„InformELLE“ in Hagen – späte Gerechtigkeit für die Künstlerinnen

Mary Bauermeister: Untitled, 1959. Kasein-Tempera, Gouache auf Papier, 49 x 61 cm (Mary Bauermeister Art Estate, Foto Margot Gottschling © VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Diese Ausstellung war überfällig, erst recht in Hagen: Mit der anregenden, stellenweise auch aufregenden Schau „InformELLE“ werden endlich die Künstlerinnen (daher das frankophone Wortspiel mit „ELLE“) des Informel als eigenständige Könnerinnen des Metiers gewürdigt.

Das Informel als Zweig der Abstraktion kam in den 1950er Jahren auf. Die körperliche Energie beim gestisch ausagierten Schaffensprozess und die von Gegenständlichkeit gelöste Materialität der Werke rückten in den Vordergrund. Für lange Zeit waren auf diesem Felde fast nur männliche Protagonisten weithin sichtbar. Jetzt widerfährt den Frauen doch noch späte Gerechtigkeit.

Wie gut, dass das Hagener Emil Schumacher Museum (ESMH) den mehrjährig vorbereiteten Planungen mit Kassel und Schweinfurt noch rechtzeitig beispringen konnte. Wo, wenn nicht hier, hätte das Informel in allen Ausprägungen eine passendere Heimstatt?

Kühner Pioniergeist und starke Widerstände

Der Überblick umfasst 99 Arbeiten von 16 Künstlerinnen (14 Malerinnen, zwei Bildhauerinnen). Über jede einzelne dieser Frauen gibt es Geschichten, die von kühnem Pioniergeist und – nur teilweise überwundenen – Widerständen zeugen. Selbst eine Künstlerin wie Marie-Louise von Rogister, die mit dem seinerzeit maßgeblichen Kunstkritiker Albert Schulze-Vellinghausen (FAZ) verheiratet war, hat von dieser Liaison offenbar kaum profitiert. Und auch Hagens „Säulenheiliger“ Emil Schumacher hat wohl wenig getan, um Frauen ins Rampenlicht der Kunstszene zu verhelfen. So war der Zeitgeist.

Maria Lassnig: Ohne Titel, ca. 1959-61, Öl auf Leinwand (Maria Lassnig Stiftung, Wien, Foto: Maria Lassnig Stiftung, Wien © VG Bild-Kunst, Bonn 2025/Maria Lassnig Foundation)

Vielfach seien „die Kerle“ eben lieber unter sich geblieben, wie ESMH-Leiter Rouven Lotz feststellt. Galeristen fürchteten um ihre Investitionen, weil Künstlerinnen ja schwanger werden und somit durch familiäre Arbeit länger „ausfallen“ konnten. Viele Herren des Kunstbetriebs tranken halt lieber ihr Vernissagen-Bierchen oder andere Tröpfchen mit männlichen Kumpanen. So war und blieb es ganz selbstverständlich, bis weit in die 1970er Jahre hinein.

Im Trauzimmer auf „falsche Gedanken“ kommen

Und so kam es, dass selbst Künstlerinnen, die in den 50ern als rare Ausnahmen an der Kasseler documenta oder der Biennale in Venedig teilgenommen hatten, in späteren Jahren weitgehend in Vergessenheit gerieten. Wenn wirklich einmal eine Frau reüssierte, kam schnell das Klischee auf, ihre Kunst trage im Grunde „männliche Züge“.

Besondere Aufmerksamkeit wird in Hagen der Künstlerin Roswitha Lüder zuteil, die ehedem hier gewohnt hat und dann nach Herdecke gezogen ist. Die heute 90-Jährige legt selbstbewusst Wert auf die Feststellung, dass sie durch ihr künstlerisches Schaffen den Großteil der finanziellen Mittel zum Hausbau beigetragen habe – und nicht so sehr ihr Mann, der gleichfalls künstlerisch tätige Rudolf Vombek. 1965 hat Frau Lüder ein Triptychon fürs Trauzimmer des neuen Hagener Rathauses gemalt. Konservative Gemüter, allen voran ein Ratsherr, wähnten, das dynamische Bild bringe Brautpaare auf „falsche Gedanken“, und sorgten damals rasch für die Entfernung des Großformats. Wer da wohl tatsächlich auf „falsche Gedanken“ gekommen war?

Roswitha Lüder: Triptychon für das Trauzimmer des Hagener Rathauses, 1969, Öl auf Leinwand (Osthaus Museum, Hagen, Foto: Emil Schumacher Museum Hagen ESMH, Joachim Schwingel © VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass die 16 Künstlerinnen je eigenständige Positionen vertreten haben, die denen zeitgleich schaffender Männer durchaus ebenbürtig waren. Famos etwa die Entwicklung der später denn doch zu großem Ruhm gelangten Österreicherin Maria Lassnig, für die das Informel freilich nur eine (notwendige) Durchgangsphase auf dem Weg zu einer neuen Figuration inniger Körperbilder gewesen ist. Die Lassnig-Leihgaben kommen übrigens aus Siegen, wo sie zur Sammlung Lambrecht-Schadeberg gehören, die sich auf Träger(innen) des Rubens-Preises konzentriert.

Auch Mary Bauermeister, die mit dem Avantgarde-Komponisten Karlheinz Stockhausen verheiratet war, verharrte nicht im Informel, sondern wurde im Lauf der Zeit zu einer Leitfigur der Fluxus-Bewegung.

Helen Dahm: Raumgitter auf Blau, 1958, Mischtechnik auf Leinwand (Hessen Kassel Heritage, Neue Galerie. Foto: Thomas Gerber, Burgdorf © Helen Dahm Gesellschaft, Oetwil am See)

Vollends erstaunlich der Sonderweg der Schweizerin Helen Dahm, die bereits 1878 geboren wurde und sich noch mit über 70 Jahren der informellen Abstraktion zuwandte. Zündfunken waren 1957 die Faszination durch den Sputnik-Satelliten und phantastische Vorstellungen vom Weltall.

Die Magnetwirkung von Paris

Für etliche der 16 Künstlerinnen war in den 50er und frühen 60er Jahren Paris der biographische und berufliche Magnet. Vor allem dort ergab es sich, dass das Informel zum europäischen Phänomen werden konnte. So sind denn auch in Hagen Schöpfungen z. B. von Natalia Dumitresco (Rumänien), Juana Francés (Spanien), Judit Reigl (Ungarn) und Maria Helena Vieira da Silva (Portugal) zu sehen. Ihre Kunst überwand buchstäblich Grenzen.

Mag auch die Interessenlage der Frauen ähnlich gewesen sein, so hat doch jede ihren ureigenen Weg beschritten. Der Begriff Informel, so zeigt sich hier abermals, ist eigentlich eine Hilfskonstruktion, die recht verschiedene Stile bezeichnet. Umso vielfältiger ist der Rundgang durch die Schau.

„InformELLE. Künstlerinnen der 1950er/60er Jahre“. Emil Schumacher Museum, Hagen (ESMH), Museumsplatz 1-2. Bis 11. Januar 2026. Geöffnet Di-So 12-18 Uhr, Mo geschlossen. Zweisprachiger Katalog (dt./engl.) 45 Euro. www.esmh.de

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel (Münster) erschienen: www.westfalenspiegel.de




So einzigartig wie ein Fingerabdruck – Alina Bronskys Buch über das Essen

Vorlieben und Abneigungen beim Essen sind so individuell wie ein Fingerabdruck. Fast immer gehen sie auf Geschmacks-Erlebnisse der Kindheit zurück. Mit solchen, stets persönlich beglaubigten Einsichten lockt einen die Schriftstellerin Alina Bronsky geschickt in ihr Buch übers Essen hinein. Auch nach dem Intro breitet sie ihren Erzählstoff sehr kurzweilig aus.

Der kompakte Band fügt sich bei Hanser Berlin ein in die zehnteilige Reihe zu den „10 wichtigsten Themen des Lebens“, als da außer dem Essen noch wären: das Altern, Schlafen, Lieben, Streiten, Wohnen, Arbeiten, Spielen (alle bereits erschienen), Sprechen und Reisen (kommen 2026 heraus). Übrigens stammen alle zehn Bücher von Frauen.

Deutscher Irrweg des „Trockenfutters“

Zurück zu Alina Bronsky. Sie kam als Kind aus der in letzten Zuckungen darnieder liegenden Sowjetunion nach Deutschland und vermisste so manche liebgewordene Essens-Gewohnheit, obwohl hier doch eigentlich alle Zutaten im Überfluss vorhanden waren. Präferenzen beim Essen sind eben nicht nur individuell, sondern auch kulturell bedingt. Vor allem verstand sie anfangs lange nicht, warum die Deutschen ständig kaltes „Abendbrot“ verzehren. Das Russische halte dafür den schwer übersetzbaren Begriff Suchomjatka bereit, der jedenfalls die ablehnende Haltung zum Irrweg solchen „Trockenfutters“ in sich birgt. Ungleich besser sei es doch, etwas wohlig Warmes wie Porridge, Getreide- oder Kartoffelbrei zu sich zu nehmen. Und überhaupt: Wie könne man denn regelmäßig Dinge essen, für die man kein Besteck benötigt? Nun ja, gemach! Später hat Bronsky in Berlin sogar die Vorzüge der „Stulle“ schätzen gelernt.

Die Entdeckung der Grünen Soße

Alina Bronsky wurde 1978 in Jekaterinburg geboren. Dort dauert der oft bitterkalte Winter mindestens ein halbes Jahr, so dass man ihre innige Neigung zu warmen Mahlzeiten oder Vitamin-Speichern wie schwarzen Johannisbeeren oder Walderdbeeren (viel schmackhafter als Gartenerdbeeren) ebenso versteht wie das kalte Grausen vor Eiswürfeln. Solche Prägungen verschwinden nicht so leicht. Allerdings hat sie sich in der hessischen Provinz bereitwillig integriert und so etwa auch die rund um Frankfurt übliche „Grüne Soße“ für sich entdeckt, die schon Goethe gemundet haben soll.

Nebenbei spendet Bronsky auch noch Rat für (angehende) Schriftsteller: Essen sei ein idealer Einstieg ins Erzählen, man solle es nur probieren. Folgt ein Exkurs über allfällige kulinarische Themen in Literatur, Malerei und Kino. Auch geht es zwischendurch darum, was Kochen und Bekochtwerden für zwischenmenschliche Beziehungen bedeuten. Die Erwägungen reichen bis hin zu diplomatischen Verhandlungen, die mit Mahlzeiten erfahrungsgemäß besser gedeihen.

Als Krönung eine „Napoleon-Torte“

Zu jedem Kapitel bietet Bronsky neben ihren Geschichten ein einschlägiges Rezept an, so dass nach der Lektüre beispielsweise folgende Speisen nach ihrer Art zubereitet werden können: Borschtsch, Schokoküsse (von einer gewissen Frau Müller z. B. mit Gummibärchen und Smarties vermengt, ein seltsam reizvolles Unding), Frikadellen, spezieller Kaffee, Quarkauflauf, Haferplätzchen und Früchtebrot. Hinzu kommen die bereits erwähnten Stullen, Johannisbeeren, Porridge und Grüne Soße. Krönung des Ganzen ist aber wohl die in Russland offenbar überaus beliebte „Napoleon-Torte“. Aber lesen und schmecken Sie selbst!

Alina Bronsky: „Essen“. Hanser Berlin, 112 Seiten, 20 Euro.

P. S.: Kleiner Hinweis ans Lektorat für etwaige weitere Auflagen, die dem entspannten Buch zu wünschen sind: Auf Seite 81, Zeile 9, muss es Märchen und nicht Mädchen heißen. Gern geschehen.

 




Bundestreffen in Dortmund: Was Tierärzte regulieren wollen

Florianturm, Zeche, Dortmunder U und Reinoldikirche als Dortmunder Wahrzeichen – auf Unterlagen der Bundestierärztekammer.

Quizfrage: Wie wird das Deutsche Tierärzteblatt in Fachkreisen liebevoll genannt? Nun, die Lösung lautet: „Grüner Heinrich“. Wenn Gottfried Keller das geahnt hätte… Derlei – für die Allgemeinheit – unnützes Wissen nennt man heute wohl Fun Fact.

Scherz beiseite. Warum mich eine Einladung zur Pressekonferenz (PK) der Bundestierärztekammer ereilt hat, weiß ich wirklich nicht. Noch nie habe ich über dieses Fachgebiet geschrieben. Immerhin findet jetzt der 30. Deutsche Tierärztetag hier in Dortmund statt. Also habe ich mich mal (online) zur PK bemüht und wage es, ziemlich fachfremd zu berichten.

Ich habe ja so gut wie keine Ahnung vom tierärztlichen Metier (außer ein paar bleibenden Eindrücken, wenn wir mit unserem Kater die Tierarztpraxis aufsuchen mussten), dafür haben viele Tierärzte aber auch kaum Ahnung von Dortmund, schmücken sie doch ihre Tagungsunterlagen u. a. mit einer Zechen-Silhouette. Der letzte Schacht in dieser Stadt wurde 1987 geschlossen. Ich übertreibe mal leicht: Wir glauben ja auch nicht, dass Tierärzte sich immer noch vorrangig mit Mammuts und Sauriern befassen.

Nun aber wirklich zur Sache. „Tierschutz im tierärztlichen Alltag“ lautet das zentrale Thema des Bundestreffens im Kongresszentrum der Westfalenhallen. Vier Fachleute berichteten in der Pressekonferenz aus den Arbeitsgruppen. Da ging es um Tierschutz im Pferdesport, in der Kleintierpraxis, bei Behörden und in der Nutztierhaltung – unter besonderer Berücksichtigung der „kleinen Wiederkäuer“ (Schafe und Ziegen).

Da wurden vor allem (weit überwiegend berechtigte) Forderungen gestellt, die jedoch insgesamt einen Wust von Regelungen und wuchernde Bürokratie nach sich ziehen könnten, abgesehen vom wachsenden Personalbedarf und Kostensteigerungen. Nur mal einige Beispiele, der Einfachheit halber ungegendert:

  • Es sollten möglichst alle Heimtierhalter auf Eignung geprüft werden.
  • Pferdehalterinnen und Pferdehalter sollen ihre Sachkunde zertifizieren lassen.
  • Bei allen Reitveranstaltungen sollte mindestens ein Tierarzt dauerhaft anwesend und mit weit reichenden Befugnissen ausgestattet sein.
  • Alle Ausrüstungs-Gegenstände in Pferdesport und sonstiger Pferdehaltung sollen auf Tauglichkeit überprüft werden – ungefähr wie Autos beim TÜV.
  • Hundetrainer sollen u. a. durch Tierärzte ausgebildet werden.
  • Angehende Juristen sollen in ihrem Studium mehr zum Tierschutzrecht lernen.
  • Bestimmte Tiere („Defektzuchten“, Qualzuchten) sollen z. B. auch in Werbung und Mode strikt  verboten werden.
  • Ein europaweites Register für Hunde und Katzen muss eingerichtet werden.
  • Tierärzte sollen in Ausübung ihrer Tätigkeit bei etwaigen Konflikten geschützt werden, darin attackierten Rettungskräften vergleichbar.
  • Es fehlt eine „Heimtierverordnung“.
  • Es fehlt eine zentrale Tiergesundheits-Datenbank.
  • Es fehlt eine Datenbank zu Tierhalte-Verboten.
  • Tierärztliche Ämter brauchen mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen.
  • Es gibt zu viele Einschränkungen bei medikamentösen Behandlungen von Tieren.
  • Viele Regelungen müssen bundesweit vereinheitlicht werden.

Und so weiter. Richtig „viel Holz“. Dazu hieß es auf dem Podium: „Wer nicht fordert, bekommt auch nichts.“ Schon richtig. Wie soll es sonst gehen? Aber in der Summe wirkte es denn doch ein wenig begehrlich – wie halt bei allen Interessenverbänden.

Was außerdem auffiel: Es war eine Pressekonferenz, doch mit Fragen und Statements meldeten sich praktisch ausschließlich Kongressteilnehmer, also tierärztliche Fachleute zu Wort. Am Ende war ich vielleicht der einzige Medienvertreter, der eine Frage gestellt hat. Das wäre mir unangenehm. Soll man daraus etwa schließen, dass die Standesorganisation der Veterinäre im eigenen Saft schmort? Oder zeugt es eben von besonderem, manchmal geradezu hitzigem Engagement? Oder mangelt es den Medien schlichtweg an Interesse?




Als man sich noch für „richtig links“ halten wollte

Kinners, heute erzählt Euch der Boomer-Opa ein klitzekleines bisschen von früher. Keine Angst, es werden nur ein paar Schlaglichter sein. Und nur die fernen Echos wahrer Klassenkämpfe. Wie denn damals im Revier überhaupt nur der Widerhall aus den wirklichen Metropolen zu vernehmen war.

Icke, wa?! Wie man halt „damals“ aussah. (Foto: Norbert Hell)

Als ich studiert habe, hatte man gefälligst „links“ zu sein, was immer das wirklich heißen mochte. Wir waren uns jedenfalls fraglos sicher – und es schien ja in dieser Hinsicht auch noch wesentlich übersichtlicher zu sein als heute. Freilich sinnierte schon damals Botho Strauß in Gestalt seiner Lotte im Stück „Groß und klein“: „In den 70er Jahren finde sich einer zurecht…“

Bevorzugte „Quelle“ bzw. Hilfsmittel für jegliche Interpretation waren jedenfalls damals bei den Bochumer Historikern die blauen Bände der Marx-Engels-Ausgabe. Es herrschte unter den Studierenden (die damals noch Studenten geheißen wurden) weithin die Auffassung, alle geschichtlichen Geschehnisse jedweder Epoche müssten damit abgeglichen werden. Umso pikierter war ich, als ich eines Tages einen Brief von Karl Marx an seine Geliebte zu lesen bekam, der mit dieser Anrede begann: „Viellieb!“ Das wollte mir süßlich-kitschig vorkommen und sich so gar nicht zu seinen politischen Einsichten fügen. Ach, Gottchen!

Ein unerbittlicher „Anarchist“

In jenen seltsamen Zeiten gerierte sich ein Altersgenosse vehement als „Anarchist“. In einer stundenlangen hitzigen Wohnzimmer-Debatte ließ er sich nicht erweichen. Er hätte am liebsten alles in die Luft gesprengt, wie er posaunte. Wir anderen waren hingegen der Ansicht, dass er damit erst recht die volle Staatsgewalt gegen uns alle entfessele. Schließlich suchte ich den Kompromisslosen zu besänftigen, indem ich ihn zum Abschied herzhaft mit „Rot Front!“ grüßte. Er aber dröhnte, vollends unversöhnlich: „Schwarz Front!“ Wüsste gerne, was später aus ihm geworden ist. Vielleicht denn doch noch eine Gestalt auf der allseits abgesicherten Beamtenlaufbahn? Ist aber auch piepegal. Kaum jemand, der sich nicht angepasst hätte.

Den Hass auf die Bourgeoisie fühlen

Unwesentlich später war man schon auf die damals so genannte „Neue Sensibilität“ verfallen, die längst nicht mehr so harsch politisierte, sondern in Sanftmut und Milde daherkam, gleichsam auf Samtpfoten. Dennoch ließ ich mich bei irgend einer obskuren Splittergruppe für ein ganzes Wochenende auf eine „trotzkistische Schulung“ ein. Es blieb beim einmaligen Besuch, wie ich denn überhaupt nie dauerhaft Partei ergreifen mochte. Wer zweimal bei denselben sitzt, bekommt schnell den Verstand stibitzt. Gut, wa? Von mir. Ganz spontan.

Dem unerträglichen Trotzkisten-Präzeptor, der keinen Widerspruch duldete, sondern nur von oben herab dozierte, wagte ich die Frage zu stellen, ob denn bei ihnen alles nur rational vonstatten gehe oder ob man irgendwann auch Gefühle zeigen dürfe. Er, vollends am Sinn der Frage vorbei: „Ja klar, den Hass auf die Bourgeoisie!“ Aha. Zur Erholung vom stundenlangen Gefasel durften wir dann nachmittags Fußball spielen. Immerhin. Man war nicht nur ein Tor, man schoss auch eins. Harr, harr.

Durften die Beatles Mao schmähen?

Man war, so cirka zwischen 16 und 24 Jahren, dermaßen verblendet, dass man die Mao-Bibel reichlich unkritisch memoriert hat. Sogar den vor- und nachmals so verehrten Beatles nahm man die Zeilen aus dem Song „Revolution“ übel: „But if you go carrying pictures of chairman Mao, you ain’t gonna make it with anyone anyhow…“ Wie? Was? Nö, die Stones waren auch nicht viel mutiger, siehe ihren resignativen Text über den „Street Fighting Man“: „But what can a poor boy do except to sing for a Rock’nRoll Band, cause in sleepy London town there’s just no place for a street fighting man, no!…“

Jetzt mal gar nicht zu reden von Bettina Soundso, in die ich mich für einige Monate verguckte, weil sie (die es mit dem MSB Spartacus hielt) mir so heroisch wie eine zweite Rosa Luxemburg vorkam. Hach. Später ward sie wahrhaftig Geschichts-Professorin. Aber wie sie damals ihren Haarvorhang herunterlassen konnte, um dahinter gewichtig zu reflektieren! Überhaupt erwies sich das unentwegte Politisieren gelegentlich als „Liebes“-Beschleuniger, wahrscheinlich aber auf längere Sicht noch öfter als zerstörerisch.

„Deutscher Herbst“: Polizei in der Pizzeria

Zeitsprung: Aus dem „Deutschen Herbst“ um 1977 habe ich unter anderem in Erinnerung, wie die Polizei mit Maschinenpistolen im Anschlag eine Pizzeria enterte, in der wir friedlich beisammen saßen. Wiederum einige Jahre später suchte mich ein Mann vom Verfassungsschutz zu Hause in meiner kurzzeitigen WG auf, um mich nach einem Schulfreund auszufragen, der die Beamtenlaufbahn einschlagen wollte. Aber da waren wir schon in den öden 1980ern gestrandet. Und es gab überhaupt nichts zu beichten.