. Alles gut und richtig. Respekt vor dieser Energie- und Lebensleistung. Aber irgendwann klingt es dann doch nach Gebetsmühle und Litanei.

Orry Mittenmayer (mit Harald Braun): „Ausgeliefert“. Kiepenheuer & Wisch, 224 Seiten, 18 Euro.