Wege zu sich selbst: Frühwerke Puccinis zum 100. Todestag in der Philharmonie Essen

Giacomo Puccini ist vor 100 Jahren, am 29. November 1924, gestorben. Seine Heimatstadt Lucca hat ihm dieses Denkmal gesetzt. (Foto: Werner Häußner)

Die Suche nach dem Funken der Genialität berühmter Komponisten gehört zu den Standards einer glorifizierenden Geschichtsschreibung, die selbst im weit abgelegenen Jugendwerk noch die Ahnung des späteren Meisters erspüren will. Das funktioniert bei Wagner schon nicht und geht bei Giacomo Puccini vollends ins Leere.

Nichts deutet darauf hin, dass aus dem Kirchenmusikschüler aus Lucca und dem bequemen Mailänder Studenten Amilcare Ponchiellis einmal der Schöpfer einer „Tosca“, einer „Madama Butterfly“ oder einer „Turandot“ werden sollte.

Trotzdem ist es eine gute Idee, den 100. Todestag Puccinis (geboren am 22.12.1858 in Lucca, gestorben am 29.11.1924 in Brüssel) zum Anlass zu nehmen, einmal in seiner Jugend zu kramen. Zum einen, weil eine Größe wie Puccini kein Jubiläum braucht, um mit seinem reifen Œuvre im Musikleben der Gegenwart ausreichend präsent und gewürdigt zu sein. Zum anderen, weil gerade der Kontrast zwischen den eifrigen Jugendwerken und den so souverän wirkenden, tatsächlich aber unter unendlichen Mühen entstandenen Opern Aufschluss geben kann, wie der Komponist Puccini zu sich selbst gekommen ist. Es sind nicht die sicherlich unersetzlichen Bemühungen um Kontrapunkt, Harmonielehre oder historische Musik, die den Durchbruch anfeuern. Es ist der Funke, der aus dem Musikdrama springt, der die Fantasie des Autors entfacht und in höchste Höhen treibt.

Dieses zündende Moment ist vielleicht am ehesten in Puccinis „Messa di Gloria“ zu spüren – ein Werk, in dem eben schon Text zur Musik tritt und sich beide unzertrennlich verbinden. Puccini-Biograph Dieter Schickling nennt sie „zeitgenössische Konfektionsware“ und hat damit wohl recht. Hätte die am 12. Juli 1880 in Lucca mit einigem Erfolg uraufgeführte Messe irgendeiner der tüchtigen Zeitgenossen des jungen Puccini geschrieben, läge sie wohl immer noch unbeachtet in irgendeinem Archiv. Puccini selbst hatte kein Interesse mehr an dem Jugendwerk. Doch der Name des Autors bringt die Erlösung: 1952 wurde die Messe wieder ausgegraben.

Zweifelhafte Hymne für die Stadt Rom

Der Essener GMD Andrea Sanguineti. (Foto: Volker Wiciok)

GMD Andrea Sanguineti ist zu danken, dass die Essener Gedenkfeier zum Tod Puccinis vor 100 Jahren nicht in irgendeinem geistlosen Highlight-Potpourri besteht. Er hat die „Messa a quattro voci con orchestra“ – so der korrekte Titel – ins Zentrum seines Vierten Sinfoniekonzerts mit den Essener Philharmonikern gestellt und das Programm mit Orchester-Frühwerken Puccinis aus seinen Studienzeiten in Lucca und Mailand ergänzt.

Sanguineti war aber auch mutig genug, den „Inno a Roma“ von 1919 ins Programm aufzunehmen, ein Stück Propagandamusik, wie sie auch Beethoven, Rossini, Verdi, Wagner und manch andere geschaffen haben. Und wie Wagners Musik in Deutschland, so wurde Puccinis martialische Hymne von den Faschisten vereinnahmt, deren Aufstieg der Maestro unpolitisch unbekümmert verfolgte, ohne seine eher konservativ patriotische Einstellung in Nationalismus oder gar Sympathie umschlagen zu lassen. Sanguineti ließ den „Inno“ richtig krachen und von Pathos triefen – und hat so mehr als in seiner wortreich entschuldigenden Erklärung dazu beigetragen, das Doppelgesicht dieser Musik und ihrer Missbraucher zu entlarven.

Entrückte Stimmung, melodischer Geschmack

Was zeigen die Orchesterwerke des jungen Puccini? Das „Preludio a Orchestra“, das er mit Achtzehn schrieb, steht in den vibrierenden Violin-Piani wohl unter dem Eindruck einer „Aida“-Aufführung, die er 1876 im Teatro Nuovo in Pisa miterlebt hat. Auf den tiefen Saiten intonieren die Geigen ein schmeichelndes Thema, in dem man das Material für eine Opernarie entdecken könnte. Aber von den späteren eleganten Übergängen ist noch nichts zu hören. Auch „Scherzo e Trio“, wohl um 1883 in Mailand entstanden, offenbart Puccinis melodischen Geschmack. Das „Preludio sinfonico“ atmet die entrückte Stimmung eines „Lohengrin“ und zeigt in den Holzbläserharmonien, wie sich Puccini für die Koloristik in der Musik interessiert.

Das bekannteste Werk aus dieser Zeit, das „Capriccio sinfonico“, genießt eine gewisse Bekanntheit, weil Puccini das Vivace daraus in „La Bohème“ wieder verarbeitet hat. „Sinfonisch“ im Sinne einer deutschen Tradition ist da wenig, die Struktur dieser frühen Heldentaten erinnern eher an die Themenreihungen von Opernouvertüren oder an locker gefügte sinfonische Dichtungen. Die Essener Philharmoniker haben diesen anregenden Einblick in die frühe Werkstatt des späteren Operngenies mit Lust und Spiellaune eröffnet.

Dramatisch und unkonventionell

Gedenktafel für Giacomo Puccini in seinem langjährigen Wohnort Torre del Lago. (Foto: Werner Häußner)

In der Messe findet sich keine Spur der späteren Opernmusik zu religiösen Momenten, etwa des falschen Pathos‘ des „Te Deum“ in „Tosca“. Dafür lassen sich zwei Beobachtungen machen: Puccini zeigt seine Stärken als Dramatiker, denn die schildernden Teile etwa des Credo wirken inspirierter als die reflektierend theologischen Passagen. Und er lässt sich nicht nur von Ausdruckskonventionen bestimmen. Das zeigt sich bereits im kontemplativen „Kyrie eleison“: Der Opernchor des Aalto-Theaters gibt ihm gemeinsam mit dem Philharmonischen Chor Essen pastorale Leichtigkeit, hebt aber auch den Kontrast zum „Christe eleison“ mit seinen Marcato-Männerstimmen heraus.

Man darf sich durchaus fragen, welche Gedanken Puccini hegt, etwa wenn er im Gloria das „in terra pax hominibus“ – also der weihnachtliche Wunsch nach Frieden auf Erden – zurücknimmt, als melde er seine leisen Zweifel an. Oder wenn er den Solo-Tenor – Alejandro del Angel singt die Stelle mit markig strahlender Stimme – den Dank an den König des Himmels („gratias agimus tibi“) vielfach wiederholen lässt. Das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt, wird wieder in leuchtender „Aida“-Stimmung besungen.

Das Bekenntnis zum alleine Heiligen („Quoniam tu solus sanctus …“) erklingt dann ganz konventionell in hymnischem Ton, blechgewappnet und fanfarenbegleitet. Sanguineti dirigiert diese Stellen mit Verve und Energie, und die Essener Philharmoniker folgen ihm mit eindringlicher, aber nicht überzogener Wucht. Wobei einzelne Stellen, die wie Schönberg’sche Abweichungen klingen, darauf hindeuten, dass das mühsam überarbeitete Material keineswegs fehlerfrei ist. Und obwohl seine Lehrer den Arbeitseifer des Studenten Puccini bemängelten, zeigt die klassische „Cum sancto spiritu“-Fuge, dass er sich auch dieses Metier vertraut gemacht hat.

Der zweite Solist der Messe, Massimo Cavaletti, bestätigt im „Benedictus“ und im Duett mit dem Tenor im „Agnus Dei“ den Eindruck aus der neuen Aalto-Produktion von Verdis „La forza del destino“: Sein Bariton ist klangvoll, sicher positioniert und bei aller Wucht in der Lage, eine melodische Linie flexibel zu gestalten.

Mit den Chören haben Patrick Jaskolka und Wolfram-Maria Märtig ganze Arbeit geleistet: Ein paar schwummrige Stellen zu Beginn, ein paar Unebenheiten bei den Frauenstimmen in heikel zurückzunehmenden Momenten sind schnell vergessen, wenn der Chor im Credo konzentriert und klangstark agiert, beim Hinweis auf die Auferstehung der Toten die Apokalypse von Verdis „Requiem“ anklingen lässt, die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ in lichterfülltem Dolce besingt und das „Sanctus“ ohne triumphale Geste wie in verhaltenem Staunen ausdrückt. Es sind diese fast zärtlichen Augenblicke, in denen der Chor seine Stärke ausspielt.

Als die Messe ohne knallige Schlussakkorde zu Ende geht, zeigt das Publikum viel Sympathie in herzlichem Beifall, den Sanguineti, der Chor und Wolfgang Kläsener an der Orgel mit einer geistlichen Miniatur Puccinis, dem „Requiem alla memoria di Giuseppe Verdi“ von 1905 belohnen.




Was bringt das Netzwerk Bluesky?

Um es gleich vorwegzunehmen: So richtig zufrieden bin ich mit dem sozialen Netzwerk Bluesky noch nicht. Die unsägliche Dreckschleuder X (ehemals Twitter) von Elon Musk habe ich vor einiger Zeit leichten Herzens verlassen. Der Kerl wird den einen oder anderen Abgang sicherlich verschmerzen, aber wenn es in die Millionen ginge, wenn Deppen und Despoten der Dekade dort unter sich blieben…

Screenshot einer Bluesky-Einstiegsseite

Ach, wenn doch nur mehr globale Hochkaräter wie der britische „Guardian“ sich dort verabschiedeten! Doch man freut sich auch schon, dass Fußballclubs wie der FC St. Pauli, Werder Bremen oder der SC Freiburg jüngst X den Rücken gekehrt haben (Wann folgt endlich Borussia Dortmund – oder hat Rheinmetall Einwände dagegen vorgebracht?), oder wenn der Deutsche Journalistenverband (DJV) sich abwendet. Ein Effekt beim „X-odus“: Immerhin hat Bluesky mittlerweile die 20-Millionen-Marke deutlich überschritten, zeitweise sind täglich rund 1 Million Accounts hinzu gekommen. Da scheint ein Sog zu wirken.

Lassen wir X auch in diesem Text hinter uns. Bluesky (weitere Alternativen: Mastodon, Threads) scheint mir einstweilen recht unstrukturiert und dem Zufall unterworfen zu sein. Einen nennenswerten Überblick über das, was vorgeht, kann man sich zwar verschaffen, aber eigentlich nur, wenn man den Auftritten diverser klassischer Medien (vulgo Qualitätszeitungen) folgt. Das kann man aber auch auf anderen Wegen haben. Dazu bräuchte es kein weiteres Netzwerk.

Spaßeshalber habe ich gleich mal den Bluesky-Account des frischgebackenen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz aufgerufen. Zum nämlichen Zeitpunkt hatte er erbärmlich wenig Follower, gerade mal 190 an der Zahl, heute (28. November, 12.42 Uhr mittags MEZ) sind es 432. Ähnlich wie schon bei TikTok (das ich konsequent meide), ist Scholz bzw. sind seine Ghostwriter offenbar sehr spät beigetreten, es liegen bis jetzt lediglich vier läppische Beiträge vor. Verschnarchte SPD halt. Oder wie soll man das sonst deuten? Wobei ich die parteifrommen Äußerungen, die in Scholzens Namen gepostet werden, nicht allzu schmerzlich vermissen würde.

Vollends rätselhaft ist mir, wer meiner Wenigkeit zu folgen beliebt. Es sind überwiegend Leute aus fernen Weltgegenden, mit denen ich niemals auch nur im Geringsten zu tun hatte, auch nicht virtuell. Ausweislich ihrer bisherigen Beiträge sind sie mental auch vollkommen anders unterwegs. Wie kommen sie auf mich? Was suchen sie bei mir? Oder sind es Bots und Trolle? Seltsam genug auch die Tatsache, dass mir z. B. der saarländische Ableger der Piratenpartei folgt.

Kurz und weniger gut: Mich beschleicht das Gefühl, bei Bluesky ziemlich viel zu verpassen und irgendwie hinter der Musik herzulaufen. Die einstweilen ungleich zivilisierteren Umgangsformen bei Bluesky (im Vergleich zum pöbelhaften X) sind angenehm, machen aber das Informations-Defizit bei weitem nicht alleine wett. Es fehlen hier eben viele, viele Leute, die etwas zu sagen hätten oder qua Amt und Würden (hihi) wichtig wären. Und es fehlen einige nützliche Funktionen.

Das Ganze muss noch weiter wachsen, auch auf der Anbieterseite. Wie die Bluesky-Geschäftsführerin Rose Wang im FAZ-Interview verriet, hat das Netzwerk bislang nur 20 Mitarbeiter (Stand 26. November). Kaum zu glauben. Der prozentuale Anteil aktiver Accounts, die Beiträge publizieren, ist immerhin wohl deutlich höher als bei der Konkurrenz. Apropos Konkurrenz: Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, können Bluesky und Mastodon in beiden Richtungen miteinander verknüpft werden. Und noch’n Presse-Bezug: Laut „Spiegel“ hat sich Stephen King von X verabschiedet, hat sodann Bluesky ausprobiert, ist aber schließlich zu Threads gewechselt. Robert Habeck sei unterdessen sogar zu X zurückgekehrt… Alles fließt.

Wie auch immer: Spannende, gern auch kontroverse (aber faire) Debatten können bei Bluesky einstweilen nur sehr bedingt aufkommen. Somit fehlt auch die Motivation, sich selbst „einzubringen“. Oder habe ich nur noch nicht den richtigen Kniff gefunden und den „Discover-Feed“ noch nicht ausreichend bemüht?

Kann ja alles noch werden? Hoffen wir’s.




Berührende Tragödie: Cecilia Bartoli mit Glucks „Orfeo ed Euridice“ in der Essener Philharmonie

Cecilia Bartoli. (Foto: Fabrice Demessence)

Es sind keine Blumenkränze und Myrtengirlanden, die der Chor in ein Grab streut: In den abgedunkelten Saal der Philharmonie Essen zieht er mit Kerzen ein, während das Orchester die erhabenen Weisen der Ouvertüre Christoph Willibald Glucks zu „Orfeo ed Euridice“ intoniert. Weinen, Klagen, Seufzer beschwören die Sängerinnen und Sänger in abgedunkeltem Klang.

Am Rand der Szene sitzt Orfeo, der seine über alles geliebte Gefährtin an die Unterwelt verloren hat. Sein sehnsuchtsvoller Ruf „Euridice“ durchbricht die melodische Linie des Chores – und schon mit diesem Moment hat Cecilia Bartoli ihr Publikum gefangen.

Mit „Orfeo ed Euridice“, der wohl bekanntesten Oper des Ritters Gluck, hat die Römerin bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2023 einen Riesenerfolg eingeheimst. Nun tourt sie mit dem Ensemble durch Europa. Die Inszenierung Christof Loys bleibt dabei zu Hause in Salzburg, wo Cecilia Bartoli seit 2012 als Festspielchefin amtiert. Doch auch ohne Johannes Leiackers strenge, reduzierte Bühne vermitteln Bartoli und ihre Salzburger Bühnenpartnerin Mélissa Petit als Euridice (und in kurzem Auftritt auch als Amor) die bezwingende Präzision der Personengestaltung Loys.

Zu Beginn sitzt Bartoli ganz in Schwarz abseits auf einer Stufe des Podiums, ruft ihre Klage in den Raum, bewegt sich später auf den Treppen seitlich der Zuschauerreihen, trifft vor dem Podium auf Euridice, die Orpheus vergeblich aus dem Elysium zurück auf die Erde zu holen versucht. Die beiden Sängerinnen schaffen intime Momente seelischer Kommunikation: Cecilia Bartoli, jetzt ganz in Weiß, krümmt sich im ausweglosen Schmerz, weil sie der argwöhnischen Euridice das Verbot, sie anzublicken, nicht erklären darf.

Freudige Überraschung – fataler Trotz

Bei Mélissa Petit wandelt sich die freudige Überraschung, die Erwartung eines neuen Lebens in Liebe zu Orpheus, in Argwohn, Enttäuschung und fatalen Trotz: Lieber im Elysium friedliche Ruhe genießen als mit einem unberechenbaren Partner zur irdischen Liebe zurückkehren. Dann der aufwühlende Moment, der gegenseitige Blick in die Augen, der Euridice zurück in den Hades verbannt. Und am Ende namenlose Verzweiflung und Herzensleere bei Orfeo. Melissa Pétit findet dafür mit ihrem sanft leuchtenden, manchmal etwas kopfigen Sopran ergreifenden Ausdruck ratloser Seelenqual.

Christoph Willibald Gluck. Statue im Opernhaus Nürnberg. Gluck stammt aus Erasbach bei Berching, rund 50 Kilometer südöstlich von Nürnberg. (Foto: Werner Häußner)

Der Trost des „glücklichen Endes“ bleibt bei dieser Version versagt. Dieser „Orfeo“ folgt einer Fassung, die Gluck für die Hochzeit von Erzherzogin Anna Amalia von Österreich, einer Tochter Maria Theresias, mit Ferdinand, Herzog von Parma, im Jahr 1769 erstellt hat. Als einer von vier Einaktern war die Bearbeitung Teil eines luxuriösen apollinischen Festes beim Palast von Colorno. Bartolis Salzburger Fassung verzichtet auf das Finale, in dem Gott Amor die Liebenden endgültig zusammenführt. Die „azione teatrale“ – ergänzt durch populär gewordene Orchesterstücke wie den Furientanz und den „Reigen seliger Geister“ – endet in nachtschwarzer Pianissimo-Verzweiflung.

Glänzender Chor, feinsinniges Orchester

In solchen fragilen musikalischen Momenten glänzt der von Jacopo Facchini einstudierte Chor mit dem passenden Namen „Il Canto di Orfeo“, wenn er die Klage des Anfangs in subtilen dynamischen Nuancen wiederholt. Für Orfeo ist der Weg nun klar: „Erwarte mich, angebeteter Schatten!“, singt Cecilia Bartoli in resigniertem Schmerz. Der Chor breitet schon vorher die leisen Töne elegisch aus, trumpft aber auch auf mit markanter Artikulation und konzentrierter Energie in den Szenen in der Unterwelt. Bei allem Nachdruck pflegen die zwanzig Sängerinnen und Sänger einen geschmeidigen, gewaltlosen Klang mit leuchtender Transparenz, geschult an der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, die sonst ihren auf hochgeschätzten CD-Aufnahmen dokumentierten Schwerpunkt bildet.

Auch das Orchester „Les Musiciens du Prince – Monaco“, 2016 auf Initiative von Cecilia Bartoli in Monte Carlo gegründet und seither regelmäßig in Salzburg zu Gast, pflegt feinsinnige Tugenden wie ein locker-luftiges Klangbild, Respekt vor den Farben einzelner Solo-Instrumente, ausgewogene Balance der Instrumentengruppen, variable Tonbildung, ohne die Ästhetik des Klangs aufgeraut expressiv zu beeinträchtigen. Das führt weg von der Glätte, mit welcher der „Klassizist“ Gluck früher marmorn – und nicht selten langweilig – aufpoliert wurde. Wo der Komponist aus der Oberpfalz in harmonische Tiefen reicht, fächern die Musiker den Klang fast barock ziseliert auf; wo er die Einfachheit einer melodischen Linie lediglich akkordisch stützt, wird die viel zitierte „stille Größe“, die von Johann Joachim Winckelmann für die antike Skulptur reklamierte „große und gesetzte Seele“ in der Musik hörbar.

Gianluca Capuano leitet sein Ensemble mit ausgewogener Umsicht und Gespür für Farben und Schattierungen. Der Falle des Saals entkommt er nicht ganz: In dicht besetzten Momenten wird das Klangbild schwummrig; auch hätte der Bass, der Raumgröße Tribut zollend, eine Verstärkung verdient. Wundervoll aber die Holzbläser, namentlich Solo-Flöte und Oboe, und die düsteren Posaunen, die nicht dominieren, aber auch nicht als bloße Farbe im Tutti untergehen.

Die Seele des Unternehmens

Und dann natürlich die Seele des ganzen Unternehmens, Cecilia Bartoli. Ihr Theaterinstinkt blitzt ihr nach wie vor aus den Augen, ihre Lust am Singen teilt sich in jeder Phrase mit. Ihre vokale Gestik belebt den Text: Sie macht den sehrenden Eros des Orfeo, den verzweifelten Kampf gegen die Endgültigkeit des Todes, die Tränen der Sehnsucht, das Feuer des Flehens hörbar. Schon 2001 hat sie auf einem ihrer Alben in unnachahmlich individueller Art in Arien Glucks vertieft. Dieser Orfeo markiert einen Respekt heischenden Höhepunkt in der Befragung eines Komponisten, der im Opernbetrieb nicht so präsent ist, wie er es verdient. Bartoli zeigt, woran das liegen könnte: Glucks Musik braucht die innere Beseelung durch Sänger, die Wort und Musik zu einer existenziell berührenden Einheit verbinden. Nicht umsonst waren seine bedeutenden Partien stets eine Domäne großer Tragödinnen.

Zu bemerken ist aber auch, dass sich die oft benannten vokalen Schwächen der Bartoli trotz ihrer atemberaubenden Gestaltung deutlicher zeigen: Die enge tremolierende Tonbildung trübt homogene Legati und sublime Kantilenen; den dynamischen Steigerungen fehlt der freie Glanz. Aber dann gelingen berückend nuancierte leise Momente, singt ein gebrochener Mensch in fahlen Farben seine Verzweiflung aus. Und so gelingt es Cecilia Bartoli nach wie vor, die Zuhörer in den Sog ihrer Kunst zu ziehen und aus dem Alltag hinwegzutragen in das Elysium der Klänge Christoph Willibald Glucks und einer uralten antiken Tragödie, die uns auf diese Weise bis heute tief berührt.




Neuer Verlag in Dortmund: Romanische Literaturen im Blick

Verleger Lucas Franken (Foto: © Gideon Rothmann)

Wer hätte das gedacht? In Dortmund, das nicht nur keine Kinostadt mehr, sondern (seit dem Hinschwinden so grundverschiedener Häuser wie Harenberg oder Grafit) auch keine Verlagsstadt mehr ist, gründet sich tatsächlich ein neuer Buchverlag. Lasst Vorurteile sprechen: Der Neuling wird doch sicherlich ein halbgares Programm pflegen, vermutlich mit wohlfeiler Ruhri-Anmutung und Touri- oder Fußball-Schwerpunkt?

Nichts da! Weit gefehlt. Der Franken Verlag meint es literarisch richtig ernst und seriös. Am 15. Januar 2025 soll das erste Buch erscheinen: „Feinschnitt Barcelona“ (ca. 250 S., 24 €) von Adrià Pujol Cruells, eine Mischung aus Autobiographie und Essay, aus dem Katalanischen übersetzt von Matthias Friedrich. Wir werden an dieser Stelle beizeiten darauf zurückkommen.

Adrià Pujol Cruells, Autor des Buches „Feinschnitt Barcelona“. (Foto: © Víctor P. de Óbanos)

Generell will man sich bei Franken in den romanischen Literaturen umtun und möglichst hochkarätige Übertragungen publizieren. Deutlich sichtbares Zeichen dafür soll die „Nennung der Übersetzer*innen auf dem Cover“ sein – eine lobenswerte, bislang ziemlich seltene Praxis in der Buchbranche. Mehr noch: Auch die verantwortlichen Lektoratskräfte, samt und sonders Romanistik-Fachleute, sollen die jeweilige Fremdsprache beherrschen. Spontan habe ich mich an den sehr inspirierenden, leider nicht mehr selbstständig existierenden Bremer Manholt Verlag (ab 2004 als edition manholt bei dtv) erinnert gefühlt, der sich der frankophonen Literatur in deutschen Übersetzungen gewidmet hat.

Zitiert sei der Dortmunder Verlagsgründer Lucas Franken, der in Bochum und Paris Romanistik studiert hat und seit 2020 in Dortmund ein Sprach- und Übersetzungsbüro leitet: „Bei uns erscheinen Texte, die woanders vielleicht übersehen werden – etwa, weil literarische Texte aus ,kleineren‘ Sprachen den größeren Verlagshäusern zu nischig sind. Oder weil wir Texte (wieder)entdecken, die im Ausland längst den Status von Klassikern genießen, im deutschsprachigen Raum aber bisher noch nicht veröffentlicht wurden.“ Wie auch immer: Pro Jahr sollen künftig ein bis zwei Titel erscheinen, man beginnt also vernünftig und vorsichtig, gleichsam auf Sparflamme.

Es wird also gewiss kein Verlag für die Massen oder den Mainstream werden, vielleicht aber einer mit unterschwelliger Tiefenwirkung, die sich auch in überregionalen Medien abzeichnen könnte. Warten wir’s gespannt ab.

Franken Verlag, Reinoldistraße 2-4, 44135 Dortmund
https://frankenverlag.de




Sensation! Das Ruhrgebiet heißt wieder Ruhrgebiet

Ein Bildmotiv der neuen Ruhrgebiets-Kampagne: smarte junge Frau mit Laptop auf alter Industrie-Lok. (Foto: RVR)

Welch eine aufregende Mitteilung uns aus Essen bzw. Gelsenkirchen ereilt! Das Ruhrgebiet darf wieder schlichtweg Ruhrgebiet heißen, wenn es um die Werbung für die Region geht. Das Revier (früher auch schon mal von übereifrigen Kreisen „Ruhrstadt“ genannt) muss sich also nicht mehr zur „Metropole Ruhr“ aufplustern und sich als Weltstadt gerieren.

Garrelt Duin, noch relativ neuer Regionaldirektor beim Regionalverband Ruhr (RVR) und vormals NRW-Wirtschaftsminister aus den Reihen der SPD,  mochte das Metropolen-Gerede nicht mehr so gern hören. Diese Regung lässt sich gut nachvollziehen. Wie das selbsternannte Ruhrgebiets-Zentralorgan, die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ), gleichsam hochroten Kopfes berichtet, soll die Gegend künftig mit dem Slogan „Ruhrgebiet – Die grüne Industrieregion“ beworben und vermarktet werden. Tja. Ob das (auf Neudeutsch) ein „Game Changer“ sein wird?

Plakate und Schaukästen in maßgeblichen Städten wie Berlin, Frankfurt und München sollen es den – womöglich ahnungslosen – Bewohnerinnen und Bewohnern beibringen. Laut RVR finden die Auswärts-Auftritte in „Out-of-Home-Flächen“ statt. Man ist eben nicht nur heimatverbunden, sondern auch weltläufig. Und natürlich total digital: Die frohe Botschaft soll in allen wesentlichen sozialen Netzwerken verbreitet werden. Alles andere wäre ja auch fahrlässig. Ohne TikTok und Konsorten geht bekanntlich nicht mehr viel.

Das Kampagnen-Motto borgt man sich derweil bei Herbert Grönemeyer, dessen altes, leicht angegrautes Bochumer Revier-Image sie hierzulande einfach nicht ruhen lassen wollen, obwohl er längst nicht mehr im „Pott“ lebt. „Bleibt alles anders“ hieß 1998 eines seiner Studioalben, „Hier bleibt alles anders“ paradoxt der RVR nun geflissentlich hinterdrein. RVR-Chef Garrelt Duin vergaß bei der Kampagnen-Präsentation in Gelsenkirchen nicht zu erwähnen, dass Grönemeyer die Anleihe gebilligt habe; keine Selbstverständlichkeit, hat „Herbie“ doch jüngst dem grünen Vizekanzler und Kanzlerkandidaten Robert Habeck untersagt, seinen Song „Zeit, dass sich was dreht“ zitierend zu verwenden – und sei’s auch nur leise gesummt. Auch der CDU wurde keine Song-Erlaubnis zuteil.

Wie üblich, haben für die neue Kampagne wieder etliche Köpfe geraucht, gewiss nicht unentgeltlich. Wie ebenfalls üblich, wurde das Resultat nicht im Revier selbst ausgebrütet, sondern bei der Agentur Scholz & Friends in Hamburg. Jetzt aber bitte keine müden Querverweis-Scherze mit dem Namen Scholz! Oder mit friends und Hamburg. Am besten mal gar keine Scherze, woll?!

 




„Ausgeliefert“ – Klassenkampf mit Apps und GPS

Damn, clusterfuck, cringe as fuck, shiny. Nur eine kleine Auswahl zwischendurch hingeworfener Wörter aus dem Prolog zum eigentlich auf Deutsch verfassten Buch. Sollte das etwa besonders „cool“ klingen?

Orry Mittenmayers Buch „Ausgeliefert“ prangert jedenfalls die Methoden gewisser Essens-Lieferdienste an, enttäuscht allerdings am Anfang, wo es doch gerade in den Text locken sollte. Auch der einschläfernde Bandwurmsatz des Untertitels ist in diesem Sinne nicht hilfreich, er lautet: „Wie Lieferdienste ihre Fahrer ausbeuten, warum uns das alle ärmer macht – und was wir dagegen tun können.“  Erst der konkrete, recht späte Einstieg in die eigentliche Materie liest sich dann deutlich spannender.

Lückenlose Überwachung

Da erfährt man endlich einiges aus dem miesen Alltag der Auslieferungsfahrer („Rider“). Es geht – am Beispiel Köln – um die lückenlose Orts- und Zeit-Überwachung per GPS; um die fiesen Kontrollanrufe der oft gerade mal dem BWL-Studium entronnenen „Dispatcher“, die schon bei der kleinsten Verzögerung ihr armseliges Repertoire zwischen geheuchelter Jovialität, Herablassung und Drohung abspulen. Zynischer noch: Sie verkaufen den gehetzten Radfahrern den ausbeuterischen Knochenjob als sportlichen Startup-Lifestyle. Die sportive „challenge“ bestand u. a. darin, kaum Zeit für Toilettengänge oder sonstige Pausen zu haben. Der Algorithmus der Firmen-Apps gab den gnadenlosen Takt vor.

Wo ist nur das Trinkgeld geblieben?

Der aus einfachen Verhältnissen stammende Mittenmayer war dringend auf den (kargen) Lohn angewiesen, weil er die Zeit bis zum BAföG überbrücken, die Abendschule besuchen und anschließend studieren wollte. Für ein 2024 erscheinendes Buch ist das Geschehen schon recht lange her und eventuell nur bedingt aktuell: Ab 2016 nahm der Autor Jobs bei Foodora und Deliveroo an, zwischen 9 und 10 Euro gab’s damals pro Stunde. Der Umgang mit umso dringender benötigtem Trinkgeld war wohl alles andere als transparent. Sollte da vielleicht mancher per Karte oder Überweisung zugezahlte Euro in der Unternehmenskasse statt in den Taschen der Fahrer gelandet sein?

Schon zu Beginn mussten die Fahrer für die Lieferboxen offenbar je 50 Euro Pfand entrichten. Auch danach trugen sie alle Risiken, beispielsweise mussten sie etwaige Schäden am eigenen Fahrrad auf eigene Kosten beseitigen. Von Gefahren im hektischen Straßenverkehr mal ganz großzügig abgesehen.

Unaufhörliches Lob der Gewerkschaft

Als Mittenmayer und andere sich wehrten, versuchten die Firmen alles, um die Gründung von Betriebsräten zu verhindern. Doch mit der rasant anwachsenden Protest-Aktion „Liefern am Limit“ erlangten er und seine Mitstreiter bundesweite Aufmerksamkeit – nicht zuletzt durch die Hilfe der Gewerkschaft. Solidarität hat eben auch im Klassenkampf neuerer Machart keineswegs ausgedient.

Gegen Schluss plätschert das Buch leider etwas entkräftet aus. Mittenmayer betont noch und noch, was er bis dahin schon vielfach mitgeteilt hat: Wie wichtig Gewerkschaften (hier besonders: die NGG) seien, wie ihn der Kampf für Arbeitnehmerrechte „empowered“ habe, wie er als Schwarzer und (Hör)-Behinderter gegen alle Wahrscheinlichkeit und viele Widerstände doch noch höhere Bildungsabschlüsse erlangt habe. Alles gut und richtig. Respekt vor dieser Energie- und Lebensleistung. Aber irgendwann klingt es dann doch nach Gebetsmühle und Litanei.

Orry Mittenmayer (mit Harald Braun): „Ausgeliefert“. Kiepenheuer & Wisch, 224 Seiten, 18 Euro.




Auf dem K2 der Liedkunst: Konstantin Krimmel und Daniel Heide mit einem Schubert-Mahler-Programm in Hamm

Konstantin Krimmel (31), Bariton deutsch-rumänischer Abstammung, zählt zu den besten Liedsängern unserer Zeit (Foto: Daniela Reske)

Vor dieser Stimme möchte man kapitulieren. Die professionelle Kritiker-Distanz einfach mal aufgeben. Nicht länger leugnen, was sich hartnäckig in die Gedanken drängt, wohl wissend, dass Künstler so wenig miteinander verglichen werden sollten wie Äpfel mit Birnen. Konstantin Krimmel durchbricht unsere Gegenwehr. Der Bariton deutsch-rumänischer Abstammung singt so mühelos und klar, dass uns Fritz Wunderlich durch den Kopf spukt, obwohl der als Tenor eine andere Stimmlage hatte (und sowieso einzigartig war).

Mit einem Liederabend im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm zwingt Krimmel uns zum Offenbarungseid: Vor der Natürlichkeit, dem Fluss und Farbenreichtum dieser erlesenen Baritonstimme strecken wir die Waffen. In einem Atemzug mit ihm muss der nicht minder exquisite Liedpianist Daniel Heide genannt werden, unter dessen Fingern sublime Stimmungsbilder, aber auch Dramen und Schauergeschichten entstehen, sobald er die Tastatur nur anrührt.

Reichlich Weltschmerz tönt durch die Lieder von Franz Schubert und Gustav Mahler, die Krimmel und Heide für dieses Programm ausgewählt haben. Wanderschaft und Mondnächte und unglückliche Liebe, mithin tief romantische Leitmotive spiegeln sich in Versen von Goethe und Schiller, Hölty und Seidl und natürlich Schmidt von Lübeck. Letzterer wäre heute womöglich vergessen, hätte Schubert aus seinem Gedicht „Der Wanderer“ nicht ein Lied von ikonischer Bedeutung geformt.

Im Duo kaum zu übertreffen: Konstantin Krimmel und Liedpianist Daniel Heide (Foto: Guido Werner)

Mit den Worten „Ich komme vom Gebirge her“, setzt Krimmel ein, leise, nachdenklich, traumverloren, während der Klavierpart dunkle Täler eröffnet. Im Subtext schwingt ein halbes Dutzend unausgesprochener Fragen mit: „Wo bin ich? Was tue ich hier? Wie bin ich hierhergekommen?“ Man könnte sich ganze Romane dazu ausdenken, aber Krimmel singt mit größter Schlichtheit, mit nachgerade kindlichem Staunen und einer zart-tenoralen Farbe, die nach Unschuld klingt.

Damit ist der Ton gesetzt. Wir sind im Reich des Kunstlieds, wo jede Empfindung, jede noch so feine Regung des Herzens Widerhall findet. Wir sind bei Franz Schubert und Gustav Mahler, die Schmerz in ewige Schönheit transformierten. Und wir sind bei Konstantin Krimmel und Daniel Heide, die an diesem Abend höchste Erwartungen übertreffen, die uns mitnehmen auf die erhabenen Gipfel der Kunst, auf den K2 des Liedgesangs.

Unmöglich zu sagen, in welchem Register Krimmels lyrisch-bewegte, technisch phantastische Stimme am stärksten ist. Warm, sonor, beseelt klingt seine Mittellage, die Höhe ist klar und fragil, beinahe knabenhaft rein. Die Melancholie von „Wanderer an den Mond“ erhält einen trostvollen Schmelz, „Schäfers Klagelied“ schwelgt in den Farben von Sehnsucht und Resignation. Es gibt derzeit kaum ein anderes Lied-Duo, das aus der Reduktion solchen Reichtum gewinnt, das aus der Nussschale ein Universum steigen lässt. Wenige Noten genügen, um „Wanderers Nachtlied“ in die Weite des Himmels entschweben zu lassen.

Konstantin Krimmel ist Ensemblemitglied an der Bayerischen Staatsoper in München, wo er derzeit etliche Mozart-Partien singt (Foto: Florian Huber)

Schärfere Expressivität und einen größeren Tonumfang verlangen Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“. Aber Krimmel, Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper, hat damit keinerlei Schwierigkeiten. Mühelos füllt seine Stimme den Raum. Mit Ironie, ja einem Hauch von Sarkasmus unterläuft er den volksliedhaften Ton von „Ging heut morgen übers Feld“. Dieser Sänger und dieser Pianist sind zu klug, um den Schmerzensklang von „Ich hab‘ ein glühend Messer“ künstlich zu dramatisieren oder theatralisch aufzuladen. Das Lied bleibt authentischer Ausdruck tiefer Qual.

Nach der Pause gerät „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller zu einer rund 17minütigen Ballade mit schaurigen Zwischentönen. Daniel Heide und Konstantin Krimmel gönnen uns Sturm und Drang vom Feinsten. Bildstark, fast wie ein Film läuft Schillers Geschichte von freundschaftlicher Liebe und Treue vor uns ab. Trotz vieler Tempowechsel wirkt alles wie aus einem Guss. Krimmels Stimme reicht jetzt in Bassregionen hinab, erreicht spukhafte Schwärze und hinreißendes Volumen.

Zwei Tage vor dem Tag, an dem Donald Trump möglicherweise zum zweiten Mal zum Präsidenten der USA gewählt wird, klingt der Überdruss von „Totengräbers Heimweh“ leider allzu vertraut. „Oh Menschheit! Oh Leben! Was soll’s! Oh was soll’s!“ singt Konstantin Krimmel, wie von Ingrimm und Abscheu geschüttelt. Empörung gegen die Unbarmherzigkeit der Götter formuliert er in Goethes „Prometheus“: anklagend, rebellisch, mit der Bitterkeit des Enttäuschten. Da macht einer die Faust in der Tasche.

Doch auf solchem Schlusston soll die Sternstunde nicht enden. Krimmel und Heide gönnen ihrem Publikum zwei Zugaben: zunächst Schuberts Vertonung von Goethes „Willkommen und Abschied“, dann seine „Litanei auf das Fest Allerseelen“ (D 343), die uns zum Abschluss in eine warme Decke hüllt: schimmernd, trostvoll, in sanften langen Bögen.

(Informationen: www.konstantinkrimmel.com)




Mit Kaiser Theodoros durch Zeit und Raum irrlichtern

Der 1956 in Bukarest geborene Mircea Cartarescu hat unzählige Auszeichnungen erhalten und wird immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Sein neuer Roman segelt mit Äthiopiens Kaiser „Theodoros“ (der sich 1868 eine Kugel in den Kopf schoss, als britische Truppen seine Festung Magdala eroberten) durch Zeit und Raum: Sein „Theodoros“ ist eine Erfindung, Traum einer Person, in der sich Mythen und Legenden spiegeln, Vision eines Mannes, der in mehreren Welten sein Unwesen treibt.

Geboren wird die zwischen Fiktion und Realität irrlichternde Figur in der düsteren rumänischen Walachei. Der einfältige Vater nennt seinen Sohn Tudor. Seine Mutter hat es aus dem sonnigen Griechenland in die rumänische Ödnis verschlagen, sie unternimmt mit ihrem Sohn Fantasie-Reisen in die Welt von Homer und nennt ihren Sohn Theodoros. Unter diesem Namen wird er hinausziehen in die weite Welt und zum Anführer einer Piraten-Bande in der Ägäis. Auf der Flucht vor seinen Verfolgern lernt er in einem Kloster den aus einem äthiopischen Adelsgeschlecht stammenden Kassa Hailu kennen, der lieber Mönch als Kaiser werden will. Die beiden werden Freunde und tauschen ihre Identität.

Dringend gesucht: die Steintafeln mit den Zehn Geboten

Von Kassa Hailu unterwiesen in Sitten, Gebräuche, Sprache und Religion, schafft es der rumänische Bauernbengel, als Tewodoros II. den Thron zu besteigen, der auf dem Heiligen Buch Äthiopiens, Kebra Nagast, gründet und zurückreicht bis in die Tage von König Salomon. Grund genug für Theodors, sich ins mythische Judäa zu träumen, ist er doch besessen von der Sehnsucht, die alttestamentarische Bundeslade zu finden, in der die Steintafeln der Zehn Gebote aufgehoben sind: eine ziemlich verrückte Gemengelage.

Vier Jahrzehnte, meint Cartarescu in einer Nachbemerkung, trug er die Idee eines pseudohistorischen Romans mit sich herum, in der „das Unmögliche auf einer anderen Zeitschleife möglich wird, in einer anderen Welt, mit anderen Himmeln und anderen Göttern“. Erst jetzt, „in einer Zeit der Depressionen, Konfusionen, Pandemien und Kriege, als ginge es mit der Welt zu Ende, habe ich schließlich die zwei Jahre gefunden, in denen ich, um überleben zu können, „Theodoros“ geschrieben habe – ebenso wie mein Held letztlich seinen Traum verwirklicht hat, Kaiser zu werden.“

Hyperrealistisch geschildert, aber frei erfunden

Herausgekommen ist ein Roman, der Grenzen überschreitet und Welten miteinander verwirbelt. Ob Geografie und Geschichte, Kultur, Kunst und Krieg: alles was Theodoros bei seiner Reise durch die Fantasiewelten erlebt, wird bis ins letzte Detail so exakt beschrieben, dass es auf unheimliche Weise hyperrealistisch und zugleich völlig frei erfunden erscheint. Ob er am Hofe von König Salomon vorbeischaut, über holprige Wege der Walachei in die Freiheit stolpert, den trojanischen Krieg nachspielt oder als Seeräuber durch die Ägäis irrt, bevor er seiner Berufung folgt und sich zum Kaiser von Äthiopien aufschwingt: alles ist von einer fulminanten fiktiven Wahrheit und grandiosen Wahrhaftigkeit, hebt sämtliche Erfahrungen auf und schlägt sinnliche Pirouetten.

Sieben Erzengel schreiben am „Buch des Lebens“

Der Clou: Hinter dem allwissenden „Wir“ verbergen sich die Sieben Erzengel, die am „Buch des Lebens“ schreiben, am Tag des Jüngsten Gerichts dem auferstandenen Theodoros die Geschichte seiner Verkleidungen und Verwandlungen, Morde und Missetaten präsentieren und erkennen, dass der grummelnd im Lebensbuch blätternde Gott „nicht über den Menschen mit seinen Sünden und lichten Momenten befinden wird, sondern über das von uns mit großer Beharrlichkeit ein halbes Jahrhundert lang geschriebene Buch. Und wenn dieses in den Himmeln Aufnahme findet, wird es auch auf Erden angenommen werden“. So sei es.

Mircea Cartarescu: „Theodoros“. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2024., 672 Seiten, 38 Euro.