Zum Tod von Marianne Faithfull – Rückblick auf ein Konzert von 1999

Marianne Faithfull 1966 in der niederländischen TV-Sendung „Fanclub“. (Foto: A. Vente / Lizenz: Wikimedia Commons – https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en)

Es ist wieder eine dieser ganz und gar traurigen Nachrichten, mit denen man stückweise selbst vergeht: Mit 78 Jahren ist die charismatische Sängerin Marianne Faithfull gestorben. Ihre Bedeutung geht weit über ihre anfängliche Rolle als „Muse der Rolling Stones“ (schon diese altbackene Bezeichnung!) hinaus. 1999 durfte ich sie bei einem Konzert in Köln erleben. Hier noch einmal der damalige Text, auch schon rund ein Vierteljahrhundert alt:

Köln. Ganz in Schwarz gekleidet, betritt sie die Bühne. Seht her, eine Dame! Man könnte sie sich gut in einer distinguierten Hotel-Lobby vorstellen, wartend. Doch schon die Art, wie sie Mikrofon und Zigarette hält, lässt ahnen, dass sie nicht „damenhaft“, sondern glühend, verlangend und oft tragisch gelebt hat: Wir reden von Marianne Faithfull.

Die britische Sängerin, die jetzt im Kölner „E-Werk“ zumeist Songs ihrer neuen CD „Vagabond Ways“ vorstellte, ist eine Frau mit bitteren Erfahrungen. 1964, damals gerade 17 Jahre alt, war sie die Freundin von Mick Jagger und wurde unter den rüden „Rolling Stones“ als sexuelle Trophäe herumgereicht. Immer wieder verfiel sie seither der Drogensucht, doch sie kämpfte sich auch daraus hervor. Sie gehört wohl zu jenen, die eher vor Leidenschaft „verbrennen“ als sich zu bewahren.

All das klingt in ihrer rauchigen, brüchigen, oft aufgewühlten Stimme mit. Wenn sie von den „Wilder Shores of Love“ (Wildere Gestade der Liebe) erzählt, so ist bedrohliche Brandung zu spüren; wenn sie „I Feel Guilt“ (Ich fühle Schuld) haucht, so scheint sie tatsächlich tief verstrickt zu sein.

Die Begleitband arbeitet grundsolide und stellt sich ganz in den Dienste der Sängerin. Wie einfach die Harmonien der Titel auch gelegentlich klingen mögen, Marianne Faithfull macht stets das Besondere, von Erfahrung beglaubigte und Ungeglättete daraus.

Sie singt sozusagen an den Bruchlinien des Lebens entlang – von zerbrochener Liebe, geknickten Flügeln der Hoffnung, brüchiger Welt und letztlich auch von Fragmenten jener Freiheits-Wunschträume der 68er-Generation.

„Broken English“ heißt – gewiss nicht nur zufällig – einer ihrer besten Songs. Und es gibt diese starken Momente zwischen überfallartiger Traurigkeit, Aufbegehren, Trotz, Tapferkeit und plötzlichem Triumph. Beispielsweise, wenn sie die Fäuste ballt zu „Working Class Hero“.

Mit dem Publikum stellt sie sogleich eine vertraute, ja fast schon intime Beziehung her. „We love you, dear!“ ruft einer ihr spontan zu und spricht damit manchen aus der Seele. Ein Konzert kann wie eine Affäre sein. Doch diese hier ist denn doch ein wenig flüchtig, nicht unvergesslich. Dazu sind die ganz und gar innigen Momente etwas zu rar. Etliche Feinheiten ertrinken im Grundrauschen des Rock.

Gegen Schluss stimmt Marianne Faithfull den Stones-Klassiker „As Tears Go By“ an. Es werden nicht die letzten Tränen gewesen sein.




Fragile Schönheit der Erde, aus dem Weltraum betrachtet – Samantha Harveys Roman „Umlaufbahnen“

Zwei Frauen und vier Männer, zusammengepfercht auf einer Raumstation. Jeder Tag, an dem sechzehnmal die Sonne auf- und wieder untergehen wird und sie mit einer Geschwindigkeit von achtundzwanzigtausend Kilometern sechzehnmal die Erde umkreisen, folgt einem eigenen Zeit-Rhythmus, exakten Plänen, routinierten Abläufen.

Sie führen Experimente mit Mäusen, Pilzen und Viren durch, trudeln zeitlupenartig durch die Schwerelosigkeit, brechen zu Spaziergängen ins All auf, um Reparaturarbeiten an ihrer von Weltraum-Müll zerdepperten Behausung auszuführen. Sie hocken monatelang so eng aufeinander, dass sie mitunter „dieselben Träume“ träumen. Und während sie noch kopfüber in ihren Schafsäcken hängen und langsam erwachen, rollt draußen die Erde „in einem üppigen Schwall Mondlicht vor sich hin“ und „wälzt sich nach hinten weg.“

Weil die Fensterblenden verdeckt sind, sehen die vor sich hin dösenden Raumfahrer noch nicht, was Samantha Harvey, die allwissende Erzählerin, die ihren Blick durch ihr literarisches Universum schweifen lässt, bereits sieht: wie über den warmen Gewässern des Westpazifiks sich Passatwinde zu einem Sturm zusammenballen, „einem Motor aus Hitze. Die Winde saugen die Wärme aus dem Ozean auf, sammeln die Wolken, die stocken, sich immer mehr verdichten und schließlich vertikal auftürmen, in einen Taifun drehen.“ Während das Raumschiff gen Osten zieht, wird der Taifun westwärts Richtung Südasien wandern, das Meer zum Wüten bringen und eine gigantische Spur der Verwüstung auf den Philippinen hinterlassen.

Die britische Autorin Samantha Harvey muss unendlich viel Material gesichtet und Gespräche geführt haben, um so genial zwischen Fakten und Fiktionen jonglieren, die Wirklichkeit literarisch transzendieren und beschreiben zu können, was sich auf einer Raumstation abspielt; wie sich das am seidenen Faden von störungsanfälligen Geräten hängende Leben in einer den Gesetzen der Schwerkraft enthobenen Umgebung gestaltet, wo Angst vor dem Tod und Demut vor der Schöpfung ineinander greift.

In ihrem Roman „Umlaufbahnen“, für den sie den Booker-Prize erhielt, verbindet Harvey auf poetisch elegante Weise Fragen nach Sein und Werden mit dem Nachdenken über die fragile Schönheit der zerbrechlichen, von Klimakatastrophen, Krisen und Kriegen bedrohten Erde. Von dort oben aus, wo alle alles miteinander teilen und, obwohl sie aus verschiedenen Ländern und Kulturen kommen (Russland, Italien, Japan, England, USA), dieselben Wünsche haben und wissen, dass sie nur gemeinsam überleben können, wirken alle irdischen Konflikte belanglos.

Samantha Harvey schaut in die Seelen der Raumfahrer, die sich schmerzlich nach ihren zuhause gebliebenen Liebsten sehnen und sich zugleich von allem lösen und gern in die Unendlichkeit des Alls driften würden. Sie schaut auf die Erde und sieht „diesiges blassgrün schimmernde Meer, diesiges orangerotes Land. Afrika, von Licht durchdrungen. Im Inneren dieses Raumschiffes kann man es fast hören, dieses Licht.“ Gleichgültig, ob alles Leben nur eine Laune der Natur ist oder dem Willen eines Gottes entspringt: Warum nur richten wir all unser Streben darauf, diesen majestätisch schönen Planeten mit unserem Fortschrittswahn zu zerstören anstatt ihm mit Demut zu begegnen und zu erhalten? Etwas Besseres gibt es nicht und finden wir nirgendwo.

Samantha Harvey: „Umlaufbahnen“. Roman. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv, München. 224 Seiten, 22 Euro.




Sechs Stunden sind nicht genug – In Bochum inszeniert Johan Simons Elena Ferrantes Roman „Meine geniale Freundin“

Freundinnen fürs Leben: Elena Greco (Jele Brückner, links) und Raffaela Cerullo (Stacyian Jackson) (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Sechs Stunden! Wo sitzt man noch so lange im Theater? Die Schauspielexzesse Peter Steins fallen einem ein, sein Antiken-Projekt, der Faust, der Wallenstein. Doch das ist Jahrzehnte her, und seitdem sind „90 Minuten, keine Pause“ längst schon so etwas wie gültiger Bühnenstandard geworden. Man mag das bedauern. Oder sich dem widersetzen. Johan Simons tut das, in Bochum.

Neapolitanische Saga

Er macht es wieder, seine „Brüder Karamasow“ nach Dostojewskij, Premiere im Oktober 2023, dauerten gar sieben Stunden, inklusive zweier Pausen nebst Gastmahl. Zu essen gab es diesmal auch, doch dazu später (vielleicht) mehr. Nun also: Premiere der Bühnenadaption von Elena Ferrantes Romanen um zwei Freundinnen aus dem armen italienischen Süden, deren erster den Titel „Meine geniale Freundin“ trug und die als Zyklus „Neapolitanische Saga“ enorm erfolgreich waren und sind. Die Textfassung stammt von Koen Tachelet, einem langjährigen Mitstreiter Simons‘ seit gemeinsamen Zeiten am NTGent.

Jele Brückner als Elena am Schreibtisch und in der Videoprojektion (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Rechtlose Frauen

Erzählt werden die Lebensgeschichten von Elena und Raffaela, kurz Lenù und Lila, beginnend mit ihrer Kindheit in einem armen Stadtviertel Neapels. Das Viertel heißt Rione, was das italienische Wort für Viertel ist, und von wo man vor allem weg will. Doch die Möglichkeiten sind begrenzt, mafiöse Strukturen herrschen, und die faktische Rechtlosigkeit der Frauen scheint gottgegeben zu sein. Das Rione ist ein Hort der strukturellen Gewalt, zu der brutale Erniedrigungen und Vergewaltigungen ebenso zählen wie das ängstliche Festhalten an traditionellen Rollenbildern. In dieses Milieu werden die beiden Protagonistinnen hineingeboren. Elena, unschwer erkennbar als Alter Ego der Autorin, schafft die Aufnahmeprüfung einer Elitehochschule in Pisa, wird eine erfolgreiche Journalistin und Schriftstellerin; Raffaela heiratet früh, bekommt früh ein Kind von einem anderen, trennt sich von ihrem gewalttätigen Ehemann, schließt eine „Vernunftehe“, landet schließlich als Arbeiterin in der Fleischfabrik.

Feministischer Jahrhundertroman

Natürlich geschieht noch viel mehr in den Romanen, sind atmosphärische Elemente von großer Bedeutung. Elena Ferrante hat weit über tausend Seiten mit ihren Beschreibungen gefüllt, daran gemessen sind sechs Stunden Theater – netto vielleicht um die fünf – immer noch wenig, auch wenn fast pausenlos dialogisiert wird. Offenbar hat sich die Inszenierung, was man begrüßen mag, zum Ziel gesetzt, die biografische Grobstruktur beizubehalten. „Kindheit und Jugend“ ist der erste Teil überschrieben, es folgen „Erwachsenenjahre“ und „Reife und Alter“. Das Dilemma dieses Vorgehens ist jedoch die weitgehende Reduktion auf biografische Fakten – Männergewalt, Kinderkriegen, Trennungen, persönlicher Erfolg. Den feministischen Jahrhundertroman, den manche Kritiker in Ferrantes Werk sehen, findet man hier nicht wieder, gesamtgesellschaftliche Themen wie bürgerlicher Reichtum, organisierte Kriminalität oder Vetternwirtschaft bleiben lediglich strukturelle Grundierung.

Bühnenbild aus der Zentralperspektive. Es soll sich um eine typische italienische Piazza handeln. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

68 und danach

Gewiß gibt es im Stück auch Klassenkampf und revolutionäre Bestrebungen. Die Zeit nach 1968 und die 70er Jahre waren davon geprägt, in Italien verübten die Roten Brigaden Gewalttaten, ermordeten Politiker wie den christdemokratischen Ministerpräsidenten Aldo Moro. Ferrante, Jahrgang 1943, erzählt vermutlich vieles aus eigenem Erleben im universitären Milieu. Wiederholt werden (vorwiegend im zweiten Teil des Abends) Nachrichten von revolutionären Taten in das Bühnengeschehen getragen, treten klassenkämpferische junge Männer aus gutem Haus als Agitatoren auf, gibt es den Versuch, Arbeiter und Studenten im Klassenkampf zu vereinen. Doch bei den Frauen reift die Erkenntnis, daß offenbar auch die Revolution Männersache ist, sich strukturell für sie somit nicht viel ändern würde. Hier finden sich die Wurzeln der autonomen Frauenbewegung, und wer etwas älter ist und früher mal „links“ war, kennt das vielleicht auch alles. Dieser Wiedererkennungseffekt hat sicherlich einen nicht geringen Anteil am Erfolg der Ferrante-Bücher, auch beim deutschen Publikum.

Strukturelle Zusammenhänge

In Bochum indes, kommen wir zum Theaterstück zurück, zeigt die Inszenierung letztlich wenig Interesse daran, strukturelle Zusammenhänge herauszuarbeiten. Einige Male liest Elena Sätze aus ihren Texten vor, die man vielleicht als analytischen Versuch bezeichnen könnte. Aber sie bleiben isoliert. Doch bietet diese Art der Inszenierung immerhin eine gute Wiedererkennbarkeit der Textvorlage. Wer die Bücher gelesen hat, kann alte Bekannte grüßen.

Ein bißchen wie bei Pina Bausch: Das Bühnenpersonal nimmt auf gereihten Stühlen Platz. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Johans Stühle

Von Johan Simons wissen wir, daß er gerne Stühle auf der Bühne mag. So auch hier. Und die Schauspieler sind gut damit beschäftigt, Stühle hin und her zu tragen, aufzureihen, abzuräumen. Wenn gar ein Erdbeben die Stadt erschüttert, bleibt als bildlicher Ausdruck ein großer Haufen Stühle, unter denen (Trümmer!) Opfer zu beklagen sind. Doch mehr als einprägsame Bilder entstehen so nicht; anders als in manchen Psychotherapien erklären die Stühle in ihren Anordnungen nicht die Beziehungen der Menschen zueinander, bleibt es bei allgemeiner Symbolik von Verortung und Seßhaftigkeit.

Es soll eine italienische Piazza sein

Zweites prägendes Bühnenelement ist die permanent rotierende Drehbühne. Sie bewahrt vor allzu großer Statuarik des Geschehens und bietet in Verbindung mit mitkreisenden Videokameras zudem den Vorteil, daß auf allen Plätzen – es gibt sie im Zuschauersaal wie auch hinten auf der Bühne – in Verbindung mit der Videoprojektion alles gesehen und verfolgt werden kann. Zu Beginn rotieren zwei Schreibtische mit den beiden jungen Mädchen, umlegt mit Büchern der eine (von Elena), mit Schuhen der andere. Der Bühnenraum selbst, war vor der Premiere in einem Vorgespräch zu erfahren, sei einer italienischen Piazza nachempfunden, aber wenn man das nicht weiß, kommt man auch nicht drauf. Dafür bleibt es zu abstrakt, trotz der warm erstrahlenden Straßenlaterne.

Nicht folkloristisch

In gewisser Weise ist der hohe Abstraktionsgrad dieser Ausstattung aber auch vorteilhaft, bewahrt er das Publikum doch vor allzu folkloristischer Deutung des Geschehens. Etwas anderes wäre es vielleicht gewesen, wenn die Inszenierung sich statt für eine lineare Protokollierung für punktuelle Verdichtung der Handlung entschieden hätte.

Nochmal die Freundinnen: Stacyian Jackson als Raffaela links, Jele Brückner als Elena rechts. . (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Ideale Besetzung

Schauen wir auf die Darsteller. Jele Brückner ist Elena Greco, schon vom Typ her eine geradezu ideale Besetzung. Nachdem sie sich mit etwas Verzögerung „warmgespielt“ hat, ist sie eins mit ihrer Rolle. Die Zumutungen des Lebens – Freude, Angst, Selbstzweifel, Bedürftigkeit wie auch späterhin Selbstbewußtsein und Kraft weiß sie intensiv zu geben. Später wird ihr dafür reicher Applaus zuteil. Ihre Freundin Raffaela Cerullo wird von Stacyian Jackson gegeben, deren körperlicher Einsatz beeindruckt, die sprachlich aber nicht überzeugt. Sie spricht mit starkem (amerikanischen?) Akzent, was immer wieder zu Verständnisschwierigkeiten führt. Zudem gibt es ärgerliche Versprecher, die dem Redefluß ebenfalls nicht guttun. Außerdem legt sie (legt der Regisseur) die Rolle der Lila recht prollig an, was Leser der Bücher für unzutreffend halten.

Unmengen von Text

Mit Ausnahme der beiden Hauptkräfte spielen die anderen meistens mehrere Rollen. Garderobenwechsel geschieht oft auf der Bühne, was der Produktion die Anmutung des Unfertigen gibt. Darstellerinnen und Darsteller schlagen sich gut, stundenlang, bewältigen eine Unmenge von Text, beeindrucken mit ihrer scheinbar grenzenlosen Beweglichkeit. Wir erleben in Bochum ein hochwertiges, homogenes Ensemble, das die Inszenierung, die nicht immer frei von Längen ist, souverän trägt und alles in allem und trotz vieler bedrückender Handlungselemente zu einem unvergeßlichen Theaterabend macht.

Ein Solitär in der deutschsprachigen Theaterwelt

Erwähnt werden muß noch, daß es bei der Premiere eine ca. viertelstündige Unterbrechung durch einen Notarzteinsatz gab. Schließlich aber: Stehender Applaus, lang anhaltend. Mit seiner selbstbewußten Art, Theater zu machen, ist der 78jährige Johan Simons mittlerweile ein Solitär, nicht nur im Ruhrgebiet, sondern im ganzen deutschsprachigen Theaterraum.

Ach ja: Zu essen gab es verschiedene italienische Vorspeisen, vom Caterer in praktischen Einmalverpackungen dargeboten, außerdem Brot und Wasser. Man nahm es dankbar an an diesem beeindruckenden Theaterabend, der erst weit nach Mitternacht sein Ende fand.

Weitere Aufführungen: 1., 2., 23. Februar, jeweils 16:00 Uhr
www.schauspielhausbochum.de




Alles auf die Goldwaage: Peter Handkes Halbschlafprosa „Schnee von gestern, Schnee von morgen“

Peter Handke (82) war immer schon ein großer, unermüdlich Gehender in der weiten Welt und in der Literatur. Wo ist er nicht überall ausgeschritten? Auch sein neues, diesmal recht schmal geratenes Buch „Schnee von gestern, Schnee von morgen“ kreist um dieses stetige, langsame Unterwegssein. Doch wohin hat ihn und seine Protagonisten das alles geführt? Doch nicht etwa in ein Niemandsland?

Es ist wahrlich nicht leicht, sich hineinzufinden in diese fortwährende (Sprach)-Bezweiflung. Ein Wort reibt sich am anderen, ein jedes wird zergliedert – oft tiefgründig (oder gründelnd?), zuweilen aber auch geradezu flapsig oder beinahe albern. Jegliches Wort kommt allerdings auf die buchstäbliche Goldwaage. Soll man gar von Wortklauberei reden? Oder ist es nicht doch entscheidend, wenn es heißt, man solle sagen „Mir ist Zeit!“ statt „Ich habe Zeit.“?

„In Zungen reden“

Insgesamt scheint das Fortkommen des Textes vielfach in einer Art Gestammel zu bestehen, in einer schlaf- und traumwandelnden Sprache, die sich in ihren logischen und etymologischen Widersprüchen schier zu verheddern droht. Tagtraumprosa und Halbschlafprosa nennt es Handke selbst. Immer wieder hebt er mehr oder minder vage Behauptungen mit der Fügung „oder auch nicht“ auf, macht sie auf diese Weise gleichsam ungeschehen. Oder eben auch nicht. Da kenne sich einer aus. Dialektik ist das jedenfalls nicht. Weitaus eher schon der Duktus eines Wesens, das „in Zungen redet“.

Jenseits aller Ideale und Hoffnungen

Ein verbliebenes Ziel ist offenbar die Absichtslosigkeit, ja notfalls das Unnütze. Zitat: „Und wieder so ein elftes Gebot: Unwillkürlich beteiligt sein.“ Da hat einer sprichwörtlich sein‘ „Sach` auf nichts gestellt“, lebt „aufs Geratewohl“, will das Weghören und Übersehen lernen, erwartet vom Dasein rein gar nichts mehr, verortet sich jenseits aller Ideale, Hoffnungen, Theorien, erst recht fern von Meinungen. Die Wette aufs geglückte Leben gehe notwendig verloren, heißt es mehrmals. Sodann ein Summen im Gefolge der Beatles, die bei Handke seit jeher viel gegolten haben: „There will be no answer, let it be…“ Bei den Beatles hieß es freilich noch: „There will be an answer…“ Zwischendurch werden auch noch seltsame Prophezeiungen gestellt: „Mein Tageshoroskop: Sie haben sich heute verirrt auf dem Mond, aber bemühen Sie sich dabei, das, was wahrhaft zählt, im Gedächtnis zu behalten.“ Ach.

Von Schiller bis zu Siw Malmkvist

Zum Ende hin gibt es eine Passage, in der Handke alte Zitat-„Schlachtrösser“ der Geistesgeschichte aufgaloppieren lässt, von Schillers „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“ übers biblische „Tod, wo ist dein Stachel?“ – und dann bis hin zu Siw Malmkvists Schlagerzeile „Liebeskummer lohnt sich nicht, my Darling“ oder Jacques Dutroncs wunderbar simplem Refrain „Et moi, et moi, et moi“. Man könnte mit Ratespielen zur jeweiligen Herkunft der Aussprüche anknüpfen. Doch hier ist das Leben kein Quiz. Hier geht es um die beispielhafte Bilanz eines Lebens.

Rare Momente mit Kindern und Tieren lassen denn doch noch die (schwindende) Ahnung einer anderen Welt aufscheinen. Und der Gehende gerät schließlich – ausgerechnet am Rande einer fürchterlich lärmenden Straße – nicht nur an den bedeutsamen Rand eines Waldes, sondern auch in Erinnerungs-Gefilde seiner Kinderzeit. Sollte das der Beginn einer Rettung sein? Niemand wird es erfahren, weil jener vorangehende Mensch offenkundig spurlos verschwunden ist. Geheimnisvoller Schlusssatz: „…aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging.“

Peter Handke: „Schnee von gestern, Schnee von morgen. Das Lautwerden des einen Kreuz- und Quer-Gehenden zeit seines jeweiligen Innehaltens“. Suhrkamp Verlag, 74 Seiten, 20 Euro.




„Panik wäre angebrachter“ – Essays und Reden von Daniel Kehlmann

Im Juli 2024 hält Daniel Kehlmann im Berliner Bundeskanzleramt bei einem Kultur-Festakt eine Rede, mit der er den Zuhörern gründlich die gute Laune verdirbt. Denn statt die Kunst zu rühmen und ihr in der Ära der digitalen Moderne eine glorreiche Zukunft zu prophezeien, hält er eine Totenmesse und warnt vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz, die nicht nur die kreativen Berufe, sondern die ganze Demokratie bedrohe.

Da kommt etwas „auf uns zu, für das wir keinen angemessenen Instinkt haben“, das „nicht wirklich unser Gemüt erfasst“. Wir müssten aber endlich begreifen, dass die KI mit ihren Datenbanken und Algorithmen uns nicht nur Arbeit abnimmt, sondern auch unser Bewusstsein beherrscht und unsere Bedürfnisse ausbeutet, politische Meinungen herstellen, Gesellschaften zerstören und einen neuen Kunstbegriff begründen kann: „Panik wäre angebrachter als die entspannte Ruhe, mit der wir dem Tsunami entgegenblicken, der sich bereits am Horizont abzeichnet.“

Enzyklopädisch gebildeter Intellektueller

Der 1975 in München geborene, in Wien aufgewachsene und inzwischen in Berlin und New York lebende Daniel Kehlmann gilt als bedeutende Stimme der zeitgenössischen Literatur. In seinen Romanen („Die Vermessung der Welt“, „Tyll“, „Lichtspiel“), verwebt er Fakten und Fiktionen, Realität und Fantasie zu einem literarischen Teppich und schwebt durch Zeit und Raum. Kehlmann gehört zur seltenen Spezies des enzyklopädisch gebildeten Intellektuellen, der das Wissen der Welt speichert, sich für politische und wirtschaftliche Entwicklungen genauso interessiert wie für literarische Debatten, für historische Fundstücke und die Abgründe der digitalen Kapitalismus. In einem Band mit Essays und Reden gibt er darüber Auskunft. Den Titel hat er sich bei Friedrich Schiller ausgeliehen, der seinen zu Tode erschöpften Feldherrn Wallenstein sagen lässt: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken“: Schreibt nicht zu bald über mich, lasst ein wenig Zeit vergehen, Abstand ist nötig, damit der erfinderische Autor sein Werk beginnen kann.

Die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen

Die nötige Distanz und das richtige Maß finden will auch Kehlmann, wenn er Donald Trump als „Monster“ beschreibt, das mit einem Knopfruck den Atomkrieg auslösen und das Ende der Welt heraufbeschwören kann. Den Film „Happy End“ (Michael Haneke) sieht er als „prophetisches Werk über uns, die wir die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen“, indem wir den Planeten mit unserer Misswirtschaft zugrunde richten, es uns aber noch „gut in unseren schönen Häusern“ gehen lassen und fröhlich feiern, „auch wenn die Ausgebeuteten bereits bei unserem Fest auftauchen“ und „der Meeresspiegel unterdessen immerzu steigt.“

„Menschen helfen, die Hilfe brauchen“

Über Salman Rushdie, der trotz aller Anfeindungen nie den Mut verliert und für seine irrlichternden Romane längst den Literaturnobelpreis verdient hätte, spricht Keilmann ebenfalls. Und über seinen Vater, der sich mit gefälschten Dokumenten vom Juden zum Halbjuden wandelte, dann aber doch von den Nazis verhaftet und in ein KZ gesperrt wurde, nur durch Zufall wieder frei kam und überlebte. „Niemals vergessen!“ bedeutet für ihn: „Menschen helfen, die Hilfe brauchen, auch wenn sie eine andere Religion haben, eine andere Kultur, andere Sprache, andere Hautfarbe, und zwar im Angedenken an die Vertriebenen und die Toten unseres eigenen Landes vor noch nicht langer Zeit.“

Daniel Kehlmann: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken.“ Essays und Reden. Rowohlt Verlag, 306 Seiten, 25 Euro.

 

 




Ohne Sorgen in die Unterwelt: Neujahrskonzert der Essener Philharmoniker

Die Essener Philharmoniker mit GMD Andrea Sanguineti beim Neujahrskonzert in der Philharmonie. (Foto: Volker Wiciok)

Einmal im Jahr ist es so weit. Da öffnen sich alle Türen und die Noten tanzen im Dreivierteltakt herein.

Silvester und Neujahr sind Strauß-Tage: Zahllose Konzerte weltweit lassen die Walzer, Polkas, Märsche und Quadrillen des „Walzerkönigs“ erklingen, beschwören vermeintliche Glanzzeiten, vergoldet von den Melodien von Johann Strauß Vater und Sohn und dessen Brüdern Josef und Eduard. Das Wiener Neujahrskonzert hat sich seit Beginn der Radio- und später Fernsehübertragungen 1959 zum weltweiten Ereignis entwickelt, das in diesem Jahr von über 100 Stationen ausgestrahlt wurde.

Johann Strauß in einer historischen Fotografie von Fritz Luckhardt

2025 bleibt’s nicht beim Jahreswechsel-Event: Wien feiert das ganze Jahr über die Musikerdynastie und ihren einflussreichsten Protagonisten Johann Strauß (Sohn). Der wurde vor 200 Jahren geboren und prägte von seinem ersten Auftreten 1844 bis zu seinem Tod 1899 die Wiener Tanz- und Unterhaltungsmusik. Sein größtes Verdienst, für das ihn Verdi und Wagner, Brahms und (der nicht verwandte) Richard Strauss schätzten: Er schrieb – wie sein Zeitgenosse Philipp Fahrbach zutreffend bemerkte – „Tanz-Compositionen zugleich fuer’s Gehoer und fuer die Fueße“. Der große Konzertwalzer erschließt also seinen Wert über das Hören; Strauß hat den einst argwöhnisch beäugten, derb-sinnlichen Tanz in die Regionen eines betrachtenden Musikgenusses erhoben – „Sphärenklänge“ eben.

Operette in Dortmund und Essen

Johann Strauß, der Tycoon der musikalischen Unterhaltungsindustrie Wiens, suchte den Erfolg aber auch in der damals aufsteigenden und Gewinn versprechenden Gattung Operette. Mit der „Fledermaus“ schuf er – gemeinsam mit dem oft unterschlagenen Richard Genée – vor 150 Jahren ein Meisterwerk des Genres, aus dessen Schatten auch seine übrigen 14 vollendeten Operetten nur schwer heraustreten können. In Dortmund läuft der Scherz mit dem Flattertier derzeit im Opernhaus. Dort durchbricht man ab 9. Juni das oft einfallslose Strauß-Potpourri-Einerlei mit der originellen Idee, gleich sechs „Sträuße“ zusammenzubinden: Götz Alsmann moderiert eine Gala, in der Musik von Johann Strauß Vater und Sohn, Josef und Eduard Strauß, aber auch dem herausragenden Satiriker Oscar Straus und dem Gestalter des Übergangs von der Spätromantik zur Moderne Richard Strauss erklingen wird.

Fritz Steinbacher und Tanja Christine Kuhn in der Dortmunder Inszenierung der „Fledermaus“. (Foto: Björn Heckmann)

Auch die Oper in Essen lässt es sich nicht nehmen, an Strauß zu erinnern: In der letzten Spielzeit stand seine „Nacht in Venedig“ noch einmal im Spielplan, ab 29. März zeigt das Aalto-Theater in vier konzertanten Aufführungen – in Kooperation mit „Johann Strauß 2025 Wien“ – die Operette „Der Karneval in Rom“ mit Nikolaus Habjan als Erzähler und musikalisch geleitet von Guido Mancusi, den man von den Seefestspielen Mörbisch und der Wiener Volksoper kennt.

Nur Populäres zu Neujahr

Recht konventionell dagegen liest sich das Programm des Neujahrskonzerts der Essener Philharmoniker: Populäre Werke von Johann Strauß Sohn dominieren, der Vater kommt lediglich mit dem „Venetianer-Galopp“ zu Gehör. Josef Strauß darf sich als Walzerkomponist nicht zeigen. Seine vier Polkas gewinnen ihren Reiz aus dem Spiel mit Kontrasten: Zu Beginn verbreitet die Schnellpolka „Ohne Sorgen“ übermütigen Frohsinn, während sich die „Tanzende Muse“ eher gemessen-gemütvoll dreht. „Die Libelle“, eines der bekannteren Werke Josefs, gibt der Harfenistin erste Gelegenheit, die Musik feinsinnig zu färben.

Das „Plappermäulchen“, im April 1868 in der „Neuen Welt“ in Hietzing unter dem Titel „Die Plaudertasche“ uraufgeführt, ist mit seiner kribbeligen Steigerungsdramaturgie und der köstlich penetranten Rassel ein musikalischer Scherz wie Johann Strauß‘ „Perpetuum mobile“. Die Essener Philharmoniker führen ihren Klangsinn vor, die Violinen schwirren, die Celli baden in Melodie, vom Piccolo bis zum Fagott, von der Pauke bis zum Gong hat alles seinen Auftritt, und GMD Andrea Sanguineti feuert den Jux temperamentvoll an, bis das „… und so weiter“ die wiederholungsfreudige Kette musikalischer Capricen abschneidet.

Natürlich fehlen andere „Gustostückerl’n“ aus der Strauß-Feder nicht: „Auf der Jagd“ mit Hörnerschall und Pistolenknall, „Im Krapfenwald’l“ mit Kuckucksruf und die „ungarische“ Polka mit dem Hochruf „Éljen“. Das alles klingt bei den Essenern flott und forsch, anfangs arg krachend, im Lauf des Abends geschliffener und mit mehr Sinn für Finessen, etwa, wenn das Publikum mit dem „Vergnügungszug“ pfeifend und schnaufend in die Pause fährt.

Die Walzer suchen ihren Meister

GMD Andrea Sanguineti sorgt für temperamentvolle Polkas und fesche Walzerrhythmen beim Neujahrskonzert. (Foto: Volker Wiciok)

Die Walzer sind die Meisterprüfung für Sanguineti, und er führt ins „Künstlerleben“ mit seinen reizenden Oboen- und Klarinettensoli vor flirrendem Hintergrund mit distinguierter Noblesse ein, lässt das Crescendo aufblühen, erfasst mit Sinn für Agogik die „weichüppige und elegante Form des österreichischen Walzerrhythmus“, lässt die Philharmoniker den gemütvoll-diskreten Ton für die Stimmungsmalerei der Einleitungen – auch im „Donauwalzer“ – ausspinnen. Manche langsame Stelle gerät ins Zögern, so im „Accelerationen“-Walzer, aber der eigentlich monotone Dreierrhythmus erklingt fesch und spritzig.

In den „Geschichten aus dem Wienerwald“ hat die Wiener Zithermeisterin Barbara Laister-Ebner einen herzwärmenden Auftritt. Nach einer dramatischen Einleitung, einem romantisierenden Hornruf und der bukolischen Flötenkadenz erinnert die Zither an die niederösterreichischen Wurzeln der Walzermelodien, die Sanguineti mit ein wenig zu extremem Ritardando und scharfem rhythmischen Impetus musizieren lässt. Der fröhlichen Musizierlaune der Philharmoniker fehlt hier – wie in mancher Polka – der letzte Schliff in der Balance und die Eleganz der Artikulation.

Eine ganz eigene Köstlichkeit serviert der langjährige Soloklarinettist der Essen Philharmoniker, Harald Hendrich, der jetzt ans zweite Pult rückt: Als Dank für die warmherzige Würdigung Sanguinetis spielt er eine Hommage an den Jubilar: „Ich begrüße Sie, Herr Johann Strauß“, aus der Feder von Béla Kovács (1937-2021), der lange in Budapest und Graz Klarinette unterrichtete. Ein kleines Virtuosenstück zwischen edlem Cantabile und spritzigen Rhythmen, erschienen in der Edition Darok und extra von Boris Gurevich für Streicher bearbeitet.

Mit „Donner und Blitz“ stürzt der Fluss der Musik schließlich in die Unterwelt, für die Strauß‘ kongenialer Pariser Kollege Jacques Offenbach seinen zündenden Can-Can erfunden hat, der Wien schon einen Monat nach der Uraufführung des „Orpheus in der Unterwelt“ als Strauß-Quadrille in Furor versetzte. Ohne Sorgen in die Unterwelt – wenn das mal kein Programm für 2025 ist!




Museen geschlossen, Frank Goosen ausverkauft: Ärger und Freude liegen im Kulturbetrieb des Reviers nahe beieinander

Von außen sieht man ihm seine charakteristischen Tütenlampen gar nicht an: das Schauspielhaus Bochum, wo Frank Goosen sein „Silvester Spezial“ zur Aufführung brachte. (Foto: Schauspielhaus Bochum/Martin Steffen)

Frank Goosen, das ist mal klar, Frank Goosen hat uns gerettet. Das „Silvester Spezial“ des Bochumer Kabarettisten, dargebracht im Großen Haus des Bochumer Schauspiels, fügte sich exakt in die Erfordernisse des diesjährigen Besuchsbespaßungsprogramms: Beginn um 20 Uhr und um die zwei Stunden lang, so daß es bis zum Jahreswechsel dann nicht mehr weit war. Die Silvesterparty im Schauspielhaus knickten wir uns und strebten hernach den heimischen Dortmunder Fleischtöpfen zu. Guter Abend, gutes Timing, 2025 konnte kommen.

Ruhrgebietskultur

Warum erzähle ich das eigentlich? Nun, weil die Berliner Verwandtschaft in diesem Jahr bei uns zu Gast war und man dann natürlich einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, richtig schöne Ruhrgebietskultur vorzuführen. In vielen Vorjahren war – in Berlin – die Komische Oper ein prominenter verwandtschaftlicher Bespaßungsort, aber die wird ja jetzt umgebaut und Barrie Kosky ist auch nicht mehr da und überhaupt. Also finde mal was, hier im Revier, wenn es nicht traditionelle Operette sein soll. Nun, wir fanden, wie gesagt, ihn, Frank Goosen, den man mit seiner grundsoliden Bochumer Erdung nebst gleichzeitiger, hochgradig anregender intuitiver Beweglichkeit und profundem historischen Spezialwissen auswärtigem Publikum durchaus zumuten kann, ja geradezu: sollte.

Andreas Weißert las in Dortmund

Der Fairneß halber sei ergänzt, daß auch andere Bühnen Jahresausklangsprogramme anboten. So las der geschätzte Schauspieler Andreas Weißert auf der Dortmunder Studiobühne wieder etwas vor, Textpassagen von Fontane, Kästner, Fallada und Bernhard unter dem Titel „Es ist ein hübsches Wort, daß die Kinder ihren Engel haben“ (ein Fontane-Zitat). Nur – um 16 Uhr fing er an und anderthalb Stunden später war er fertig, das ist dann noch verdammt viel Zeit bis Mitternacht.

Volle Hütte

Bei Goosen war das Theater voll, ganz offensichtlich giert das Volk nach Jahresendkultur. Da paßt es – Vorsicht, Ironie! – wunderbar ins Bild, daß die heimischen Museen an den letzten Tagen des Jahres einfach zumachen. Das Dortmunder „U“, zentrale Adresse, blieb zwischen 30. Dezember und 1. Januar, also von Montag bis Mittwoch, drei Tage immerhin, geschlossen, und in etliche anderen Städten hielten kommunale Museen es ebenso. Offensichtlich war hier eine Bürokratie am Werke, die die Welt in Brückentagen denkt und nicht in Publikumsinteresse. Warum sollte man an kalten, nassen Winter-Werktagen „zwischen den Jahren“, die wirklich nicht zu Spaziergängen irgendwelcher Art einladen, Museumsbesuche ermöglichen? Und der Montag ist eh sakrosankt, liege er für das ungeliebte Publikum auch noch so günstig zwischen den Feiertagen. Es macht die Sache übrigens nicht besser, daß wir, wären wir in Berlin gewesen, ebenfalls vor größtenteils geschlossenen Häusern gestanden hätten. Die Ignoranz einer selbstgefälligen kommunalen Bürokratie ist ein bundesweites Phänomen.

Offene Türen beim Schraubenkönig

Private Museen hingegen kennen das Publikumsinteresse und haben ihre Angebote angepaßt. So läßt „Schraubenkönig“ Würth die Tore seiner drei Häuser in und um Künzelsau jeden Tag von 10 bis 18 Uhr öffnen, das Potsdamer Museum Barberini, das SAP-Chef Hasso Plattner gehört, bot am 1. Januar zumindest Führungen durch das Haus an, und ebenso hatte die Duisburger Küppersmühle am 1. Januar geöffnet.

Wenigstens haben wir den Kran gesehen

In Dortmund, wo Tage vor Silvester museal nichts mehr ging, blieb als touristische Aktion schließlich noch eine Stadtrundfahrt mit dem eigenen Auto, Borsigplatz, Westfalenhütte (wo große städtebauliche Veränderungen anstehen), Hoesch-Museum (geschlossen wegen Umbau). Weiter über Malinckrodtstraße und Nordmarkt zum Hafen, wo vis-à-vis vom wilhelminischen Hafenamt der alte Kran zu besichtigen ist, den man weiter unten auf dem Hafengelände abgebaut und hier, auf der Vorzeigemeile, wieder aufgebaut hat. Gut, wenigstens diese Besichtigung hat geklappt, umsonst und draußen, wie es sein soll bei einem Freiluftindustriedenkmal.

Und es ging auch vom Auto aus. Mistwetter, wie gesagt.




Wenn der Schriftsteller vom Leben als Maler träumt – Skizzenbuch des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk

Seit Monaten arbeitet Orhan Pamuk an einem neuen Roman, er soll „Die Nächte der Pest“ heißen, eine Parabel auf die von politischen Krisen, religiösem Fanatismus und globalen Pandemien zerrüttete Welt sein. Sie spielt zu Zeiten des Osmanischen Reiches auf „Minger“, einer fiktiven Insel im östlichen Mittelmeer. Sie erinnert den Autor an Kreta.

Um seine Fantasie anzuregen, besucht er mit seiner Lebensgefährtin Asli die von schroffen Bergen und kargen Landschaften geprägte Insel. Unterwegs von Rethymnon nach Chania, möchte er vom Bus aus Fotos machen. Doch es funktioniert nicht. „Wozu fotografieren?“, schmunzelt Asli, „Du bist doch auch Maler. Hol dein Heft raus und zeichne.“ Pamuk gefällt es, dass sein künstlerisches Talent auf die Probe gestellt wird: „Bis wir in Chania ankamen, hatte ich zehn Bleistiftzeichnungen fertig.“

Collagen aus Worten und Bildern

Der türkische Literaturnobelpreisträger notiert das im Oktober 2018 in einem seiner vielen Hefte, die er stets mit sich führt und zu einer sich ständig erweiternden Wunderkammer aus Worten und Bildern macht. Sie haben immer das Format 8,5 x 14 Zentimeter und quellen über vor Gedanken und Zeichnungen, Gedichten und Reiseeindrücken, Terminen und Namen von Freunden und Verlegern, Ideen für literarische Projekte und politische Zwischenrufe.

Immer werden die Worte umkreist von schnell hingetupften Aquarellen und Bleistiftzeichnungen. Ob er von seinem Schreibtisch aus über den Bosporus blickt oder durch die Straßenschluchten von New York flaniert, im indischen Goa Ruhe sucht, in Berlin eine Ausstellung kuratiert oder in Barcelona einen Vortrag hält: Immer hat der Autor, der eigentlich Maler werden wollte, seine Hefte dabei und verdichtet Worte und Bilder zu täglich neuen und überraschenden Collagen.

„Daraus ist aber nichts geworden!“

Eine Auswahl der Hefte ist jetzt in einem „Skizzenbuch“ versammelt: „Erinnerungen an ferne Berge“ ist ein chaotisches und künstlerisch anregendes Werk aus poetischen, politischen und persönlichen Texten und faszinierenden Bildern. Es umfasst die Jahre 2009 bis 2021. In dieser Zeit wird Pamuk Romane („Diese Fremdheit in mir“, Die rothaarige Frau“, „Die Nächte der Pest“) und Fotobände („Balkon“, „Orange“) veröffentlichen, sein „Museum der Unschuld“ ausstellen und als streitbarer Autor in der Türkei in Ungnade fallen.

All das und vieles mehr spiegelt sich in den kleinen Heften, deren Seiten im „Skizzenbuch“ so abgedruckt sind, dass daneben viel Platz bleibt für die Übersetzung der Worte, die die Bilder umschlingen und überlagern. Einmal, da ist Pamuk in New York (Oktober 2010), notiert er zwischen Zeichnungen von Wolkenkratzern, Wohnblocks, Straßen und Parkanlagen: „Das Leben, das ich gern führen würde = ein Leben als Maler. Daraus ist aber nichts geworden!“

Wunsch und Wirklichkeit berühren sich

Ein anderes Mal (Mai 2016) sieht er zeichnend über ein rot schimmerndes Meer zu fernen schwarzen Bergen und notiert: „An zeitgenössischen Malern, die Bild und Text zugleich denken, fallen mir jetzt Raymond Pettibon und Cy Twombly ein. So wie sie würde ich gerne zeichnen können“ und „der Malerei mein ganzes Leben widmen. Und dabei die Worte und die Bilder auf derselben Seite denken.“ Wir erleben im „Skizzenbuch“, wie Wunsch und Wirklichkeit sich berühren.

Orhan Pamuk: „Erinnerungen an ferne Berge. Skizzenbuch.“ Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München. 400 S., 46 Euro.