Wenn die Dinge immer schlechter werden: „Die Verkrempelung der Welt“

Der Titel dieses silbrig glitzernden Buches aus der ehrwürdigen edition suhrkamp ist ein Coup. Hätte der Band „Kritik der überflüssigen Dinge“ oder ähnlich betulich geheißen, hätte wohl kaum ein Hahn danach gekräht. So aber nennt er sich „Die Verkrempelung der Welt“. Da horcht man auf, da will man Näheres wissen.

Nicht alle Befunde des Autors Gabriel Yoran (umtriebiger, mehrfacher Startup-Gründer mit eher „links“ anmutendem geistigen Rüstzeug) sind brandneu, aber schon der Einstieg ist hübsch: Er dreht sich um einstmals bewährte Dinge wie Herdknebel (früher übliche Bedienknöpfe) und konventionell sinnreiche Duschschläuche. Heute muss oft für einfachste Verrichtungen ein komplizierter Touchscreen mit allerlei irrwitzig verzweigten Optionen herhalten.

Erstes Zwischenfazit: Um noch mehr Gewinn zu generieren, nehmen Konzerne ihren jeweils neuesten Produkten gute und vernünftige Eigenschaften weg, um diese hernach als Premium-Features deutlich zu teurer zu verkaufen. Anders gesagt: Statt vormals guter oder wenigstens passabler Sachen erhalten wir vielfach „Krempel“; es sei denn, wir bezahlen enorme Aufpreise.

Die früher prägende „Fortschritts-Erzählung“ des Immer-besser-Werdens, so Yoran weiter, sei kurzatmig geworden, überhaupt sei der bis dahin im Westen recht unerschütterliche Fortschrittsglaube mit dem 11. September 2001 (für Jüngere: Terroranschlag aufs World Trade Center) kollabiert. In diesem Zeitklima falle es gar nicht mehr so sehr auf, wenn Produkte sich permanent verschlechtern. Sollten wir uns etwa an all den Krempel gewöhnt haben?

In der verqueren kapitalistischen „Logik“ liegen zudem immer kürzere Verfallszeiten der Produkte. Früher hielten bessere Waschmaschinen 30 Jahre lang, heute sind es allenfalls 10 Jahre. Dieser mäßige Wert reicht inzwischen schon als erfülltes Kriterium fürs Warentest-Urteil „Sehr gut“. Nachhaltiges Wirtschaften sähe wahrlich anders aus. Als Gegenbeispiel wird das legendäre DDR-Handrührgerät RG 28 aus Suhl aufgeführt, das über Jahrzehnte hinweg unverändert zuverlässig blieb. Tempi passati.

Das Buch scheint nun den anfangs gesponnenen Faden etwas zu verlieren, es gerät mehr und mehr zum Grundkurs in Warenkunde, ohne die wir Konsumenten ziemlich aufgeschmissen seien. Vom kostspieligen und in rechtsextremen Ruch geratenen Sonderweg von Manufactum ist die Rede. Ein solcher Satz lockt ein Grinsen hervor: „Die Manufactum-Katalogprosa wimmelt nur so vor letzten sorbischen Muhmen, die dank des Versandhändlers wieder Bierdeckel handfilzen.“ Inzwischen ist die Edel-Klitsche an Otto verkauft worden – und der Manufactum-Gründer hat Zeit genug, höchst zweifelhafte Bücher auf den Markt zu werfen.

Der geschichtliche Rückgriff führt bis zum Deutschen Werkbund, in dem auch Künstler eine „Moral der Dinge“ etablieren wollten, und zu den Ursprüngen des zunehmend autoritären Funktionalismus, der sich in Gestalt von Adolf Loos zum Lehrsatz verstieg, jedes Ornament sei ein Verbrechen. In der Gegenwart wird die krempelhafte, unnötig Aufmerksamkeit fressende Computer- und Online-Kommunikation gegeißelt.

Schließlich verbeißt sich der Autor geradezu in ein Thema, das ihm wohl speziell am Herzen liegt: die Entwicklung der Kaffee-Zubereitung im Spannungsfeld zwischen Vollautomaten und Siebträger-Maschinen. Auch aus persönlichen Gründen fand ich ein Kapitel interessant, das davon handelt, welche Dinge in anderen Ländern womöglich besser sind als bei uns. Ein Beispiel: Türen und Fenster in Dänemark, die sich nach außen hin öffnen. Warum haben wir nicht die Wahl?

Eine aufs große Ganze zielende Schlussfolgerung steht in den letzten Sätzen, die bedeutsam, ja beinahe gravitätisch ausschwingen, als hätte ein Adorno das Wort:

„Wir werden nicht herumkommen um die gemeinsame Suche nach dem guten Leben miteinander, nach den legitimen Bedürfnissen.

Noch die progressivste Warenkunde wäre nur der Schein der Laterne – der Schlüssel liegt anderswo. Es ist nur sehr unbequem, dort zu suchen“. 

Gabriel Yoran: „Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags)“. edition suhrkamp. 186 Seiten, 22 Euro.

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P. S.: Im werblichen Anhang des vorliegenden Bandes habe ich eine unverhoffte Wiederentdeckung gemacht. Dort wird eine Fortschreibung von Wolfgang Fritz Haugs „Kritik der Warenästhetik“ (1971) angepriesen, die wir zu Studentenzeiten in den 1970er Jahren zustimmend goutiert haben. Angefügt sind neue Erkenntnisse zur „Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus“. Das Buch erscheint für 19 Euro als Print on demand-Ausgabe. So ändern sich die Zeiten.




Salz im Nudelwasser und viele andere Küchenfragen

Gewichtige Frage, fürwahr: „Wann kommt das Salz ins Nudelwasser?“ Sofort oder etwas später? Das Magazin der Süddeutschen Zeitung (SZ) hat nach und nach eine Menge Fachleute (beileibe nicht nur mit professoralen Weihen) aufgeboten, um bei solcherlei Problemen Klarheit zu schaffen. Nun liegen die gesammelten Resultate in Buchform vor.

„Ein für alle Mal“ sollen hier – laut Untertitel – die wichtigsten Küchenfragen geklärt werden. Dabei zeigt sich doch rückblickend an etlichen Stellen, wie sehr solche Abwägungen zeitbedingt und dem Wandel unterworfen sind. Und gar manches Mal heißt es: „Die Antwort lautet Jein.“ Es lebe die feine Differenzierung.

Um den Titel gleich aufzugreifen: Das Salz gehört erst dann ins Nudelwasser, wenn Letzteres schon zu kochen beginnt. Es hat mit dem Siedepunkt zu tun, der sich bei vorschneller Dreingabe energetisch ungünstig darstellt. Tja.

Sodann geht es Schlag auf Schlag, so ungefähr nach der Parole: „Was Sie schon immer wissen wollten, aber kaum zu fragen wagten“. Wohlan denn, beispielsweise:

Alkohol verdampft beim Kochen eben n i c h t vollständig, also Vorsicht. Kartoffeln und Zwiebeln sollten in Papiertüten und/oder Pappschachteln gelagert werden, dunkel und trocken sowieso. In der Regel ist Ober-Unterhitze besser als Umluft, ein Air-Fryer ist der Fritteuse vorzuziehen, Gas u n d Induktion sind die Mittel der Wahl am Herd. Ein gekochtes Ei hält sich zwischen 2 und 4 Wochen lang. Angeschimmeltes aller Art (auch schon vor dem „Schimmelrasen“) sollte stets entsorgt werden, da ist einfach nichts mehr zu retten. Oder die richtige Reihenfolge beim Salatdressing: erst Gewürze, dann Essig, schließlich Öl.

Und weiter, Frage um Frage: Dürfen Pilze gewaschen werden? Deuten Schraubverschlüsse auf minderwertige Weine hin? Warum werden Bananen so schnell braun? Ist Butter gesünder als Margarine – oder gibt es da vielleicht einen Mittelweg? Wie reklamiere ich im Restaurant? Wie sieht die ideale Sitzordnung beim mehr oder weniger festlichen Essen aus? (Bloß nicht den immerzu nörgelnden Miesepeter neben Seinesgleichen setzen, auch nicht zwei Kasper zueinander).

Genug! Lest selbst mehr davon. Und haltet euch dran. Aber nicht sklavisch.

Süddeutsche Zeitung Magazin: „Wann kommt das Salz ins Nudelwasser?“ Die wichtigsten Küchenfragen ein für alle Mal geklärt – Expertenwissen kurz und knapp. DuMont Verlag, 176 Seiten, 20 Euro.




Die Wahrheit hinter der Wahrheit – Ralf Rothmanns „Museum der Einsamkeit“

Als Prosaautor debütierte Ralf Rothmann 1986 mit der Erzählung „Messers Schneide“, sein erster Roman, „Stier“, kam 1991 heraus und wurde gleich im „Literarischen Quartett“ besprochen. Seitdem sind 20 weitere Bücher des in Schleswig geborenen, im Ruhrgebiet aufgewachsenen und seit vielen Jahren in Berlin lebenden Autors erschienen. Jetzt legt er unter dem Titel „Museum der Einsamkeit“ eine Sammlung von Erzählungen vor.

Menschen hadern mit ihrem Leben, brechen auf in neue Ungewissheit, fürchten sich vor dem Tod, verfallen in existenzielle Einsamkeit. Rothmann erzählt von den Mühen des Alltags, der Furcht vor dem Alter, dem Ärger mit Berufskollegen und Nachbarn, der Trauer um eine kaputte Ehe, von Ratlosigkeit und Verzweiflung eines Jungen, der allein zu Hause ist und auf seinen kleinen Bruder aufpassen muss, während seine Eltern sich eine Auszeit vom Arbeitsalltag gönnen und die Nacht durchtanzen.

Einmal beschreibt Rothmann, wie jemand zeitlebens von den Furien einer Kindheits-Erinnerung geplagt wird, sich nach 50 Jahren aufmacht, um einen einst von ihm drangsalierten Mitschüler um Verzeihung und Vergebung zu bitten – und damit eine Kette von Ereignissen lostritt, die nur neues Leid und neue Schuld bewirken. Oder er schildert das Leben einer enttäuschten Frau, die aus der Einsamkeit der Provinz in die Anonymität der Großstadt geflohen ist. Jetzt, an der Schwelle zum Alter, begleitet sie ihre greise Mutter beim Kauf eines Apartments in einer Senioren-Residenz mit Meeres-Blick: Die Mutter hat nach dem Tod ihres Mannes ihr Haus in Süddeutschland verkauft und hofft, die Einsamkeit des Alters in einer idyllisch verklärten Umgebung am Meer vertreiben zu können, natürlich vergeblich.

Kleine Episoden aus dem Leben einzelner Protagonisten, verdrängte Erinnerungen, kurz und knapp erzählt; Stories, die einen romanhaften Schatten werfen und genügend Freiraum und Luft für die Fantasie des Lesers lassen. In der finalen Erzählung, „Psalm und Asche“, geht es dann um viel mehr: die Vernichtung der europäischen Juden, darum, wie die Opfer in Vieh- und Güterwagen in die Vernichtungslager transportiert werden, die Mörder später ihre Taten leugnen, verdrängen und schön reden. Die Verteidigungsrede des Nazi-Täters, der meint, immer nur seine Pflicht getan und Befehle ausgeführt zu haben, wird collagiert mit der Stimme einer jüdischen Frau, die auf dem Transport in den Tod ist und sich um das Baby einer Verstorbenen kümmert, die Reste einer Schokolade mit ihrem Speichel verdünnt und dem greinenden Baby als süßlichen Ersatz für fehlende Muttermilch in den zahnlosen Mund gibt.

Einer anderen Frau im Waggon, die sich immer noch von irgendwo her Hilfe erhofft, entgegnet sie: „Wieso sollte uns jemand helfen? Nichts und niemand wird das tun. Auch Klagen hilft nichts. Es raubt dir die Kraft, die du dafür brauchst, das Ende zu akzeptieren. Das Letzte im Innern, die Wahrheit hinter der Wahrheit, kann dir sowieso niemand nehmen. Wenn du das verstehst, bist du frei, und das Leben ist wieder wunderbar, auch hier, auch in diesem Moment.“ Wen das kalt lässt, dem ist wahrlich nicht zu helfen. Rothmann ist ein Meister der sprachlichen Magie, ein großer Erzähler, der ein tief-trauriges, wunderbares Buch geschrieben hat.

Ralf Rothmann: „Museum der Einsamkeit“. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025, 268 Seiten, 25 Euro.




Peppa Pig, die KI und der Rest

Familienaufstellung der kunterbunten Schweinchenfamilie, wie sie von der Firma Simba Toys hergestellt wird (von links): Mama Pig, Peppa Pig, George, Papa Pig. Mittlerweile ist noch das Baby Evie hinzu gekommen. (Foto: Bernd Berke)

Alle Welt schreibt und/oder podcastet über Künstliche Intelligenz (KI, anglophon bekanntlich AI abgekürzt). Jetzt hatte ich auch so ein kleines, aber bezeichnendes Erlebnis damit. Wie auf diesem Felde üblich, war es gleichermaßen faszinierend und erschreckend.

Es ging mir darum, eine bestimmte Szene (fröhliches Mädchen auf der Waage bei der Kinderärztin) mit dem berühmten Comic-Schweinchen Peppa Pig („Peppa Wutz“) darzustellen. Meines Wissens existierte eine solche Szene im Peppa-Kosmos noch nicht. Also habe ich mal bei ChatGPT angefragt, ob sich da was machen ließe…

Frau Mümmel als Kinderärztin

Und siehe da: Die wohl bekannteste aller KI-Apps ließ sich nicht lange lumpen. Zwar bat sie um ein paar Minuten „Bedenkzeit“, weil es gerade eben so viele Bildanfragen gebe. Doch nach ca. 3 Minuten hatte sie es und legte eine Zeichnung vor, die man kaum oder gar nicht von anderen, originalen Peppa-Kreationen unterscheiden konnte. Tatsächlich stand Peppa frohgemut auf der Waage – und neben ihr die zünftig mit Stethoskop und anderen Insignien ausgerüstete Kinderärztin, verkörpert von „Frau Mümmel“, der stets in mancherlei Rollen schlüpfenden Häsin.

Was würde Boris Johnson sagen?

Selbstverständlich werde ich das erstaunliche Resultat hier nicht ausbreiten, denn ich möchte – anders als offenbar die KI-Betreiber – partout nicht mit dem bislang üblichen Urheberrecht in Konflikt geraten. Täuschend ähnlich das Personal, täuschend ähnlich (oder vielmehr: frappierend gleich) der Stil. Selbst für kleine und große Fachleute absolut verwechselbar. Keine nennenswerte Distanz oder eigene „Schöpfungshöhe“, wie die Juristen sagen. Was wohl der erklärte Peppa-Fan Boris Johnson, Ex-Premierminister von Großbritannien, dazu sagen würde? Vermutlich ließe sich der Politclown etwas immens Schnoddriges, halbwegs Witziges einfallen. Doch was hülfe es?

Urheberrecht? Muhahaha!

In ähnlicher Weise, wenn auch jeweils mit etwas anderem Drall, hätte sich die besagte Szene nach Art anderer Figuren nachbilden lassen, beispielsweise mit Loriotschen Knollennasenmenschen, nach Asterix-Art, nach „Peanuts“-Vorbild oder im Stile eines US-Undergroundzeichners wie Robert Crumb oder Gilbert Shelton. In allen Fällen wären Urheberrechte eklatant verletzt worden.

Es scheint so, als hätte sich schon der bloße Gedanke des Urheberrechts weitgehend erledigt; ganz gleich, ob Text, Bild oder Video betreffend. Wie will man das jemals wieder einfangen und zurückholen? Überdies ist vermutlich auch die einstmals bedeutsame Unterscheidung zwischen echt und unecht, zwischen wahr und falsch obsolet. Längst schon eine Binse, ich weiß. Aber wenn jetzt schon die niedlichen Schweinchen gefälscht werden…




Flaschenpost aus finsteren Zeiten – Sebastian Haffners Roman „Abschied“

Ob Männer oder Frauen, alle umschwirren die geheimnisvolle Teddy wie Motten das Licht. Vor den strengen Eltern ist sie von Berlin nach Paris entflohen. Hier haust sie in einer Mansarde, flaniert auf den Boulevards, streift durch Museen, feiert mit Freigeistern und Lebenskünstlern das Jetzt.

Um seiner früheren Geliebten wieder nah zu sein, hat sich Rechtsreferendar Raimund Pretzel ein paar Tage von seinem tristen Berliner Alltag losgeeist und sich auf den Weg nach Paris gemacht, genießt das Glück des Augenblicks und freut sich über jeden Kuss, den er von seiner Angebeteten erbetteln kann. Die Zeit fliegt nur so dahin. So viel gäbe es noch zu erleben in dieser Stadt der Liebe und der Kunst! Doch der Zug, der Raimund zurück nach Berlin bringen wird, wartet nicht. Die Stunde des Abschieds naht, und beide wissen, es wird ein Lebewohl für immer sein. Denn am Horizont lauert bereits der Zivilisationsbruch, der das Böse an die Macht bringen, die Welt ins Kriegs-Chaos stürzen und den Untergang einer ganzen Epoche herbei führen wird.

Aus den Tiefen der Archive ist jetzt ein Manuskript aufgetaucht, eine Flaschenpost aus der Vergangenheit, eilig hingeworfen im Herbst 1932 von einem vierundzwanzigjährigen Autor, der sein eigenes Leben in Literatur verwandelt, mit prophetischer Gabe die große Katastrophe kommen sieht und „Abschied“ nimmt von allem, was ihm bis dahin lieb und teuer war.

Raimund Pretzel, den Erzähler des bisher unveröffentlichten Romans, hat es wirklich gegeben. Und alles, was er so temporeich und freizügig beschreibt, auch seine unerwiderte Liebe zur lebensfrohen Teddy, beruht auf realen Erlebnissen. Wir kennen ihn heute besser als Sebastian Haffner, also unter jenem Namen, den der ehemalige Jurist, der den Nazis nicht länger dienen wollte und sich lieber mit journalistischen Arbeiten durchschlug, annahm, nachdem er 1938 Deutschland verließ und seiner jüdischen Frau nach Großbritannien folgte. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil wurde er ein zentraler und meinungsstarker Publizist der Bonner Republik und entschlüsselte mit seinen „Anmerkungen zu Hitler“ auf der Folie gesellschaftlicher Verwerfungen die politischen Abgründe und massenpsychologischen Dimensionen des Faschismus.

Teddy, die im Roman die Vielfalt des Lebens feiert und jede Engstirnigkeit verabscheut, hieß im wahren Leben Gertrude. Als Jüdin ahnte sie früh, was auf sie zukommen würde und kehrte Berlin 1930 den Rücken. Nur einmal noch, 1933, kehrte sie kurz nach Berlin zurück und nahm Abschied von Deutschland und von Raimund, den sie noch einmal mit ihrem Pariser Duft und ihrer französischen Freiheitsliebe verzauberte.

Bis ins hohe Alter haben die beiden, die im Roman gemeinsam durch Paris irrlichtern, bevor sie Abschied nehmen und in den Höllenschlund der Vernichtung blicken, lockeren Kontakt gehalten.

Sebastian Haffner: „Abschied“. Roman. Mit einem Nachwort von Volker Weidermann. Hanser, 192 Seiten, 24 Euro.




Erfolgreiche Spenden-Aktion: Münter-Gemälde kann für Dortmund angekauft werden

Um dieses Bild geht es in Dortmund: Gabriele Münter „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris“), 1930 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Weiterer Nachtrag als neuer Vorspann, weil es einen entscheidend anderen, durchaus erfreulichen Sachverhalt gibt: Gabriele Münters Gemälde „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris) von 1930 kann fürs Museum Ostwall im Dortmunder U angekauft werden. Das entsprechende Crowdfunding-Projekt hatte – nach zögerlichem Beginn – doch noch Erfolg. Es wurden sogar etwas mehr Mittel als die benötigten 75000 Euro eingeworben, nämlich 77620 Euro = 103% (Stand vom 2. Juni, 14 Uhr).

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Blick zurück ohne Zorn: Anfangs hatte es nicht so rosig ausgesehen. Am 29. März hieß es (eher missmutig) bei den Revierpassagen:

Bleiben wir zunächst einmal trocken sachlich und regen uns (noch) nicht gleich auf. Das Dortmunder Museum Ostwall, für die bildende Kunst bei weitem das erste Haus am Platze, wird in diesem Jahr 75 Jahre alt. Die vereinigten „Freunde des Museums Ostwall“ (Freundinnen sind natürlich auch dabei) wollen dem im „Dortmunder U“ ansässigen Institut zum Jubiläum ein Bild schenken, das sich zum Sammelschwerpunkt Expressionismus fügt und von einer sehr bekannten Künstlerin stammt: „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris)“, 1930 von Gabriele Münter gemalt. Ganz bewusst wurde das Bild einer Künstlerin ausgewählt, denn Frauen sind bislang im Museumsbestand stark unterrepräsentiert.

Die „Freunde des Museums Ostwall“ geben für den Ankauf 30000 Euro, hinzu kommt „eine bedeutende Summe“ der Dortmunder Kulturbetriebe und ein Beitrag des Museums selbst. Um weitere 75000 Euro für den Kaufpreis aufzubringen, wurde – mit Unterstützung der örtlichen Volksbank – am 3. März ein Crowdfunding-Projekt gestartet. „Viele schaffen mehr“ heißt die Plattform, auf der sich das Geldsammeln abspielt. Bis zum 1. Juni soll der Betrag beisammen sein. So weit, so gut.

Von 75000 Euro noch ganz weit entfernt

Doch jetzt kommt’s, jetzt wird’s betrüblich bis beschämend: In der eh nicht sonderlich als Heimstatt der Kunst glänzenden Stadt mit ihren rund 600000 Einwohnern haben sich bislang (Stand 29. März mittags, also nach immerhin 26 Tagen) gerade einmal 19 Spenderinnen und Spender gefunden, die insgesamt 1575 Euro aufgebracht haben. Das sind gerade einmal knapp 2 Prozent der angestrebten Summe. Es ist also wahrlich noch ein weiter Weg bis zu den benötigten 75000. Dabei wurden Informationen über  das Sammelprojekt inzwischen an die regionalen Medien gereicht, die auch etwas dazu veröffentlicht haben. Zu vermuten steht, dass einige große Firmen der Stadt (Namen bitte hinzudenken) offenbar lieber – derzeit auch nicht eben fruchtbringende – Sponsoren-Millionen in Richtung Borussia Dortmund werfen, während das kulturelle Leben beiseite steht. Gern ließen wir uns eines Besseren belehren.

Nur der Schatten einer vitalen Stadtgesellschaft

Mehr noch: Unter den bisherigen Spendern finden sich Leute, die anonym bleiben möchten. Andere hingegen sind eindeutig zu identifizieren als Menschen, die dem Museum beruflich eng verbunden sind. Ein Nachname taucht allein dreifach auf, da hat sich offenbar die halbe Familie eingebracht. Aus der oftmals beschworenen „Stadtgesellschaft“ (aka Zivilgesellschaft), die hier eh nicht gerade imponierend breit gefächert ist, ist kein wesentlicher, zählbarer Zuspruch zu vernehmen.

Man stelle sich vor: Nähme man die Dortmunder „19″ zum Maßstab, kämen im ungefähr doppelt so großen München (was die Einwohnerzahl betrifft) dementsprechend nur 38 Spendenbeiträge zusammen, im etwa dreimal so großen Hamburg lediglich 57. Eigentlich undenkbar. Dort würden die privaten Finanzquellen gewiss ungleich reichlicher sprudeln. Das bürgerschaftliche Engagement ist in Dortmund, allem Strukturwandel des Reviers zum Trotz, immer noch vergleichsweise unterbelichtet. Wir haben es ja geahnt, doch jetzt haben wir wohl ein weiteres Indiz.

Hier der Link zur Crowdfunding-Plattform: https://www.viele-schaffen-mehr.de/projekte/expressionistin-fuer-museum-ostwall

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Nachtrag am 1.4.2025: Na, da schau her! Stand 1. April (ca. 11.30 Uhr) sind es nunmehr 25 Spenden mit einem Gesamtbetrag von immerhin 9575 Euro, was rund 12 Prozent der erstrebten 75000 Euro entspricht.

Nachtrag am 10.4.2025, abends: Nun, es läppert sich offenbar doch noch. Jetzt sind es 45 Unterstützerinnen und Unterstützer, die insgesamt 22730 Euro beigesteuert haben, also rund 30 Prozent der angepeilten Summe.

Nachtrag am 7.5.2025, abends: Rund 80 Spenden summieren sich nun zu 49790 Euro, etwa 66% der Zielsumme. Wie heißt es in derlei Fällen so schön: „Da geht noch was“.




Hol dir, gönn dir!

 

Genau! Alles, und zwar jetzt. Sofort! (Foto: Bernd Berke)

Wie war das noch, vor soundsovielen Jahren, als im 68er-Umfeld der „Konsumterror“ lauthals angeprangert wurde?

Damals lösten gerade erst einige Supermärkte die bis dahin gängigen „Tante-Emma-Läden“ ab. Welche eine vergleichsweise beschauliche Verbraucherwelt das noch gewesen ist! Was hätte man bloß gesagt, hätte man kommen sehen, was wir heute haben – mit allseits in letzte Winkel und Ritzen dringendem Internet-Wahnwitz und obenauf gesetzter „Künstlicher Intelligenz“, die sich in alles hineinfrisst und sich alles einverleibt. Nun, da man gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht und wo es noch Restbestände von vermeintlicher Wirklichkeit gibt.

Allüberall wird man verbal, bildlich und medial verfolgt, gnadenlos, ohne Unterlass: „Hol dir“, „Gönn dir“, „Sichere dir“. Versäume nicht, zögere nicht, ergreife den Vorteil, sichere dir Premium, Premium Plus oder Pro. „Ergattere“ dies und jenes, schlage anderen ein Schnippchen, hol dir das Schnäppchen, den Schnapper. Exklusiv. Nur für Dich! Das große Gelingen. Eigentlich kein übles Wort, jedoch dem verbalen Missbrauch preisgegeben.

Immerzu ist Sale, Angebote und Preise sind mega, ja giga. Alles ist Hammer! Geiz ist geil, immer noch, obwohl dieser Spruch schon älter ist. Und ständig herrscht Beben. Mark(t)erschütternd. Schon morgen kann es zu spät sein, vielleicht hört die Gelegenheit schon gleich auf. Carpe diem! Yolo! Du lebst nur einmal. Hau rein. Deal!

Und wenn nicht? Dann Apokalypse. Dann Doomsday. Dann Untergang. Finale Finsternis. Und damit Tschüss, nech?!