Zum Tod von Marianne Faithfull – Rückblick auf ein Konzert von 1999

Marianne Faithfull 1966 in der niederländischen TV-Sendung „Fanclub“. (Foto: A. Vente / Lizenz: Wikimedia Commons – https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en)

Es ist wieder eine dieser ganz und gar traurigen Nachrichten, mit denen man stückweise selbst vergeht: Mit 78 Jahren ist die charismatische Sängerin Marianne Faithfull gestorben. Ihre Bedeutung geht weit über ihre anfängliche Rolle als „Muse der Rolling Stones“ (schon diese altbackene Bezeichnung!) hinaus. 1999 durfte ich sie bei einem Konzert in Köln erleben. Hier noch einmal der damalige Text, auch schon rund ein Vierteljahrhundert alt:

Köln. Ganz in Schwarz gekleidet, betritt sie die Bühne. Seht her, eine Dame! Man könnte sie sich gut in einer distinguierten Hotel-Lobby vorstellen, wartend. Doch schon die Art, wie sie Mikrofon und Zigarette hält, lässt ahnen, dass sie nicht „damenhaft“, sondern glühend, verlangend und oft tragisch gelebt hat: Wir reden von Marianne Faithfull.

Die britische Sängerin, die jetzt im Kölner „E-Werk“ zumeist Songs ihrer neuen CD „Vagabond Ways“ vorstellte, ist eine Frau mit bitteren Erfahrungen. 1964, damals gerade 17 Jahre alt, war sie die Freundin von Mick Jagger und wurde unter den rüden „Rolling Stones“ als sexuelle Trophäe herumgereicht. Immer wieder verfiel sie seither der Drogensucht, doch sie kämpfte sich auch daraus hervor. Sie gehört wohl zu jenen, die eher vor Leidenschaft „verbrennen“ als sich zu bewahren.

All das klingt in ihrer rauchigen, brüchigen, oft aufgewühlten Stimme mit. Wenn sie von den „Wilder Shores of Love“ (Wildere Gestade der Liebe) erzählt, so ist bedrohliche Brandung zu spüren; wenn sie „I Feel Guilt“ (Ich fühle Schuld) haucht, so scheint sie tatsächlich tief verstrickt zu sein.

Die Begleitband arbeitet grundsolide und stellt sich ganz in den Dienste der Sängerin. Wie einfach die Harmonien der Titel auch gelegentlich klingen mögen, Marianne Faithfull macht stets das Besondere, von Erfahrung beglaubigte und Ungeglättete daraus.

Sie singt sozusagen an den Bruchlinien des Lebens entlang – von zerbrochener Liebe, geknickten Flügeln der Hoffnung, brüchiger Welt und letztlich auch von Fragmenten jener Freiheits-Wunschträume der 68er-Generation.

„Broken English“ heißt – gewiss nicht nur zufällig – einer ihrer besten Songs. Und es gibt diese starken Momente zwischen überfallartiger Traurigkeit, Aufbegehren, Trotz, Tapferkeit und plötzlichem Triumph. Beispielsweise, wenn sie die Fäuste ballt zu „Working Class Hero“.

Mit dem Publikum stellt sie sogleich eine vertraute, ja fast schon intime Beziehung her. „We love you, dear!“ ruft einer ihr spontan zu und spricht damit manchen aus der Seele. Ein Konzert kann wie eine Affäre sein. Doch diese hier ist denn doch ein wenig flüchtig, nicht unvergesslich. Dazu sind die ganz und gar innigen Momente etwas zu rar. Etliche Feinheiten ertrinken im Grundrauschen des Rock.

Gegen Schluss stimmt Marianne Faithfull den Stones-Klassiker „As Tears Go By“ an. Es werden nicht die letzten Tränen gewesen sein.




Fragile Schönheit der Erde, aus dem Weltraum betrachtet – Samantha Harveys Roman „Umlaufbahnen“

Zwei Frauen und vier Männer, zusammengepfercht auf einer Raumstation. Jeder Tag, an dem sechzehnmal die Sonne auf- und wieder untergehen wird und sie mit einer Geschwindigkeit von achtundzwanzigtausend Kilometern sechzehnmal die Erde umkreisen, folgt einem eigenen Zeit-Rhythmus, exakten Plänen, routinierten Abläufen.

Sie führen Experimente mit Mäusen, Pilzen und Viren durch, trudeln zeitlupenartig durch die Schwerelosigkeit, brechen zu Spaziergängen ins All auf, um Reparaturarbeiten an ihrer von Weltraum-Müll zerdepperten Behausung auszuführen. Sie hocken monatelang so eng aufeinander, dass sie mitunter „dieselben Träume“ träumen. Und während sie noch kopfüber in ihren Schafsäcken hängen und langsam erwachen, rollt draußen die Erde „in einem üppigen Schwall Mondlicht vor sich hin“ und „wälzt sich nach hinten weg.“

Weil die Fensterblenden verdeckt sind, sehen die vor sich hin dösenden Raumfahrer noch nicht, was Samantha Harvey, die allwissende Erzählerin, die ihren Blick durch ihr literarisches Universum schweifen lässt, bereits sieht: wie über den warmen Gewässern des Westpazifiks sich Passatwinde zu einem Sturm zusammenballen, „einem Motor aus Hitze. Die Winde saugen die Wärme aus dem Ozean auf, sammeln die Wolken, die stocken, sich immer mehr verdichten und schließlich vertikal auftürmen, in einen Taifun drehen.“ Während das Raumschiff gen Osten zieht, wird der Taifun westwärts Richtung Südasien wandern, das Meer zum Wüten bringen und eine gigantische Spur der Verwüstung auf den Philippinen hinterlassen.

Die britische Autorin Samantha Harvey muss unendlich viel Material gesichtet und Gespräche geführt haben, um so genial zwischen Fakten und Fiktionen jonglieren, die Wirklichkeit literarisch transzendieren und beschreiben zu können, was sich auf einer Raumstation abspielt; wie sich das am seidenen Faden von störungsanfälligen Geräten hängende Leben in einer den Gesetzen der Schwerkraft enthobenen Umgebung gestaltet, wo Angst vor dem Tod und Demut vor der Schöpfung ineinander greift.

In ihrem Roman „Umlaufbahnen“, für den sie den Booker-Prize erhielt, verbindet Harvey auf poetisch elegante Weise Fragen nach Sein und Werden mit dem Nachdenken über die fragile Schönheit der zerbrechlichen, von Klimakatastrophen, Krisen und Kriegen bedrohten Erde. Von dort oben aus, wo alle alles miteinander teilen und, obwohl sie aus verschiedenen Ländern und Kulturen kommen (Russland, Italien, Japan, England, USA), dieselben Wünsche haben und wissen, dass sie nur gemeinsam überleben können, wirken alle irdischen Konflikte belanglos.

Samantha Harvey schaut in die Seelen der Raumfahrer, die sich schmerzlich nach ihren zuhause gebliebenen Liebsten sehnen und sich zugleich von allem lösen und gern in die Unendlichkeit des Alls driften würden. Sie schaut auf die Erde und sieht „diesiges blassgrün schimmernde Meer, diesiges orangerotes Land. Afrika, von Licht durchdrungen. Im Inneren dieses Raumschiffes kann man es fast hören, dieses Licht.“ Gleichgültig, ob alles Leben nur eine Laune der Natur ist oder dem Willen eines Gottes entspringt: Warum nur richten wir all unser Streben darauf, diesen majestätisch schönen Planeten mit unserem Fortschrittswahn zu zerstören anstatt ihm mit Demut zu begegnen und zu erhalten? Etwas Besseres gibt es nicht und finden wir nirgendwo.

Samantha Harvey: „Umlaufbahnen“. Roman. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv, München. 224 Seiten, 22 Euro.