Groteske Sozialkritik im Asia-Restaurant: In Hagen startet eine neue Intendanz mit Peter Eötvös‘ „Der Goldene Drache“

Spielfreudiges Ensemble (von links): Nike Tiecke, Anton Kuzenok, Angela Davis, Kenneth Mattice, Ks. Richard van Gemert. (Foto: Leszek Januszewski)

Abschied und Neubeginn: Mit dem ehrgeizigen Projekt einer Uraufführung hat Intendant Francis Hüsers in Hagen noch einmal für einen Höhepunkt gesorgt. Auch sein Nachfolger Søren Schuhmacher bekennt sich zum Musiktheater der Gegenwart.

„American Mother“, die Oper der amerikanischen Komponistin Charlotte Bray, einfühlsam inszeniert von Travis Preston und vom Orchester unter dem ebenfalls scheidenden GMD Joseph Trafton auf makellosem Niveau gespielt, setzte einen tief bewegenden Schlusspunkt unter Hüsers achtjährige Intendanz.

Schuhmacher wird sich am 4. Oktober mit einem Klassiker, Verdis „La Traviata“, als Regisseur vorstellen. Seine auf fünf Jahre angelegte Intendanz eröffnet er jedoch mit Zeitgenössischem: „Der goldene Drache“ des im letzten Jahr verstorbenen Peter Eötvös stellt zugleich das neue Format „CloseUP!“ vor: Das Publikum darf auf die Bühne, sitzt auf drei Seiten um eine zentrale Spielfläche. Die vierte Seite, zum offenen Bühnenportal und dem leeren Zuschauerraum hin, besetzen die sechzehn Musiker des Orchesters.

Seit der Uraufführung 2014 in Frankfurt wird „Der goldene Drache“ häufig gespielt. Das liegt sicher auch an der perfekten Machart der Vorlage, einem Schauspiel von Roland Schimmelpfennig, das 2010 zum „Stück des Jahres“ gekürt wurde. Die Story dreht sich um einen jungen, illegal in einem Schnellrestaurant arbeitenden Chinesen mit wahnsinnigen Zahnschmerzen. Da er nicht zum Zahnarzt gehen kann, reißen ihm die Kollegen den kariösen Zahn mit einer Rohrzange. Der „Kleine“ verblutet; sein Leichnam wird in einen Fluss geworfen.

Lakonisches Erzählen und surreale Komödiantik

Wie Schimmelpfennig verbindet Eötvös sozialkritischen Realismus mit grotesken Zügen, verwebt in das Drama des „Kleinen“ die alte Fabel von der Grille und der Ameise. Sie wird zum schockierenden Gleichnis ausbeuterischer Abhängigkeit und sexuellen Missbrauchs. Kennzeichnend für die stark gekürzten Textfassung, die Eötvös in Absprache mit Schimmelpfennig für sein Musiktheater erstellt hat, ist das Ineinandergreifen von lakonischem Erzählen und surrealer Komödiantik, die einmünden in eine fantastische Übersteigerung am Ende, wenn der „Kleine“ als Toter übers Meer nach Hause schwimmt.

Der Monolog des toten jungen Chinesen ist das einzige ariose Innehalten in den gut 90 Minuten und sprengt die Erzählebenen. Wenn zuletzt der gezogene Zahn in einen Fluss gespuckt wird, erinnert die absurde Szene nicht nur an den von Eötvös geschätzten Samuel Beckett, sondern reißt einen transzendenten Horizont auf: Der junge Mensch und sein Zahn sind im Fließen des Wassers wieder vereint. „Der Zahn ist weg, als ob er nie dagewesen wäre“, ist der letzte Satz des Stücks.

Zwischen leichtfüßigem Boulevard und verstörender Intensität

In ihrer Inszenierung in Hagen bricht Julia Huebner den Strang des Erzählens auf, gibt den realistisch anmutenden Abschnitten in der beengten Küche des Asia-Restaurants einen verfremdenden Touch von überzogenem Boulevard, setzt die Fabel-Szenen der Grille durch eine Gondel und Live-Videos auf Distanz, lässt sie dadurch gleichzeitig verstörend eindringlich wirken.

Das Spiel der fünf Hagener Ensemblemitglieder, die in achtzehn Rollen schlüpfen, hat Züge des Impro-Theaters und wirkt leichtfüßig und überzogen, als käme es von der Bretterbühne eines Jahrmarkts. Die Kostümwechsel auf offener Szene (punktgenau karg von Iris Holstein) unterstreichen die Distanz vom naturalistischen Spiel und heben die Extreme und Kontraste hervor, auf die Eötvös abgezielt hat.

Mit der Musik von Peter Eötvös demonstrieren die Hagener Musikerinnen und Musiker, wie vertraut sie mittlerweile mit dem Idiom zeitgenössischer Klänge und Strukturen sind. Steffen Müller-Gabriel spornt an, wo es um rhythmische Pointen oder Klangakzente geht, dämpft aber ab, wo untergründiges Flüstern, dünnwandige Tongebilde und verhaltene Akkorde gefragt sind. Eötvös‘ setzt nicht auf Schärfe und Überwältigung, aber auch nicht auf süffiges Illustrieren. Er nimmt Anleihen bei Kabarett- und Operettenmusik, lässt dem Sprachrhythmus und dem verständlichen Wort stets den Vortritt. Wenn sich die Leichtigkeit verdichtet, bilden sich magisch schillernde Blasen luftigen Klangs.

Angela Davis in „Der Goldene Drache“, u.a. als Ameise. (Foto: Leszek Januszewski)

Das Hagener Ensemble mit Angela Davis, Anton Kuzenok, Richard van Gemert, Kenneth Mattice und der leichtstimmigen, ursprünglich aus dem Musical kommenden Sopranistin Nike Tiecke als „Kleinen“ findet die Balance zwischen Disziplin und Momenten grotesker Übertreibung. Ein gelungener Start in die neue Spielzeit, der hoffen lässt, dass Schuhmacher das bisherige Niveau in Hagen hält und durch neue Akzente bereichert.

Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/der-goldene-drache-1926/0/show/Play/




Wie Isabel Allende die Vorgeschichte vom „Geisterhaus“ erzählt

Sie ist seit vielen Jahren ein Star der internationalen Literatur. Die Bücher von Isabel Allende, die 1982 mit „Das Geisterhaus“ ein fulminantes Debüt feierte, haben Bestseller-Garantie und sind in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden. Ihr neuer Roman, „Mein Name ist Emilia del Valle“, erscheint bei uns in einer Startauflage von 100.000 Exemplaren.

Erzählerin Emilia ist die Tochter einer bibelfesten Irin, die sich auf das Leben als Nonne vorbereitet, dann aber den erotischen Avancen eines chilenischen Aristokraten aus dem Hause del Valle erliegt: ein Luftikus und Lebemann, der sein Erbe in den Bordellen und an den Spieltischen der Welt wegwirft und sich aus dem Staube macht, wenn es Probleme gibt.

Emilia muss mit dem Zorn ihrer Mutter auf den faulen und feigen Erzeuger leben, aber in ihrem Stiefvater, der sich ihrer annimmt, findet sie einen weisen Ratgeber, der sie stets ermutigt, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie macht Karriere mit Groschenromanen, in denen starke Frauen sich an erbärmlichen Männern rächen. Als Star-Reporterin erkundet sie die Welt und setzt alles daran, die Geheimnisse ihrer Familiengeschichte zu lüften, um ihre wahre Identität und eigentliche Heimat zu finden: eine spannende Mischung aus Abenteuer- und Emanzipation-Roman und ein Buch über entfesselten Bruderhass und sinnloses Töten.

Auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln reist sie als Kriegsreporterin in das von politischen Unruhen und sozialen Missständen erschütterte Chile, erlebt einen Alptraum aus Bürgerkrieg und Blutrache, gerät zwischen die Fronten, wird verletzt und gefoltert, muss mit ansehen, wie die siegreiche Partei, die angeblich die Demokratie retten und das Land modernisieren will, zum mordenden und brandschatzen Mob mutiert.

Es ist die Geschichte einer Frau, die sich von Konventionen befreit und gegen gesellschaftlichen Vorurteile und beruflichen Widerstände rebelliert, sich gegen die Konkurrenz männlicher Kollegen behauptet, sich sexuell freizügige Liebesabenteuer gönnt und es mit den Mächtigen aus Medien und Politik aufnimmt. Überraschend ist,  dass Isabel Allende das, was so zeitgeistig anmutet, in eine über 100 Jahre zurückliegende Vergangenheit transferiert: in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und in eine Epoche des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Umbruchs.

Der Goldrausch ist vorbei, bittere Armut herrscht in San Francisco, als Emilia 1866 dort zur Welt kommt. Aber früh entdeckt sie ihr Schreibtalent und erstreitet sich, erst noch unter männlichem Pseudonym, später unter ihrem richtigen Namen, ihren Platz in der von Männern beherrschten Welt von Literatur und Journalismus. Isabel Allende schildert diesen Kampf um berufliche Anerkennung und individuelle Freiheit mit aufrüttelnder Klarheit. Wenn es aber um die erotischen Obsessionen von Emilia oder um ihre Exkursion in die chilenische Wildnis geht, wo sie in absoluter Einsamkeit auf den Grund ihrer verletzten Seele schauen will, erhält der Roman eine Schlagseite ins Kitschige und Banale.

Zum Glück hat die Autorin überraschende Momente und raffinierte Varianten im Köcher: Immer wieder würfelt sie geschickt die Zeit- und Erzähl-Ebenen durcheinander, spult vor und zurück, vervielfacht die Fiktion, indem sie den Gang der Handlung mit Zeitungs-Artikeln aus der Feder von Emilia collagiert, schließlich noch Briefe von Emilias Bekanntschaften und Liebhabern einstreut.

Fast vergisst man, dass hier eine durch Zeit und Raum geisternde Stimme am Werk ist, die es den Lesern überlässt, ob sie merken, dass man ihren Bericht auch als Epilog zum „Geisterhaus“ lesen kann. Hatte doch Isabel Allende darin die Geschichte der Familie del Valle vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Zeit der faschistischen Pinochet-Diktatur ausgebreitet und auf der Folie der literarischen Fiktion Momente ihrer eigenen Familiengeschichte berührt.

Emilia gibt keinen Hinweis auf die Zukunft, die sie nicht kennen kann, die sich aber im „Geisterhaus“ offenbaren wird. Dass der Verlag die Verwandtschaft der beiden Romane im Klappentext und in der Werbung verschweigt, ist allerdings etwas seltsam.

Isabel Allende: „Mein Name ist Emilia del Valle“. Roman. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp Verlag. 359 S., 28 Euro.

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Info: Geboren wird Isabel Allende 1942 in Lima als Tochter eines chilenischen Diplomaten. Weitläufig verwandt ist sie mit dem von der faschistischen Militär-Junta 1973 gestürzten chilenischen Präsidenten Salvador Allende. Ihr Roman-Debüt „Das Geisterhaus“ wurde vom dänischen Regisseur Bille August 1993 erfolgreich verfilmt. Für ihr umfangreiches Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.




Eisiger Schauer für Barbarossas Knochen: Verdi und Rossini zur Saisoneröffnung in der Philharmonie Essen

Der Dirigent Riccardo Chailly in der Philharmonie Essen. (Foto: Brescia e Amisano ©Teatro alla Scala)

Erfreulich, dass Riccardo Chailly mit Orchester und Chor des Teatro alla Scala beim Saison-Eröffnungskonzert der Essener Philharmonie einmal nicht den Schlager aller Chorschlager mitgebracht hat. Statt „Va pensiero“ aus Giuseppe Verdis „Nabucco“ eröffnen sie ihr Konzert mit italienischer Opernmusik von Verdi und Rossini mit einer mitreißenderen Hymne als dem „Gefangenenchor“: „Viva Italia“, der Einleitungschor aus Verdis vernachlässigter „La Battaglia di Legnano“.

Man spürt den Kampfgeist des Risorgimento, den Enthusiasmus der italienischen Einigungsbewegung: Ein „heiliger Pakt“, so heißt es, verbinde die Söhne Italiens (die Töchter waren damals nicht gefragt), mache sie zu einem Heldenvolk. Ein eisiger Schauer möge die Knochen des wilden Barbarossa durchfahren!

Viel eindringlicher als im „Nabucco“, der erst im Zuge der Auseinandersetzung mit den österreichischen Besatzern seinen nationalrevolutionären Anstrich erhielt, formuliert Verdi hier sein Ideal der Einigung Italiens. Die Ouvertüre zur „Schlacht von Legnano“, in der es um den Sieg der Lombardischen Städteliga über Kaiser Friedrich Barbarossa anno 1176 geht, ruft den unwirschen, roh-lapidaren Ton der Frühwerke auf, aber der lyrische Teil steht auf der Höhe der folgenden Opern „Luisa Miller“ und des bedeutenden, immer noch nicht gerecht geschätzten „Stiffelio“. Filigrane Bläser und hymnische Tutti, vom Scala-Orchester mit Saft und Sensibilität gespielt, tauchen Verdis Melodien in glühende Kantilenen; der Chor beginnt verhalten a cappella und steigert sich gegen den „wilden Barbarossa“ in schäumendes Forte. Ein fulminanter Auftakt!

Auch mit Vorspiel und Einleitungschor zur Oper „I due Foscari“ stellen Chailly und seine Ensembles ein Werk vor, das mehr Beachtung verdient hätte. Chailly hat es schon als junger Dirigent zum 200-Jahr-Jubiläum der Scala 1978 dirigiert und aus seinem Dornröschenschlaf erweckt. Der Chor „Silenzio, mistero“ fängt die unheimliche Atmosphäre eines nächtlichen Venedig ein, das nicht romantisch verbrämt, sondern ein düsterer Schauplatz von Verrat, Intrige und Lebensgefahr ist.

Weniger glücklich programmiert sind die anschließenden Ausschnitte aus „La Traviata“ und „Otello“. Die Chorstretta am Ende des Festes bei Violetta („Si ridesta in ciel l’aurora …“) eignet sich als Zugabe („Es ist Zeit für uns, zu gehen …“), hat aber als vorbeihuschendes Presto zu wenig Substanz, um für sich allein zu stehen. Auch die beiden Chöre der Wahrsagerinnen und der Stierkämpfer aus dem zweiten Akt, dem Fest bei Flora, sind mit ihrer prägnanten Rhythmik und ihrer koloristischen Melodik reizvolle Stücke, die ihre Wirkung aber eher im szenischen Zusammenhang als im Konzert entfalten. Ähnlich die Chöre aus „Otello“.

Leuchtender Klang und breites Ausdrucksspektrum

Dass die Sängerinnen und Sänger aus Mailand unter ihrem Direktor Alberto Malazzi einen leuchtend-kernigen Klang pflegen und selbst zwischen dem fahlen „sotto voce“ – der Meisterschaft halblauten Singens – und einem plastischen Pianissimo über ein breites Ausdrucksspektrum verfügen, bleibt unbestritten. Die Musiker des Scala-Orchesters wissen natürlich, wie sie einen Bogen spannen, wie sie Bläser und Streicher abmischen und wie in bläserbewehrten Tutti ein transparenter Klang bewahrt wird. Chailly hält stets einen Rest von Reserve aufrecht; so klingt das Vorspiel zu „La Traviata“ nicht depressiv-wehmütig, sondern resigniert-erhaben.

Dieses Ideal eines polierten, strahlenden, aber expressive Emphase meidenden Klangs kommt im zweiten Teil des Konzerts den Ausschnitten aus Gioachino Rossinis „La gazza ladra“, „Semiramide“ und seinem „Tell“ – hier in der italienischen Fassung als „Guglielmo Tell“ – entgegen. In der „Diebischen Elster“ sind die beiden kleinen Trommeln zwar am äußeren linken und rechten Rand des Ensembles positioniert, aber die Echo-Wirkung wird nicht realisiert. Die Dynamik bleibt gedämpft – somit spielt sich keine Szene ab, sondern die Musik bleibt auf Distanz.

Energie und Noblesse in Rossinis Chören

Die vordergründig malerische Ouvertüre zu Rossinis letzter Oper mag Chailly nicht dramatisch eindringlich aufladen. Im Orchester hat die Cello-Gruppe einen glänzenden Auftritt; auch die Holzbläser, namentlich die Flöten, verschlingen sich makellos in ihren melodischen Arabesken. Die finale Attacke wird weder im rhythmischen Biss noch in der Lautstärke vulgär übertrieben – das tut dem Stück gut. Wirkungsvoll gestaltet ist der Chor aus der 13. Szene der „Semiramide“, „Ergi omai la fronte altera, regio Eufrate“. Da lassen die Scala-Choristen die Nähe zu Verdi und damit die expressive Kraft Rossinis spüren; der wuchtige Chorklang hat Energie und Noblesse.

Auch der Chor der Schweizer aus der zweiten Szene des Dritten Akts von „Guglielmo Tell“ mit dem Wechsel von Soldaten und Frauen und dem Passo a tre für das Ballett ruft szenische Assoziationen hervor und verbirgt nicht, dass dieser Moment vor den Augen Geslers mit untergründiger Aggression aufgeladen ist, die sich im scheinbar so harmlos-folkloristischen Bordun der Männerstimmen artikuliert. Jubel des Essener Publikums für einen dankbaren Abend voller Italianità.

Große Orchester in Essen zu Gast

Die Philharmonie Essen startete mit diesem Konzert in eine neue Spielzeit, deren Programm weitere weltweit bedeutende Orchester wie das London Symphony Orchestra (5. Oktober), das Israel Philharmonic Orchestra (1. November), die Wiener Symphoniker (14. November) und das London Philharmonic Orchestra (4. Dezember) enthält. Zu Gast sind Dirigenten wie Daniele Gatti, Philippe Herreweghe, Marie Jacquot, Klaus Mäkelä, Sir Antonio Pappano, Raphaël Pichon, Petr Popelka, Sir Simon Rattle oder einer der Porträtkünstler der Saison, Maxym Emelyanychev.

Neben der Geigerin Carolin Widmann und der Jazz-Legende Nils Landgren gehört zum Quartett der Porträtkünstler auch der Dirigent Lahav Shani. Der Musikdirektor des Israel Philharmonic und designierte Chefdirigent der Münchner Philharmoniker geriet über seine künstlerische Tätigkeit Mitte September in die Schlagzeilen, als er und die Münchner Philharmoniker vom Flanders Festival in Gent in Belgien ausgeladen wurden. Als Grund wurde angegeben, der in Tel Aviv geborene, 36 Jahre alte Dirigent habe sich nicht eindeutig von der israelischen Regierung distanziert. Die Absage aus Sorge vor „emotional aufgeladenen Reaktionen“ wurde als Bankrotterklärung vor dem Terror und von Presse und Kulturszene weithin als kruder Antisemitismus gewertet.

Lahav Shani. (Foto: Marco Borggreve)

Auch die Philharmonie Essen stellte sich in einer Stellungnahme im Umfeld des Konzerts der Münchner Philharmoniker in Essen klar hinter ihren Porträtkünstler, der sich vielfach für Dialog und Versöhnung eingesetzt hat. Bei dem Konzert am 13. September in Essen distanzierte sich der belgische Premierminister Bart De Wever noch einmal öffentlich von der Entscheidung des Festivals van Vlaanderen.

Lahav Shani wird in Essen noch zwei Mal zu erleben sein: Am 1. November gastiert er mit dem Israel Philharmonic Orchestra mit Paul Ben-Haims Sinfonie Nr. 2 und dem Fünften Klavierkonzert Ludwig van Beethovens, gespielt von Igor Levit. Am 28. Februar 2026 steht beim Rotterdam Philharmonic Orchestra Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“ auf dem Programm, dazu das Zweite Klavierkonzert Dmitri Schostakowitschs mit Shani in der Doppelrolle als Dirigent und Solist.




Garantie auf Gänsehaut: Das Gesangsoktett VOCES8 sprengte beim Düsseldorf Festival das Kartenangebot

Die „Königin der hohen Töne“ tritt zurück: Andrea Haines, Sopranistin des weltberühmten Vokalensembles VOCES8, wird in diesen Tagen von der Texanerin Savannah Porter abgelöst. Haines wirkte beinahe am längsten an der nunmehr 20-jährigen Erfolgsgeschichte der Formation mit, übertroffen nur von Gründungsmitglied Barnaby Smith. Beim Düsseldorf Festival ergab sich jetzt die wohl letzte Gelegenheit in Deutschland, sie live zu erleben.

Lange Schlangen bildeten sich vor der derzeit eingerüsteten Johanneskirche in der Altstadt, eine der Stationen der aktuellen Europatournee von VOCES8 (sprich: ˈvo:tʃes eɪt). Die Kartennachfrage war so stark, dass die Organisatoren des Festivals das Ensemble baten, sein Konzert zweimal hintereinander zu geben (17 Uhr und 20 Uhr).

Festival-Intendantin Christiane Oxenfort begrüßt das Publikum in der Johanneskirche. (Foto: Albrecht Korff).

Hocherfreut berichtete die Festival-Intendantin Christiane Oxenfort in ihrer Anmoderation von der Zusage. Verständlich, denn wenn diese acht Sängerinnen und Sänger ihre Stimmen zu einem einzigen Instrument verschmelzen lassen, ist Gänsehaut garantiert. Sie haben die Kunst des A-cappella-Gesangs, also der Chormusik ohne instrumentale Begleitung, in neue Sphären gehoben. Das ist wörtlich zu verstehen, denn die Strahlkraft von VOCES8 scheint oft nicht mehr von dieser Welt. Ob ein- oder mehrstimmig, ob leise oder laut: Der Klang ist kristallklar, die Intonation lupenrein, die Sogwirkung unwiderstehlich.

Nachtstücke von der Renaissance bis in die Gegenwart haben die Briten für ihr Programm „Draw on sweet night“ zusammengestellt, benannt nach einem englischen Madrigal von John Wilbye. Die Veranstalter übersetzen das mit „Zieh herauf, süße Nacht“. Gedanklich nahe liegt aber auch das „Verweile doch“ aus Goethes „Faust“, das die Ewigkeit des Augenblicks ersehnt. Die Werkauswahl hat kontemplativen Charakter: Gebete, Nachtlieder, Renaissance-Hymnen und Jazzstandards erklingen in ruhiger Folge.

Die „Queen of high notes“, Andrea Haines (Mitte), in perfektem Zusammenklang mit der Stockholmerin Eleonora Poignant (l.) und Katie Jeffries-Harris. (Foto: Albrecht Korff).

Bewusst – und auch ihrer Tradition folgend – verschränken VOCES8 dabei alt und neu. Thomas Tallis‘ Hymnus „Te lucis ante terminum“ aus dem 16. Jahrhundert lassen sie nahtlos in ein „Nachtgebet“ von Alec Roth aus dem Jahr 2017 übergehen. Schon hier erreicht die Formation den schwebenden Klang einer Glasharmonika. Die Silben des abschließenden „Amen“ setzen sie so samtpfötig voneinander ab, dass man sich nichts sehnlicher als absolute Stille wünschte. Doch der Wochenend-Wahnsinn in der Düsseldorfer Altstadt schickt wummernde Bässe durch die Kirchenwände. Während das Publikum konzentriert lauscht, tobt draußen eine Welt, die kaum mehr Hemmungen kennt.

Im „Nachtlied“ von Max Reger zeigen VOCES8, dass sie sich vor der deutschen Diktion nicht fürchten müssen. Die Textverständlichkeit ist hoch. Melodielinien ohne jeden Bruch zieht die Formation in „Morningstar“ von Arvo Pärt. Dann folgen erste Ausflüge in Jazz-Gefilde. „April in Paris“ von Vernon Duke und Yip Harburg schlendert in der Version des VOCES8-Arrangeurs Jim Clements charmant um die Ecke, samt lautmalerischer Imitation des Schlagzeug-Rührbesens.

In der Weite des Kirchenraums: Das Oktett VOCES8 zeigte sich von der akustischen Situation in der Johanneskirche sehr angetan. (Foto: Albrecht Korff).

An Vincent van Gogh dachte Don McLean bei seinem Stück „Vincent“, dessen Text sich in direkter Rede an den Maler richtet und wehmütig über eine verständnislose Welt nachsinnt. Von Jim Clements als Quintett arrangiert, singt der Tenor Blake Morgan ein Solo wie Samt und Seide, umschmeichelt von den Vokalisen seiner Kolleginnen und Kollegen. Alles ist bittersüße Melancholie, traurig und trostvoll zugleich.

Und damit nicht genug der Wunder. Im „Nunc dimittis“ von Gustav Holst setzen die Stimmen nacheinander ein: Der Gesang wogt wie eine Welle vom Bass-Solo hinauf zum Sopran. Die Frauen und Männerstimmen singen zunächst im Wechsel, steigern sich dann vereint zu einem Fortissimo, das einer Orgel an Durchschlagskraft kaum nachsteht. Dann wieder Streicheinheiten für die Seele, mit „The long day closes“ von Arthur Sullivan und dem ätherischen „Draw on sweet night“ von John Wilbye.

Barnaby Smith (l.) ist Gründungsmitglied und künstlerischer Leiter der berühmten Vokalformation. Seine Kollegen Christopher Moore und Dominic Carver (v.l.) sind für das Bariton- und Bassfundament zuständig. (Foto: Albrecht Korff).

VOCES8 ist nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil die Gruppe sich dem Publikum stark zuwendet. Die Sängerinnen und Sänger moderieren ihr Programm mit einem Schuss charmanter britischer Selbstironie, erklären und vermitteln die Stücke, die sie singen. Dass sie auch Entertainer-Qualitäten besitzen, zeigen sie zum Schluss mit zwei Collagen. Zunächst huldigen sie James Bond, indem sie die Titelsongs „You only live twice“ und „For your eyes only” vermischen. Danach verbinden sie „I get a kick out of you” und „New York, New York” zu einem Potpourri. Applaus und Bravorufe überschütten das Ensemble.

Ein weiterer Höhepunkt des Düsseldorf Festivals findet ebenfalls in der Johanneskirche statt: Vom 8. November an steht die monumentale Messe von Leonard Bernstein auf dem Programm, die als visionäre Reflexion über Glauben und Zweifel gilt. Zum Einsatz kommen drei Chöre, ein Solisten-Ensemble, Orchester und eine Rockband.

(Informationen zum Festival: www.duesseldorf-festival.de)




Auf der Suche nach einer geträumten Melodie: Marc L. Voglers „Klangstreich“ in der Jungen Oper Dortmund

Der Komponist Marc L. Vogler wuchs in Gelsenkirchen auf. (Foto: Christian Palm)

Finn ist nur eine kleine Note, aber mit einem großen Traum. Im Reich der Wünsche und Imaginationen hat sie eine wunderschöne Melodie gehört, die sie nicht mehr loslässt. Davon erzählt „Klangstreich“, eine Oper für Menschen ab vier Jahren, geschaffen von einem 27 Jahre alten Komponisten, uraufgeführt während des Theaterfestes als Auftragswerk der Jungen Oper Dortmund.

Eigentlich gehört die Note in ein Geburtstagslied; da springt sie einfach raus. Das Lied hat jetzt ein Loch. Aber die kleine Note Finn macht sich auf den Weg. Sie begibt sich auf die Suche nach ihrer eigenen, ihrer geträumten Melodie. Und dazu braucht sie Hilfe.

Marc L. Vogler, letzter Schüler von Manfred Trojahn, hat das Libretto von Dany Handschuh – nach dem Kinderbuch „Klangstreich – eine Note tanzt aus der Reihe“ von Inge Brendler – zu einem knapp 40-minütigen Capriccio für drei Sänger verarbeitet. Keine Instrumente, keine Begleitung, nur drei Stimmen: Eine kreative Herausforderung, die überraschend lebendig und farbig gelungen ist.

Vogler – nicht verwandt mit dem einst berühmten schwedischen Hofkapellmeister, Komponist und Musiktheoretiker Abbé Georg Joseph Vogler – hat bereits mit 17 in seiner Heimatstadt Gelsenkirchen als Pianist debütiert. Zwei Monate später, am 15. Januar 2016, kam seine erste Oper „Streichkonzert – Con brio ohne Kohle“ mit einem selbst verfassten Libretto auf die Bühne des Kleinen Hauses des Musiktheaters im Revier. Die Satire kam an; Vogler begann sein Studium bei dem ausgewiesenen Opernkomponisten Manfred Trojahn, gewann 2022 den Deutschen Musikwettbewerb und ist seither in allen musikalischen Genres gefragt und produktiv. In den Spielzeiten 2024/25 und 2025/26 ist Vogler Composer in Residence an der Oper Dortmund. Dort wurden bisher seine Opern „Marie Antoinette oder: Kuchen für alle“ und die Bürger:innenoper „Who cares?“ uraufgeführt.

Im Operntreff des Dortmunder Opernhauses, eine als variable Spielstätte genutzte ehemalige Cafeteria, lassen sich Kinder und ihre erwachsenen Begleitungen in einem kissengepolsterten Rund nieder. Anna Hörling hat die Bühne mit einfachen Requisiten für den mobilen Einsatz, etwa in Schulen, gestaltet: Als Schauplatz der Wanderung der Note Finn genügen ein mannshohes Metronom und ein Paravent mit abknickenden Notenlinien. Da stecken die drei Sänger ihre (Noten-)Köpfe durch und intonieren „Du hast heut‘ Geburtstag …“ Finn (Franz Schilling), schwarz-weiß mit Fliege und kurzer Pluderhose, macht sich auf den Weg: Eine Band probt, und Sängerin Wendy Krikken rockt mit der E-Gitarre, deren jaulende Glissandi und Tonpassagen von Cosima Büsing allein mit der Stimme nachgeahmt werden.

Weiter geht’s in ein Jazz-Café, wo ein – ebenso vokal imitiertes – Plüsch-Saxofon schmeichelt und ein Beatbox-Kontrabass den Rhythmus vorgibt. Aber die ersehnte Melodie bleibt aus: „Die wirst Du hier nicht finden“, bedeutet die Sängerin Antonia der kleinen Note. Wie Prinz Tamino in der „Zauberflöte“ geht Finn seinen Erkenntnisweg weiter, streift durch trocken auf Papier konservierte Musik und durch pseudo-bayerische Jodeljuchzer, bis sich endlich – schwebend, leuchtend, wunderschön – die gesuchte Melodie einstellt. Alle dürfen mitsingen; die Kinder im Publikum, vorher gebannt lauschend, überwinden endlich ihre Scheu vor fremdem Raum und unvertrauten Menschen, und sie machen mit.

Anspruch ist so hoch wie in der „großen“ Oper

Gerade die offene Neugier, das unverbrauchte Gehör und die unverbaute Auffassungsgabe von Kindern und Jugendlichen lässt sie vorbehaltloser als so manchen Klassik- oder Opern-Roué auf zeitgenössische Musik reagieren. Vogler macht keine Kompromisse, um sein Werk „leichter“, „fasslicher“ oder „zugänglicher“ zu gestalten. Er unterscheidet nicht, ob er für die „große“ Oper schreibt oder ob seine primäre Zielgruppe Kinder oder Familien sind. „Die Verantwortung, der Anspruch ist immer derselbe“, sagt der Komponist. „Die Liebe zum Detail, die Begeisterung für die stilistische Vielfalt ist bei einem Kinderstück gleich – wenn nicht noch höher. Denn Kinder sind gnadenlos ehrlich. Wenn ich es schaffe, ein Kinderpublikum mit Musik zu begeistern, dann weiß ich, dass da Qualität drinsteckt.“

Mit „Klangstreich“ wird dieser Anspruch eingelöst – unter erschwerten Bedingungen. Mit nur drei Stimmen, ohne jede Instrumentalbegleitung, die Spannung zu halten und musikalische Abwechslung zu garantieren, fordert von den drei Protagonisten, in jedem Moment präsent und konzentriert zu sein. Dazu kommt die Nähe zum Publikum. Franz Schilling, Wendy Krikken und Cosima Büsing schlüpfen gekonnt in ihre unterschiedlichen Rollen und setzen die polyphone und polystilistische Musik Voglers mit fabelhafter Intonation um. Ob Beatbox oder Kantilene, Geräusch, Gesang oder raffiniert verpacktes „Carmen“-Zitat: Die Drei harmonieren im besten Sinn des Begriffs und entfalten so eine Geschichte, die nicht nur unterhaltsam durch musikalische Genres streift. Die kleine Note Finn, die alleine nur für einen kläglichen Ton steht, findet erst in der Harmonie zu sich selbst und zu ihrem Traum. Wer will, mag darin auch eine berührende humane Botschaft entdecken.

Geplant sind bisher 14 Vorstellungen, zehn davon mobil, der Rest im Foyer des Opernhauses Dortmund. Das Stück ist für Schulen, Gruppen etc. mobil buchbar. Info: crschmidt@theaterdo.de

 




Kliffhänger mit einem Schuss Sakralkitsch: Ruhrtriennale zeigt die Performance „Falaise“

Weiß auf Schwarz: Mit „Falaise“ (Klippe) hat das Kollektiv Baro d’evel ein Gegenstück zu seiner Produktion „Là“ geschaffen. (Foto: François Passerini/Ruhrtriennale)

Sie sind immer kurz vor dem Absturz. Krallen sich mit den Fingerkuppen fest, an Vorsprüngen in der senkrechten Wand. Kraxeln weiter, zwängen sich durch Löcher, die sie zuvor mit den Füßen durch Wände gestoßen haben. Denn auf dieser Bühne sind die Kulissen aus Gips. Was nach Felsen aussieht, bröckelt, bröselt, gerät als Geröll ins Rutschen. Wo ist da noch Halt? „Falaise“ (Klippe), eine Performance des französisch-katalanischen Kollektivs Baro d’evel, zeigt eine Welt kurz vor dem Kollaps – und acht Menschen, die sich durchhangeln.

Die Ruhrtriennale, die das Stück in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks als Deutsche Erstaufführung zeigt, hat damit eine Produktion eingekauft, die sich in keine Schublade stecken lässt. Was Camille Decourtye, Blaï Mateu Trias und ihr Ensemble geschaffen haben, passt zu den genreübergreifenden „Kreationen“, die seit Gründungsintendant Gerard Mortier ein Markenzeichen des Festivals sind.

Wer aufsteigt, kann auch fallen: Szene aus der Produktion „Falaise“ (Foto: Caroline Seidel/Ruhrtriennale)

In „Falaise“ trifft das moderne Tanztheater auf den Zirkus, denn ein Pferd und ein Taubenschwarm spielen ebenfalls mit. Ein paar Szenen liebäugeln mit der Barockoper. Das achtköpfige Ensemble singt und tanzt, zeigt Slapstick-Komik und eine Artistik, bei der die Gefahr von Knochenbrüchen durchaus einkalkuliert scheint. Waghalsig stürzt es sich von meterhohen Bühnenwänden herab, hangelt an Gerüsten, schlägt Salti, bildet ein Knäuel aus Leibern, das sich krakengleich über den Boden bewegt.

Eine Handlung gibt es nicht: In einem dystopischen Raum zeigt die teils improvisierte Performance Variationen von Aufstieg und Fall, Chaos und Anmut, Zerfall und Erneuerung. Was gesprochen wird, oft in hektischer Suada und hoher Fistel, ist – wie bei einer Clownsnummer – nicht so wichtig. Baro d’evel lädt Szenen mit Bedeutung auf, bis sie zur Metapher werden.

Zuweilen ist das plakativ. Wie erstarrt wirken beispielsweise ein Mann und eine Frau in Gipskleidung, die nach und nach von ihren Körpern abplatzt, je mehr sie sich für Bewegung entscheiden. Danach stehen sie – Achtung, Symbolik! – in einem Scherbenhaufen. Die schwarzen Wände bemalen die Ensemblemitglieder nach und nach mit Zeichen in weißer Farbe. Immer wieder lassen sie sich aus erheblicher Höhe fallen, als wollten sie Verse von Hölderlin nachspielen: „Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab“, schrieb der Dichter in „Hyperions Schicksalslied“.

Die Interaktion zwischen Mensch und Tier fasziniert in der Performance „Falaise“ (Foto: Caroline Seidel/Ruhrtriennale)

Für poetische Bilder sorgen das weiße Pferd und die weißen Tauben. Sie bilden den Lichtblick auf der düsteren Bühne, den Gegenpol zum menschlichen Aktionismus. Wenn dazu noch Barockmusik eingespielt wird, ist die Grenze zum Sakralkitsch erreicht. Das muss dem Kollektiv wohl selbst aufgefallen sein, denn es versucht, solche Momente ironisch zu brechen. Wenn einer der Performer eine Barockarie eher jault und kräht als singt, ist es mit der Pseudoreligiosität natürlich schnell vorbei.

Kichern und Glucksen ist im Publikum nicht nur an dieser Stelle zu vernehmen. In „Falaise“ trifft der Weltuntergang auf Buster-Keaton-Komik und anarchische Fröhlichkeit. Zugleich weiß natürlich jeder im Saal, was die Stunde geschlagen hat. „Hier sind überall Löcher!“, ruft eine der Tänzerinnen gegen Ende. Bevor das Pferd alleine auf der Bühne zurückbleibt und der Vorhang fällt, fragt eine andere: „Und was machen wir morgen?“

(Karten und Informationen: https://www.ruhrtriennale.de/de/programm/falaise/187)




Bis die Kriegsgewalt bröckelt – Alexander Kluges Bilderatlas „Sand und Zeit“

Da haben wir also wieder ein Buch vom inzwischen 93-jährigen Polyhistor Alexander Kluge, der stets die entferntesten Dinge produktiv zusammen bringt und hellsichtig Funken aus seinen Blickwechseln schlägt.

Diesmal beginnt die fruchtbringende Gedankenreise bei den akuten Verheerungen im Gazastreifen, wo vieles nicht einfach „nur“ zerstört wurde, sondern schier zu Sandkörnern zerriebene Wüstenei geworden ist. Vielfach erwogen wird in der Folge, ob dem allfälligen Krieg und der Gewalt Einhalt zu gebieten sei – ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort des geschundenen Erdenrunds.

Damit wären die beiden Pole des Bandes „Sand und Zeit“ schon einmal benannt. Das zu Sand zermalmte Land kehrt später – gründlich verwandelt – im Kinder-Sandkasten und sodann in „Sandkasten-Spielen“ der Militärstrategen wieder. Auch werden einzelne Sandkörner physikalisch vermessen und mikroskopisch betrachtet. All das gipfelt in einem wesentlich aus Sand bestehenden Kunstwerk von Anselm Kiefer, das wiederum Ingeborg Bachmann seine Inspiration verdankt. Alles kann mit allem zusammenhängen, wenn man es denn recht zu betrachten weiß.

Auf der Suche nach Gegenkräften

Gewisse Gegenkräfte zur Kriegsgewalt, so scheint sich ahnungsvoll zu zeigen, dürften beispielsweise in dennoch abgetrotzten glücklichen Augenblicken liegen. Während der altgriechische Zeitgott Kronos alles fressen will (sogar die eigenen Kinder), verkörpert Kairos den geglückten Moment als kaum minder scharfes Gegengift. Eine vage, aber immer neu mit Zuversicht zu nährende Hoffnung kennzeichnet dieses Motto zu Beginn: „Die einzige Verlässlichkeit in zerrissener Zeit beruht auf der Beobachtung, dass auch die kriegerische Macht stolpert…“ Alle noch so imposanten Imperien der Geschichte, so ein zentraler Befund, stürzen irgendwann, nichts ist von ewiger Dauer. Ein Gedanke, bei dem einem – allem waltenden Elend zum Widerspruch – warm ums Herz werden könnte.

Kluge ruft kreuz und quer verschiedenste historische Szenarien auf – von der deutschen Nachkriegs-Trümmerzeit samt Wiederaufbau über altägyptische und altrömische Verhältnisse (Punische Kriege = Rom vs. Karthago), den jetzigen Ukraine-Krieg, die Kreuzzüge, den Krimkrieg (ab 1853), die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs und den (wenn überhaupt möglich) noch schlimmer wütenden Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, die Religionskriege, die in den Westfälischen Frieden von 1648 mündeten… Die Phänomenologie so vieler Waffengänge umfasst auch die seltene, vorbildliche Großzügigkeit generöser Sieger, die den Besiegten nach deren Kapitulation zunächst freies Geleit und fortan freie Entfaltung gewähren – beispielhaft erfasst in Velázquez‘ berühmtem Gemälde „Die Übergabe von Breda“.

Immer wieder neue Perspektiven

Geschildert und ausgiebig bildlich dargestellt (auch mit „virtuellen Kameras“, also KI-Hilfe) werden sowohl das große Ganze als auch gleichsam herangezoomte Nahansichten. Da gibt es erschütternde Bilder, die die brüllende Maschinerie des Krieges so vergegenwärtigen, wie es eben geht. Beim Lesen sollte man diese Illustrationen keinesfalls schnell überblättern, sie erheischen nachdrücklich Aufmerksamkeit. Derlei rasche und harsche Perspektivenwechsel, so Kluge im vorsichtig bilanzierenden Nachwort, können die Kontraste der Zeitläufte besser erfassen als reine Texte. Daher nennt er sein Buch im Untertitel „Bilderatlas“. Ein anregendes Vorbild ist ausdrücklich Aby Warburgs legendäre, größtenteils verschollene „Kriegskartothek“ zum Ersten Weltkrieg gewesen. Technisch auf der Höhe, bietet Kluges Buch übrigens auch (teilweise filmische) Ergänzungen an, die man mit Hilfe abgedruckter QR-Codes ansteuern kann.

Einen freien Erzählraum erzeugen

Alexander Kluge muss nicht nur über eine riesige Bibliothek und die Erfahrungen eines langen Lebens, sondern auch unendlich viele „Zettelkästen“ oder eben Datensammlungen verfügen, denen er immer wieder entlegene (und gleichzeitig prägnante) Beispiele entnimmt, so etwa, wenn es um die letzten Kriegstage rund um das Volkswagenwerk oder die zeitgleiche Kapitulation einer deutschen Munitionsfabrik geht.

Es ist Kluge um die Schaffung eines „freien Erzählraumes“ zu tun, um den Konjunktiv als Möglichkeitsraum. Erst im beherzten Sprung auf die andere Seite, in eine andere Zeit, sei es denkbar, die tendenziell verarmten Ausdrucksweisen unserer Tage zu überwinden. Bei Beschwörung des Überblicks kehrt Kluge verbal zu seiner Frühzeit zurück, indem er die hohe Zirkuskuppel als Bild aufruft. Wir erinnern uns an seinen Filmtitel „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“. Gegen alle Ratlosigkeit geht er im gesegnet hohen Alter immer noch und erst recht an – wie einst Elias Canetti unverdrossen gegen den Tod focht. Das darf und muss man heldenhaft nennen.

Alexander Kluge: „Sand und Zeit“. Bilderatlas. Suhrkamp, 168 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 25 Euro.

 




„Die Besessenheit“ – Annie Ernaux‘ Selbsterforschung zur Eifersucht

Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux sieht sich als „Ethnologin ihrer selbst“. Ihre Romane und Erzählungen kreisen immer um ihr eigenes Leben, berichten von schmerzlichen Kindheitserinnerungen, privaten Nöten, erotischen Obsessionen: eine oft quälende, aber immer ungemein aufschlussreiche Lektüre. Leider werden ihre Bücher zumeist mit großer Verspätung ins Deutsche übersetzt: „Die Besessenheit“ (Originaltitel „L’occupation“) ist bereits 2002 in Frankreich herausgekommen.

In klaren Sätzen und fast klinischen Worten beschreibt Annie Ernaux, wie sie von der Wucht einer Eifersucht ergriffen wurde, die sie an den Rand der Selbstauflösung und Selbsterniedrigung führte. Jeder Gedanke drehte sich um eine Frau, von der sie zunächst nichts wusste, außer dass sie die neue Geliebte ihres Liebhabers ist: „Das Sonderbarste an der Eifersucht ist, dass man eine Stadt oder die ganze Welt mit einem Menschen bevölkert, dem man vielleicht nie begegnet.“

Sie will wissen, wie die fremde Frau heißt, wo sie wohnt, was sie beruflich macht. Sobald ihr (ehemaliger) Geliebter, mit dem sie sich immer noch gelegentlich im Café trifft, nur eine kleine Andeutung über die fremde Frau macht, begibt sie sich auf Spurensuche, versucht sich ein Bild dieser geheimnisvollen Fremden zu machen, sieht in jeder Frau, die ihr zufällig auf der Straße oder in der Metro begegnet, ein Spiegelbild der Anderen. „Die Frau füllte meinen Kopf, meine Brust und meinen Bauch, begleitete mich überallhin, diktierte mir meine Gefühle. Gleichzeitig ließ mich diese ständige Anwesenheit intensiver leben.“ Die aus dem Nichts aufgetauchte „Besessenheit“ schärft ihre Sinne, befähigt sie, sich schreibend zu analysieren. Das Schreiben führt zu psychoanalytischer Erkenntnis und seelischer Katharsis: „Ich schreibe über die Eifersucht, so wie ich sie durchlebt habe, indem ich meine damaligen Wünsche, Gefühle und Handlungen aufspüre und erforsche. Schreiben ist im Prinzip nichts anderes als eine Eifersucht auf die Wirklichkeit.“

Nachdem sie einiges über die fremde Frau in Erfahrung gebracht hat, begreift sie, dass sie selbst nicht einzigartig, sondern nur Teil einer Serie im Liebesleben ihres ehemaligen Geliebten ist, der mit Anfang dreißig sich stets zu älteren Frauen hingezogen fühlt: Frauen, die (wie Annie Ernaux und die neue Geliebte) finanzielle Unabhängigkeit mitbringen, vielfältige erotische Erfahrungen und die Fähigkeit zu zärtlicher Bemutterung.

Sich schreibend von der „Besessenheit“ zu befreien, heißt für Annie Ernaux, ihre Scham zu überwinden, ihre Obsessionen zu benennen: „Ich will nur die Fantasien und Verhaltensweisen der Eifersucht erforschen, die in mir am Werk war, will etwas Individuelles, Intimes zu einer greifbaren, verständlichen Substanz machen, zu etwas, das fremde Menschen sich vielleicht aneignen können.“ Genau dieses Kunststück gelingt Annie Ernaux: Denn sie beschreibt nicht nur ihr Verlangen und ihre Eifersucht, sondern ein Verlangen und eine Eifersucht, gibt sich selbst preis und zeigt ihre Wunden, um anderen zu sagen, dass man sich, wenn man radikal ehrlich ist, selbst aus dem Sumpf der „Besessenheit“ emporziehen kann: Ein Buch von großer gedanklicher Klarheit und bedrückender sprachlicher Schönheit.

Annie Ernaux: „Die Besessenheit“. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 2025, 68 Seiten, 20 Euro.




Hinüber ins Ungewisse – Mariette Navarros Roman „Am Grund des Himmels“

Zu (beinahe) 100 Prozent und viele Jahre lang hat die Erzählerin „funktioniert“, in der gläsernen Karrierewelt der globalen Hochhäuser, hier wahrscheinlich in einem ziemlich degenerierten Viertel von Paris. Nun aber will sie ein für allemal ausbrechen aus diesem sterilen Irrsinn mit seinen Mechanismen des kläglichen Dazugehörens.

Durch eine Dachluke begibt sich Claire eins Abends – „nach Dienstschluss“ – in gefährlich schwankende Höhen über der Stadt, wo starke Winde wehen und der Abgrund erschreckend nah ist. Desertieren aus all dem Gewöhnlichen, gut und schön. Aber was geschieht danach, wie kann man sich droben und außerhalb halten? Und überhaupt.

Ihre bescheiden und sparsam gebliebenen Eltern haben gefragt: Denkt ihr da oben auch an Leute wie uns? Bisher gewiss nicht. Claire hat sich als einfaches Mädchen vom Land bis in die Höhen der Metropole hochgearbeitet, hat Körper und Seele verleugnet. Doch wozu? Damit soll nun Schluss sein.

Ist es nicht eine etwas banale Frontstellung, die Mariette Navarro da aufruft? Freiheits-Vorstellungen mit Phantasien vom Fliegen und Tanzen. Klischees vom Aussteigen. Zuletzt hat diese Autorin (in „Über die See“) literarisch die aufwühlenden Untiefen des Meeres erkundet, jetzt ist sie – nicht minder bedrohlich – „Am Grund des Himmels“ angelangt. Aber wächst dort nicht auch Hoffnung?

Die Nacht vergeht. Anderntags sind die Etagen des Hochhauses seltsam leer. Ist eine Katastrophe passiert, hat es eine Feuersbrunst gegeben, ist Claire vom Dach gestürzt, ist sie selbst hinunter gesprungen? Alles ist Spekulation, bloße Mutmaßung.

Ihr plötzlich so entschiedenes Handeln steht vollends quer zur aller vermeintlichen Ordnung, allem angeblichen Fortschritt. Dazu dauernd diese Menetekel an den Wänden und ins Glas geritzte Zeichen!

Einem Mann namens Marc, der in der namenlosen Organisation nicht mehr mitmachen mochte, hatte man ein ganzes Stockwerk überlassen, wo er verzweifelt ins Nichts arbeitete. Es war nicht zum Aushalten.

Schließlich bewegen sich Claire und etliche andere (es werden immer mehr) in Taucheranzügen zum reißenden Fluß. Wo soll das enden? Ein Losschwimmen ins Ungewisse, ins gänzlich andere Sein, woanders hin. Wird es jemals ein Ankommen geben?

Mariette Navarro: „Am Grund des Himmels“. Roman. Kunstmann Verlag, 160 Seiten, 22 Euro.




Köstlich ohne Wenn und Aber – Gesammelte Kolumnen von Max Goldt

Gar manches in Max Goldts neuem Buch „ABER?“ kommt einem, sofern man seine Schöpfungen öfter goutiert, womöglich bekannt vor – sei’s aus Hörbüchern (Live- und Studio-Mitschnitte) oder aus den irrwitzigen Cartoons und Comics, die das Duo Katz & Goldt reihenweise hervorbringt.  Hier kann man es in anderer Form nachschmecken. Und es bleibt köstlich.

Hohe Auszeichnung schon, dass die Testimonials, die Goldts Kolumnen-Schaffen auf dem Umschlag preisen, von Daniel Kehlmann und Durs Grünbein stammen, also aus der allerersten Garde der kunstreich auf Deutsch Schreibenden. Kehlmann fühlt sich durch Goldts perfekte Syntax mitsamt der feinsinnigen Ironie an Thomas Mann erinnert. Hört, hört!

Nun denn: Auf solch erhellende Weise Frauenfußball und „Ehe für alle“ oder auch Frisösen, Lesben und Tierpflegerinnen zu einem herzhaften Amalgam zu verarbeiten, das gelingt den Wenigsten. Zwischendurch geht’s auch schon mal auf die Meta-Ebene, etwa indem Max Goldt erwägt, was denn eigentlich Humor und wie er von Witz und Komik abzugrenzen sei. Da kann man wirklich was lernen.

Herrlich sodann die fiktive, aber im Grunde glaubhafte Szenenfolge von der Gala zum „Unwort des Jahres“. Dazu sei nur verraten, dass am Ende alle Beteiligten „knülle“ sind. Auch die Bedeutung des Einwort-Buchtitels soll hier nicht erläutert werden, dazu nur eine Reminiszenz: Zuletzt ist mir das Wort derart prägnant in einer Kita begegnet, wo die Fachkräfte kindliche Einwände jeder Sorte stets mit dem Satz zu entkräften suchten: „ABER ist nach Hause gegangen!“

Doch verzetteln wir uns nicht, schauen wir lieber weiter ins Buch – etwa auf diese Kardinalfrage: Wenn es so viele Hurensöhne gibt, wie steht’s dann um die Strichjungentöchter? Auch dürfen wir eine Kinderführung im Museum belauschen – mit furchtbar abgebrühten „Know-it-all-Kids“ aus saturierten Mittelschichtskreisen.

Goldt parliert auch über Fährnisse aus seinem Berufsleben, schildert Vorfälle bei Lesereisen und ruchlos ihm untergeschobene Zitate, die für den einen oder anderen Shitstorm gesorgt haben. Ein besonders feines Stück sind seine Erinnerungen an den früh verstorbenen Wiglaf Droste, mit dem er in den frühen 1990ern eine teilweise etwas chaotische Lesetournee bestritten hat. Keine kollegiale Lobhudelei wird daraus, sondern ein grundehrlicher Bericht, der Drostes Macken und Marotten nicht verschweigt.

Durchaus zu beherzigende Medienkritik kommt erheiternd hinzu – am ZDF in Sachen Schwachsinns-Nachruffloskeln auf David Bowie, am „Spiegel“ wegen eines unfassbar naiven Interviews mit der Indie-Popgröße Morrissey. Schon legendär der folgende Satz, der abgewandelt auch als T-Shirt-Aufdruck existiert: „So einen Käse können Sie der Funke-Mediengruppe erzählen, aber nicht mir!“

Und immer wieder bewundert man den bestens geeichten Kompass des Max Goldt, der zu allermeist weiß, wo es gesellschaftlich langgehen sollte. Doch daraus macht er kein Aufhebens. Er wird das vielleicht nicht gern hören, aber neben allen Lachanreizen bietet er mit seinen Texten auch Orientierung.

Ach, man möchte am liebsten noch und noch das Weitere erwähnen, aber das wäre unsinnig. Lest doch gefälligst selbst! Aber ein bisschen plötzlich! Oder auch – besser noch – geruhsam und gelassen genießend.

Max Gold: „ABER?“ dtv (Hardcover), 158 Seiten, 24 Euro. 

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P. S.: Das erste Päckchen der Verlagsauslieferung hat nur den Lieferzettel enthalten, aber kein Buch. Im zweiten Anlauf lag das willkommene Rezensionsexemplar bei. Was dieser Zweischritt wohl wieder zu bedeuten hat?