Wunderbare Welt der Waldameisen – Fotografien im Dortmunder Naturmuseum

In Hessen aufgenommene Fotografie einer roten Waldameise (Arbeiterin), die wissenschaftlich Formica polyctena heißt und in Lebensgröße etwa 7 Millimeter misst. (Foto: © Ingo Arndt)

Es sind phänomenale Bilder, die der international renommierte Tierfotograf Ingo Arndt von seinen Expeditionen in die Welt der Waldameisen mitgebracht hat. Da sieht man etwa eine größere Gruppe dieser Tiere, die Ameisensäure versprüht, als sei’s ein prächtiges Silvesterfeuerwerk. Oder man beobachtet – weit, weit überlebensgroß – wie eine Ameisenkönigin Eier legt. Einen solchen Moment muss man erst einmal erhaschen und sodann adäquat ins Bild setzen.

Derlei fotografische Kunststücke sind jetzt im Dortmunder Naturmuseum zu sehen. „Waldameisen – Superheldinnen auf sechs Beinen“ heißt die neue, in sieben Kapitel unterteilte Sonderausstellung.  Rund 41 großformatige Fotografien geben erstaunliche Einblicke in die wunderbare Welt der Ameisen. Manche Bilder sind sorgsam aus Hunderten von Einzelstücken zusammengesetzt: Nur auf diese Weise sind Größe und Schärfe vereinbar. Andernfalls wären sie so „verpixelt“, dass nichts mehr zu erkennen wäre.

Matriarchat mit alsbald „nutzlosen“ Männchen

Noch wunderbarer als die fotografischen Künste stellen sich Leben und Alltag der Ameisen dar. Auf Ingo Arndts Fotos erscheinen die Ameisen z. B. als Architektinnen, Jägerinnen, Gärtnerinnen und Viehhalterinnen. Museums-Mitarbeiter Dr. Oliver Adrian erläutert, dass die Gesellschaft der Waldameisen ein striktes Matriarchat sei, daher auch die feminine Titel-Bezeichnung „Superheldinnen“. Die Königin und Millionen dienstbarer Arbeiterinnen (gleichsam aufgeteilt in „Innen- und Außendienst“ für Materialbeschaffung, Brutpflege etc.) haben eindeutig Vorrang und leben ungleich länger als die nach Begattung und Befruchtung quasi „nutzlosen“ Männchen, die nur wenige Wochen überstehen, während die weiblichen Exemplare der Gattung 6 bis 20 Jahre alt werden können.

Heizen der Hügelbauten mit Körperwärme

Bevor Ingo Arndt seine Ameisen-Fotografien überhaupt anfertigen konnte, musste er sich erst einmal solides Wissen über diese Tiere aneignen. Dazu arbeitet er – auch bei sonstigen Projekten – eng mit Fachwissenschaftlern zusammen. Was sich dabei im Falle der Ameisen zeigt, ist wahrlich spektakulär: Wenn Waldameisen in ihren ausgeklügelten, bis zu 2 Meter hohen Hügelbauten aus der Winterstarre erwachen, drängen sie millionenfach zum Sonnenlicht. Die dabei entstehende Körperwärme nutzen sie, um anschließend das Innere des Baus zu „heizen“ – hinein und hinaus, immer und immer wieder, bis die Innentemperatur der Behausung stimmt. Sie kommunizieren übrigens vorwiegend über Duftdrüsen und durch Berührung mit ihren Fühlern.

Nein, die Waldameise reitet nicht auf dem glänzend blauen Laufkäfer, sondern sie zerlegt das tote Geschöpf  zwecks Nestbau. (Foto: © Ingo Arndt)

„Umzüge“ im Gefolge des Klimawandels

Nicht genug mit der Heizperiode im Frühjahr: In die Hügel haben die Ameisen zuvor ein System von Lüftungsschächten eingebaut, die für ausgeglichene Klimatisierung sorgen sollen – wie die Ameisen denn generell ein sehr empfindliches Gespür für klimatische Feinheiten und Temperaturschwankungen haben. Im Falle zu starker Veränderungen wechseln sie zunächst die „Etagen“ im Hügel oder ziehen mit Sack und Pack gänzlich um. So sind im Gefolge des Klimawandels schon massenhafte Ameisen-Wanderungen beobachtet worden. Zu kleinteilig darf man sich das nicht vorstellen: In Argentinien soll gar eine über rund 6000 Kilometer sich erstreckende, vielfach vernetzte Superkolonie von Ameisen existieren.

Vorbildlicher Straßenbau und Verkehrsführung

Der Mensch kann von den perfekt organisierten Ameisen-„Staaten“ offenbar eine Menge lernen. So gibt es inzwischen Verkehrsprojekte, die in manchen Punkten den vorbildlich effektiven „Straßenbau“ der Ameisen nachzuahmen suchen. Geradezu irrwitzig mutet es allein schon an, dass und wie das immens dichte Gewimmel der Ameisen dennoch „unfallfrei funktioniert“. Sollten sich da etwa auch wertvolle Hinweise auf Stau- und Karambolagen-Vermeidung in unseren Städten finden?

Ein Naturmittel gegen Bakterien

Bei einem kundig angeleiteten Rundgang (den die Bildtexte in der Schau nur ansatzweise ersetzen können) kommt man aus dem Staunen kaum heraus. So nutzen Waldameisen Baumharz als antibakterielle Barriere, sprich: Sie postieren die Substanz so, dass alle Artgenossen auf ihren Wegen in den Ameisenbau hinüber müssen und somit besser gegen Bakterien gefeit sind. Zu vermuten steht, dass sich auch die Pharma-Industrie einen solchen Effekt zunutze gemacht hat. Auch haben die ungemein feingliedrigen Greifwerkzeuge der Ameisen bionische Entwicklungen angeregt, die zunehmend in der (Roboter)-Chirurgie Verwendung finden dürften.

Freundliche Symbiose mit Blattläusen

Die Arbeiterinnen tun alles Erdenkliche, um ihre Königin vor Unbill zu schützen. Gelegentlich kommt es vor, dass ganze Ameisenvölker einander bekriegen, dass es veritable Invasionen in „feindliche“ Ameisenhügel gibt. Hauptfeinde sind jedoch einige Vogelarten, bestimmte Käfer, Spinnen und manchmal Wildschweine. Nicht ganz ohne Eigennutz „befreundet“ sind die Ameisen hingegen mit den Blattläusen, an deren Sekret (Honigtau) sie sich laben. Daher verteidigen die Ameisen sie auch gegen Marienkäfer. Mehr noch: Sind die Pflanzen, auf denen sich Blattläuse tummeln, nicht mehr so ergiebig, tragen die Ameisen sie bereitwillig zu vitaleren Gewächsen.

Die Biologie und das Soziale

Nicht zuletzt Beobachtungen des Ameisendaseins haben die Soziobiologie hervorgebracht, welche das soziale Leben dieser und anderer Wesen erforscht. Auch in Deutschland gibt es einige Lehrstühle der sicherlich spannenden Fachrichtung. Apropos Forschung: Es gibt Experten, die Ameisenhügel Schicht für Schicht fachgerecht abtragen, sie zeitweilig ins Labor bringen und die (schon seit rund 200 Jahren unter Naturschutz stehenden) Tiere mitsamt Hügel nach vollbrachten Experimenten wieder genau so in den Wald setzen, wie sie sie abgeholt haben. Bei Robert Lembkes heiterem Beruferaten („Was bin ich?“) wäre damals wohl niemand auf diesen Spezialisten-Job gekommen.

Der vielfach preisgekrönte Fotograf Ingo Arndt, ständig weltweit (u. a. für Zeitschriften wie Geo oder National Geographic und zahlreiche Buchprojekte) unterwegs, ist derzeit in Chile tätig und konnte daher nicht zur Eröffnung seiner Ausstellung nach Dortmund kommen. Am 2. Juli (19 Uhr) aber wird er das Museum besuchen, einen Vortrag und eine Führung absolvieren. Naturinteressierte sollten sich das nicht entgehen lassen.

„Waldameisen – Superheldinnen auf sechs Beinen“. Naturmuseum Dortmund (Münsterstraße 271). Bis 28. September 2025, Eintritt Sonderausstellung 4 Euro (ermäßigt 2 Euro), ständige Sammlung kostenlos. Öffnungszeiten Di bis So 10-18 Uhr, Mo geschlossen.
dortmund.de/naturmuseum
Mail: naturmuseum@stadtdo.de / Tel.: 0231/50-24 856.

P. S.: Zur Ausstellung gehört auch ein Kinderbereich, in dem Ameisen aus Pfeifenputzern und Bleistiften gebastelt oder gemalt werden können.




„Interventionen aus dem Ruhrgebiet“: Gerd Herholz stellt sein Buch „Gespenster GmbH“ in Dortmund vor

Autor Gerd Herholz auf dem Podium einer anderen Veranstaltung. Das Namensschild auf dem Tisch vor ihm enthält leider einen Lapsus. (Foto: © Friedhelm Krischer)

Sonst haben wir’s ja nicht so mit bloßen Termin-Ankündigungen. Diesen kündigen wir aber gern an: Gerd Herholz, bis 2018 langjähriger Literaturvermittler beim Literaturbüro Ruhr (Gladbeck), zudem freier Autor und Journalist, kommt am nächsten Dienstag, 8. April (19.30 Uhr), nach Dortmund, um aus seinem Buch „Gespenster GmbH“ zu lesen, und zwar im Dortmunder Literaturhaus am Neuen Graben 78.

Gerd Herholz zählt dankenswerterweise auch zu den Autoren dieses Revierpassagen-Blogs. Noch besser und passender: Der Band „Gespenster GmbH“ (Untertitel: „Interventionen aus dem Ruhrgebiet“) enthält auch einige Texte, die Herholz ursprünglich just für die Revierpassagen verfasst und fürs Buch überarbeitet hat. Der Einfachheit halber verlinken wir hier noch einmal die Rezension, die an dieser Stelle erschienen ist. Wir haben das Buch empfohlen, also empfehlen wir auch die Lesung. So einfach ist das. Nicht nur pro domo, sondern aus Überzeugung.

Ergänzend sei aus einer Pressemeldung der Stadt Dortmund zitiert: „Neben polemischen Betrachtungen versammelt der Band Begegnungen, engagierte Plädoyers und kritisch würdigende Porträts einzelner Autorinnen und Autoren für eine Literatur, die beharrlich gegen ,Gespenster‘ anschreibt. In seinen Beiträgen und Essays spießt Herholz spöttisch die Blähvokabeln eines Kulturbetriebs auf.“ Nun ja, so gänzlich frei vom üblichen Kulturjargon ist diese städtische Anpreisung auch nicht. Aber sei’s drum, wenn’s doch für die lesens- und hörenswerte Sache ist.

Zur Lesung im Literaturhaus lädt jedenfalls das Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt ein. Arnold Maxwill vom Hüser-Institut, auch Herausgeber des Buches, wird den Abend moderieren. Sportliche Ausflüchte gelten übrigens nicht: Das Spiel Barcelona vs. BVB findet erst am folgenden Abend (9. April) statt…

Gerd Herholz: „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“. Aisthesis Verlag, Bielefeld (Reihe Nyland Dokumente), 240 Seiten, 25 Euro. 

 

 




Ein Fest für alle soll es werden: Ruhrtriennale zielt 2025 auf Besucherrekorde

Was verbindet uns? Wie wollen wir morgen leben? Das fragt die Ruhrtriennale 2025. Hier ein Szenenfoto aus der Oper „We are the lucky ones“ des britisch-deutschen Komponisten Philip Venables. (Foto: Koen Broos)

Vorweg kommen die Loblieder, das ist wenig überraschend. Bei der öffentlichen Vorstellung des neuen Programms der Ruhrtriennale preist NRW-Kulturministerin Ina Brandes die im Vorjahr erreichten Resultate. Von 70.000 Besuchern und von einem „gigantischen Erfolg“ für das erste Jahr der Intendanz von Ivo Van Hove spricht sie. Wie praktisch, dass der Glanz zugleich auf den Initiator und größten Geldgeber ausstrahlen dürfte, mithin auf das Land NRW.

Die „Sehnsucht nach Morgen“ (Longing for Tomorrow) ist weiterhin Motto des Festivals. Es soll diesmal um die Frage gehen, wie wir morgen leben wollen und wie wir Verbindungen zueinander herstellen können. Vom 21. August bis 21. September präsentiert die Ruhrtriennale 35 Produktionen und Projekte in vier Städten (Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck). Erneut will sie zeigen, wie sich Kreativität an den Schnittstellen der Künste entzündet. Diesmal turnt sie munter zwischen Theater, Tanz, Performance, Oper, Konzert, Zirkus und Multimediaspektakel. Fünf Uraufführungen, eine europäische Erstaufführung und neun Deutsche Erstaufführungen finden sich im Spielplan, 45.000 Tickets gingen direkt nach der Pressekonferenz (2. April 2025) in den Verkauf.

Ein Fest soll die Ruhrtriennale nach dem Willen des Intendanten werden, und zwar für möglichst viele Menschen. An der Eröffnungsproduktion lässt sich gut ablesen, wie Ivo Van Hove den Erfolg fortschreiben will. Das Strickmuster gleicht demjenigen aus dem Vorjahr auffallend: Ließ der Triennale-Chef damals Sandra Hüller Songs von PJ Harvey singen, konnte er diesmal den phänomenalen Schauspieler Lars Eidinger sowie die Grimme-Preisträgerin Larissa Sirah Herden gewinnen.

Larissa Sirah Herden und Lars Eidinger sind die Stars der von Ivo Van Hove inszenierten Eröffnungsproduktion „I did it my way“. (Fotos: Max Sonnenschein/Ingo Pertramer)

Mit ihnen inszeniert er den Abend „I did it my way“ zur Musik von Frank Sinatra und Nina Simone. Ein kleines Tanzensemble und eine Band sind auch wieder dabei. Ob dieser Abend tatsächlich eine Geschichte von (weißen) Beharrungskräften und (schwarzer) Befreiung erzählt, statt einfach eine Abfolge von Songs zu bebildern, bleibt abzuwarten. Angekündigt ist diese Koproduktion mit der Staatsoper Stuttgart als „interdisziplinäres Musiktheater“.

In die Kategorie Musiktheater fällt auch die Deutsche Erstaufführung einer Oper des britisch-deutschen Komponisten Philip Venables. „We are the lucky ones“, eine Koproduktion mit der Dutch National Opera, zeichnet ein klingendes Porträt der Generation der Babyboomer. Basierend auf Interviews, entwickelten die Dramatikerin Nina Segal und der Regisseur Ted Huffman ein Mosaik, zu dem Venables – laut Programmheft – „überwältigende Orchesterklänge und intime Arien“ komponierte. Die Bochumer Symphoniker spielen unter der Leitung des polnisch-libanesischen Dirigenten Bassem Akiki.

Weißes Pferd und Taubenschwarm: In „Falaise“ (deutsch: Klippe) erzählt die französisch-katalanische Truppe Baro d’evel poetisch von Untergang und Wiedergeburt der Menschheit. (Foto: François Passerini)

Von den großen Schauspiel-Produktionen sind zwei multimedial: Mit „Oracle“, einem Stück von Anka Herbut über das tragische Leben des Computer-Pioniers Alan Turing, kehrt Lukasz Twarkowski zur Ruhrtriennale zurück. Es geht darin um die dunkle Seite der Technik und eine von der KI geprägte Zukunft. Ganz ohne Worte kommt die Bühnenproduktion „Guernica Guernica“ aus, für die das Theaterkollektiv FC Bergman 2023 auf der Biennale von Venedig den Silbernen Löwen erhielt. Inspiriert von Picassos gleichnamigen Gemälde, reflektiert es die Unmöglichkeit, Krieg darzustellen, indem es die Bühne mit zwei Tribünen umrahmt und neben 80 Statistinnen und Statisten auch das Publikum einbezieht. Ein Hauch von Zirkusluft dürfte mit der Deutschen Erstaufführung von „Falaise“ (zu deutsch: Klippe) einziehen. Acht Darstellende, ein weißes Pferd und ein Taubenschwarm werden Bestandteil eines lebendigen Freskos in Schwarz-Weiß. „Falaise“ erzählt poetisch und akrobatisch von Untergang und Wiedergeburt der Menschheit, soll aber auch für Familien mit Kindern ab 10 Jahren geeignet sein.

Für den Tanz hat die Triennale die Zusammenarbeit mit Stefan Hilterhaus gesucht. Der Künstlerische Leiter von PACT Zollverein spricht über die Uraufführung von „Delay the Sadness“, mit dem die S-E-D Dance Company und die vielfach ausgezeichnete Choreographin Sharon Eyal gastieren. Von der Kraft indigenen Wissens und südamerikanischen Mythen erzählt „Último Helecho“, das Nina Laisné gemeinsam mit François Chaignaud und Nadia Larcher in Deutscher Erstaufführung präsentiert.

Um südamerikanische Mythen und die Kraft indigenen Wissens geht es im Tanzabend „Último Helecho“ auf PACT Zollverein. (Foto. Nina Laisné)

Als Choreographie-Rebellin gilt Roby Orlin aus Südafrika: Ihre Show „… how in salts desert is it possible to blossom…“ wird als farbensprühende Performance über die Auswirkungen der Kolonialisierung angekündigt. Und dann ist da noch der als „Upside Down Man“ bekannte belgisch-tunesische Choreograph und Tänzer Mohamed Toukabri, der sich in einem Solo auf die Suche nach seinen eigenen tänzerischen Wurzeln begibt und so zum Archäologen seines eigenen Körpers wird.

Die Konzerte haben mit klassischer Musik fast nichts zu tun. Immerhin wird der 150. Geburtstag von Maurice Ravel mit einer „Rave-L Party“ gewürdigt. Das französische Kollektiv „Les Apaches!“ sorgt dafür, dass sein berühmter „Bolero“ in die Gefilde des Jazz und schließlich des Techno hinübergleitet und die Zeche Zweckel in Gladbeck zum Dancefloor wird. Chorwerk Ruhr feiert sein 25-jähriges Bestehen gemeinsam mit dem New Yorker Instrumentalensemble „Bang on Can All-Stars“. Gemeinsam bringen sie „before and after nature“ von David Lang zur Deutschen Erstaufführung.

Pablo Picasso mit der Make des Minotaurus. Das Theaterkollektiv FC Bergman ließ sich von seinem berühmten Anti-Kriegsgemälde zu dem Abend „Guernica Guernica“ inspirieren. (Foto: Gjon Mili_The LIFE Picture Collection)

Der Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood hat mit „124 Years of Reverb” ein achtstündiges Werk für Orgel komponiert, das Eliza McCarthy und James McVinnie im Essener Bergmannsdom aufführen werden. Das Publikum darf diese Musikmeditation entweder ganz oder in zweistündigen Zeitabschnitten genießen. Eine Pionierin der elektronischen Musik war die Grammy-Gewinnerin Wendy Carlos, die in der Reihe „Erased Music“ gewürdigt wird. Kunstlieder über Themen, die die Realität vieler Schwarzer Menschen in den USA widerspiegeln, schreibt Tyshawn Sorey, der in der Neuen Musik ebenso zu Hause ist wie im Jazz. Er und sein Trio werden in der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle auftreten.

Post-Punk und Rock aus Anatolien vermischt die feministische Sängerin und Gitarristin Gaye Su Akyol, die als eine der aufregendsten Stimmen des Bosporus angekündigt wird. Aus Island kommt die Oscar-prämierte Komponistin und Cellistin Hildur Gudnadóttir, die Dubstep und indonesischen Ethno-Punkt in einer Lichtshow mit dem Namen „OSMIUM“ zusammenbringt. Ein wenig Händel darf es schließlich auch noch sein, vielleicht auch deshalb, weil der venezolanische Sopranist Samuel Mariño sich nicht nur stimmlich einer Frau anverwandelt. Begleitet wird der Künstler vom Originalklangensemble Capella Cracoviensis unter der Leitung von Jan Tomasz Adamus.

Natürlich gibt es noch weit mehr zu entdecken: den internationalen Festivalcampus, das „Wunderland-Wochenende“, die Literaturreihe „Brave new Voices“, die öffentlichen Künstlergespräche mit dem Intendanten (immer dienstags), die Verleihung des Mortier Awards 2025 (am 21. September in der Jahrhunderthalle), das umfangreiche Programm der „Jungen Triennale“, das jungen Menschen vom 3. Lebensjahr bis zum Studienalter viele attraktive Angebote macht. Wer weiter stöbern möchte, schaue einfach nach unter www.ruhrtriennale.de




Wachsendes Interesse an Musik von Frauen: Warum der Weg ins Repertoire verwehrt blieb und was sich heute ändern muss

Zur „Wiederentdeckung des Jahres“ kürte das Fachmagazin „Opernwelt“ Louise Bertins Oper „Fausto“, die am Aalto Musiktheater im vergangenen Jahr ihre deutsche Erstaufführung feiern konnte. Jetzt war das Stück erneut in Essen zu erleben, mit Mirko Roschkowski (Fausto, rechts) und Almas Svilpa (Mefistofele). (Foto: Froster)

Komponierende Frauen gibt es, seit es die europäische Kunstmusik gibt, nur ist ihnen die Beachtung über den Tag hinaus versagt geblieben. Erst in jüngster Zeit gelingt es Komponistinnen, dauerhaft im Blick der musikalischen Öffentlichkeit zu bleiben. Die vor wenigen Tagen verstorbene Sofia Gubaidulina ist eine von ihnen, oder die Finnin Kaija Saariaho, die 2023 gestorben ist und deren letzte Oper „Innocence“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen eine großartige deutsche Erstaufführung erlebt hat.

Für das Defizit gibt es vielerlei Gründe, die nicht in der Qualität der Musik liegen: Im 19. Jahrhundert etwa waren Frauen wie die Italienerin Orsola Aspri (um 1807-1884) selbstverständlicher Bestandteil des römischen Operngeschäfts, wie die Wiener Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld festgestellt hat. Warum Werken von Frauen den Weg ins historische Repertoire verwehrt wurde, hat gesellschaftliche und ideologische Gründe: eine männlich geprägte Presse, männliche Träger der Überlieferung und der Wissenschaft, schließlich auch der „Geniekult“ des 19. Jahrhunderts, für den ein auf Augenhöhe komponierendes „schwaches Weib“ undenkbar war.

In den letzten Jahren wächst das Interesse an dem, was Frauen hinterlassen haben. Bevor die Qualität ihrer Musik einem nach heutigen Kriterien fundierten Urteil unterworfen werden kann, muss sie erst einmal entdeckt und gehört werden. Denn noch so sorgfältige Editionen, noch so detaillierte musikhistorische Vergleiche nützen nicht viel, wenn sie nur zum Rascheln von Papier führen.

Merle Fahrholz bei der Pressekonferenz zu ihrer Vorstellung als neue Essener Intendantin 2021. (Foto: Werner Häußner)

Merle Fahrholz, die 2022 angetretene und 2027 schon wieder scheidende Intendantin des Aalto-Theaters Essen hat sich dieses Themas schon als Dramaturgin in Dortmund angenommen und für ihre Intendanz die Sicht- bzw. Hörbarkeit der Stimmen von Frauen zu einem programmatischen Schwerpunkt erklärt. Dass ein solches Projekt beim eher vorsichtig-traditionell geprägten Essener Publikum nicht gleich auf heftige Gegenliebe stößt, müsste auch den Verantwortlichen klar gewesen sein, die Fahrholz ihr Vertrauen geschenkt haben. Dass es nun ab 2027 wohl wieder weitergehen könnte, wie gehabt, ist bedauerlich.

Ein französischer „Faust“

Dabei ist nicht recht einzusehen, warum eine Oper wie Louise Bertins „Fausto“ – 2023 in deutscher Erstaufführung auf die Aalto-Bühne gebracht – auch bei einem eher das Gewohnte liebende Publikum nicht auf Gegenliebe stoßen sollte. Die Französin Bertin, eine körperlich beeinträchtigte junge Frau, die von ihrem Vater in jeder erdenklichen Weise gefördert wurde, konnte immerhin drei ihrer vier Opern auf Pariser Bühnen unterbringen – und der Konkurrenzdruck war um 1830 riesig!

Die Essener Aufführung in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca, die im Februar noch einmal für eine kleine Serie wieder aufgenommen wurde, zeigt Bertins Eigenheiten im Umgang mit dem Stoff: Sie benutzt andere Quellen als Goethe und schildert einen Faust, der einem unerreichbaren Glück hinterherjagt und dafür bereit ist, die Existenz der jungen Margarita zu zerstören. Die Menschen in diesem Stück sind wankelmütig, manchmal zynisch, aber auch den Zwängen ihrer Gesellschaft unterworfen. Für die Mädchen etwa ist die Liebe Segen und Fluch zugleich: Sie sehnen sich nach Beziehung, wissen aber auch, wie ambivalent die Ehe als einzige akzeptierte gesellschaftliche Form sein kann. Und Mephisto ist bei Bertin eher ein Kommentator, der sich wundert, wie die Menschen sich ihr Glück und Leben selbst zugrunde richten.

Komponistin Louise Bertin. (Foto: Bru Zane Mediabase)

Das ist ein Stoff, der unter den Libretti bekannter Opern problemlos mithalten kann. Und die Musik? Bertin ist sich ihrer Mittel bewusst. Sie kennt den „Tonfall“ ihrer Zeit: Kantilenen á la Donizetti, Buffoneskes nach Art Rossinis, dazwischen Lyrismen, die aus dem Zauberkasten der erfolgreichen Opern Daniel François Esprit Aubers stammen könnten. Aber der Ton ist auf eine charmante Weise eigen, das Eklektische in der Musik hat seinen Platz. Man spürt, dass es dieser komponierenden Frau ums Ganze geht.

Blick in die Vergangenheit reicht nicht

Den Blick nur in die Vergangenheit zu richten, wäre eine halbe Sache: Frauen gehören in der zeitgenössischen Szene zwar vorbehaltlos dazu. Eine „Quote“ wäre auch abwegig und würde ihrer Musik einen Stempel aufdrücken, der ihr nicht bekommt. Gespielt werden soll, was gut ist. Aber neue Stücke müssen sich durchsetzen – und das bedeutet, dass eine Uraufführung hier und da zwar dienlich, aber nicht nachhaltig ist.

Das Fahrholz-Team weiß das, und hat für eine deutsche Erstaufführung die Oper „The Listeners“ der Amerikanerin Missy Mazzoli nach Essen geholt. Ein Werk, das den Stand des Komponierens in den USA anschaulich repräsentiert. „Accessible and surprising“ beschreibt Mazzoli ihre Absicht, mit ihrer Musik Menschen zu erreichen, ohne Kompromisse in der Qualität zu machen. Bei ihr stehen nicht Form und Struktur im Vordergrund, sondern der Klang, den der Essener GMD Andrea Sanguineti „eine Umarmung“ genannt hat.

Szene aus der Deutschen Erstaufführung von Missy Mazzolis „The Listeners“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Alvise Predieri)

„The Listeners“ ist ein ambivalenter Titel: Es geht um Menschen, die einen Brummton hören, der nicht von innen kommt und als Teil der Außenwelt feststellbar ist. Claire bricht – von diesem Ton gepeinigt – aus ihrer geordneten Lehrerinnen- und Familienwelt aus. Sie schließt sich mit Kyle, einem ihrer Schüler, der den „Hum“ auch hört, einer Selbsthilfegruppe an, die immer deutlicher sektenähnliche Züge zeigt. Schließlich entlarvt Claire den charismatisch-manipulativen Führer Howard und wird selbst zur Anführerin der Gruppe der „Hörenden“. Ein offenes Ende, denn Claire hat sich zwar von ihren bisherigen Rollenzwängen befreit, ob sie aber die Gruppe in eine bessere Zukunft führt, ist fraglich.

Manipulation und Befreiung

Das Thema des Librettos nach einer Erzählung von Jordan Tannahill lässt unterschiedliche Verständnisfacetten zu: Es schildert typische Mechanismen einer Sektenbildung und die Dynamik einer Manipulation, wie sie etwa bei Scientology beobachtet wurde. Aber es rückt auch den Entwicklungsprozess einer Frau ins Zentrum, die zu ihrer eigentlichen Bestimmung durchbricht. Die vieldeutige Figur eines Koyoten, dargestellt von einem Tänzer, eröffnet zusätzliche Horizonte, wenn man die Rolle des Tieres in der amerikanischen Mythologie einbezieht oder in ihm ein Symbol von „Wildheit“ oder „Natur“ erblickt. Anna-Sophie Mahlers Inszenierung hat diese Aspekte von Mazzolis Oper anklingen lassen, ohne sich zu sehr festzulegen.

Zur letzten Vorstellung von „The Listeners“ stellt sich im Rahmen des Festival „her:voice“ die extra angereiste Komponistin Missy Mazzoli den Fragen des Publikums. (Foto: Werner Häußner)

„The Listeners“ ist auch beachtenswert, weil es gelingt, einen zeitgenössischen Stoff ohne literarische Vorbilder oder historische Bezüge auf die Bühne zu bringen. Das erreichte auch Kaija Saariahos „Innocence“, zu der die finnische Librettistin Sofi Oksanen die Grundlage geliefert hat. Auch hier geht es um Gegenwärtiges: Zehn Jahre nach einem Schulmassaker müssen sich die Familie und die Schulfreunde des Amokschützen ihren Erinnerungen, ihren Gefühlen und auch ihrer Mitschuld stellen. In der Regie von Elisabeth Stöppler und der musikalischen Ausdeutung durch Valtteri Rauhalammi gelang ein erschütternder Abend im Musiktheater. Derzeit wird das Werk auch an der Semperoper Dresden in einer Inszenierung von Lorenzo Fioroni gezeigt.

Für die Amerikaner ist das „well made play“ ein wichtiges Kriterium für ein Stück – ein Konzept, das von manchen von Intellekt triefenden Libretti der deutschen Opernszene weit entfernt ist. Mazzolis Librettist Royce Vavrek gehört zu den am meisten gefeierten Musiktheater-Literaten der USA. Warum, war nicht nur in „The Listeners“ erfahrbar: Die Oper „Dog Days“ etwa, die er mit dem Komponisten David T. Little 2012 geschaffen hat, war in Bielefeld, Schwerin und Braunschweig zu sehen und hat in ihrer dystopischen Rätselhaftigkeit den Ruf Vavreks bestätigt. Für die „New York Times“ hat die Oper das Zeug zum „bahnbrechenden amerikanischen Klassiker“.

Kammermusik und Symphonik

Viel mehr noch als für die Oper haben Frauen im Bereich der Kammermusik geleistet. Sie waren entweder selbst ausübende Musikerinnen wie Clara Schumann, Sängerinnen wie Pauline Viardot-Garcia, oder hatten die private Sphäre eines Salons als Plattform, um sich als Komponistin zu zeigen. Wie diese Werke klingen, war in Essen beim zweiten Komponistinnenfestival „her:voice“ hörbar: In einem Kammerkonzert erklang Musik von Alma Mahler-Werfel, die derzeit auch im Essener Museum Folkwang in einer Ausstellung („Frau in Blau – Oskar Kokoschka und Alma Mahler“) präsent ist. So gut wie unbekannt sind ihre Zeitgenossinnen Evelyn Faltis (1887-1937) und Mathilde Kralik von Meyerswalden (1857-1944).

Alma Mahler stand auch beim Symphoniekonzert der Essener Philharmoniker im Zentrum: Bearbeitet für Alt und Orchester von Jorma Paula, erklangen fünf ihrer Lieder, die erhalten sind, weil sie der begeisterte Gustav Mahler im Druck erscheinen ließ. Es sind lyrische Miniaturen, durchtränkt von spätromantischer Melancholie, in denen sich Liebende im weiten Wald in sternlosem Dunkel finden und im düsteren Nebel ein Kindermund ein „Lichtlein“ aufgehen lässt. Bettina Ranch sang die Kostbarkeiten, gestützt von der gekonnt revitalisierten romantischen Orchestersprache, eher auf Klang als auf Deklamation bedacht mit weich strömenden Vokalen und Brokatschimmer im Timbre.

Auch im Falle der Symphonik wirkt in der Entstehung des „Kanons“ von Beethoven bis Bruckner und Mahler ein analytischer Filter mit: Relevant und anerkannt ist, was gattungsgeschichtlich Neues mit sich gebracht hat. Zu den nicht wenigen Symphonien, die diesen Anspruch nicht erfüllen, aber dennoch satztechnisch tadellose, abwechslungs- und einfallsreiche Musik bieten, gehören nicht nur Werke komponierender Frauen. Auch Symphoniker wie Charles Gounod oder Louis Théodore Gouvy ereilte das Schicksal einer – zudem nationalistisch gefärbten – Nichtbeachtung. Wie viel schwerer haben es in solchem Ambiente komponierende Frauen wie Emilie Mayer (1812-1883), Louise Farrenc (1804-1875) oder Charlotte Sohy (1887-1955) mit ihrer einzigen Symphonie.

Einfallsreich und professionell

Wer die Werke hört, die sich allmählich in Konzertprogrammen durchsetzen, kann nur bedauern, wie solche einfallsreichen und professionellen Arbeiten einfach verschwinden konnten. Sohys cis-Moll-Sinfonie „La grande guerre“, geschrieben 1914-1917, erstmals aufgeführt 2019, ist nur bedingt dazu zu zählen. So eindrucksvoll die gedrückte Stimmung des Beginns ist, so gekonnt sie Melodien ausbreitet und im zweiten Satz „vif“ Scherzo-Anklänge einführt: Die Instrumentierung ist stets dick, Kontraste fehlen und dem Hörer fällt es schwer, thematische oder strukturelle Fixpunkte zu erkennen – zumal die Essener Philharmoniker unter der sich wacker durchschlagenden Düsseldorfer Kapellmeisterin Katharina Müllner nicht zur gewohnten plastischen Durchzeichnung der dichten Gewebe finden. Da fällt der Kontrast zur Musik einer souveränen Könnerin drastisch aus: Kaija Saariahos „Ciel d’Hiver“ ist ein Meisterstück feinster fragiler flimmernder Klänge, in dem die Essener Philharmoniker zeigen, wie gut sie ihre solistischen Passagen untereinander abstimmen.

Überzeugender wirkt, was der Dirigent Jakob Lehmann vor einiger Zeit in Köln mit dem Concerto Köln aus Frauenfeder präsentiert hat: Louise Farrenc (1804-1875) ist in den Jahren 1845 bis 1849 mit drei Sinfonien hervorgetreten, die allen Maßstäben ihrer Zeit standhalten können. Auch ihre in Köln erklungene Es-Dur-Ouvertüre op. 24 aus dem Jahr 1834 ist ein mitreißendes Werk, vom düsteren Don-Giovanni-Pathos der Einleitung, über die einprägsame Thematik des Allegro bis zur gekonnten Finalwirkung. Man hört eine abwechslungsreiche Instrumentierung und aparte melodische Erfindung. Auch Emilie Mayers viersätzige Sinfonie Nr. 7 in f-Moll von 1856 kann mühelos mithalten: eine regelgerechte, dennoch nicht unoriginelle Sonatenform im Kopfsatz, ein farbenreicher Gesang im Adagio, der sich im Blech hymnisch erhebt, ein Scherzo mit rhythmischem Pep und einigen Überraschungen und ein energisches Finale. Das ist Musik, die man gerne wieder hört.

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Im Januar 2027 plant das Aalto-Theater Essen die Uraufführung der Oper „Day of Night“ der finnischen Komponistin Outi Tarkiainen. „Day of Night“ ist eine Koproduktion des Aalto Musiktheaters und der Finnish National Opera, wo die Oper dann im Herbst 2027 gezeigt wird. „Day of Night“ basiert auf dem gefeierten Debütroman „Halla Helle“ von Niillas Holmberg. Das Buch setzt sich den in Nordskandinavien beheimateten Sámi, dem einzigen indigenen Volk Europas, auseinander, dem Holmberg selbst angehört. Der finnisch-französische Autor Aleksi Barrière hat aus dieser Vorlage ein packendes Opernlibretto geschaffen. Intendantin Merle Fahrholz schreibt dazu: „Die Oper thematisiert den Wandel einer Region hinsichtlich Natur und Industrie, der sich auch im Ruhrgebiet beobachten lässt.“




Kraftvolles Schauspiel – Anna Drexler als wilde wie wohltätige Krähe in „Trauer ist das Ding mit Federn“

Anna Drexler ist die Krähe (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Wer Anna Drexler noch auf der Bühne des Schauspielhauses erleben will, sollte sich sputen. Denn in der kommenden Spielzeit wechselt diese großartige Künstlerin ihren Arbeitgeber, geht von Bochum ans Münchner Residenztheater. Im Zusammenspiel mit Maja Beckmann haben wir Anna Drexler (Jahrgang 1990) auf diesen Seiten früher schon bewundert und gepriesen. „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ hieß das Stück, das im Mai 2023 Premiere hatte. Da spielt sie eine junge Frau, was nicht verwundern muß. In „Trauer ist das Ding mit Federn“ aber, dem Stück, von dem hier die Rede sein soll, ist sie eine Krähe. Und was für eine!

Tod der Mutter

Nach wenigen Minuten Bühnenpräsenz verschwindet die Frage, ob der Besuch dieses Krähentheaters noch lohnen würde, ganz still und endgültig in der Versenkung. Obwohl, nun ja: Die Geschichte ist eigentlich traurig. Vater und Kinder betrauern nämlich den Tod der Mutter. Alles erinnert an sie, das nachbarschaftliche Umfeld zeigt die übliche Zuwendung, doch ein Zurück zur Normalität will nicht gelingen, zumal dem Vater (Risto Kübar) nicht, der wie gelähmt ist vom Verlust. Mit seinem Verlustmonolog startet das Stück, und man macht sich auf, zurückhaltend ausgedrückt: Längen gefaßt.

Vater und Kinder (von hinten nach vorne): Risto Kübar, Jing Xiang, Alexander Wertmann (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Eigentlich unverschämt

Doch dann ist plötzlich die Krähe da und mischt die Familie auf. Stellt respekt- und pietätlose Fragen, fragt die Kinder nach Eigenheiten der Mutter und läßt sie, unerhört eigentlich, von ihnen nachspielen; wendet sich mit Erklärungen dem Publikum zu, veranstaltet eine heitere Fragerunde, kümmert sich um den Vater im Bett, bewahrt ihn späterhin vor der „falschen Frau“ oder der Vorstellung von ihr, ist mal cool, mal aufgekratzt (eine Krähe eben), und bezeichnen läßt sich die Rolle der Krähe eigentlich nur vom Ergebnis her: Nach ihren Auftritten geht es allen besser; nicht gut, aber besser. Und das alles ist sicherlich auch ein bißchen pädagogisch, aber deshalb nicht verkehrt.

Mythologisches Tier

Natürlich kann man fragen, warum nun gerade eine Krähe mit ihrer mythologischen Aufladung und ihren durchaus auch animalischen Impulsen den Störenfried in der familiären Tristesse geben muß. Als Antwort mag der Hinweis dienen, daß die literarische Vorlage für das Stück der gleichnamige Roman des englischen Autors Max Porter war, der seinen Titel wiederum einem Gedicht von Emily Dickinson verdankte. Und der eben eine Krähe für diese Rolle vorsah. Der Vater übrigens, quasi augenzwinkernde inszenatorische Fußnote, ist Literaturwissenschaftler und versucht – erfolglos – das Krähen-Thema zu bearbeiten.

Anna Drexler als entspannte Krähe (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Komödiantin von hohen Gnaden

Die Wirkmächtigkeit dieser Inszenierung aber, um jetzt endlich darauf zurückzukommen, liegt im annähernd dauerpräsenten Bühnenspiel der Künstlerin Anna Drexler. Ja, sie ist – und das soll hier ein Kompliment sein – eine Rampensau und eine Komödiantin von hohen Gnaden; doch gelingt es ihr fast gleichzeitig, das Rätselhafte, die Ambivalenz, die Unsicherheit, auch die Begrenztheit ihrer (Krähen-) Möglichkeiten herauszuspielen. Alles ist besser als unabsehbare Trauerstarre, sagt die Inszenierung, sagt ihre Hauptfigur.

Fabelhafte Tänzer

Neben einer solchen Krähe haben die anderen Darsteller keinen leichten Stand. Also müssen sie tanzen! Jing Xiang und Alexander Wertmann, die Kinder, tun dies mehrfach, entwickeln aus scheinbar alltäglichen Bewegungen unglaubliche Tanzfiguren, spielerisch und hoch artistisch zugleich, homogen eingefügt in den Fluß des Geschehens, beeindruckend.

Außerdem auf der Bühne: Nina Steils als Mutter, in gebührlicher Zurückhaltung spielend, wenn sie nicht gerade das Falsche-Frau-Monster ist und sich mit der Krähe einen ritterlichen Zweikampf bis zum bitteren Ende liefern muß, sowie Jasmin Kruezi als Kameramann, der übrigens auch für das Videodesign genannt wird.

Reichen Applaus gab es, was auch sonst, und das angenehm nachwirkende Gefühl, saftiges, kraftvolles Schauspiel erlebt zu haben. Bitte mehr davon.




Diese ungeheure, schöpferische Wut – Biographie über Rolf Dieter Brinkmann

Eigentlich kommt sie reichlich spät auf den Markt, diese Biographie des – je nach Observanz – genialen oder genialischen Dichters Rolf Dieter Brinkmann. Der Mann starb bereits am 23. April 1975, als er in London von einem Auto erfasst wurde. Seither hat das Mythenwesen um seine Person unter mehr oder weniger Kundigen kaum abgenommen, ja, es hat mitunter kultische Züge getragen.

Die Lebensbeschreibung, die Michael Töteberg und Alexandra Vasa jetzt vorlegen, ist recht ausführlich geraten, sie geht in manchen Passagen gar sehr ins Detail und zitiert seitenweise aus Notizen, Briefen und sonstigem Nachlass, dessen Inhalt bislang noch weitgehend unbekannt war. Es gilt eben, manch Versäumtes nachzuholen und verborgene Quellen zu öffnen. Brinkmanns Lebensgefährtin Maleen und der langjährige Wegbegleiter Ralf-Rainer Rygulla haben unschätzbar wertvolle Einblicke ermöglicht.

Es beginnt mit Brinkmanns Kindheit, aus der ein fortwährendes Kriegstrauma erwuchs. Brinkmann wurde am 16. April 1940 im späterhin hassgeliebten, ausgesprochen provinziellen Vechta (Niedersachsen) geboren. In seinen frühen Lebensjahren hat er kriegerische Zeiten miterlebt, ohne etwas davon begreifen zu können. Da dürfte einiges flackernd nachgewirkt haben.

Viele fürchteten sich vor ihm

Mit Worten, die heute korrekterweise nicht mehr verwendet werden, beschrieb er hernach seine Schulzeit: „Ich bin von Krüppeln erzogen worden mit Krüppelvorstellungen!“ Auf „Korrektheiten“ hat er eh nie etwas gegeben, oft hat er sich wie ein unerbittlicher Berserker oder auch (Zitat) „Kotzbrocken“ aufgeführt. Er sorgte für manchen Skandal, ließ manche Veranstaltung entgleisen. Er war einer, vor dessen Zorn viele sich fürchteten – ob nun im alltäglichen Umgang oder in literarischen Debatten. Schon Leute, die ihn ungefragt „duzten“, mussten sich auf Tiraden gefasst machen.

Bereits mit 16 Jahren hatte er Schreibversuche an diverse Verlage geschickt – zunächst vergebens. Es war die Zeit der notdürftig hektographierten Blätter. Immerhin gab es bald knappe (ziemlich negative) Gutachten von Größen wie Enzensberger und Rühmkorf oder auch Dieter Wellershoff, der anfangs sehr skeptisch war, sich aber irgendwann als Lektor bei Kiepenheuer & Witsch für den jungen Autor einsetzte – bis der allzeit reizbare Brinkmann auch ihn vor den Kopf stieß.

Finanziell äußerst prekäres Dasein

Nach einigen Umwegen (u. a. Buchhandels-Lehre in Essen) war Brinkmann nach Köln gezogen, wo er – ungeachtet gewisser Erfolge – über Jahre hinweg ein finanziell äußerst prekäres Dasein fristete; an seiner Seite: die Gefährtin Maleen und der geistig behinderte Sohn Robert. Lastender Alltag, fürwahr, dessen Niederungen wohl vor allem Maleen zu bewältigen hatte.

Von den wenigen Buchpublikationen (Roman „Keiner weiß mehr“) konnten sie jedenfalls kaum leben, sie darbten immerzu auf Pump. Nur die Arbeit für Rundfunkanstalten (zumal Hörspiele, wobei er sich etwa für Schmerzensschreie authentische Anlässe wie unverhoffte Ohrfeigen für die Sprecher wünschte) hielt die Kleinfamilie halbwegs über Wasser. Es gibt in allen Künsten so viele dieser betrüblichen Geschichten.

Mit ihm dämmerte Künftiges herauf

Zusammen mit (und doch zutiefst getrennt von) schreibenden Kollegen wie z. B. Nicolas Born, H. P. Piwitt, Hans Christoph Buch, Peter O. Chotjewitz und schließlich Jürgen Theobaldy verkörperte Brinkmann so etwas wie die anfängliche Aufbruchstimmung, aber auch die baldige Verzweiflung und Resignation der 1960er und frühen 70er Jahre. Wer immer damals ins vertiefte Lesen gefunden hat, wird eine solch exemplarische und zugleich außerordentliche Biographie gewiss mit besonderem Interesse goutieren. An einem wie Brinkmann kam man damals schwerlich vorbei. So grundverschiedene Zeitgenossen wie Peter Handke und Marcel Reich-Ranicki sahen mit ihm schlichtweg Zukunft heraufdämmern.

Angewidert vom verfallenden Rom

Ausgiebig nachgezeichnet werden Phasen wie Brinkmanns Stipendiaten-Aufenthalt in der Villa Massimo zu Rom (literarische Frucht: „Rom, Blicke“), wo er sich von allen anderen Stipendiaten, deren Kunstanstrengungen und geldversessene Gelegenheitenmacherei er verachtete, entschieden unfreundlich absetzte. Die „ewige Stadt“ bestand nach seinem Empfinden ohnehin nur aus Schmutz und Verfall. Man liest es mit Befremden, auch Töteberg und Vasa kommentieren es sehr distanziert. Es war das Gegenteil von Goethes verzücktem Italien-Erleben. Und doch ist zu ahnen, dass auch Brinkmanns monströse Wut ungeahnte Energien freigesetzt haben muss, deren Furor sich nicht zuletzt gegen die konsumistische Zurichtung der „westlichen“ Lebenswelt richtete. Was hätte Brinkmann wohl zu vollends entfesselten Zuständen im Zeichen von Internet und KI gesagt?

Näher beschrieben wird auch Brinkmanns Gastdozentur in Austin (Texas/USA), wo er den Germanistik-Studenten von jederlei öder Sekundärliteratur abriet und statt dessen ureigene, möglichst kreative Ansätze im Umgang mit Literatur empfahl. In diesem Sinne steht zu vermuten, dass Brinkmann eine Biographie über sein gelegentlich wüstes Erdenwallen (Suff und gezielter, nicht grenzenloser Drogenseinsatz inklusive) wohl in Bausch und Bogen verworfen hätte. Allerdings entflammte er in Austin auch für Ideen zu einem ganz anderen Grundschul-Unterricht, was so gar nicht zum unversöhnlichen Wutschreiber zu passen scheint.

Leitfiguren Jahnn, Benn und Arno Schmidt

Gegen Ende hin geht es noch um die Geburtswehen seines literarischen Vermächtnisses, des ungemein komplexen Gedichtbandes „Westwärts 1 & 2″, der heute zu den wahrhaft unklassischen „Klassikern“ aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt. Tatsächlich sollte man sich diesen Band nach Kräften intensiv erschließen. Eine biographische Annäherung mag hilfreich hinzukommen, reicht aber bei weitem nicht an sein Werk heran. Welche Dimension es haben könnte, deutet ein Zitat von Heiner Müller auf dem Buchumschlag an: Brinkmann sei „Vielleicht das einzige Genie der westdeutschen Nachkriegsliteratur“.

Zwischendurch ist man geradezu froh und erleichtert, wenn man erfährt, dass Brinkmann auch ein paar wenige Schaffende gelten ließ: Hans Henny Jahnn allen voran. Gottfried Benn. Arno Schmidt. Die Filmemacher der Nouvelle Vague (Truffaut, Godard etc.). Und natürlich US-amerikanische Beatpoeten und Pop-Dichter wie Burroughs, die ihn auf seine spezielle Spur brachten. Im deutschsprachigen Raum war es beispiellos, wie Brinkmann Gedichte mit Alltagsfetzen, Popsongs, Kinoschnipseln und spontan fotografierten Bildern collagierte. Die Verlage kapitulierten beinahe vor seinen formalen und inhaltlichen Ansprüchen. Hätten sie in allen Punkten nachgegeben, wären die Bücher schier unbezahlbar geworden. So aber ist es immer noch auf- und anregend, dass es sie gibt.

Michael Töteberg / Alexandra Vaasa: „Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biographie“. Rowohlt, 398 Seiten mit einigen Bildtafeln, Fundstellen- und Literatur-Verzeichnis. 35 Euro.

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P. S. Hinweis für etwaige weitere Auflagen: Der denn doch sehr bekannte Künstler, der auf Seite 285 „Emil Schuhmacher“ genannt wird, schreibt sich ohne „h“, also Schumacher.




Subtile Facetten, plakative Momente: Dmitri Schostakowitschs Elfte Sinfonie in Düsseldorf

Alina Ibragimova und Michael Sanderling nach dem Konzert der Düsseldorfer Symphoniker in der Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Susanne Diener)

Bei Michael Sanderling, trifft zu, was oft nur als Lobpreis-Rhetorik zu klassifizieren ist: Er ist ein geborener Schostakowitsch-Dirigent. Zu erleben war die konzentrierte Rhetorik, der tiefinnerliche Ernst, den er den Sinfonien mitgibt, jetzt in der Düsseldorfer Tonhalle in einem Konzert mit den Symphonikern.

Michael Sanderling kam 1967 in Ost-Berlin zur Welt, er ist Sohn des Dirigenten Kurt und der Kontrabassistin Barbara Sanderling. Sein Vater hat nicht nur eine Reihe Schostakowitsch-Sinfonien mit dem Berliner Sinfonie-Orchester und anderen aufgenommen, er war auch eng mit dem Komponisten aus der Sowjetunion befreundet. Sanderling erinnert sich in einem Interview an die „sehr eindrückliche Persönlichkeit“ mit der besonderen Stimme und der angespannten, fast angsteinflößenden Mimik. Zum Biographischen – das für sich gestellt ja noch nicht viel aussagt – tritt ein Eintauchen in die Musik von klein an hinzu. Als deren Höhepunkt hat Sanderling mit der Dresdner Philharmonie alle 15 Sinfonien Schostakowitschs aufgenommen: Zeugnisse einer intensiven Beziehung, die aus beharrlichem Studium und aus tief verwurzelter Liebe lebt.

In diesem Jahr begeht die musikalische Welt am 9. August den 50. Todestag des Komponisten. Anlass für eine große Werkschau mit allen Sinfonien und Solokonzerten vom 15. Mai bis 1. Juni im Gewandhaus Leipzig. Da mitzuziehen, fällt schwer, aber auch die Orchester und Konzerthäuser in der Rhein-Ruhr-Region setzen ihre Schwerpunkte. So hielt es die Philharmonie in Essen im Februar mit dem Zweiten Klavierkonzert mit Anna Vinnistkaya und den Streichquartetten Nummer eins und neun mit dem Jerusalem Quartet.

Präsent, aufmerksam, klangpoliert

Die Symphoniker in Düsseldorf würdigten Schostakowitsch mit der Elften Sinfonie mit Sanderling am Pult – ein Konzert, das zum Ereignis geriet. Nicht nur, weil die Düsseldorfer sich präsent, aufmerksam und klangpoliert wie selten dieser expressiven Musik widmen. Michael Sanderling gelingt es, dem Orchester die subtilen Facetten, aber auch die plakativen Momente dieser beschreibenden, manchmal wie Filmmusik wirkenden Komposition zu entlocken. Denn mit der klassischen Form hat Schostakowitsch wenig im Sinn. Nur die vier Sätze erinnern an das früher unabdingbare Gerüst; der Inhalt schildert, statt motivisch-thematische Entwicklungen zu forcieren. Die Themen beruhen auf Arbeiter- und Revolutionsliedern; der letzte Satz zitiert mit typisch ironischem Hintersinn die „Warschawjanka“ aus der Zeit, als die Polen gegen Russland um ihre Selbständigkeit kämpften.

Mit dem Titel „1905“ hat der Komponist der Sinfonie einen historischen Bezugspunkt gegeben: den Volksaufstand des 9. Januar 1905 in Sankt Petersburg, den der Zar mit brutaler Gewalt beenden ließ. Schostakowitsch hatte jedoch eher den niedergeschlagenen ungarischen Aufstand von 1956 im Sinn, als er das Werk ein Jahr später schrieb – eine Konnotation, die damals auf keinen Fall offen zutage treten durfte.

Schostakowitsch wäre jedoch nicht einer der führenden Komponisten des 20. Jahrhunderts, hätte er lediglich sinfonische Filmmusik entworfen. Zwischen allen vier Sätzen gibt es motivische Verzahnungen, erklingen Reminiszenzen an bereits Gehörtes oder Details, die in einem späteren Satz musikalisch bedeutsam werden. Sanderling gestaltet die Balance der Klänge so, dass die strukturierenden Elemente hervortreten, stört aber nicht den „erzählenden“ Fluss der Entwicklung.

Solistische Herrlichkeiten

Große Geste, aber nicht viel zu erzählen: Alina Ibragimova mit den Düsseldorfer Symphonikern in der Tonhalle Düsseldorf. Michael Sanderling und das Orchester überzeugten dagegen mit Schostakowitschs 11. Sinfonie. (Foto: Susanne Diener)

Dabei kann er sich auf die Symphoniker verlassen. Das gespannte Pianissimo der Streicher zu Beginn mit seinen engen Intervallen schafft Atmosphäre, statt Melos oder gar eine Thematik vorzugeben, wird aber im Lauf der Sinfonie zu einem wiederkehrenden Motiv im Geschehen. Trompetensignale, kleine Trommel, Pauken, dann die Holzbläser mit einer ersten Melodie – das sind allmählich aufgebaute, sich intensivierende Bausteine. Mahler grüßt von ferne, und Sanderling erweist sich als Meister des atmosphärischen Spannungsaufbaus. Immer wieder nimmt er auch die Steigerungen der Dynamik zurück, damit er die Reserven an dramatischen Knotenpunkten voll ausspielen kann. Die explodieren im zweiten Satz, der die Hetzjagd und das Massaker an den Arbeitern schildert, mit Trommelgerassel wie MG-Salven, jagenden Streichern, gellenden Bläsern – und dann gespenstischer Ruhe.

Im dritten Satz mit der Überschrift „Ewiges Andenken“ hören wir die tiefen Streicher wie aus einem Guss, einen düster-erhabenen Choral, große, weite Melodielinien und – stets plastisch geschichtet – das Ostinato-Fundament der Musik. Das riesige Aufbäumen des letzten Satzes mündet in Glocken – ob Sieges- oder Totenglocken, das bleibt offen. Das Düsseldorfer Orchester glänzt als Ganzes, aber auch in solistischen Herrlichkeiten wie der Bassklarinette, dem Fagott oder der sensibel den Ton stufenden Blechbläserabteilung.

Strangulierter Lyrismus

Etwas erzählen sollte auch das Violinkonzert Ludwig van Beethovens, das Sanderling vor die Elfte stellte – aus seiner Sicht eine sinnige Wahl, weil er zwischen Schostakowitsch und Beethoven das einigende Band einer gesellschaftlich bewusst agierenden Musik erkennt. Die Solistin Alina Ibragimova beginnt zu den noch etwas metallharsch klingenden Violinen des Orchesters mit einem vorsichtigen, fast zärtlichen Ton, filigran, aber gefestigt. Sie hält den Kontakt mit Konzertmeister Dragos Manza, interagiert mit dem Orchester, bettet ihr Instrument in den Klang ein.

Aber es gelingt ihr nicht, im Laufe des ersten Satzes den Ton zu befreien: Ihr Forte weitet sich nicht strömend, sondern bliebt anämisch, bricht nicht aus stranguliertem Lyrismus aus. Am schönsten fließt noch das Larghetto des zweiten Satzes; im dritten bleiben Schwung und wilde Kadenz-Entschlossenheit unbefreit. Der Charakter der Bekenntnismusik, der das Konzert mit Schostakowitsch verbinden könnte, will sich nicht zeigen.

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Mehr von Schostakowitsch in der Region

Schostakowitsch steht in der Region noch mehrfach auf den Programmen in Oper und Konzert: Die Deutsche Oper am Rhein zeigt am 30. März und an weiteren Terminen im April und Mai die konzentrierte, auf Beiwerk verzichtende Inszenierung Elisabeth Stöpplers von „Lady Macbeth von Mzensk“ mit dem eindrucksvollen Dirigat von Vitali Alekseenok. In Köln spielt das Gürzenich-Orchester am 6., 7. und 8. April unter Eliahu Inbal die 15. Sinfonie. Die Achte steht am 6., 7. und 11. Mai auf dem Programm des Sinfonieorchesters Münster unter Golo Berg. Am 10. Mai spielt Lahav Shani mit Musikern des Israel Philharmonic und der Münchner Philharmoniker das g-Moll-Quintett op. 57 im Konzerthaus Dortmund.

Am 5. Juni ist das Jerusalem Quartet in der Tonhalle Düsseldorf zu Gast mit Schostakowitschs Streichquartett Nr. 12. Am 8. und 9. Juni erklingt in Köln die Fünfte mit dem Gürzenich-Orchester unter dem designierten neuen Kapellmeister Andrés Orozco-Estrada. Joseph Trafton dirigiert am 17. Juni das Philharmonische Orchester Hagen mit der Zehnten. Beim Klavier-Festival Ruhr gibt es dann einen Schostakowitsch-Schwerpunkt mit Evgeny Kissin. Am 2. Juli spielt er in der Tonhalle Düsseldorf die h-Moll-Sonate op. 61 und eine Auswahl aus den Präludien und Fugen; am 7. Juli ist er im Anneliese Brost Musikforum Ruhr Bochum zu Gast. U.a. mit Gidon Kremer (Violine) spielt Kissin dort die letzten Werke, die Schostakowitsch vor seinem Tod 1975 komponiert hat.

Im Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz finden von 26. bis 29. Juni die 16. Internationalen Schostakowitsch Tage statt. Info: https://www.schostakowitsch-tage.de/

Weitere Informationen zu Dimitri Schostakowitsch auf der Seite der Deutschen Schostakowitsch-Gesellschaft: https://www.schostakowitsch.de/




Phantasien des Gehirnchirurgen – Leon de Winters Roman „Stadt der Hunde“

Seit einigen Jahren ist es still geworden um Leon de Winter, der einst mit „Hoffmanns Hunger“, „Sokolows Universum“, „Serenade“ und „Zionoco“ die Bestseller-Liste stürmte. Nach einer fast zehnjährigen Pause kommt ein neuer Roman des inzwischen 70jährigen Autors in die Buchläden: „Stadt der Hunde“.

Früher hat de Winter, dessen Familie fast vollständig im Holocaust umkam, einen an Woody Allen erinnernden leichten, witzigen Ton gepflegt, wenn er von den Alpträumen der Überlebenden sprach und sich über antisemitische Dummheiten lustig machte. Seit dem 7. Oktober 2023 ist er schockiert vom offenen Antisemitismus. „Ich glaube“, meint er in einem Interview, „dass das jüdische Leben in Europa bis 2050 der Vergangenheit angehören wird.“

Verschollen auf der Suche nach jüdischen Wurzeln

Jaap Hollander, die Hauptfigur des neuen Romans, ist ein Genie der Gehirnchirurgie. Als Sohn armer jüdischer Eltern aus Amsterdam hat er ich empor gearbeitet zum Star am Mediziner-Himmel. Mit den jüdischen Traditionen kann er nichts anfangen. Als seine Tochter Lea mit 17 nach Israel reist, um sich ihrer jüdischen Wurzeln zu vergewissern, findet er das befremdlich. Die Reise seiner Tochter wird für Jaap zu einem schweren Schicksalsschlag. Denn Lea kehrt von einem Ausflug in die Wüste Negev nicht zurück und bleibt spurlos verschwunden. Das ist zehn Jahr her. Seitdem reist Jaap immer wieder nach Israel, um nach seiner Tochter zu suchen. Dass er dabei sich selbst und sein verdrängtes Judentum neu entdeckt, liegt auf der Hand.

Wenn der Frieden von einer Operation abhängt

Den israelischen Ministerpräsidenten hält Jaap für einen Demagogen und Populisten. Umso überraschter ist er, als ihn der Ministerpräsident bittet, eine riskante Operation durchzuführen, deren Erfolgsaussichten verschwindend gering sind, die aber das Leben einer Patientin retten und der Welt den Frieden bringen könnte. Es geht um die Tochter des saudischen Prinzen, der nicht davor zurückschreckt, seine politischen Feinde umzubringen. Noora, die Tochter des Prinzen, ist vom saudischen Königshaus auserkoren, als erste Frau den Thron zu besteigen, die Gesellschaft zu reformieren und für die Gleichheit von Mann und Frau zu sorgen. Vom Sohn armer Juden aus Amsterdam hängt es also ab, ob das Mädchen überleben und die politische Utopie umgesetzt werden kann. Das klingt kurios, ist aber von Leon de Winter so plausibel ausphantasiert, dass man fast glauben möchte, der Friede in Nahost und der demokratische Wandel in der arabischen Welt könnten mit einem scharfen Seziermesser aus dem Unfrieden der Welt und den verwirrten Köpfen der Menschen regelrecht herausgeschnitten werden.

Alles läuft auf den Alptraum vom 7. Oktober 2023 zu

Als Jaap an der Stelle in der Wüste, an der man Leas Rucksack fand, Gedenksteine niederlegt, nähert sich ihm ein Hund, der ihm auf Schritt und Tritt folgt, mit ihm redet und sagt, er könne ihn zu Lea ins Reich der Toten bringen: Spökenkiekerei, Wahnvorstellung von Jaap, der nach einem Unfall nicht mehr aus seiner Operations-Narkose erwachen mag und seinen Traum mit der Realität verwechselt.

Der wahre Alptraum kommt aber erst noch. Denn der betörend vielschichtig erzählte und verstörend eigenwillige Roman läuft auf ein Datum zu, das in unser Gedächtnis eingebrannt ist: 7. Oktober 2023.

Leon de Winter: „Stadt der Hunde“. Roman. Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer. Diogenes Verlag, Zürich. 268 Seiten, 26 Euro.




Wenn alle Dämme brechen: Takis Würgers tränenseliger Liebesroman „Für Polina“

Bevor Takis Würger Schriftsteller wurde, berichtete er als Journalist aus Afghanistan, Libyen und dem Irak. Sein erster Roman („Der Club“) wurde zum Bestseller. Sein zweiter Roman („Stella“) löste eine Feuilleton-Debatte über die Frage aus, ob es erlaubt sei, eine jüdische Gestapo-Kollaborateurin zum Mittelpunkt eines Liebesromans zu machen. Sein neuer Roman („Für Polina“) hält sich von allen Fallstricken fern.

Die literarischen Figuren müssen diesmal über kein politisches Glatteis schlittern und werden in keine historisch und ideologisch kontaminierten Handlungen verwickelt. Nachteil: Takis Würger hat einen tränenreichen, herzerweichenden Liebesroman geschrieben, der in all seinen Wegen und Irrwegen vollkommen voraussehbar ist.

Beinahe wie einst Beethoven

Gefüllt ist der Roman mit musikalischen und literarischen Verweisen, die den unglücklich verliebten Märchenkindern zeigen könnten, was sie tun müssten, um dem Jammertal ihrer ausweglosen Liebesgeschichte zu entkommen. Hannes wird schon als Jugendlicher ein Klavier-Stück für Polina komponieren und darin all seine Sehnsucht ausdrücken, so wie  Beethoven es getan hat, als er seine Liebe „Für Elise“ auf dem Klavier erklärte.

Aber Polina erkennt die musikalischen Liebes-Zeichen nicht. Also trennen sich ihre Wege, und es warten Jahre einer Liebes-Odyssee, bis sie schließlich, längst erwachsen und vom Leben gezeichnet, begreifen, dass sie schon seit Kindertagen füreinander geschaffen waren. Schließlich lagen sie schon nach der Geburt nebeneinander, ihre Mütter haben im gleichen Krankenhaus entbunden und ihre Babys zum Kuscheln zueinander gelegt. Die beiden Frauen treffen sich oft mit ihren Kindern in der verwunschenen Villa draußen im Moor in der Nähe von Hannover, wo Hannes mit seiner Mutter bei einem kauzigen Alten wohnt, der die russischen Klassiker liebt, eine tolle Schallplattensammlung hat und ein verstimmtes Klavier, auf dem der kleine Hannes seine ersten Stücke komponiert. Der alte Kauz zitiert gern die Romane von Dostojewsi, der zeitlebens die Schriftstellerin und Feministin Polina (!) Suslowa rasend liebte, die dann aber nicht Dostojewski, sondern den Philosophen Wassili Rosanow heiratete.

Klaviere schleppen statt spielen

Hannes, von seiner Polina verlassen, setzt sich jahrelang an kein Instrument, sondern verdingst sich als Möbelpacker und schleppt Flügel und Klaviere von einer schicken Hamburger Altbauwohnung in die nächste. Er gibt sich als vollkommen unmusikalisch aus, solange, bis er eines Tages ein wahres Prachtstück auf seinen Transporter wuchten will und der Besitzer, ein alter Musiker, ihn mit wissenden, weisen Augen ins Visier nimmt und ihm auf dem Kopf zusagt, er würde doch bestimmt auch Klavier spielen.

Da brechen bei Hannes alle Dämme, er setzt sich mitten auf dem Bürgersteig ans Klavier und spielt eine Improvisation der Melodie, die er einst für Polina komponierte. Eine Passantin zückt ihr Handy, filmt das spontane Konzert und stellt das Video ins Netz. Jeder kann sich ausmalen, welch viraler Flächenbrand damit entfacht wird und welche Wendung die Geschichte von diesem Moment an nehmen wird. Wer an die Kunst glaubt und seiner Berufung folgt, lernen wir, kann nicht untergehen und findet am Ende des dunklen Tunnels immer ein Licht. Mehr Kitsch, mehr Klischee geht wirklich nicht.

Takis Würger: „Für Polina“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich, 304 Seiten, 26 Euro.

 




Ein Prinzip wird Gestalt: Ilaria Lanzino deutet Mozarts „Don Giovanni“ in Dortmund als zeitlose Figur

„Don Giovanni“ in Dortmund: Gleich umzingeln die Schlangen eines Medusenhaupts den Titelhelden (Denis Velev); sein Kumpan Leoporello (Morgan Moody, rechts) ist fassungsloser Zeuge des unheimlichen Geschehens. (Foto: Björn Heckmann)

Ein großbürgerlicher Wohnsalon. Eine Dame sitzt da und langweilt sich, während nebenan im Raucherzimmer zwei Herren angeregt parlieren, offensichtlich der Komtur und Don Ottavio. Es ist zu vermuten, dass da die Konditionen der Verheiratung verhandelt werden.

Die Frau ist dabei nicht gefragt. Mit Staunen blickt sie auf einen Mann im Kostüm eines Kavaliers des 18. Jahrhunderts. Doch die Faszination weicht rasch nacktem Entsetzen: Donna Anna wird auf dem Tisch vergewaltigt.

Don Giovanni bricht in diese Welt ein wie ein Anachronismus, ein Dämon aus der Vergangenheit zwischen all die Menschen, die Emine Güner an der Oper Dortmund in Kleider von heute gesteckt hat. Mal scheint es, als bleibe ihnen der Held der Oper unsichtbar, mal reagieren sie auf ihn wie auf eine Erscheinung. Für Ilaria Lanzino ist dieser Kontrast eines der Mittel, mit denen sie in ihrer Regie am Opernhaus Dortmund Don Giovanni einer konkreten Individualität entkleidet. Er ist ein Gestalt gewordenes Konzept, eine Unperson. Eine Metapher des Bösen, das sich im Gewand einer schrankenlosen Männlichkeit zeigt.

Hier geht es nicht mehr um Moral, Schicklichkeit oder Standesehre. Lanzino deckt auf, wie dieses aus der Vergangenheit überkommene Konzept einer rücksichtslosen, gewalttätigen, aber auch getriebenen Übergriffigkeit Frauen aus drei Generationen beschädigt. Sie bleibt dabei nahe am Stück und nahe an der Musik. Und sie offenbart, was vordergründige Deutungen, die sich an Erotik oder Sexualität abarbeiten, nicht einholen können: Don Giovanni ist bei Mozart und Lorenzo da Ponte kein bloß viriler Verführer. Er ist die Verkörperung eines Prinzips, ein Widersacher jeder Humanität. Eine Macht, die erst gestoppt wird, als sie die Übermacht des Transzendenten herausfordert.

Ohne Moral: Das Ende einer metaphorischen Figur

Lanzino verfällt in der letzten Szene aber nicht auf die vordergründige Lösung, die Power der Frauen-Solidarität von Anna, Elvira und Zerlina über die besoffene Männerhorde siegen zu lassen, die sich zum finalen Gastmahl versammelt. Die Stimme des Komturs tönt aus einem riesenhaften Medusenhaupt, dessen Schlangenhaare Don Giovanni umzingeln und verschwinden lassen. Die Lösung braucht die offene Perspektive des Mythos; in der konkreten Welt finden Leporello und Donna Elvira, zwei geschundene Opfer Don Giovannis, als Paar zueinander. Auch Ilaria Lanzino beendet – wie Roland Schwab in seiner tiefsinnigen Berliner Inszenierung – die Oper wie die Romantiker des 19. Jahrhunderts ohne das abschließende Sextett. Das Ende einer metaphorischen Figur entzieht sich der Moral.

Ihr Konzept will Lanzino durch eine detailreiche Durchzeichnung der Personen verdeutlichen. Frank Philipp Schlößmanns Bühne eröffnet dafür konkrete Raum-Orte: die vornehme Wohnung Donna Annas und Don Ottavios, ein Jugendzimmer mit Herzchen-Luftballons für Zerlina, in dem als Bild an der Wand allerdings schon das Gorgonenhaupt des Finales zu erkennen ist. Und für Donna Elvira ein Badezimmer, in dessen Wanne sie sich die Beine rasiert. Don Giovannis Sphäre dagegen ist von einer schwarzen, schräg nach hinten gekippten Neonröhren-Wand gekennzeichnet – ein undefinierbarer, mythischer Ort.

Nicht immer gehen die szenischen Chiffren so auf wie diejenige eines blauen Tuchs, das Donna Anna zunächst fasziniert ihrem Verführer überreicht – Blau als Farbe der Romantik? – und an dem sie ihn später wiedererkennen wird. Dass Donna Anna schwanger ist und später ein Baby mit sich trägt, fügt der Figur keine entscheidende Facette hinzu. Auch Donna Elvira ist als ältere, offenbar an ihrer schwindenden äußerlichen Attraktivität leidende Frau mit furiosen Zügen ziemlich verzeichnet. Dass sie ähnlich wie Leporello eine Liste führt, signalisiert eine Beziehung zwischen den beiden, die bis zum Finale verdichtet wird, ohne dass sie zu mehr Klarheit über die Personen beiträgt. Überzeugender ist, wie der Mythos mittels einer Horde von Männern trivialisiert wird: In der finalen Szene stimmen sie – ausgelassen das Mahl Don Giovannis mitfeiernd – ein, als Mozart im Orchester das Zitat aus „Le Nozze di Figaro“ erklingen lässt; fassungslos erkennt Zerlina, dass auch Masetto demonstrativ in der Schar der Möchtegern-Don-Juans mitmacht.

Ohne Romantisierung: Musik in striktem Tempo

Musikalisch führt George Petrou am Pult die Dortmunder Philharmoniker durch einen „Don Giovanni“ ohne Überraschungen. Manchmal fehlt es an Trennschärfe und Konzentration. Düsteres Moll wird nicht romantisiert. Anklänge an zu Mozarts Zeit schon „alte“ Musik, wie sie etwa Donna Elvira begleiten, wirken angemessen rhetorisch. Die Ensembles machen Freude, weil sie in den Tempi strikt, aber nicht steif, in der Gliederung durchsichtig, aber nicht konstruiert klingen.

Bei den Sängern wünscht man sich den Feinschliff, mit dem zum Beispiel die Streicher des Orchesters ihre Töne formen. Denis Velev fühlt sich als Don Giovanni am wohlsten, wenn er mannsbildhaft mit vollem Sound protzen kann; für die eleganten, verführerischen Töne des Duetts mit Zerlina („La ci darem …“) und die Canzona „Deh, vieni alla finestra“ ist sein Bass nicht geschaffen. Sein unfreiwilliger Kumpan Leporello wird von Morgan Moody anfangs eher üppig als schlank, später mit angemessen buffonesken Zügen gesungen. Sein Herr hat deutlich auf ihn abgefärbt – das Rot des Jackettfutters signalisiert es –, aber im Wettstreit mit der Aura Don Giovannis kann er als Mensch aus Fleisch und Blut nur den Kürzeren ziehen. Sungho Kim bleibt trotz seines feinfühlig geführten Tenors als Bühnenerscheinung noch blasser, als es die Rolle selbst vorsieht. Imposant, aber ein Riese auf wackligen Beinen: Artyom Wasnetsov als stimmstarker Komtur.

Anna Sohn kann als Donna Anna ihren zuverlässigen, rund und klangvoll gebildeten Sopran zeigen, kommt an technische Grenzen, läuft aber in der Arie „Non mi dir, bell’idol mio“ zu großer Form auf. Tanja Christine Kuhn kann als Darstellerin eindrücklicher überzeugen als mit ihrer überforderten Stimme, die immer wieder stumpf und nicht ausreichend in den Raum projiziert wirkt. Sooyeon Lee spielt als Zerlina den Soubretten-Liebreiz aus, der mit dem frischen Bariton ihres Masetto, Daegyun Yeong, bestens harmoniert.

Letzte Vorstellung am 15. März. Tickets unter www.theaterdo.de und telefonisch unter (0231) 50 27 222.




Humor mit Fleiß und Akribie: Loriot-Werkschau in Oberhausen

Na, wenn das keine typische Loriot-Figur ist…. (© Studio Loriot)

In der etwas älteren Generation, so ungefähr ab 45 oder 50 Jahren, können eigentlich alle Leute aus Sketchen von Loriot herauf und herunter zitieren. Es reichen schon kleine Anspielungen auf Jodeldiplom oder Kosakenzipfel, auf die hochnotpeinliche Nudel im Gesicht, zwei Herren in derselben Badewanne („Die Ente bleibt draußen!“) oder ein schief hängendes Bild als Chaos-Auslöser – und schon ist man mittendrin im Schwelgen und Schmunzeln. Da könnte man glatt von einer „Generation Loriot“ sprechen.

Unter dem lakonischen Titel „Ach was“ (auch so ein unvergänglicher Loriot-Ausspruch) zeigt die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen eine umfassende Werkschau dieses Großmeisters des feinsinnig distinguierten Humors, der 1923 als Vicco von Bülow in Brandenburg an der Havel geboren wurde und 2011 in Ammerland (Starnberger See/Bayern) gestorben ist. Der Pirol (französisch: Loriot) war übrigens das Wappentier der altehrwürdigen Familie. Womit das auch geklärt wäre.

Groteske Liebeserklärung: legendäre Nudel-Szene mit Loriot und Evelyn Hamann. (© Radio Bremen – Do Leibgirries)

Frühe Bilder im Stile Albrecht Dürers

Ganz anders als bei vielen Künstlern, die von den Eltern zu einträglichen „Brotberufen“ gedrängt wurden, hat Loriots Vater den anfangs noch zaudernden Sohn vom Kunststudium überzeugt. In Hamburg lernte Loriot die Kunst auf geradezu altmeisterliche Art. Es sind aus jenen Jahren gar Bilder im Stile eines Albrecht Dürer erhalten. Im Spätwerk hat Loriot wiederum „Große Deutsche“ wie Goethe, Richard Wagner, Nietzsche oder Thomas Mann durchaus liebevoll mit seinem mittlerweile längst etablierten Markenzeichnen, der Knollennase, versehen und ansonsten klassisch porträtiert. So ikonisch waren solche Nasen, dass sie bereits Merchandising-Figürchen inspiriert haben. Loriot hatte eben auch ein Gespür für geldwerte Trends.

Aus dem Spätwerk: Loriots Dürer-Porträt mit Knollennase (© Studio Loriot)

Die Exponate stammen zu wesentlichen Teilen aus einer Schau des Frankfurter Caricatura Museums, die für Oberhausen nochmals erweitert wurde, u. a. um eine interessante Dokumentation zu Loriots erster Ausstellung in der DDR (anno 1985, just in Brandenburg), auf die SED und Stasi erst im Nachhinein grollend aufmerksam wurden.

Werbegraphiker und Opern-Liebhaber

Vor allem mit rund 350 Original-Zeichnungen sowie Szenenbildern aus Film und Fernsehen ergibt sich eine frappierende Vielfalt, die auch Kennern von Loriots Schaffen noch etliche Neuigkeiten bieten dürfte. Nicht alle wissen beispielsweise, dass Loriot in seiner Frühzeit oft als Werbegraphiker tätig war (z. B. mit pfiffiger Reklame für Fiat-Automobile, Zigaretten oder strapazierfähige Bodenbeläge). Außerdem hat der leidenschaftliche Musikliebhaber zuweilen Opern inszeniert und dafür auch Bühnenbilder und Kostüme entworfen. Zwei seiner Szenenmodelle sind in Oberhausen zu bestaunen. Ja, sogar das nahezu niedliche Originalmodell jenes Atomkraftwerks, das bei „Familie Hoppenstedt“ in einem legendären Weihnachts-Sketch unterm Tannenbaum explodierte, ist hier zu sehen.

Doch keine „Wirtschaftswunder-Mutti“

Bemerkenswert auch die Geschichte zu Loriots langjähriger Sketchpartnerin Evelyn Hamann. Eigentlich hatte Loriot eine dralle Wirtschaftswunder-Mutti gesucht, doch dann überzeugte ihn die so ganz anders auftretende Hamann mit ihrer kongenialen Schauspielkunst. Weiterer Wissenszuwachs: Loriots berühmtes altes Sofa (in Oberhausen als halbwegs ähnliches Exemplar vorhanden) war zunächst knallrot, weil man das Potenzial des damals gerade eingeführten Farb-Fernsehens ausreizen wollte. Als derlei Effekte nicht mehr so gefragt waren, nahm man ein vergleichsweise dezentes Sitzmöbel in Grün.

Loriots Touristen-Verulkung, die beinahe schon auf Smartphone-Gepflogenheiten vorauszudeuten scheint. (@ Studio Loriot)

Beim Rundgang durch die Ludwiggalerie finden sich viele herrliche Beispiele für Loriots Sprachkunst der erzkomisch misslingenden Kommunikation, die seiner bildnerischen Hochbegabung kaum nachsteht. Überhaupt hat Loriot – auf der Basis ausgefeilter handwerklicher Fähigkeiten – die Arbeit am Humor mit geradezu „preußischer“ Akribie und unermüdlichem Fleiß betrieben. Das Leichte, das bekanntlich schwer zu machen ist… Wie es heißt, ruhte Loriot auch an Wochenenden und zu Ferienzeiten nicht. Zudem soll er an Schlaflosigkeit gelitten und zahlreiche Nachtstunden mit Texten und Zeichnen zugebracht haben. Womöglich sind dabei auch so langlebige Serien wie die über 17 Jahre im „Stern“ allwöchentlich fortgesetzten Bildergeschichten über „Reinhold das Nashorn“ entstanden.

Loriot, sozusagen mit Hunden (Möpsen) „im Handgepäck“. (© Holger Jacobs)

Mit feinem Florett gefochten

Trefflich lässt sich darüber debattieren, ob Loriots Komik recht eigentlich „harmlos“ sei. Sie ist tatsächlich niemals gemein und verletzend, sehr wohl aber hintersinnig und tiefgründig zielsicher. Sie zündet nicht sofort und direkt, dafür aber umso nachdrücklicher. Er focht filigran mit dem Florett, nicht mit dem Degen.

Während Loriots Lebenswerk aus dem Frankfurter Caricatura Museum nach Oberhausen kommt, gastiert die vorherige Oberhausener Schau über Walter Moers in der Mainmetropole. Fürwahr ein hochkarätiger Austausch. Apropos: Die „Neue Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors (Robert Gernhardt, F. K. Waechter, F. W. Bernstein usw.) zählte zu den Bewunderern Loriots. Dass dies wohl für eine Mehrheit der Cartoon-Zunft gilt, belegt eine kleine Abteilung mit Hommage-Arbeiten jüngerer Adepten, sprich: Die „Generation Loriot“ hat ihre Erben.

Loriot – Künstler, Kritiker und Karikaturist. Noch bis 18. Mai 2025.

Neu: verlängert bis 15. Juni! Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 12 Euro,ermäßigt 6 Euro. Kinder/Jugendliche bis 17 Jahre Eintritt frei. Kein Katalog, aber zwei begleitende Booklets mit je 16 Seiten zu je 5 Euro. Infos/Buchungen (Führungen) Tel. 0208 / 41 249 28. www.ludwiggalerie.de

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Der Text ist in ähnlicher Form erstmals im Kulturmagazin Westfalenspiegel (Münster) erschienen: www.westfalenspiegel.de




Die Zähne des Haifischs: Vor 125 Jahren wurde der Komponist Kurt Weill geboren

Kurt Weill (li.) und Bert Brecht. (Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau)

Ernste Musik? Unterhaltungsmusik? Dieser Unterscheidung gab es für Kurt Weill nicht. Für ihn gab es nur „gute und schlechte Musik“. Verwirklicht hat er dieses Konzept, mit dem er die Grenzen zwischen „hoher“ und „populärer“ Kunst niederriss, 1928 mit dem Sensationserfolg der „Dreigroschenoper“. Gemeinsam mit Bertolt Brecht schuf der 28-Jährige dieses Meisterwerk des musikalischen Theaters, das zu den größten Bühnenerfolgen des 20. Jahrhunderts gehört.

Von Anhalt an den Broadway

Der am 2. März 1900 geborene Sohn des Kantors der jüdischen Gemeinde in Dessau ging diesen Weg nicht freiwillig. Schon 1933 floh er vor den Nazis nach Paris; zwei Jahre später emigrierte er mit seiner Frau Lotte Lenya in die USA. Weill gelang es, jenseits des großen Teichs Fuß zu fassen. Er tauchte tief in die amerikanische Kultur ein, wollte ein durch und durch „amerikanischer“ Komponist werden. Ab 1936 baute er eine stetige Musical-Karriere auf, die von „Johnny Johnson“ über die Erfolgsstücke „Lady in the Dark“, „A Touch of Venus“ und „Street Scene“ bis zu seiner „musikalischen Tragödie“ mit dem Titel „Lost in the Stars“ 1949 führt. Über der Arbeit zu einem Musical nach Mark Twains „Huckleberry Finn“ erlitt Weill einen Herzinfarkt, an dessen Folgen er vor rund 75 Jahren, am 3. April 1950 starb.

Prägende Zeit in Lüdenscheid und Berlin

Weills musikalische Entwicklung begann früh: Schon in der Schulzeit in Dessau schrieb er erste kleine Kompositionen und betätigte sich als Liedbegleiter. Mit achtzehn Jahren ging er nach Berlin und studierte u.a. Komposition bei Engelbert Humperdinck. Seine Suche nach Neuem hätte ihn beinahe zu Arnold Schönberg nach Wien geführt, aber die prekäre Situation seiner Familie – sein Vater hatte die Stellung als Kantor der jüdischen Gemeinde in Dessau verloren – zwang den Neunzehnjährigen zum Geldverdienen.

Seine erste Stelle fand er am Friedrich-Theater seiner Heimatstadt Dessau als Korrepetitor unter dem damaligen musikalischen Leiter Hans Knappertsbusch. Dessen autoritärer Stil ließ den jungen Weill bei erster Gelegenheit das Weite suchen. Ende November 1919 trat er ein Engagement als Kapellmeister am Stadttheater Lüdenscheid an. Dort sollte er viel über den Alltagsbetrieb eines Theaters lernen, fand er doch die „typischen Verhältnisse einer ‚Schmiere‘ vor, wie Weill-Biograf Jürgen Schebera beschreibt.

Seiner Schwester Ruth berichtet Weill in Briefen vom anstrengenden Alltag an einem kleinen Dreispartentheater, wo fast in jeder Woche eine Premiere stattfinden musste: „Du kannst Dir denken, wie ich zu tun habe. Sonntag nachmittag ,Fledermaus‘, abends ,Cavalleria rusticana‘, Montag nachmittag ,Zigeunerbaron‘, abends Premiere einer neuen Operette. Wie ich mit den Proben fertig werden soll, ist mir schleierhaft …“. Und ein anderes Mal beklagt er sich: „Morgen habe ich wieder Premiere, eine furchtbar dreckige Gesangsposse ‚Im 6. Himmel‘ …“. Dennoch: In Lüdenscheid, so erinnert er sich Jahre später in den USA, habe er erkannt, „dass das Theater meine eigentliche Domäne werde würde“.

Meisterschüler bei Busoni

Weill blieb nicht lange in Lüdenscheid; Ende Mai war die Spielzeit zu Ende. Sein Vater hatte eine neue Stelle angetreten; Weill strebte nach Berlin zurück und hatte Glück: Ferruccio Busoni nahm ihn Ende 1920 als einen von fünf Meisterschülern in seine neue Kompositionsklasse auf. Die Zeit in der brodelnden Kulturmetropole sollte für Weill prägend werden. Als Student schrieb er bereits sein Streichquartett h-moll, eine Suite für Orchester und 1921 eine einsätzige Symphonie No. 1. Andere seiner frühen Werke sind verloren.

Weill hielt daran fest, dass seine große Begabung die Arbeit für die Bühne sei. Mit 22 Jahren schrieb er die Musik zu einer Ballettpantomime „Zaubernacht“. Darin geht es um einen Kindertraum: Sobald Jungen und Mädchen eingeschlafen sind, kommt die Zauberin und lässt Spielsachen und Märchenfiguren lebendig werden. Partitur und Stimmen waren verschollen und wurden zufällig in der Yale Universität wiederentdeckt. Erst 2010 wurde das Stück beim Musikfest Stuttgart wieder aufgeführt. Eine Kritik würdigte die Musik: „Weill verwendet genial alle Möglichkeiten seiner Zeit, arbeitet mit atonalen Passagen, lässt die Streicher in schönster Walzerseligkeit schluchzen, imitiert den Neoklassizismus, aber auch die harmonischen Errungenschaften der Zweiten Wiener Schule.“

Ein „Ruhrepos“ mit Bertolt Brecht

Nach der erfolgreichen Aufführung seiner ersten Oper „Der Protagonist“ lernte Weill im April 1927 Bertolt Brecht kennen. Ihr erstes großes gemeinsames Projekt hätte eine monumentale „Ruhroper“ werden sollen, deren Konzept bereits im Juni 1927 weit gediehen war. „Das Ruhrepos soll sein ein künstlerisches Dokument des rheinisch-westfälischen Industrielandes, seiner eminenten Entwicklung im Zeitalter der Technik, seiner riesenhaften Konzentration werktätiger Menschen und der eigenartigen Bildung moderner Kommunen. Da nun aber der ganze Aufbau des Ruhrgebiets für unsere Zeit charakteristisch ist, soll das Ruhrepos gleichzeitig ein Dokument menschlicher Leistung unserer Epoche überhaupt sein“, umreißt Brecht die künstlerische Absicht des Projekts.

Kurt Weill hatte für die Musik sehr konkrete Vorstellungen: Sie schließe „alle Ausdrucksmittel der absoluten und der dramatischen Musik zu einer neuen Einheit zusammen“, schreibt er kühn. Geplant seien keine „Stimmungsbilder“ oder „naturalistische Geräuschuntermalung“. Sondern die Musik präzisiere Spannungen der Dichtung und der Szene in Ausdruck, Dynamik und Tempo. Abgeschlossene Orchesterstücke sollten als symphonische Vor- und Zwischenspiele dienen. Arien, Duette, Ensemblesätze, kleinere Instrumentengruppen oder über den Raum verteilte Chöre mit ihren Instrumenten, aber auch Songs mit Jazz-Rhythmus oder „kammermusikalische Stücke komischer Art“ waren vorgesehen. Mit Filmen und Lichtbildern des Filmregisseurs Carl Koch sollte das Werk ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen.

Das Projekt scheiterte an der antisemitischen Hetze nicht zuletzt in der Presse und an provinziellen Ressentiments gegen die Berliner Kultur, während das Mahagonny-Songspiel Weills und Brechts im Juli 1927 in Baden-Baden einen Skandal-Erfolg erlebte. Drei Jahre später hatte die aus dem Songspiel entwickelte Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in Leipzig ihre sensationelle, aber bereits von den Nationalsozialisten massiv gestörte Uraufführung. Ein Jahr nach diesem wohl größten Theaterskandal der Weimarer Republik endete Weills Zusammenarbeit mit Brecht: Weill wollte sich mit der für ihn allzu restriktiven Rolle der Musik in Brechts politischem Theater nicht abfinden.

Gegen das Illusions- und Gefühlstheater

Für Brecht und Weill war es erklärtes Ziel, Formen des bürgerlichen Theater- und Opernbetriebs aufzubrechen und nach neuen Wegen zu suchen. In „Mahagonny“ sah Kurt Weill den Versuch, „das Wesen unserer Zeit von innen her zu beleuchten“. Er traf sich mit Brechts Intention, der damals verkündete: „Wenn man sieht, dass unsere heutige Welt nicht mehr in das Drama passt, dann passt das Drama eben nicht mehr in die Welt.“ Weill stand der herkömmlichen Form der Oper, dem Illusions- und Gefühlstheater, ebenso kritisch gegenüber: „Wenn also der Rahmen der Oper eine derartige Annäherung an das Zeittheater nicht verträgt, muss eben dieser Rahmen gesprengt werden.“

Vor diesem Skandal lag jedoch noch der Riesenerfolg der „Dreigroschenoper“: Die Story aus dem Gauner- und Proletenmilieu bedeutete für Weill nicht nur den endgültigen Schritt in eine neue Art von Musiktheater, sondern – ganz prosaisch – das Ende aller finanziellen Sorgen. Bis heute sind die Songs weltberühmt, allen voran die Moritat von Mackie Messer: „Und der Haifisch, der hat Zähne …“.

Passend zum Weill-Jubiläumsjahr 2025 bringt die Oper Bonn ab 6. April Brecht und Weills „Die Dreigroschenoper“ in einer Neuinszenierung von Simon Solberg. Daniel Johannes Mayr dirigiert. Termine: 6., 8., 20. April; 10., 29. Mai; 1., 8., 17., 19. Juni; 3., 9. Juli. Tickets im Internet unter www.theater-bonn.de oder telefonisch unter (0228) 77 8008.

Noch bis 16. März findet in Weills Heimatstadt Dessau das Kurt Weill Fest unter dem Motto „Farben des Lebens“ mit 72 Veranstaltungen statt. Info: www.kurt-weill-fest.de




Gegenentwurf zu Brecht: „Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch in der Berliner Volksbühne

Kathrin Angerer und Milan Peschel in „Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch. (Foto: Apollonia T. Bitzan)

Nach dem Abgang von Frank Castorf, dem Scheitern von Chris Dercon und dem Rauswurf von Klaus Dürr schien die Berliner Volksbühne künstlerisch am Ende. Dann übernahm Bühnen-Berserker René Pollesch und versuchte, den führungs- und ideenlos in den Kultur-Wogen schlingernden Theater-Panzerkreuzer am Rosa-Luxemburg-Platz wieder auf Kurs zu bringen. Als der Dramatiker und Regisseur am 26. Februar 2024 völlig unerwartet mit 61 Jahren starb, verfiel die Volksbühne in Schockstarre.

Nachdem auch noch im Zuge der radikalen Sparmaßnahmen des Berliner Senats die zu Interims-Intendanten ernannten Vegard Vinge und Ida Müller ihre Posten räumten, wurde bereits das Sterbeglöckchen für die Traditions-Bühne geläutet. Doch um den Theatertod zu bannen, haben sich einige Schauspieler, die mit Pollesch große Erfolge feierten, einen Text vorgenommen, der noch nie das Bühnenlicht erblickte. Gemeinsam inszenieren sie das Stück „Der Schnittchenkauf“, das Pollesch für eine Ausstellung in einer Berliner Galerie als kritischen Kommentar zu Brechts „Der Messingkauf“ und als lockeren alltagsphilosophischen Gegenentwurf zur strengen Belehrungs-Theorie des epischen Theaters verfasst hat.

Da Pollesch immer nur mit unverbindlichen Spielideen in die Proben kam und seinen Schauspielern den Text zur freien Improvisation überließ, geben sie sich alle Mühe, einen Kessel Buntes anzurühren und eine Bühnen-Party zu feiern, die ihrem verstorbenen Freund wohl gefallen hätte.

Kathrin Angerer und Martin Wuttke, Milan Peschel, Rosa Lembeck und Franz Beil stecken in aberwitzig-hässlichen Kostümen und sehen aus, als würden sie zu einer Safari oder Expedition nach Nirgendwo aufbrechen. Jan Speckelbach umkreist das muntere Treiben mit einer Live-Kamera, aus den Lautsprechern plärren unentwegt Schlager-Melodien und Pop-Songs. Die zwischen Sperrholz-Container und japanischer Futon-Landschaft changierende, sich allmählich in eine Müllhalde verwandelnde Bühne hat Leonard Neumann, der Sohn des genialen, ebenfalls viel zu früh verstorben Bert Neumann gebaut. Das passende Ambiente, um ein paar Runden mit dem Fahrrad zu drehen und sich an langen Tischen zu versammeln, Butterstullen zu schmieren und mit Schnittlauch zu bestreuen.

Manchmal verirren sich Kathrin Angerer und Martin Wuttke in Edward Albees Bühnenklassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, mutieren zu Martha und George und verknäueln sich lustvoll in derben Eheschlachten. Meistens aber quasseln alle einfach drauflos, inspizieren sie die „Vierte Wand“, die Schauspieler und Zuschauer trennt, verdammen das Theater als verlogene Illusionsmaschine und vergeblichen Sinn-Produzenten.

Milan Peschel rollt genervt mit den Augen und stampft mit Cowboystiefeln durchs anschwellende Chaos. Kathrin Angerer beschwört zitternd und zeternd die Liebe und das Leben. Rosa Lembeck verheddert sich im  Kommunikations-Wirrwarr und beleuchtet den Unterschied zwischen Sender und Empfänger. Franz Beil stottert sich (im Rattenkostüm!) durch seine Texthappen und berichtet, wie er sich einmal in eine Theatervorstellung geschmuggelt hat, weil es hieß, dort gebe es kostenlose Schnittchen. Martin Wuttke pafft unentwegt Zigaretten und erklärt uns, dass es kein Sein gibt: „Es gibt nur das Werden“, mit dem man den eigenen Tod hinauszögern und das Theater-Sterben aufhalten kann. Aha!

Überhaupt kann Wuttke das Gerede von der Apokalypse nicht mehr ertragen: „Wir hören ständig, dass wir am Ende der Geschichte angelangt sind, aber dieses Ende zieht sich hin und bringt sogar einiges Genießen mit sich.“ Das Publikum amüsiert sich köstlich und feiert zu recht eine mit fröhlicher Melancholie zwischen Gestern und Morgen irrlichternde Theater-Kuriosität.

„Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch. Volksbühne Berlin. Nächste Vorstellungen: 16. März (18 Uhr) und 31. März (19.30 Uhr). https://www.volksbuehne.berlin.de




O Kragenbär, o Elchin! Jetzt gibt es „feministische Tiergedichte“

Geht’s um neuere Tiergedichte, so denkt man vor allem an den unvergleichlichen Robert Gernhardt (Stichwort „Kragenbär“) oder auch den Vorläufer Heinz Erhardt (Kennwort „Made“). Nun schickt sich Ella Carina Werner an, solche Traditionslinien beherzt ins Feministische zu wenden. Sie ist übrigens langjährige Redakteurin des qualitativ arg schlingernden Satire-Magazins „Titanic“.

Verlagswerbung und Klappentext greifen in die Harfe des Lobpreisens: Die anglophile Verzückung kündet vorab von weiblichem „Empowerment“ und harscher, wenn auch humoriger Kritik an „Mansplaining“ oder „gender pay gap“. Zur Übersetzung, falls nötig, bitte fleißig die Suchmaschinen anwerfen.

In einer rasch rausgehauenen Rezension stand sinngemäß zu lesen, Werner stecke mit ihren Reimen Gernhardt locker „in die Tasche“. Nein, nein und nochmals nein! Das stimmt einfach nicht. Diese zuweilen recht bemühten Verse klappern und rattern, holpern und stolpern vielfach daher. Gernhardt hätte sich dergleichen niemals durchgehen lassen.

Schon eines der ersten Gedichte, das ja (wie z. B. auf Rock-Alben üblich) eingangs besonders fetzen sollte, lautet so und lässt Lesende vielleicht etwas ratlos zurück:

„Hunderttausend
Schildkrötinnen
sind zahm außen
und wild innen.“

Ja, das war’s in diesem Falle schon.

Auf ganzer Strecke überwiegt die stramme Haltung und Parteinahme. Merke, anhand dieser Gedichte: Die tierisch verkörperten Männer sind grundsätzlich blöd, sollten rechtmäßig ängstliche Untergebene der Frauen sein, sind sie doch allesamt Schlappschwänze und/oder Trottel. Menstruation finden die Deppen ebenso widerlich wie weibliche Achselbehaarung. Drum müssen sie von nun an jegliche Hausarbeit allein verrichten. So ungefähr. Wobei die Beweggründe für solche rachedurstigen Phantasien ja durchaus nachzuvollziehen sind. Folglich erscheinen männliche Wesen generell als verzichtbar:

„Beim Rammeln grunzt die Sau verächtlich:
,Spannender wär’s gleichgeschlechtlich.'“

Frauen gebührt demgemäß jedenfalls das verbriefte Recht, ein hartes Regiment zur Unterdrückung des Männlichen zu führen, nach Belieben kreuz und quer zu vögeln (gern auch queer und trans), endlos zu chillen (vulgo: dem Nichtstun zu frönen) oder ihrerseits (Gegen)-Gewalt auszuüben. Im Original in Versalien (durchgehenden Großbuchstaben) flott und aggressiv hingedichtet:

„Am Samstagabend
hat Frau Rochen
dem Ehemann das Herz
gebrochen. Und den Kiefer.
Aus Versehen, genau wie
sieben Flossenzehen
Kiemen, Schultergürtel,
Nieren…
Ja, kann beim Zanken
mal passieren.
Und später, at the end
of story, Schwanz
und Vorderzähne,
Sorry!“

Tja, wenn das denn Feminismus sein soll…

Mehrfach knüpft Ella Carina Werner bei den erwähnten Gernhardt (Kragenbär und Schnabeltier revisited) und Erhardt an und versucht, deren Einfällen anderen, womöglich gegenläufigen Sinn abzugewinnen – allein: Es bleibt beim eher hilflosen Hinterherschreiben. Geradezu dürftig gerät es, wenn F. W. Bernsteins unsterblicher Reim aufgegriffen wird: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“ Da tapert Werner so hinterdrein:

„Der Ruhms des Elchs
erfreut die Elchin,
doch lieber hat sie
selber welchen.“

Und so bleibt der titelgebende Reim noch einer der besten:

„Der Hahn erläutert unentwegt
der Henne, wie man Eier legt.“

Gar nicht vergessen werden darf die Illustration, die recht eigentlich den Hauptteil des Bandes ausmacht. Juliane Pieper hat sich wirklich sehr hübsche Szenen zu Werners lyrischen Anstrengungen einfallen lassen, die jeweils auf Doppelseiten ausgebreitet werden, so dass die Bildnerei ungleich mehr Zeit gekostet haben dürfte als das Verfassen der Kurzgedichte. Kein Wunder also, dass eine Zeitschrift zu diesem Buch eine mehrseitige Bilderstrecke publiziert hat. Nehmen wir’s also als Bilderbuch mit Textbeigabe, vorzugsweise geeignet zum Verschenken unter Freundinnen.

Ella Carina Werner: „Der Hahn erläutert unentwegt der Henne, wie man Eier legt“. Feministische Tiergedichte. Illustriert von Juliane Pieper. Verlag Antje Kunstmann, ohne Paginierung (ca. 160 Seiten). 22 Euro.




Das Böse hat Lust auf sich selbst – Michael Köhlmeiers Roman „Die Verdorbenen“

In diesem Roman mag man sich sogleich unheimlich heimisch fühlen, sofern man mit einer ähnlichen Biographie gesegnet (gepeinigt) ist und z. B. in den 1970er Jahren studiert hat.

Der Student Johann, Michael Köhlmeiers Hauptfigur und Ich-Erzähler in „Die Verdorbenen“, verdingt sich zu jenen Zeiten in Marburg nebenher als Tutor, Kneipenhelfer, Songschreiber und Zeitungskolumnist. Aufregend ist sein Leben freilich nicht, zumal in erotischer Hinsicht ist er ein blutiger Anfänger. Überhaupt weiß er nicht, was werden soll.

Allerdings hat der (wie Autor Köhlmeier) aus Österreich stammende Johann schon mit zarten 6 Jahren auf die Zukunftsfrage seines Vaters (Feuilleton-Journalist in der Provinz, glücklich-weltoffen liiert) geantwortet, er wolle einmal im Leben einen Mann töten. Daraus leitet sich der Spannungsbogen des Romans her: Ob er es als Erwachsener tatsächlich vollziehen wird?

Dieser Johann will nun, mit knapp über 20 Jahren, Schriftsteller werden. Er fristet seine banalen, oft langweiligen Tage mit Schreibübungen auf den Spuren Tschechows und Hemingways. Auch Köhlmeier pflanzt mitunter diese knappen, lakonischen Tatsachen-Sätze mit dem „Es-ist-wie-es-ist“-Gestus. Bloß keine Illusionen, bloß keine Ideologie – und das im aufsässig linken Zeitgeist der frühen 70er. Kurzes Textbeispiel: „Das Café hatte geschlossen. Mein Rucksack stand neben der Tür. Ich hängte ihn mir über die gute Schulter. Ich wusste nicht, wie ich aussah…“

Beim Tutorium hat Johann ein scheinbar unzertrennliches Studi-Paar kennen gelernt: Tommi und Christiane, die einander seit Kindertagen zugetan sind. Zwischen den dreien herrschen bald seltsam verschrobene Anziehungs- und Abstoßungs-Kräfte, die anfangs insgeheim, doch zunehmend dringlich etwas Zerstörerisches freisetzen. Ein armseligeres Kerlchen als Tommi, der phasenweise zu Füßen von Christiane und Johann übernachtet und ansonsten emsig putzige Dinge bastelt, ward selten gesehen.

Auf zielloser Flucht vor sich selbst trampt (70er Jahre!) Johann bis Ostende, wo er brutal überfallen wird und sich ebenso brachial wehrt. Zurück in Marburg, findet er den erstochenen Tommi vor. Sollte etwa Christiane…? Bezeichnendes Zitat: „Das Böse hat Lust auf sich selbst, darum kommt es nicht selten zweimal und gleich schnell hintereinander.“ Sage niemand, wir hätten in diesen Zeiten keinen Anlass, über „das Böse an sich“ nachzusinnen.

Gleichsam tonlos, wie Christiane immer zu reden pflegt, klingt der Roman aus. Aus vierzigjähriger Distanz zum vorher geschilderten Geschehen, ein halbes Leben mit Ehen, Kindern und Trennungen später, trifft Johann noch einmal auf Christiane. Wie wichtig ist es denn wohl noch, ob sie in all der Zwischenzeit aneinander gedacht haben?

Michael Köhlmeier: „Die Verdorbenen“. Roman. Hanser. 158 Seiten. 23 Euro.

 

 




Ausflug nach Holland: Opern-Akademie zeigt Haydns Rarität „Die belohnte Treue“

Das Ensemble der Dutch National Opera Academy in Joseph Haydns „Die belohnte Treue“. (Foto: Reinout Boss)

Die Welt im ausgehenden 18. Jahrhundert kennt die großen Opernhäuser von Paris, Wien, Mailand, Neapel. Dort werden die Werke aufgeführt, die Geschichte machen. Dass abseits der Herzkammern der Opernwelt – am Eingang zur ungarischen Tiefebene – der Puls des Musiktheaters ebenso heftig schlägt, bleibt unbemerkt.

Dort in Esterháza, einem Nest mit gewaltigem Schloss, entstehen Opern, die wohl in London oder Venedig Furore gemacht hätten, wären sie dort einem Kenner-Publikum präsentiert worden.

Allein: Ihr Schöpfer, „Haus-Officier“ am Hofe des Fürsten Esterházy, hatte kaum eine Chance, sie der großen weiten Welt vorzustellen. Joseph Haydn schrieb für seinen Dienstherrn und dessen Entourage. Und so blieben Meisterwerke wie „Il Mondo della Luna“, „Orlando Paladino“ oder „La vera Costanza“ dem Auge und Ohr der Welt verborgen. Haydn kannte die modernen Musikströmungen seiner Zeit, aber seine Zeit kannte ihn nicht. Und als sich das änderte, waren seine Werke schon vom Ruch des Altmodischen durchweht.

Leider hat sich daran nicht so furchtbar viel verändert: Feinsinnige Liebhaber schätzen Haydns Bühnenwerke, aber der Mainstream wälzt sich ungeniert über sie hinweg. Im Repertoire spielen sie nicht einmal auf mittleren Plätzen mit. Und so ist es überaus verdienstvoll, dass die Dutch National Opera Academy und ihr Künstlerischer Leiter, der Tenor Paul McNamara, den jungen Sängerinnen und Sängern dieser niederländischen Ausbildungseinrichtung mit „Die belohnte Treue“ („La Fedeltá premiata“) eine der kostbarsten Haydn-Opern für eine Aufführung anvertrauen. Die jungen Menschen lernen, so ist zu hoffen, zu schätzen, was ihnen der Eremit aus Esterháza zu bieten hat.

Konstellationen des Augenblicks

Dieses „dramma pastorale giocoso“ vereint in einer turbulenten Geschichte von Giambattista Lorenzi Elemente der opera seria, der komischen Oper und des modischen Schäferspiels der Zeit zu einem Plot, den man kaum nacherzählen kann, aber auch nicht verstehen muss. Denn es geht weniger um ein logisch entwickeltes Drama, sondern eher um Momente der Begegnung und Verstrickungen des Affekts, um Situationskomik oder -tragik, um Konstellationen des Augenblicks und um die Zeichnung von Typen.

Da ist das Paar Fillide (getarnt als Celia) und Filino, das aus der empfindsamen Sphäre stammt und dem Haydn zärtlich-wehmütiges Melos schenkt. Da ist der Priester Melibeo, eine zwielichtige Gestalt mit der undankbaren Aufgabe, einem Untier einmal pro Jahr ein Paar treuer Liebender zu opfern. Da entzücken die „eitle und arrogante“ adlige Dame Amaranta und ihr windiger Bruder Lindoro, mit denen die Blaublütigen in Esterháza ihr Vergnügen gehabt haben dürften, wenn sie sich selbst erkannt haben. Und schließlich stellt der exaltierte Conte „Perruchetto“ allen Frauen ohne Unterschied nach. Ob der Fürst im „Graf Perücke“ Wesenszüge seiner selbst entdeckt hat? Haydns Ironie jedenfalls ist in seinen Figuren und ihrer musikalischen Zeichnung unüberhörbar.

Gut, dass sich Regisseurin Anja Kühnhold nicht in Deuteleien verkünstelt: Sie richtet den Fokus auf die handelnden Personen und ihre Beziehungen, lässt Wehmut und Sehnsucht ebenso zu wie empathielose Blasiertheit, falsches Pathos und sarkastische Gleichgültigkeit. In der Charakterisierung der Figuren – unterstützt von den verschmitzt stilisierenden Kostümen von Anna Sophia Blersch – geht sie auf Haydns Musik ein, setzt die musikalische Gestik in den Konstellationen auf der Bühne, im Spannungsfeld von Annäherung und Distanzierung und in den abgestuften Graden des Grotesken in Bewegung und Haltung um. So entsteht ein unbeschwertes, wie von selbst laufendes Spiel, das auch Momente überbrückt, die der moderne Betrachter als langatmig empfinden könnte.

Eine Musik voller Ideen

Die Schouwburg in Leiden nimmt für sich in Anspruch, das älteste Theater der Niederlande zu sein. Foto: Werner Häußner

Haydns Musik, die wie stets voll Ideen und überraschenden Wendungen steckt, ist beim Orchester des 18. Jahrhunderts bestens aufgehoben. Von den Musikern wird viel Anpassungsvermögen erwartet: Die sechs Aufführungen fanden in unterschiedlichen Räumen statt: die Premiere im Konservatoriumssaal Amare in Den Haag, die hier besprochene Vorstellung in der entzückenden Schouwburg in Leiden, einem Theater von 1865, das an die vielen im Krieg verlorenen Stadttheater kleiner und mittlerer Städte erinnert. Da sich seit 1705 an derselben Stelle an der „Oude Vest“ ein Theaterbau befindet, nehmen die Leidener für ihre Schouwburg stolz den Titel des ältesten Theaters der Niederlande in Anspruch. Die Akustik lässt das aus dem kleinen Graben tönende Orchester nicht günstig klingen: Instrumente sind unausgewogen in der wahrgenommenen Lautstärke, je nach Platz driftet der Klang auseinander.

Aber die Energie, Dynamik und Detailarbeit der Musiker teilt sich mit, und Dirigent Benjamin Perry Wenzelberg gestaltet Tempo und Rhetorik mit viel Feingefühl. Auch die Sängerinnen und Sänger sind bei ihm in guten Händen: Der Dirigent achtet auf ihre stimmlichen Kapazitäten und lässt ihnen den Raum, ihre Fähigkeiten als Darsteller auszuformen. Das entspricht dem Ausbildungsziel der Dutch National Opera Academy: Sie richtet sich mit ihrem zweijährigen Trainingsprogramm an junge Sänger, die stimmlich bereits ausgebildet sind, aber für eine erfolgreiche Bühnenlaufbahn darstellerische Fähigkeiten, Körperbeherrschung und Theaterpraxis erwerben sollen. Auf diese Weise wird ihnen der Übergang in eine professionelle Karriere erleichtert.

Ensemble mit professionellem Anspruch

Das Ensemble der „Fedeltá premiata“ erfüllt die von Haydn geforderten hohen vokalen Standards erfreulich gut. Nachbesserungen empfehlen sich, wo die jungen Stimmen noch zu wenig im Körper verankert sind und die Projektion des Tons in den Raum nicht in allen Lagen gleichmäßig erfolgt. Femke Hulsman bringt das wehmütig verschattete Timbre mit für die Klagen und Sehnsüchte der Schäferin Fillide, die als Celia auf der Suche nach ihrem Geliebten ist. Ihre erste Arie „Placidi ruscelletti“ ist feinsinnig ausgesponnen; für das berühmte Accompagnato des zweiten Akts bräuchte es noch das Fundament eines sicheren Atems und einer kontinuierlichen Entwicklung des Tons aus dem Körper.

Aimee Kearney hat als Amaranta mit der brillanten Wut ihrer Arie „Vanne, fuggi, traditore“ ebenso wenig Probleme wie mit den tiefen Empfindungen ihres großen Auftritts im zweiten Akt. Auch Thalia Cook-Hansen bewältigt mit leichtem, kleinem, aber nicht spitz klingendem Sopran den munteren Auftritt der Nerina mit Charme. Salvador Simão bringt für den Fileno einen duftigen Tenor mit, der vor allem in den langsamen Arien des ersten Akts Ratlosigkeit, Trauer und schließlich entschlossene Verzweiflung des jungen Hirten aus Arkadien ausdrückt.

Wessel Wirken als Graf Perruchetto. Foto: Reinout Bos

Wessel Wirken als Graf Perruchetto laviert mit seiner Figur zwischen komisch exaltiert und zynisch gleichgültig an der Grenze der gestischen Übertreibung entlang; stimmlich bringt der junge Bariton eine klare Artikulation und einen sauber fokussierten Ton mit, der aber noch nicht ausreichend fundiert ist. Milan de Korte als vorwitziger Lindoro und Román Bordón als durchtriebener Priester der Diana erfüllen ihre Rollen mit Elan und Spielwitz. „La Fedeltá premiata“, erst 1970 beim Holland Festival in einer Regie von Jean-Pierre Ponnelle wiederbelebt, zeigt sich auch in dieser Produktion als ein feingeschliffenes Juwel der Oper zwischen Gluck und Mozart. Das Licht eines lebendigen Theaters bringt es zum Funkeln.

Die nächste Vorstellung der Dutch National Opera Academy ist am 25. April in Amsterdam mit Gioachino Rossinis „La Cambiale di Matrimonio“. Info: https://www.opera-academy.nl/performances/la-cambiale-di-matrimonio/

 




„Egal wohin, Baby“ – 70 Mikroromane von Christoph Ransmayr

Der Autor ist zu einer Lesung in Ingolstadt eingeladen, aber der Zug hat Verspätung. Also hetzt er im Laufschritt Richtung Kulturzentrum, das in einer Lagerhalle untergebracht ist. Da sieht er an einer Wand der Halle einen mit weißer Farbe gesprayten Spruch, der ihn innehalten und die Kamera zücken lässt: „Egal wohin, Baby“.

Stammen die Worte von einem Alltagsphilosophen, einem Dichter, der seiner Geliebten an jeden Ort der Welt folgen will? Oder will er sagen: Egal wonach man sich sehnt und wohin man flieht, man findet ohnehin überall dasselbe? Nach der Lesung zieht es den Autor zurück zur Wand und zum seltsamen Spruch, doch als ihm dort der vermeintliche Dichter mit Spraydose über den Weg läuft, hält der ihn für einen Gesetzeshüter und nimmt Reißaus. Bloß weg! „Egal wohin, Baby.“

In aller Welt unterwegs

Christoph Ransmayr ist ständig unterwegs, verwandelt seine Reise-Eindrücke in Literatur. „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die letzte Welt“, „Der fliegende Berg“, die Liste ist lang. „Egal wohin, Baby“ versammelt siebzig als „Mikroromane“ bezeichnete Geschichten: literarische Schnappschüsse. Zu ihnen gesellen sich siebzig Schwarz-weiß-Fotos, die er ohne gestalterischen Aufwand gemacht hat, im Vorübergehen: optische Notizen. Sie dienen der bildhaften Erinnerung und kommentieren die literarischen Texte, die er unter dem Namen „Lorcan“ verfasst hat, um zum Erlebten auf Distanz zu gehen und sich von einem „erschöpften Touristen“ in einen „gelassenen Erzähler“ zu verwandeln.

Die Spuren monströser Verbrechen

An Bord eines russischen Eisbrechers reist er von Murmansk bis zum Nordpol. Auf den Osterinseln philosophiert er über das Rätsel der riesigen Steinskulpturen. In Indien nimmt er an einem Elefantenfest teil. Er staunt über die Sonnen-Pyramiden der Azteken, besucht eine abgelegene Pazifikinsel, die einst Meuterern der Bounty Unterschlupf gewährte und Daniel Defoe zu seinem Roman über Robinson Crusoe inspirierte.

Immer wieder entdeckt „Lorcan“ die Spuren von Verbrechen: In Kambodscha steht er vor Bergen mit Knochen und Schädeln der Opfer des Pol-Pot-Regimes. In Litauen stapft er auf den „Berg der Kreuze“, der an die von Besatzern angerichteten Schrecken erinnert. Bei Neapel geht er der Geschichte von SS-Schergen nach, die in Italien Massaker befohlen hatten und eine lebenslange Haft in der Festung Gaeta verbringen sollten, aber bald schon wieder frei kamen und in Neo-Nazi-Kreisen verehrt wurden.

Wie ein Homer unserer Tage

Auch reist er nach Griechenland, die Wiege aller Sagen und Legenden, spürt der „Ilias“ und der „Odyssee“ nach und wird zu einem Homer unsere Tage, der das Überlieferte und Ungesicherte ins Heute schmuggelt. Einmal ist Lorcan mit einer Reisegruppe in den Wäldern zwischen Uganda und dem Kongo unterwegs. Nach langer Wanderung in rauschendem Regen hockt plötzlich vor ihnen ein riesiger Gorilla, ein wohl zweihundert Kilo schwerer „Silberrücken“.

Was der Gorilla lehrt

Nachdem sie ihre Angst überwunden haben, versuchen sie das Räuspern und Grunzen nachzuahmen, das unter Gorillas als Zeichen von Vertrauen und freundlichem Interesse gilt. „Der Silberrücken“, schreibt Lorcan, „hörte diesem Grunzen fast nachsichtig zu und sah seinen Besuchern in die Augen, so lange und so tief hinab in ihre Seelen, daß sie mit einem Mal ganz die Seinen waren, und ließ seine Gäste jenen Laut hören, den sie vergeblich nachzuahmen versucht hatten. Er räusperte sich. Er grunzte sanft. Und das bedeutet: Es ist gut. Alles ist gut.“ Voller Demut stehen wir vor Größe und Schönheit der Schöpfung.

Christoph Ransmayr: „Egal wohin, Baby“. Mikroromane. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 256 Seiten, 28 Euro.




Wahn und Wirklichkeit: „Englischer“ Opern-Doppelabend in Duisburg

Ein Ort unheimlicher Vorgänge ist der Leuchtturm in Peter Maxwell Davies‘ Oper am Theater Duisburg. Auf dem Bild Roman Hoza (Blazes/2. Offizier), Sami Luttinen (Arthur/3. Offizier), Adrian Dwyer (Sandy/1. Offizier). (Foto: Anne Orten)

Peter Maxwell Davies dürfte gewusst haben, worüber er schreibt: Der Komponist lebte bis zu seinem Tod 2016 auf den Orkney-Inseln. Er kannte die Nächte, in denen der Sturm ums Haus heult, der Regen prasselt, das Meer brüllt. Oder wenn Nebel bleiern und grau alle Geräusche in unheimlicher Dämpfung erstickt, die Schwärze der Nacht sich mit den Ausgeburten der eigenen Phantasie zu monströsen Ängsten verbindet.

Der „Leuchtturm“ ist so ein Ort, dessen massive Mauern kühn den Elementen trotzen, ohne dem Menschen in seinem Innern Schutz geben zu können – Schutz vor den Gespenstern in der Seele, Schutz vor dem Unberechenbaren im Anderen, Schutz vor der „Bestie“ des eigenen Wahns oder des Meeres – wer weiß?

Davies‘ Kammeroper „The Lighthouse“, 1980 beim Edinburgh Festival uraufgeführt, 1984 in Gelsenkirchen nachgespielt und bis in die 2000er-Jahre vielfach neu inszeniert, spielt mit solchen Ängsten. In bester englischer Gruselgeschichten-Tradition berichtet sie vom rätselhaften Verschwinden dreier Leuchtturmwärter, ein historischer Fall aus dem Jahre 1900, als ein Versorgungsschiff ein Leuchtfeuer auf den äußeren Hebriden verlassen vorfand. Der Fall blieb ungeklärt, die Umstände des Verschwindens der Männer mysteriös.

So wenig damals eine Erklärung gefunden wurde, so wenig löst sich das Geschehen in den 75 Minuten Oper. Trieb jemand oder etwas die Männer in den Wahnsinn? Erhob sich gar die von den Wärtern beschworene unheimliche Bestie im Sturm aus dem Meer, ein Loch-Ness-Ungeheuer der Nordsee? Wurden sie Opfer ihrer eigenen Wahnvorstellungen, der Gespenster aus ihrem Unterbewusstsein? Brachten sie sich gegenseitig um, getrieben von den Furien ihrer Vergangenheit? Kamen sie in der kochenden Sturmsee ums Leben? Oder waren die Offiziere des Schiffes an ihrem Verschwinden nicht schuldlos? Deren Aussagen sind widersprüchlich und unklar. Sie scheinen mehr zu wissen als sie aussprechen. Davies‘ Libretto ist ein Meisterstück, in seiner unheimlichen Vieldeutigkeit vergleichbar mit „The turn of the screw“ von Henry James, auf dem Brittens gleichnamige Oper basiert – ebenfalls ein Stück, bei dem man vor Gespenstern nicht sicher ist.

Eine herausfordernde Aufgabe für Haitham Assem Tantawy, der die 75minütige Oper als ersten Teil eines Doppelabends inszeniert. Er hat sich für sein Regiedebüt an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg das geheimnisvolle Stück gewünscht, das er während seines Studiums in Karlsruhe kennengelernt hatte. In „The Lighthouse“ fasziniert ihn, wie ein tatsächlich stattgefundenes Ereignis mit Mythos, Tiefenpsychologie und Philosophie verbunden wird. „Davies hat eine Tür aufgemacht für das Übernatürliche, auch für die inneren Traumata der drei verschwundenen Leuchtturmwärter.“ Zudem spielt die Prophezeiung der Tarot-Karten im Stück für seine Inszenierung eine Rolle. Doch auch Tantawy lässt das Ende rätselhaft offen.

Emotionale Kraft, ausgeprägte Theatralik

Debüt an der Rheinoper: Dirigent Killian Farrell. (Foto: Andrew Bogard)

Mit dem zweiten Teil des Abends hat „The Lighthouse“ erst einmal nichts zu tun – außer, dass beide Stücke von englischen Komponisten stammen: Henry Purcells „Dido and Aeneas“ ist rund 300 Jahre früher entstanden. Für den Dirigenten des Abends ein reizvoller Kontrast: Killian Farrell, in Irland geboren, sieht nicht nur das Meer als gemeinsames Element. „Je mehr ich mich mit den Stücken beschäftige, desto mehr Verbindungen finde ich. Beide Opern sind in ihrer Komposition sehr auf das Drama konzentriert, beide haben eine große emotionale Kraft und eine ausgeprägte Theatralik.“ Farrell ist auch begeistert von der Bühne von Matthias Kronfuß: „Sie reflektiert die Innenwelt und setzt viele fantastische Effekte klug und reizvoll ein.“ Das sei wichtig für das Stück mit seiner atmosphärischen, geräuschhaft malenden, psychologisch vertiefenden, aber auch sperrigen, nicht äußerlich illustrierenden Musik. Killian Farrell, seit 2023 Generalmusikdirektor am traditionsreichen Staatstheater Meiningen, debütiert mit dem Doppelabend an der Deutschen Oper am Rhein.

Begegnung im Computerspiel

Dido und Aeneas in der virtuellen Welt: Morenike Fadayomi (Zauberin), im Hintergrund Charlotte Langner (Geist) und Anna Harvey (Dido). (Foto: Anne Orten)

„Dido and Aeneas“ ist für Regieassistentin Julia Langeder ebenfalls die erste selbständige Inszenierung an der Rheinoper. Sie erzählt die Geschichte aus dem trojanischen Sagenkreis als heutige: Dido und Aeneas treffen sich in einer virtuellen Welt. „Ich habe mich schwer getan mit dem Gedanken, dass sich eine so starke Frau und Königin wie Dido aus Liebeskummer umbringt.“ So fragt Langeder, was heutige Gründe für einen Suizid sein können, und findet Depressionen, psychische Erkrankungen, aber auch Hass und Mobbing im Netz. „So kam ich über Cybermobbing und unsere wachsende Abhängigkeit von der virtuellen Welt auf die Idee, die Begegnung der beiden Menschen in einem Computerspiel ‚Karthago‘ stattfinden zu lassen. Beide Figuren sind bei Vergil ja auch von den Göttern fremdgesteuert, ähnlich wie Avatare im Computerspiel. Dido und Aeneas treffen sich in meiner Inszenierung nie in der Realität.“

Die Premiere des „englischen“ Doppelabends mit „The Lighthouse“ und „Dido and Aeneas“ findet am Freitag, 7. Februar, 19.30 Uhr im Theater Duisburg statt. Weitere Vorstellung gibt es am 9. Februar (15 Uhr), 21., 23. Februar, 2. März (15 Uhr) und 5. März 2025. Tickets unter (0203) 283 62 100 oder im Internet unter www.operamrhein.de




Ohrwürmer im Tongebirge: Bochums Jugendsinfonieorchester spielt ein Benefizkonzert für sich selbst

Die Schwestern Naomi und Mika Cichon (v.l.) waren im Anneliese Brost Musikforum Ruhr die Solistinnen in Mozarts „Sinfonia Concertante“ für Violine, Viola und Orchester. (Foto: Claudia Jaquet)

Die Notenpulte hätten sich an diesem Konzertabend eigentlich biegen müssen. Schwere Brocken des Repertoires landeten darauf, Orchesterwerke in massiver Besetzung, halbe Tongebirge spätromantisch-impressionistischer Natur. Von ihnen eingerahmt, fand sich das heitere Hochplateau von Mozarts „Sinfonia Concertante“ (KV 364), die vor Ideenreichtum schier überquillt.

Vielleicht wollte das Jugendsinfonieorchester (JSO) der Musikschule Bochum ja zeigen, warum es alle Unterstützung wert ist, die ihm aus dem Erlös dieses Abends im Anneliese Brost Musikforum zugutekommt. Unter der Leitung seines langjährigen Dirigenten Norbert Koop spielte es bereits zum 13. Mal ein vom Lions Club Bochum-Hellweg organisiertes Benefizkonzert, gewissermaßen für sich selbst. Das Geld soll Orchesterfahrten und Auslandsreisen ermöglichen, die Anschaffung neuer Noten und die Erneuerung und Verbesserung des Instrumentenbestands. Es soll aber auch die Kinder und Jugendlichen weniger gut betuchter Familien unterstützen, damit das JSO für alle zugänglich bleibt.

Zum Auftakt gibt es spanisches Kolorit: Die Suite Nr. 2 aus Manuel de Fallas Ballettmusik „Der Dreispitz“. Nach etwas zögerlichem Beginn entwickelt der „Tanz der Nachbarn“ Anmut. Ornamente von Flöte und Piccoloflöte schimmern silbrig. Im Tutti rauscht der Orchesterklang, als würde eine große Gitarre geschlagen. Ein kraftvolles Horn-Signal weist für den „Tanz des Müllers“ den Weg: Der stampft vorwärts, mit archaischer Wucht. Der Schlusstanz, eine so genannte Jota, gerät zur ausgelassenen Fiesta. Die Holzbläser schwirren, die Blechbläser trumpfen auf, Becken und Kastagnetten machen die Schlusstakte vollends explosiv.

Zwei JSO-Mitglieder treten an diesem Abend solistisch hervor. Die Schwestern Mika Cichon (Violine) und Naomi Cichon (Viola) müssen den Gleichklang in Mozarts „Sinfonia Concertante” nicht erst suchen. Von Beginn an ist zu hören, wie tief ihre innere Verbindung reicht und wie einig sich die beiden in der Auffassung des Werks sind. Auch ihre Gestaltungsgabe ist ähnlich hoch ausgeprägt: Beide phrasieren natürlich und mit feiner Tongebung.

Blumen für die jungen Künstlerinnen: Naomi und Mika Cichon (v.l.) bei ihrem Auftritt mit dem Jugendsinfonieorchester Bochum. (Foto: Dirk Cichon)

Da wird das Zuhören zum Vergnügen. Die Oktavparallelen beim ersten Einsatz: blitzsauber intoniert. Die Dialoge zwischen Bratsche und Geige: stets beredt und munter. Die Bogentechnik: ausgefeilt und variantenreich. Wer sich von der Optik nicht beeinflussen lassen will und die Augen schließt, hört Anmut und Spielfreude. Das Presto gerät wunderbar grazil und spritzig.

Die große Nagelprobe für die Musikalität ist natürlich der langsame Satz. Die Schwestern gestalten das Andante im ruhigen Fluss, ohne Anzeichen von Nervosität. Den sonoren Ton der Bratsche umspielt die Geigerin in den hohen Lagen der Violine mit delikaten Girlanden. Die Enkelinnen des Bratschisten Teisuke Shiraga (Bochumer Symphoniker) und Nichten der zu früh verstorbenen Pianistin Fumiko Shiraga tragen das musikalische Erbe der Familie eindrucksvoll fort.

Nach der Pause stemmt das JSO einen tönenden Monolithen mit Ohrwurm-Qualitäten: Die Sinfonie d-Moll des Franzosen César Franck, ein zentrales Werk der Spätromantik, das mit seiner Mischung aus französischem Parfüm und deutscher Strenge zu den Favoriten des Konzertpublikums zählt. Die eigenwilligen harmonischen Wendungen des Werks stellen das Orchester vor Herausforderungen. Francks Mäandern durch die Tonarten, sein zuweilen enervierendes chromatisches Geschiebe führt da schon mal zu schwerem Fortissimo-Gewühl. Zugleich wird das Publikum Zeuge eines imponierenden Kraftakts, eines Sturmlaufs voller Dramatik und hymnischer Höhepunkte. Ob die Spendengelder wohl sinnvolle Verwendung finden ist eine Frage, die nach diesem Abend niemand mehr stellen dürfte.

(https://musikschule-bochum.de/ensemble/jugendsinfonieorchester/)




Bildhauer Tony Cragg stattet erstmals eine Oper aus: „Castor et Pollux“ von Jean-Philippe Rameau am Staatstheater Meiningen

Sir Tony Cragg (links) bei der Besichtigung der Meininger Bühne mit dem Intendanten des Theaters, Jens Neundorff von Enzberg. (Foto: Christina Iberl)

Tony Cragg stattet erstmals eine klassische Oper aus. Das Staatstheater im thüringischen Meiningen hat für 21. Februar 2025 Jean-Philippe Rameaus „Castor et Pollux“ in einer Bühne des in Wuppertal lebenden Bildhauers angekündigt.

Die Inszenierung übernimmt Adriana Altaras; der Intendant des traditionsreichen Hauses, Jens Neundorff von Enzberg, hat die Spielfassung der Oper Rameaus erstellt. Co-Bühnenbildnerin ist die in Würzburg lebende Verena Hemmerlein. Die Meininger Hofkapelle wird geleitet von Christopher Moulds. Der britische Dirigent ist bekannt für seine Dirigate von Opern von Komponisten wie Claudio Monteverdi, Francesco Cavalli oder Georg Friedrich Händel in Amsterdam, Berlin, Glyndebourne, Halle, München, Salzburg oder Zürich.

Das Meininger Staatstheater. (Foto: Werner Häußner)

Cragg wird nach den Worten von Intendant Jens Neundorff von Enzberg in seinem Bühnenbild als Bildhauer wie als Zeichner sichtbar sein. Sein Kontakt mit dem Künstler reiche über 20 Jahre zurück, seit er als Chefdramaturg und Operndirektor die Oper Bonn mit der Kunsthalle und mit bildenden Künstlern verknüpft habe, erklärte Jens Neundorff von Enzberg.

Diese Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern hat er in Meiningen wieder aufgegriffen: Markus Lüpertz stattete dort Giacomo Puccinis „La Bohème“ aus. Der Großmeister monumental gesteigerter expressionistischer Malerei und Skulptur schuf auch die Ausstattung für Vicente Martín y Solers Oper „Una cosa rara“, die 2018 am Theater Regensburg von Andreas Baesler neu inszeniert und 2024 nach Meiningen übernommen wurde. Auch Achim Freyer hat für Meiningen gearbeitet: Auf eine „Zauberflöte“ (2022) folgte in dieser Spielzeit Giuseppe Verdis „Don Carlos“.

Organisch sich windende Skulpturen

Sir Tony Cragg, 1949 in Liverpool geboren, hat bisher nur zwei Mal eine Bühne gestaltet: 2015 für eine spartenübergreifende Produktion von Shakespeares „Romeo und Julia“ und 2021 für ein Musical nach Hermann Melvilles „Moby Dick“ mit der Musik von Alexander Balanescu, beide in Wuppertal in der Regie von Robert Sturm.

Die Skulpturen Sir Tony Craggs für die Inszenierung von „Castor et Pollux“ in Meiningen. (Foto: Christina Iberl)

Der Künstler ist spätestens seit Mitte der Achtziger Jahre durch seine ungegenständlichen, sich windenden, organisch wirkenden, oft metallisch glänzenden Skulpturen bekannt geworden. Seine abstrakten Werke mit Plastik als Material machten vorher schon auf bedeutenden Ausstellungen wie der Kasseler documenta, der Biennale di Venezia oder in Museen wie dem Brooklyn Museum New York oder der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf auf ihn aufmerksam.

Tony Cragg lebt seit 1977 in Wuppertal. Ab 1979 lehrte er – mit einem Intermezzo in Berlin von 2001 bis 2006 – an der Kunstakademie Düsseldorf, deren Rektor er von 2009 bis 2013 war. 2006 erwarb er in Wuppertal Park und Villa Waldfrieden und gestaltete das 15 Hektar große Gelände zum Skulpturenpark um.

Cragg hat zahlreiche Ehrungen empfangen, so den Turner Prize und die Ordre des Arts et des Lettres. Er ist Ehrenbürger der Stadt Wuppertal und seit 2015 Ehrenmitglied der Kunstakademie Düsseldorf. Derzeit und bis zum 4. Mai zeigt in Rom das Museo Nazionale Romano in den Diokletiansthermen eine große Einzelausstellung mit 18 Skulpturen Tony Craggs aus den letzten zwei Jahrzehnten. Im Sommer ziehen dann vom 24. Juli bis 6. Oktober Skulpturen Craggs in die Prunkräume der Alten Residenz in Salzburg ein.




Zum Tod von Marianne Faithfull – Rückblick auf ein Konzert von 1999

Marianne Faithfull 1966 in der niederländischen TV-Sendung „Fanclub“. (Foto: A. Vente / Lizenz: Wikimedia Commons – https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en)

Es ist wieder eine dieser ganz und gar traurigen Nachrichten, mit denen man stückweise selbst vergeht: Mit 78 Jahren ist die charismatische Sängerin Marianne Faithfull gestorben. Ihre Bedeutung geht weit über ihre anfängliche Rolle als „Muse der Rolling Stones“ (schon diese altbackene Bezeichnung!) hinaus. 1999 durfte ich sie bei einem Konzert in Köln erleben. Hier noch einmal der damalige Text, auch schon rund ein Vierteljahrhundert alt:

Köln. Ganz in Schwarz gekleidet, betritt sie die Bühne. Seht her, eine Dame! Man könnte sie sich gut in einer distinguierten Hotel-Lobby vorstellen, wartend. Doch schon die Art, wie sie Mikrofon und Zigarette hält, lässt ahnen, dass sie nicht „damenhaft“, sondern glühend, verlangend und oft tragisch gelebt hat: Wir reden von Marianne Faithfull.

Die britische Sängerin, die jetzt im Kölner „E-Werk“ zumeist Songs ihrer neuen CD „Vagabond Ways“ vorstellte, ist eine Frau mit bitteren Erfahrungen. 1964, damals gerade 17 Jahre alt, war sie die Freundin von Mick Jagger und wurde unter den rüden „Rolling Stones“ als sexuelle Trophäe herumgereicht. Immer wieder verfiel sie seither der Drogensucht, doch sie kämpfte sich auch daraus hervor. Sie gehört wohl zu jenen, die eher vor Leidenschaft „verbrennen“ als sich zu bewahren.

All das klingt in ihrer rauchigen, brüchigen, oft aufgewühlten Stimme mit. Wenn sie von den „Wilder Shores of Love“ (Wildere Gestade der Liebe) erzählt, so ist bedrohliche Brandung zu spüren; wenn sie „I Feel Guilt“ (Ich fühle Schuld) haucht, so scheint sie tatsächlich tief verstrickt zu sein.

Die Begleitband arbeitet grundsolide und stellt sich ganz in den Dienste der Sängerin. Wie einfach die Harmonien der Titel auch gelegentlich klingen mögen, Marianne Faithfull macht stets das Besondere, von Erfahrung beglaubigte und Ungeglättete daraus.

Sie singt sozusagen an den Bruchlinien des Lebens entlang – von zerbrochener Liebe, geknickten Flügeln der Hoffnung, brüchiger Welt und letztlich auch von Fragmenten jener Freiheits-Wunschträume der 68er-Generation.

„Broken English“ heißt – gewiss nicht nur zufällig – einer ihrer besten Songs. Und es gibt diese starken Momente zwischen überfallartiger Traurigkeit, Aufbegehren, Trotz, Tapferkeit und plötzlichem Triumph. Beispielsweise, wenn sie die Fäuste ballt zu „Working Class Hero“.

Mit dem Publikum stellt sie sogleich eine vertraute, ja fast schon intime Beziehung her. „We love you, dear!“ ruft einer ihr spontan zu und spricht damit manchen aus der Seele. Ein Konzert kann wie eine Affäre sein. Doch diese hier ist denn doch ein wenig flüchtig, nicht unvergesslich. Dazu sind die ganz und gar innigen Momente etwas zu rar. Etliche Feinheiten ertrinken im Grundrauschen des Rock.

Gegen Schluss stimmt Marianne Faithfull den Stones-Klassiker „As Tears Go By“ an. Es werden nicht die letzten Tränen gewesen sein.




Fragile Schönheit der Erde, aus dem Weltraum betrachtet – Samantha Harveys Roman „Umlaufbahnen“

Zwei Frauen und vier Männer, zusammengepfercht auf einer Raumstation. Jeder Tag, an dem sechzehnmal die Sonne auf- und wieder untergehen wird und sie mit einer Geschwindigkeit von achtundzwanzigtausend Kilometern sechzehnmal die Erde umkreisen, folgt einem eigenen Zeit-Rhythmus, exakten Plänen, routinierten Abläufen.

Sie führen Experimente mit Mäusen, Pilzen und Viren durch, trudeln zeitlupenartig durch die Schwerelosigkeit, brechen zu Spaziergängen ins All auf, um Reparaturarbeiten an ihrer von Weltraum-Müll zerdepperten Behausung auszuführen. Sie hocken monatelang so eng aufeinander, dass sie mitunter „dieselben Träume“ träumen. Und während sie noch kopfüber in ihren Schafsäcken hängen und langsam erwachen, rollt draußen die Erde „in einem üppigen Schwall Mondlicht vor sich hin“ und „wälzt sich nach hinten weg.“

Weil die Fensterblenden verdeckt sind, sehen die vor sich hin dösenden Raumfahrer noch nicht, was Samantha Harvey, die allwissende Erzählerin, die ihren Blick durch ihr literarisches Universum schweifen lässt, bereits sieht: wie über den warmen Gewässern des Westpazifiks sich Passatwinde zu einem Sturm zusammenballen, „einem Motor aus Hitze. Die Winde saugen die Wärme aus dem Ozean auf, sammeln die Wolken, die stocken, sich immer mehr verdichten und schließlich vertikal auftürmen, in einen Taifun drehen.“ Während das Raumschiff gen Osten zieht, wird der Taifun westwärts Richtung Südasien wandern, das Meer zum Wüten bringen und eine gigantische Spur der Verwüstung auf den Philippinen hinterlassen.

Die britische Autorin Samantha Harvey muss unendlich viel Material gesichtet und Gespräche geführt haben, um so genial zwischen Fakten und Fiktionen jonglieren, die Wirklichkeit literarisch transzendieren und beschreiben zu können, was sich auf einer Raumstation abspielt; wie sich das am seidenen Faden von störungsanfälligen Geräten hängende Leben in einer den Gesetzen der Schwerkraft enthobenen Umgebung gestaltet, wo Angst vor dem Tod und Demut vor der Schöpfung ineinander greift.

In ihrem Roman „Umlaufbahnen“, für den sie den Booker-Prize erhielt, verbindet Harvey auf poetisch elegante Weise Fragen nach Sein und Werden mit dem Nachdenken über die fragile Schönheit der zerbrechlichen, von Klimakatastrophen, Krisen und Kriegen bedrohten Erde. Von dort oben aus, wo alle alles miteinander teilen und, obwohl sie aus verschiedenen Ländern und Kulturen kommen (Russland, Italien, Japan, England, USA), dieselben Wünsche haben und wissen, dass sie nur gemeinsam überleben können, wirken alle irdischen Konflikte belanglos.

Samantha Harvey schaut in die Seelen der Raumfahrer, die sich schmerzlich nach ihren zuhause gebliebenen Liebsten sehnen und sich zugleich von allem lösen und gern in die Unendlichkeit des Alls driften würden. Sie schaut auf die Erde und sieht „diesiges blassgrün schimmernde Meer, diesiges orangerotes Land. Afrika, von Licht durchdrungen. Im Inneren dieses Raumschiffes kann man es fast hören, dieses Licht.“ Gleichgültig, ob alles Leben nur eine Laune der Natur ist oder dem Willen eines Gottes entspringt: Warum nur richten wir all unser Streben darauf, diesen majestätisch schönen Planeten mit unserem Fortschrittswahn zu zerstören anstatt ihm mit Demut zu begegnen und zu erhalten? Etwas Besseres gibt es nicht und finden wir nirgendwo.

Samantha Harvey: „Umlaufbahnen“. Roman. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv, München. 224 Seiten, 22 Euro.




Sechs Stunden sind nicht genug – In Bochum inszeniert Johan Simons Elena Ferrantes Roman „Meine geniale Freundin“

Freundinnen fürs Leben: Elena Greco (Jele Brückner, links) und Raffaela Cerullo (Stacyian Jackson) (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Sechs Stunden! Wo sitzt man noch so lange im Theater? Die Schauspielexzesse Peter Steins fallen einem ein, sein Antiken-Projekt, der Faust, der Wallenstein. Doch das ist Jahrzehnte her, und seitdem sind „90 Minuten, keine Pause“ längst schon so etwas wie gültiger Bühnenstandard geworden. Man mag das bedauern. Oder sich dem widersetzen. Johan Simons tut das, in Bochum.

Neapolitanische Saga

Er macht es wieder, seine „Brüder Karamasow“ nach Dostojewskij, Premiere im Oktober 2023, dauerten gar sieben Stunden, inklusive zweier Pausen nebst Gastmahl. Zu essen gab es diesmal auch, doch dazu später (vielleicht) mehr. Nun also: Premiere der Bühnenadaption von Elena Ferrantes Romanen um zwei Freundinnen aus dem armen italienischen Süden, deren erster den Titel „Meine geniale Freundin“ trug und die als Zyklus „Neapolitanische Saga“ enorm erfolgreich waren und sind. Die Textfassung stammt von Koen Tachelet, einem langjährigen Mitstreiter Simons‘ seit gemeinsamen Zeiten am NTGent.

Jele Brückner als Elena am Schreibtisch und in der Videoprojektion (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Rechtlose Frauen

Erzählt werden die Lebensgeschichten von Elena und Raffaela, kurz Lenù und Lila, beginnend mit ihrer Kindheit in einem armen Stadtviertel Neapels. Das Viertel heißt Rione, was das italienische Wort für Viertel ist, und von wo man vor allem weg will. Doch die Möglichkeiten sind begrenzt, mafiöse Strukturen herrschen, und die faktische Rechtlosigkeit der Frauen scheint gottgegeben zu sein. Das Rione ist ein Hort der strukturellen Gewalt, zu der brutale Erniedrigungen und Vergewaltigungen ebenso zählen wie das ängstliche Festhalten an traditionellen Rollenbildern. In dieses Milieu werden die beiden Protagonistinnen hineingeboren. Elena, unschwer erkennbar als Alter Ego der Autorin, schafft die Aufnahmeprüfung einer Elitehochschule in Pisa, wird eine erfolgreiche Journalistin und Schriftstellerin; Raffaela heiratet früh, bekommt früh ein Kind von einem anderen, trennt sich von ihrem gewalttätigen Ehemann, schließt eine „Vernunftehe“, landet schließlich als Arbeiterin in der Fleischfabrik.

Feministischer Jahrhundertroman

Natürlich geschieht noch viel mehr in den Romanen, sind atmosphärische Elemente von großer Bedeutung. Elena Ferrante hat weit über tausend Seiten mit ihren Beschreibungen gefüllt, daran gemessen sind sechs Stunden Theater – netto vielleicht um die fünf – immer noch wenig, auch wenn fast pausenlos dialogisiert wird. Offenbar hat sich die Inszenierung, was man begrüßen mag, zum Ziel gesetzt, die biografische Grobstruktur beizubehalten. „Kindheit und Jugend“ ist der erste Teil überschrieben, es folgen „Erwachsenenjahre“ und „Reife und Alter“. Das Dilemma dieses Vorgehens ist jedoch die weitgehende Reduktion auf biografische Fakten – Männergewalt, Kinderkriegen, Trennungen, persönlicher Erfolg. Den feministischen Jahrhundertroman, den manche Kritiker in Ferrantes Werk sehen, findet man hier nicht wieder, gesamtgesellschaftliche Themen wie bürgerlicher Reichtum, organisierte Kriminalität oder Vetternwirtschaft bleiben lediglich strukturelle Grundierung.

Bühnenbild aus der Zentralperspektive. Es soll sich um eine typische italienische Piazza handeln. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

68 und danach

Gewiß gibt es im Stück auch Klassenkampf und revolutionäre Bestrebungen. Die Zeit nach 1968 und die 70er Jahre waren davon geprägt, in Italien verübten die Roten Brigaden Gewalttaten, ermordeten Politiker wie den christdemokratischen Ministerpräsidenten Aldo Moro. Ferrante, Jahrgang 1943, erzählt vermutlich vieles aus eigenem Erleben im universitären Milieu. Wiederholt werden (vorwiegend im zweiten Teil des Abends) Nachrichten von revolutionären Taten in das Bühnengeschehen getragen, treten klassenkämpferische junge Männer aus gutem Haus als Agitatoren auf, gibt es den Versuch, Arbeiter und Studenten im Klassenkampf zu vereinen. Doch bei den Frauen reift die Erkenntnis, daß offenbar auch die Revolution Männersache ist, sich strukturell für sie somit nicht viel ändern würde. Hier finden sich die Wurzeln der autonomen Frauenbewegung, und wer etwas älter ist und früher mal „links“ war, kennt das vielleicht auch alles. Dieser Wiedererkennungseffekt hat sicherlich einen nicht geringen Anteil am Erfolg der Ferrante-Bücher, auch beim deutschen Publikum.

Strukturelle Zusammenhänge

In Bochum indes, kommen wir zum Theaterstück zurück, zeigt die Inszenierung letztlich wenig Interesse daran, strukturelle Zusammenhänge herauszuarbeiten. Einige Male liest Elena Sätze aus ihren Texten vor, die man vielleicht als analytischen Versuch bezeichnen könnte. Aber sie bleiben isoliert. Doch bietet diese Art der Inszenierung immerhin eine gute Wiedererkennbarkeit der Textvorlage. Wer die Bücher gelesen hat, kann alte Bekannte grüßen.

Ein bißchen wie bei Pina Bausch: Das Bühnenpersonal nimmt auf gereihten Stühlen Platz. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Johans Stühle

Von Johan Simons wissen wir, daß er gerne Stühle auf der Bühne mag. So auch hier. Und die Schauspieler sind gut damit beschäftigt, Stühle hin und her zu tragen, aufzureihen, abzuräumen. Wenn gar ein Erdbeben die Stadt erschüttert, bleibt als bildlicher Ausdruck ein großer Haufen Stühle, unter denen (Trümmer!) Opfer zu beklagen sind. Doch mehr als einprägsame Bilder entstehen so nicht; anders als in manchen Psychotherapien erklären die Stühle in ihren Anordnungen nicht die Beziehungen der Menschen zueinander, bleibt es bei allgemeiner Symbolik von Verortung und Seßhaftigkeit.

Es soll eine italienische Piazza sein

Zweites prägendes Bühnenelement ist die permanent rotierende Drehbühne. Sie bewahrt vor allzu großer Statuarik des Geschehens und bietet in Verbindung mit mitkreisenden Videokameras zudem den Vorteil, daß auf allen Plätzen – es gibt sie im Zuschauersaal wie auch hinten auf der Bühne – in Verbindung mit der Videoprojektion alles gesehen und verfolgt werden kann. Zu Beginn rotieren zwei Schreibtische mit den beiden jungen Mädchen, umlegt mit Büchern der eine (von Elena), mit Schuhen der andere. Der Bühnenraum selbst, war vor der Premiere in einem Vorgespräch zu erfahren, sei einer italienischen Piazza nachempfunden, aber wenn man das nicht weiß, kommt man auch nicht drauf. Dafür bleibt es zu abstrakt, trotz der warm erstrahlenden Straßenlaterne.

Nicht folkloristisch

In gewisser Weise ist der hohe Abstraktionsgrad dieser Ausstattung aber auch vorteilhaft, bewahrt er das Publikum doch vor allzu folkloristischer Deutung des Geschehens. Etwas anderes wäre es vielleicht gewesen, wenn die Inszenierung sich statt für eine lineare Protokollierung für punktuelle Verdichtung der Handlung entschieden hätte.

Nochmal die Freundinnen: Stacyian Jackson als Raffaela links, Jele Brückner als Elena rechts. . (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Ideale Besetzung

Schauen wir auf die Darsteller. Jele Brückner ist Elena Greco, schon vom Typ her eine geradezu ideale Besetzung. Nachdem sie sich mit etwas Verzögerung „warmgespielt“ hat, ist sie eins mit ihrer Rolle. Die Zumutungen des Lebens – Freude, Angst, Selbstzweifel, Bedürftigkeit wie auch späterhin Selbstbewußtsein und Kraft weiß sie intensiv zu geben. Später wird ihr dafür reicher Applaus zuteil. Ihre Freundin Raffaela Cerullo wird von Stacyian Jackson gegeben, deren körperlicher Einsatz beeindruckt, die sprachlich aber nicht überzeugt. Sie spricht mit starkem (amerikanischen?) Akzent, was immer wieder zu Verständnisschwierigkeiten führt. Zudem gibt es ärgerliche Versprecher, die dem Redefluß ebenfalls nicht guttun. Außerdem legt sie (legt der Regisseur) die Rolle der Lila recht prollig an, was Leser der Bücher für unzutreffend halten.

Unmengen von Text

Mit Ausnahme der beiden Hauptkräfte spielen die anderen meistens mehrere Rollen. Garderobenwechsel geschieht oft auf der Bühne, was der Produktion die Anmutung des Unfertigen gibt. Darstellerinnen und Darsteller schlagen sich gut, stundenlang, bewältigen eine Unmenge von Text, beeindrucken mit ihrer scheinbar grenzenlosen Beweglichkeit. Wir erleben in Bochum ein hochwertiges, homogenes Ensemble, das die Inszenierung, die nicht immer frei von Längen ist, souverän trägt und alles in allem und trotz vieler bedrückender Handlungselemente zu einem unvergeßlichen Theaterabend macht.

Ein Solitär in der deutschsprachigen Theaterwelt

Erwähnt werden muß noch, daß es bei der Premiere eine ca. viertelstündige Unterbrechung durch einen Notarzteinsatz gab. Schließlich aber: Stehender Applaus, lang anhaltend. Mit seiner selbstbewußten Art, Theater zu machen, ist der 78jährige Johan Simons mittlerweile ein Solitär, nicht nur im Ruhrgebiet, sondern im ganzen deutschsprachigen Theaterraum.

Ach ja: Zu essen gab es verschiedene italienische Vorspeisen, vom Caterer in praktischen Einmalverpackungen dargeboten, außerdem Brot und Wasser. Man nahm es dankbar an an diesem beeindruckenden Theaterabend, der erst weit nach Mitternacht sein Ende fand.

Weitere Aufführungen: 1., 2., 23. Februar, jeweils 16:00 Uhr
www.schauspielhausbochum.de




Alles auf die Goldwaage: Peter Handkes Halbschlafprosa „Schnee von gestern, Schnee von morgen“

Peter Handke (82) war immer schon ein großer, unermüdlich Gehender in der weiten Welt und in der Literatur. Wo ist er nicht überall ausgeschritten? Auch sein neues, diesmal recht schmal geratenes Buch „Schnee von gestern, Schnee von morgen“ kreist um dieses stetige, langsame Unterwegssein. Doch wohin hat ihn und seine Protagonisten das alles geführt? Doch nicht etwa in ein Niemandsland?

Es ist wahrlich nicht leicht, sich hineinzufinden in diese fortwährende (Sprach)-Bezweiflung. Ein Wort reibt sich am anderen, ein jedes wird zergliedert – oft tiefgründig (oder gründelnd?), zuweilen aber auch geradezu flapsig oder beinahe albern. Jegliches Wort kommt allerdings auf die buchstäbliche Goldwaage. Soll man gar von Wortklauberei reden? Oder ist es nicht doch entscheidend, wenn es heißt, man solle sagen „Mir ist Zeit!“ statt „Ich habe Zeit.“?

„In Zungen reden“

Insgesamt scheint das Fortkommen des Textes vielfach in einer Art Gestammel zu bestehen, in einer schlaf- und traumwandelnden Sprache, die sich in ihren logischen und etymologischen Widersprüchen schier zu verheddern droht. Tagtraumprosa und Halbschlafprosa nennt es Handke selbst. Immer wieder hebt er mehr oder minder vage Behauptungen mit der Fügung „oder auch nicht“ auf, macht sie auf diese Weise gleichsam ungeschehen. Oder eben auch nicht. Da kenne sich einer aus. Dialektik ist das jedenfalls nicht. Weitaus eher schon der Duktus eines Wesens, das „in Zungen redet“.

Jenseits aller Ideale und Hoffnungen

Ein verbliebenes Ziel ist offenbar die Absichtslosigkeit, ja notfalls das Unnütze. Zitat: „Und wieder so ein elftes Gebot: Unwillkürlich beteiligt sein.“ Da hat einer sprichwörtlich sein‘ „Sach` auf nichts gestellt“, lebt „aufs Geratewohl“, will das Weghören und Übersehen lernen, erwartet vom Dasein rein gar nichts mehr, verortet sich jenseits aller Ideale, Hoffnungen, Theorien, erst recht fern von Meinungen. Die Wette aufs geglückte Leben gehe notwendig verloren, heißt es mehrmals. Sodann ein Summen im Gefolge der Beatles, die bei Handke seit jeher viel gegolten haben: „There will be no answer, let it be…“ Bei den Beatles hieß es freilich noch: „There will be an answer…“ Zwischendurch werden auch noch seltsame Prophezeiungen gestellt: „Mein Tageshoroskop: Sie haben sich heute verirrt auf dem Mond, aber bemühen Sie sich dabei, das, was wahrhaft zählt, im Gedächtnis zu behalten.“ Ach.

Von Schiller bis zu Siw Malmkvist

Zum Ende hin gibt es eine Passage, in der Handke alte Zitat-„Schlachtrösser“ der Geistesgeschichte aufgaloppieren lässt, von Schillers „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“ übers biblische „Tod, wo ist dein Stachel?“ – und dann bis hin zu Siw Malmkvists Schlagerzeile „Liebeskummer lohnt sich nicht, my Darling“ oder Jacques Dutroncs wunderbar simplem Refrain „Et moi, et moi, et moi“. Man könnte mit Ratespielen zur jeweiligen Herkunft der Aussprüche anknüpfen. Doch hier ist das Leben kein Quiz. Hier geht es um die beispielhafte Bilanz eines Lebens.

Rare Momente mit Kindern und Tieren lassen denn doch noch die (schwindende) Ahnung einer anderen Welt aufscheinen. Und der Gehende gerät schließlich – ausgerechnet am Rande einer fürchterlich lärmenden Straße – nicht nur an den bedeutsamen Rand eines Waldes, sondern auch in Erinnerungs-Gefilde seiner Kinderzeit. Sollte das der Beginn einer Rettung sein? Niemand wird es erfahren, weil jener vorangehende Mensch offenkundig spurlos verschwunden ist. Geheimnisvoller Schlusssatz: „…aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging.“

Peter Handke: „Schnee von gestern, Schnee von morgen. Das Lautwerden des einen Kreuz- und Quer-Gehenden zeit seines jeweiligen Innehaltens“. Suhrkamp Verlag, 74 Seiten, 20 Euro.




„Panik wäre angebrachter“ – Essays und Reden von Daniel Kehlmann

Im Juli 2024 hält Daniel Kehlmann im Berliner Bundeskanzleramt bei einem Kultur-Festakt eine Rede, mit der er den Zuhörern gründlich die gute Laune verdirbt. Denn statt die Kunst zu rühmen und ihr in der Ära der digitalen Moderne eine glorreiche Zukunft zu prophezeien, hält er eine Totenmesse und warnt vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz, die nicht nur die kreativen Berufe, sondern die ganze Demokratie bedrohe.

Da kommt etwas „auf uns zu, für das wir keinen angemessenen Instinkt haben“, das „nicht wirklich unser Gemüt erfasst“. Wir müssten aber endlich begreifen, dass die KI mit ihren Datenbanken und Algorithmen uns nicht nur Arbeit abnimmt, sondern auch unser Bewusstsein beherrscht und unsere Bedürfnisse ausbeutet, politische Meinungen herstellen, Gesellschaften zerstören und einen neuen Kunstbegriff begründen kann: „Panik wäre angebrachter als die entspannte Ruhe, mit der wir dem Tsunami entgegenblicken, der sich bereits am Horizont abzeichnet.“

Enzyklopädisch gebildeter Intellektueller

Der 1975 in München geborene, in Wien aufgewachsene und inzwischen in Berlin und New York lebende Daniel Kehlmann gilt als bedeutende Stimme der zeitgenössischen Literatur. In seinen Romanen („Die Vermessung der Welt“, „Tyll“, „Lichtspiel“), verwebt er Fakten und Fiktionen, Realität und Fantasie zu einem literarischen Teppich und schwebt durch Zeit und Raum. Kehlmann gehört zur seltenen Spezies des enzyklopädisch gebildeten Intellektuellen, der das Wissen der Welt speichert, sich für politische und wirtschaftliche Entwicklungen genauso interessiert wie für literarische Debatten, für historische Fundstücke und die Abgründe der digitalen Kapitalismus. In einem Band mit Essays und Reden gibt er darüber Auskunft. Den Titel hat er sich bei Friedrich Schiller ausgeliehen, der seinen zu Tode erschöpften Feldherrn Wallenstein sagen lässt: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken“: Schreibt nicht zu bald über mich, lasst ein wenig Zeit vergehen, Abstand ist nötig, damit der erfinderische Autor sein Werk beginnen kann.

Die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen

Die nötige Distanz und das richtige Maß finden will auch Kehlmann, wenn er Donald Trump als „Monster“ beschreibt, das mit einem Knopfruck den Atomkrieg auslösen und das Ende der Welt heraufbeschwören kann. Den Film „Happy End“ (Michael Haneke) sieht er als „prophetisches Werk über uns, die wir die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen“, indem wir den Planeten mit unserer Misswirtschaft zugrunde richten, es uns aber noch „gut in unseren schönen Häusern“ gehen lassen und fröhlich feiern, „auch wenn die Ausgebeuteten bereits bei unserem Fest auftauchen“ und „der Meeresspiegel unterdessen immerzu steigt.“

„Menschen helfen, die Hilfe brauchen“

Über Salman Rushdie, der trotz aller Anfeindungen nie den Mut verliert und für seine irrlichternden Romane längst den Literaturnobelpreis verdient hätte, spricht Keilmann ebenfalls. Und über seinen Vater, der sich mit gefälschten Dokumenten vom Juden zum Halbjuden wandelte, dann aber doch von den Nazis verhaftet und in ein KZ gesperrt wurde, nur durch Zufall wieder frei kam und überlebte. „Niemals vergessen!“ bedeutet für ihn: „Menschen helfen, die Hilfe brauchen, auch wenn sie eine andere Religion haben, eine andere Kultur, andere Sprache, andere Hautfarbe, und zwar im Angedenken an die Vertriebenen und die Toten unseres eigenen Landes vor noch nicht langer Zeit.“

Daniel Kehlmann: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken.“ Essays und Reden. Rowohlt Verlag, 306 Seiten, 25 Euro.

 

 




Ohne Sorgen in die Unterwelt: Neujahrskonzert der Essener Philharmoniker

Die Essener Philharmoniker mit GMD Andrea Sanguineti beim Neujahrskonzert in der Philharmonie. (Foto: Volker Wiciok)

Einmal im Jahr ist es so weit. Da öffnen sich alle Türen und die Noten tanzen im Dreivierteltakt herein.

Silvester und Neujahr sind Strauß-Tage: Zahllose Konzerte weltweit lassen die Walzer, Polkas, Märsche und Quadrillen des „Walzerkönigs“ erklingen, beschwören vermeintliche Glanzzeiten, vergoldet von den Melodien von Johann Strauß Vater und Sohn und dessen Brüdern Josef und Eduard. Das Wiener Neujahrskonzert hat sich seit Beginn der Radio- und später Fernsehübertragungen 1959 zum weltweiten Ereignis entwickelt, das in diesem Jahr von über 100 Stationen ausgestrahlt wurde.

Johann Strauß in einer historischen Fotografie von Fritz Luckhardt

2025 bleibt’s nicht beim Jahreswechsel-Event: Wien feiert das ganze Jahr über die Musikerdynastie und ihren einflussreichsten Protagonisten Johann Strauß (Sohn). Der wurde vor 200 Jahren geboren und prägte von seinem ersten Auftreten 1844 bis zu seinem Tod 1899 die Wiener Tanz- und Unterhaltungsmusik. Sein größtes Verdienst, für das ihn Verdi und Wagner, Brahms und (der nicht verwandte) Richard Strauss schätzten: Er schrieb – wie sein Zeitgenosse Philipp Fahrbach zutreffend bemerkte – „Tanz-Compositionen zugleich fuer’s Gehoer und fuer die Fueße“. Der große Konzertwalzer erschließt also seinen Wert über das Hören; Strauß hat den einst argwöhnisch beäugten, derb-sinnlichen Tanz in die Regionen eines betrachtenden Musikgenusses erhoben – „Sphärenklänge“ eben.

Operette in Dortmund und Essen

Johann Strauß, der Tycoon der musikalischen Unterhaltungsindustrie Wiens, suchte den Erfolg aber auch in der damals aufsteigenden und Gewinn versprechenden Gattung Operette. Mit der „Fledermaus“ schuf er – gemeinsam mit dem oft unterschlagenen Richard Genée – vor 150 Jahren ein Meisterwerk des Genres, aus dessen Schatten auch seine übrigen 14 vollendeten Operetten nur schwer heraustreten können. In Dortmund läuft der Scherz mit dem Flattertier derzeit im Opernhaus. Dort durchbricht man ab 9. Juni das oft einfallslose Strauß-Potpourri-Einerlei mit der originellen Idee, gleich sechs „Sträuße“ zusammenzubinden: Götz Alsmann moderiert eine Gala, in der Musik von Johann Strauß Vater und Sohn, Josef und Eduard Strauß, aber auch dem herausragenden Satiriker Oscar Straus und dem Gestalter des Übergangs von der Spätromantik zur Moderne Richard Strauss erklingen wird.

Fritz Steinbacher und Tanja Christine Kuhn in der Dortmunder Inszenierung der „Fledermaus“. (Foto: Björn Heckmann)

Auch die Oper in Essen lässt es sich nicht nehmen, an Strauß zu erinnern: In der letzten Spielzeit stand seine „Nacht in Venedig“ noch einmal im Spielplan, ab 29. März zeigt das Aalto-Theater in vier konzertanten Aufführungen – in Kooperation mit „Johann Strauß 2025 Wien“ – die Operette „Der Karneval in Rom“ mit Nikolaus Habjan als Erzähler und musikalisch geleitet von Guido Mancusi, den man von den Seefestspielen Mörbisch und der Wiener Volksoper kennt.

Nur Populäres zu Neujahr

Recht konventionell dagegen liest sich das Programm des Neujahrskonzerts der Essener Philharmoniker: Populäre Werke von Johann Strauß Sohn dominieren, der Vater kommt lediglich mit dem „Venetianer-Galopp“ zu Gehör. Josef Strauß darf sich als Walzerkomponist nicht zeigen. Seine vier Polkas gewinnen ihren Reiz aus dem Spiel mit Kontrasten: Zu Beginn verbreitet die Schnellpolka „Ohne Sorgen“ übermütigen Frohsinn, während sich die „Tanzende Muse“ eher gemessen-gemütvoll dreht. „Die Libelle“, eines der bekannteren Werke Josefs, gibt der Harfenistin erste Gelegenheit, die Musik feinsinnig zu färben.

Das „Plappermäulchen“, im April 1868 in der „Neuen Welt“ in Hietzing unter dem Titel „Die Plaudertasche“ uraufgeführt, ist mit seiner kribbeligen Steigerungsdramaturgie und der köstlich penetranten Rassel ein musikalischer Scherz wie Johann Strauß‘ „Perpetuum mobile“. Die Essener Philharmoniker führen ihren Klangsinn vor, die Violinen schwirren, die Celli baden in Melodie, vom Piccolo bis zum Fagott, von der Pauke bis zum Gong hat alles seinen Auftritt, und GMD Andrea Sanguineti feuert den Jux temperamentvoll an, bis das „… und so weiter“ die wiederholungsfreudige Kette musikalischer Capricen abschneidet.

Natürlich fehlen andere „Gustostückerl’n“ aus der Strauß-Feder nicht: „Auf der Jagd“ mit Hörnerschall und Pistolenknall, „Im Krapfenwald’l“ mit Kuckucksruf und die „ungarische“ Polka mit dem Hochruf „Éljen“. Das alles klingt bei den Essenern flott und forsch, anfangs arg krachend, im Lauf des Abends geschliffener und mit mehr Sinn für Finessen, etwa, wenn das Publikum mit dem „Vergnügungszug“ pfeifend und schnaufend in die Pause fährt.

Die Walzer suchen ihren Meister

GMD Andrea Sanguineti sorgt für temperamentvolle Polkas und fesche Walzerrhythmen beim Neujahrskonzert. (Foto: Volker Wiciok)

Die Walzer sind die Meisterprüfung für Sanguineti, und er führt ins „Künstlerleben“ mit seinen reizenden Oboen- und Klarinettensoli vor flirrendem Hintergrund mit distinguierter Noblesse ein, lässt das Crescendo aufblühen, erfasst mit Sinn für Agogik die „weichüppige und elegante Form des österreichischen Walzerrhythmus“, lässt die Philharmoniker den gemütvoll-diskreten Ton für die Stimmungsmalerei der Einleitungen – auch im „Donauwalzer“ – ausspinnen. Manche langsame Stelle gerät ins Zögern, so im „Accelerationen“-Walzer, aber der eigentlich monotone Dreierrhythmus erklingt fesch und spritzig.

In den „Geschichten aus dem Wienerwald“ hat die Wiener Zithermeisterin Barbara Laister-Ebner einen herzwärmenden Auftritt. Nach einer dramatischen Einleitung, einem romantisierenden Hornruf und der bukolischen Flötenkadenz erinnert die Zither an die niederösterreichischen Wurzeln der Walzermelodien, die Sanguineti mit ein wenig zu extremem Ritardando und scharfem rhythmischen Impetus musizieren lässt. Der fröhlichen Musizierlaune der Philharmoniker fehlt hier – wie in mancher Polka – der letzte Schliff in der Balance und die Eleganz der Artikulation.

Eine ganz eigene Köstlichkeit serviert der langjährige Soloklarinettist der Essen Philharmoniker, Harald Hendrich, der jetzt ans zweite Pult rückt: Als Dank für die warmherzige Würdigung Sanguinetis spielt er eine Hommage an den Jubilar: „Ich begrüße Sie, Herr Johann Strauß“, aus der Feder von Béla Kovács (1937-2021), der lange in Budapest und Graz Klarinette unterrichtete. Ein kleines Virtuosenstück zwischen edlem Cantabile und spritzigen Rhythmen, erschienen in der Edition Darok und extra von Boris Gurevich für Streicher bearbeitet.

Mit „Donner und Blitz“ stürzt der Fluss der Musik schließlich in die Unterwelt, für die Strauß‘ kongenialer Pariser Kollege Jacques Offenbach seinen zündenden Can-Can erfunden hat, der Wien schon einen Monat nach der Uraufführung des „Orpheus in der Unterwelt“ als Strauß-Quadrille in Furor versetzte. Ohne Sorgen in die Unterwelt – wenn das mal kein Programm für 2025 ist!




Museen geschlossen, Frank Goosen ausverkauft: Ärger und Freude liegen im Kulturbetrieb des Reviers nahe beieinander

Von außen sieht man ihm seine charakteristischen Tütenlampen gar nicht an: das Schauspielhaus Bochum, wo Frank Goosen sein „Silvester Spezial“ zur Aufführung brachte. (Foto: Schauspielhaus Bochum/Martin Steffen)

Frank Goosen, das ist mal klar, Frank Goosen hat uns gerettet. Das „Silvester Spezial“ des Bochumer Kabarettisten, dargebracht im Großen Haus des Bochumer Schauspiels, fügte sich exakt in die Erfordernisse des diesjährigen Besuchsbespaßungsprogramms: Beginn um 20 Uhr und um die zwei Stunden lang, so daß es bis zum Jahreswechsel dann nicht mehr weit war. Die Silvesterparty im Schauspielhaus knickten wir uns und strebten hernach den heimischen Dortmunder Fleischtöpfen zu. Guter Abend, gutes Timing, 2025 konnte kommen.

Ruhrgebietskultur

Warum erzähle ich das eigentlich? Nun, weil die Berliner Verwandtschaft in diesem Jahr bei uns zu Gast war und man dann natürlich einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, richtig schöne Ruhrgebietskultur vorzuführen. In vielen Vorjahren war – in Berlin – die Komische Oper ein prominenter verwandtschaftlicher Bespaßungsort, aber die wird ja jetzt umgebaut und Barrie Kosky ist auch nicht mehr da und überhaupt. Also finde mal was, hier im Revier, wenn es nicht traditionelle Operette sein soll. Nun, wir fanden, wie gesagt, ihn, Frank Goosen, den man mit seiner grundsoliden Bochumer Erdung nebst gleichzeitiger, hochgradig anregender intuitiver Beweglichkeit und profundem historischen Spezialwissen auswärtigem Publikum durchaus zumuten kann, ja geradezu: sollte.

Andreas Weißert las in Dortmund

Der Fairneß halber sei ergänzt, daß auch andere Bühnen Jahresausklangsprogramme anboten. So las der geschätzte Schauspieler Andreas Weißert auf der Dortmunder Studiobühne wieder etwas vor, Textpassagen von Fontane, Kästner, Fallada und Bernhard unter dem Titel „Es ist ein hübsches Wort, daß die Kinder ihren Engel haben“ (ein Fontane-Zitat). Nur – um 16 Uhr fing er an und anderthalb Stunden später war er fertig, das ist dann noch verdammt viel Zeit bis Mitternacht.

Volle Hütte

Bei Goosen war das Theater voll, ganz offensichtlich giert das Volk nach Jahresendkultur. Da paßt es – Vorsicht, Ironie! – wunderbar ins Bild, daß die heimischen Museen an den letzten Tagen des Jahres einfach zumachen. Das Dortmunder „U“, zentrale Adresse, blieb zwischen 30. Dezember und 1. Januar, also von Montag bis Mittwoch, drei Tage immerhin, geschlossen, und in etliche anderen Städten hielten kommunale Museen es ebenso. Offensichtlich war hier eine Bürokratie am Werke, die die Welt in Brückentagen denkt und nicht in Publikumsinteresse. Warum sollte man an kalten, nassen Winter-Werktagen „zwischen den Jahren“, die wirklich nicht zu Spaziergängen irgendwelcher Art einladen, Museumsbesuche ermöglichen? Und der Montag ist eh sakrosankt, liege er für das ungeliebte Publikum auch noch so günstig zwischen den Feiertagen. Es macht die Sache übrigens nicht besser, daß wir, wären wir in Berlin gewesen, ebenfalls vor größtenteils geschlossenen Häusern gestanden hätten. Die Ignoranz einer selbstgefälligen kommunalen Bürokratie ist ein bundesweites Phänomen.

Offene Türen beim Schraubenkönig

Private Museen hingegen kennen das Publikumsinteresse und haben ihre Angebote angepaßt. So läßt „Schraubenkönig“ Würth die Tore seiner drei Häuser in und um Künzelsau jeden Tag von 10 bis 18 Uhr öffnen, das Potsdamer Museum Barberini, das SAP-Chef Hasso Plattner gehört, bot am 1. Januar zumindest Führungen durch das Haus an, und ebenso hatte die Duisburger Küppersmühle am 1. Januar geöffnet.

Wenigstens haben wir den Kran gesehen

In Dortmund, wo Tage vor Silvester museal nichts mehr ging, blieb als touristische Aktion schließlich noch eine Stadtrundfahrt mit dem eigenen Auto, Borsigplatz, Westfalenhütte (wo große städtebauliche Veränderungen anstehen), Hoesch-Museum (geschlossen wegen Umbau). Weiter über Malinckrodtstraße und Nordmarkt zum Hafen, wo vis-à-vis vom wilhelminischen Hafenamt der alte Kran zu besichtigen ist, den man weiter unten auf dem Hafengelände abgebaut und hier, auf der Vorzeigemeile, wieder aufgebaut hat. Gut, wenigstens diese Besichtigung hat geklappt, umsonst und draußen, wie es sein soll bei einem Freiluftindustriedenkmal.

Und es ging auch vom Auto aus. Mistwetter, wie gesagt.




Wenn der Schriftsteller vom Leben als Maler träumt – Skizzenbuch des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk

Seit Monaten arbeitet Orhan Pamuk an einem neuen Roman, er soll „Die Nächte der Pest“ heißen, eine Parabel auf die von politischen Krisen, religiösem Fanatismus und globalen Pandemien zerrüttete Welt sein. Sie spielt zu Zeiten des Osmanischen Reiches auf „Minger“, einer fiktiven Insel im östlichen Mittelmeer. Sie erinnert den Autor an Kreta.

Um seine Fantasie anzuregen, besucht er mit seiner Lebensgefährtin Asli die von schroffen Bergen und kargen Landschaften geprägte Insel. Unterwegs von Rethymnon nach Chania, möchte er vom Bus aus Fotos machen. Doch es funktioniert nicht. „Wozu fotografieren?“, schmunzelt Asli, „Du bist doch auch Maler. Hol dein Heft raus und zeichne.“ Pamuk gefällt es, dass sein künstlerisches Talent auf die Probe gestellt wird: „Bis wir in Chania ankamen, hatte ich zehn Bleistiftzeichnungen fertig.“

Collagen aus Worten und Bildern

Der türkische Literaturnobelpreisträger notiert das im Oktober 2018 in einem seiner vielen Hefte, die er stets mit sich führt und zu einer sich ständig erweiternden Wunderkammer aus Worten und Bildern macht. Sie haben immer das Format 8,5 x 14 Zentimeter und quellen über vor Gedanken und Zeichnungen, Gedichten und Reiseeindrücken, Terminen und Namen von Freunden und Verlegern, Ideen für literarische Projekte und politische Zwischenrufe.

Immer werden die Worte umkreist von schnell hingetupften Aquarellen und Bleistiftzeichnungen. Ob er von seinem Schreibtisch aus über den Bosporus blickt oder durch die Straßenschluchten von New York flaniert, im indischen Goa Ruhe sucht, in Berlin eine Ausstellung kuratiert oder in Barcelona einen Vortrag hält: Immer hat der Autor, der eigentlich Maler werden wollte, seine Hefte dabei und verdichtet Worte und Bilder zu täglich neuen und überraschenden Collagen.

„Daraus ist aber nichts geworden!“

Eine Auswahl der Hefte ist jetzt in einem „Skizzenbuch“ versammelt: „Erinnerungen an ferne Berge“ ist ein chaotisches und künstlerisch anregendes Werk aus poetischen, politischen und persönlichen Texten und faszinierenden Bildern. Es umfasst die Jahre 2009 bis 2021. In dieser Zeit wird Pamuk Romane („Diese Fremdheit in mir“, Die rothaarige Frau“, „Die Nächte der Pest“) und Fotobände („Balkon“, „Orange“) veröffentlichen, sein „Museum der Unschuld“ ausstellen und als streitbarer Autor in der Türkei in Ungnade fallen.

All das und vieles mehr spiegelt sich in den kleinen Heften, deren Seiten im „Skizzenbuch“ so abgedruckt sind, dass daneben viel Platz bleibt für die Übersetzung der Worte, die die Bilder umschlingen und überlagern. Einmal, da ist Pamuk in New York (Oktober 2010), notiert er zwischen Zeichnungen von Wolkenkratzern, Wohnblocks, Straßen und Parkanlagen: „Das Leben, das ich gern führen würde = ein Leben als Maler. Daraus ist aber nichts geworden!“

Wunsch und Wirklichkeit berühren sich

Ein anderes Mal (Mai 2016) sieht er zeichnend über ein rot schimmerndes Meer zu fernen schwarzen Bergen und notiert: „An zeitgenössischen Malern, die Bild und Text zugleich denken, fallen mir jetzt Raymond Pettibon und Cy Twombly ein. So wie sie würde ich gerne zeichnen können“ und „der Malerei mein ganzes Leben widmen. Und dabei die Worte und die Bilder auf derselben Seite denken.“ Wir erleben im „Skizzenbuch“, wie Wunsch und Wirklichkeit sich berühren.

Orhan Pamuk: „Erinnerungen an ferne Berge. Skizzenbuch.“ Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München. 400 S., 46 Euro.




Zukunft noch im Nebel: Die Revierpassagen wünschen alles Gute für 2025!

Dortmund Hauptfriedhof, 27. Dezember 2024, zur Mittagszeit. (Foto: Bernd Berke)

Noch liegt im Nebel, was das neue Jahr bringen wird. Aber bald wird sich der Dunst ein wenig lichten – und wir werden schon sehen (hoffentlich auch einige Verheißungen).

Eins steht jetzt schon fest: Wir sind auf dem besten Wege, das erste Viertel des 21. Jahrhunderts hinter uns zu bringen. So oder so.




Lebensgefährliche Liebe zum Tier – Monika Marons Erzählung „Die Katze“

Ein Leben ohne ein Tier scheint Monika Maron zwar möglich, aber völlig sinnlos. Bei Spaziergängen mit dem Hund durch ihr schick saniertes Berliner Altbauviertel oder über versteppte Brandenburger Felder sinniert sie über den Wahnsinn der Welt und die Absurditäten des Zeitgeistes.

Aus dem aufgeregten „Krähengekrächz“ hört sie die uralten Mythen und Märchen heraus, mit denen sich die Menschen die unlösbaren Geheimnisse des Daseins erklären. „Die stumme Verständigung zwischen Menschen und Tieren macht mich immer glücklich“, schreibt sie in ihrer neuen Erzählung. Sie heißt „Die Katze“ und handelt vom genauen Gegenteil: Denn fast hätte die Fürsorge für eine fast verhungerte Katze sie das Leben oder doch wenigsten die linke Hand gekostet.

Auszeit in der Landkommune

Zuletzt hatte Monika Maron (in „Das Haus“) geschildert, wie ausgerechnet sie, die notorische Einzelgängerin und überzeugte Großstadt-Pflanze, hinaus aufs Land und in eine Alten-WG zieht, wo sie mit anderen Weltflüchtlingen eine Auszeit in einer altengerechten Landkommune nimmt.

Bei einem ihre Gänge durch den Ort, berichtet sie nun in einer schlanken, die eigene Naivität mit Selbst-Ironie einkreisenden Erzählung, findet sie eine zottelige Katze, die dem Tod näher scheint als dem Leben. Sie erbarmt sich des hilfsbedürftigen Wesens, füttert es und will der Katze im Garten der Landkommune eine provisorische Unterkunft bauen. Doch sie hat nicht mit dem Zorn und der Wut ihres Hundes gerechnet, der sein Revier bedroht, sich zurückgesetzt fühlt und der Katze den Kampf ansagt.

Keine Ahnung, was ein Biss bedeuten kann

Als Monika Maron sich heldenhaft zwischen die Streithammel wirft und schlichten will, wird sie von der Katze gekratzt und gebissen. Weil sie die Gefahr unterschätzt und ihre Gedanken schon bei ihrer Reise nach Budapest sind (in der ungarischen Hauptstadt, einst Sehnsuchtsort aller DDR-Bürger, die dem grauen Einerlei ihres sozialistischen Miefs für ein paar Tage entfliehen wollten, soll sie an einer Diskussion über „Das Postheroische“ teilnehmen und aus ihren Büchern lesen), nimmt das Unglück seinen Lauf: „Ich hatte einfach keine Ahnung, was so ein Katzenbiss bedeuten kann.“

Kaum in Budapest angekommen, ist ihre linke Hand nur noch ein aufgequollener Fladen, voller Eiter und tödlicher Bakterien. Mit einer bizarren  Mischung aus „preußischem Pflichtbewusstsein“ und pervertiertem „Komsomolzenbewusstsein“ absolviert sie ihre Termine, schafft es grad noch im allerletzten Moment, wieder in Berlin einzutreffen, sich sofort in notärztliche Behandlung und unters Messer zu begeben, um eine Amputation zu verhindern und ihr Leben zu retten.

Eine aristokratische Lebensregel

Erst nach Wochen findet die von Schmerzen und Medikamenten betäubte Autorin wieder in ihren normalen Alltag. Gegen die Katze hegt sie keinen Groll, ihren Biss interpretiert sie „als eine Mahnung und eine Vorbereitung auf meine mögliche Zukunft.“ Einer Freundin, die meint, die Krankheit habe sie „friedlicher“ gemacht, davor sei sie „streitlustiger“ gewesen, sagt sie, sie irre sich, „ich streite mich schon länger nicht mehr. Über die üblichen Streitthemen Migration, Corona, Gender, die ganze Links-und-rechts-Front eben, ist alles gesagt.“ Sie halte sich jetzt lieber an eine alte „aristokratische Lebensregel“, die besagt: „Nur wenige sind es wert, dass man ihnen widerspricht.“ Mag sein, klingt aber doch ein wenig überheblich und verbittert.

Monika Maron: „Die Katze“. Erzählung. Hoffmann und Campe, Hamburg 2024, 56 Seiten, 16 Euro.




Erkundungen im real existierenden Kapitalismus: Der Schriftsteller Ingo Schulze streift durchs Ruhrgebiet

An diesem imposanten Ort beginnen die Ruhrgebiets-Erkundungen von Ingo Schulze: die kruppsche Villa Hügel in Essen. (Foto von Januar 2006: Bernd Berke)

Ein halbes Jahr lang war Ingo Schulze so etwas wie der Stadtschreiber des Ruhrgebiets, Oktober 2022 bis März 2023, Wohnsitz in Mülheim, eingeladen von der Brost-Stiftung. Zwei Dinge hatte er sich für diese Zeit vorgenommen, nämlich erstens an streng durchstrukturierten Arbeitstagen halbtags an seinem neuen Roman zu arbeiten und zweitens jede Einladung anzunehmen, die er in seiner Ruhrgebietszeit erhielt. „Ich weiß nicht, warum ich immer wieder auf mich selbst reinfalle“, schreibt er in der Rückschau, „keine Zeile habe ich an meinem Roman geschrieben.“

Das Ruhrgebiet, so könnte man folgern, erregte des Dichters ganze Aufmerksamkeit. Aber interessante Menschen hat er getroffen, Lehrerinnen, Polizisten, Gewerkschafter, Techniker, Buchhändler und so fort, eine bunte Mischung. „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ heißt das Buch, das Schulzes Begegnungen und Recherchen nun in recht entspannter Form versammelt – keine Skandalliteratur, ganz sicher nicht, auch keine geographische Liebesprosa.

Das Thema wirkt zunächst einmal wie falsch gestellt. Denn gängig sind ja nach wie vor eher die Berichte über den Osten, besonders über die Unzufriedenheit der dortigen Abgehängten und Rechtsradikalen. Hier aber nun: sachliche Berichte aus dem Westen, von Ingo Schulze mit Ernst und Akribie aus kaum wahrnehmbarer „Ost-Optik“ heraus verfaßt.

Die Jahre nach der Wende

Mit seinem opulenten Nach-Wende-Roman „Neue Leben“, schrieb Schulze sich in bleibende, respektvolle Erinnerung. Das knapp 800 Seiten starke Buch, 2005 erschienen, gab einem eingefleischten Westler (wie dem Verfasser dieser Zeilen) etwas mehr als eine Ahnung davon, was der Untergang der DDR mit Menschen in verschiedenen Milieus machte. Es war eine Zeit, wie sie unterschiedlicher in Ost und West ja kaum sein konnte; was „drüben“ Existenzen von Grund auf umkrempelte, reduzierte sich im Westen auf Tagesschaunachrichten. Später hat Schulze auch in, wenn man so will, ostdeutschen „Langzeit-Befindlichkeiten“ gegründelt, hat etwa in „Die rechtschaffenen Mörder“ (2020) den langsamen, unerbittlichen und offenbar ungeheuer kränkenden Bedeutungsverlust eines einstmals schillernden, luziden Buchhändlers und seiner Bücher beschrieben. Ganz leicht war das Verletzende in dieser Geschichte für den Westler nicht zu greifen, doch blieb der Eindruck großer Redlichkeit, der Ingo Schulzes Texten Mal um Mal eigen zu sein scheint.

Bei Krupp in Essen

So. Und nun tut sich der Dichter, 1962 in Dresden geboren und wohnhaft in Berlin, im Ruhrgebiet um, und er fängt dort an, wo es vielleicht immer noch seinen Markenkern hat, bei Krupp in Essen, Villa Hügel. Schulze, dessen Weltbild einst vermutlich vom Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital geprägt wurde, entwickelt großes Interesse am real existierenden Kapitalismus im Westen der Republik; er arbeitet anerkennend heraus, wie die Montan-Mitbestimmung über Jahrzehnte hin funktioniert hat, stellt aber auch fest, daß sie Betriebsschließungen – wie die von Rheinhausen – nicht verhindern konnte. Schulze recherchiert recht journalistisch, doch mitunter kommt am Ende eher Literatur dabei heraus. So, wenn er ähnlich Bert Brechts lesendem Arbeiter fragt, was aus dem flammenden Streikredner nach seiner letzten Rede wurde. (Er machte sich im Recycling selbständig, ging später bankrott.)

Irritierender Namensgeber

Schulze irritiert, daß Alfried Krupp von Bohlen und Halbach immer noch Namensgeber von Essener Einrichtungen wie der Philharmonie ist, obwohl er nach dem Krieg als Kriegsverbrecher eingestuft und interniert wurde. Ebenso aber registriert er auch, daß Berthold Beitz, der legendäre Krupp-Generalbevollmächtigte, in der Nazi-Zeit viele jüdische Mitarbeiter vor der Deportation bewahrte, indem er sie als betrieblich unabkömmlich meldete. Beitz’ Liste war jener Schindlers ähnlich.

Schulzes Krupp-Geschichte hat, wie einige andere Beiträge im Buch auch, in etwa den Umfang und Rechercheaufwand einer profunden schulischen Hausarbeit. Schlußendliche Wertungen bleiben aus, eher fällt dem Autor auf, daß die Menschen einander doch recht ähnlich sind, im Osten und im Westen.

Emscher-Renaturierung in allen Details

Den Duisburger Hafen besichtigt er, er schreibt über schulische Konzepte in schwierigen, durch Migration geprägten Stadtteilen, läßt sich von einem pensionierten Polizeichef spezifische Probleme mit arabischer Clan-Kriminalität erklären, ist schwer beeindruckt von der Emscher-Renaturierung. Bei letzterer hat er aus Schriften der Emschergenossenschaft abgeschrieben (bzw. ausführlich zitiert), und das teilt er auch ausdrücklich mit. Da geht es um die komplexe Technik, die die Reinigung der Emscher möglich macht, und wer so viel Technisches nicht wissen will, mag diesen Abschnitt getrost überblättern. Der Dichter selbst rät dazu.

Leider tut er gleiches nicht, wenn es um unorthodoxe Grundschulpädagogik geht, die weitgehend ohne deutsche Sprache auskommen muß. Da wird der Text ausladend und detailverliebt. Seitenlang beschreibt er fast wie ein Manual das Procedere, ohne nach dem theoretischen Konzept zu fragen, das dem Ganzen doch sicherlich zugrundeliegt. Hier wäre Raffung ein Gewinn – oder à la Kläranlage der technische Hinweis an pädagogisch Desinteressierte, wieviele Seiten man überblättern kann.

Ein Fan von Borussia Dortmund

Der Schriftsteller sitzt im Orchestergraben und besichtigt einen Soldatenfriedhof; die naturgemäß abenteuerliche Geschichte eines DDR-Flüchtlings, der damals über Ungarn ins Revier kam, gelangt zum Vortrag, und dann ist da natürlich der Fußball. Schulze offenbart sich als Fan von Borussia Dortmund, und deshalb gibt es auch die entsprechenden Spielberichte. Die aber sind so anders nicht als jene, die man schon kennt, gelbe Wand und so weiter. Wiederum bleibt festzustellen, daß das tägliche Leben im tiefen Westen so anders nicht zu sein scheint als im Osten der Republik.

Die Liebe zu den Büchern

Ein nostalgischer Schlußakkord schließlich ist dann der Besuch in Helmut Loevens Duisburger „Weltbühne“, einer der letzten dezidiert linken Buchhandlungen. Kommunistische Literatur aus aller Welt, gut behütet und geordnet, unendlich wertvoll und kaum noch nachgefragt. Loeven und Schulze – mehrfach begegnen sich hier zwei Buch-Afficionados, und wenn sie sich ihre Vorlieben eingestehen, ist das fast schon ein intimer Moment, bei dem der Leser stört.

Der junge Dortmunder Bundestagsabgeordnete

Merkwürdig geriet, für Dortmunder zumal, der allerletzte Teil des Buches. Da besucht Ingo Schulze den langjährigen Dortmunder Ex-Bundestagsabgeordneten Marco Bülow und läßt sich von dem – widerstandslos, könnte man fast sagen – in den Block diktieren, wie das alles begann und sich eher unglücklich fortsetzte. Ohne in Details gehen zu wollen sei angemerkt, daß die Geschichte des SPD-Abgeordneten Bülow, der die letzten drei Jahre als Parteiloser (bzw. als Neumitglied von DIE PARTEI) in vielen Punkten auch anders erzählt werden könnte. So war seine Nominierung zumindest nicht nur Folge persönlicher Beliebtheit, sondern auch Resultat einer neuen Rekrutierungsstrategie der Partei, die unbedingt jünger und weiblicher werden wollte und alte Schlachtrösser wie Bülow-Vorgänger Hans Urbaniak dafür gerne in die Wüste schickte. Möglicherweise hat dieser recht senkrechte Start dem jungen Bülow nicht gutgetan, hat ihn überfordert, und möglicherweise wäre Schulze dieser alles in allem doch recht bizarren Politikerkarriere durch kluge Nachfragen näher gekommen als durch unkritisches Protokollieren. Nur so viel zu diesem Teil des Buches.

Wertvolle Fleißarbeit

Nun gut. Um „Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ ging es, und da ist der Dichter in seinen Entscheidungen frei, was er aufzeichnen möchte und was nicht. Natürlich hätte man sich auch Beiträge vorstellen können, etwa zum Straßenverkehr (Schulze ist notorischer ÖPNV-Nutzer oder Mitfahrer) oder zur Kleinkunst, beispielsweise. Trotzdem geriet Schulzes Buch alles in allem zu einer Fleißarbeit, wohltuend in seiner durchgängigen Sachlichkeit – eine wertvolle Ergänzung der Regalabteilung mit den regionalen Schriften.

  • Ingo Schulze: „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“, Wallstein Verlag, 344 Seiten, keine Bilder, 24 €.



Aufklärung, das unvollendete Projekt – opulente Ausstellung in Berlin

Erstdruck der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776, gedruckt von Steiner und Cist in deutscher Sprache, Philadelphia, 8. Juli 1776. (© Deutsches Historisches Museum)

In einem der wirkungsmächtigsten Dokumente der demokratischen Staatsphilosophie, formuliert im Jahr 1776, wird festgestellt, „daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket.“

Daniel Chodowiecki: Allegorisches Blatt zum Zeitalter der Aufklärung, Göttingen, 1791. (© Deutsches Historisches Museum)

Hauptautor der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die sofort vom in Philadelphia angesiedelten Druckhaus „Steiner und Cist“ ins Deutsche übersetzt wurde, war Thomas Jefferson, ein von der Aufklärung geprägter Staatstheoretiker, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen predigte (und der Französischen Revolution die passenden Stichwörter lieferte) und im Sinne von Immanuel Kant die Vernunft als oberste Maxime des menschlichen Denkens und Handels propagierte.

Jefferson war auch Sklavenhalter

Jefferson war aber auch, und das wird gern vergessen, ein reicher Großgrundbesitzer, der auf seinen Plantagen hunderte Sklaven für sich schuften und sich darüber keine grauen Haare wachsen ließ. Wer die richtigen Ideen formuliert und die Fortschrittsgeschichte der Demokratie beflügelt, muss also im konkreten Handeln und alltäglichen Leben nicht immer ein leuchtendes Vorbild und schon gar nicht unbedingt ein guter Mensch sein.

Deutlich wird das jetzt wieder in einer mit über 400 Exponaten opulent ausgestatteten Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM). Sie trägt den Titel: „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“ und kreist längst nicht nur um das Denken von Kant, der in einem berühmten Aufsatz von 1784 die Frage, was denn eigentlich Aufklärung sei, in der „Berlinischen Monatsschrift“ auf die Vernunft als kategorischen Imperativ verwies und schrieb: „Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

Friedrich Wilhelm Springer: Miniaturbildnis des Immanuel Kant, Königsberg, 1795 (© Deutsches Historisches Museum)

Der Aufsatz von Kant ist genauso als historisches Dokument ersten Ranges in der grandiosen Ausstellung dokumentiert, wie auch der Erstdruck der deutschen Übersetzung der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sowie das Original des handgeschrieben Verzeichnisses mit den Namen der von Thomas Jefferson ausgebeuteten Sklaven.

Zwiespältige Vernunft 

Die Aufklärung, lernen wir, ist ein von Widersprüchen gezeichnetes Unterfangen, eine Aufgabe, die bis heute nicht vollendet ist. Zum Ende der mit Bilder-Fluten und Text-Bergen, Video-Installationen und Hör-Stationen zur ambivalenten Geschichte der Aufklärung und der mit politischen Verweisen und wissenschaftlichen Exkursen fast überinszenierten Performance zur Kulturgeschichte eines widerborstigen Begriffs erinnern uns denn auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an die „Dialektik der Aufklärung“ und ihre Warnung, dass der aufklärerische, vernunftgeleitete Zweck der Selbstbefreiung zum bloßen Instrument  verkommen könne, um alle möglichen Zwecke zu erreichen.

„Große Scheiben-Elektrisiermaschine“ aus dem Besitz Johann Wolfgang von Goethes. (© Klassik Stiftung Weimar, Museen)

Von Kant bis Habermas

Das letzte Wort hat dann Jürgen Habermas, der wohl bedeutendste Soziologe und Philosoph der Gegenwart: Er  beschwört trotz aller Krisen, Kriege und Katastrophen der Moderne die „Einsicht der klassischen Aufklärung: Deren rationaler Kern besteht unverändert darin, an die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu appellieren, ihre Vernunft öffentlich zu gebrauchen, um politisch auf die Gestaltung der Grundlagen ihrer gesellschaftlichen Existenz Einfluss zu nehmen. Eine solche vernünftige politische Willensbildung ist freilich nur im Rahmen der Institutionen eines unversehrten demokratischen Rechtsstaates und auf der Basis einer wenigstens halbwegs gerechten Gesellschaft möglich.“

Um anschaulich zu machen, wie weit der Weg von Kant bis Habermas war, werden Fragen zu Wissenschaft und Geschichte gestellt, Bilder, Skulpturen und Dokumente gezeigt, die den Fortschritt des Menschenbildes und das Unbehagen an der Kultur belegen, Geschlechterrollen befragen, über Bedeutung von Religion und Pädagogik nachdenken und die Aufklärung als unvollendetes Projekt der Menschheitsgeschichte beschreibt.

Georg Melchior Kraus: „Zwischen Wissenschaft und Ehe“, Mainz, um 1770-1776. (© Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg)

 

 

 

„Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“, Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin, Pei-Bau, 1. und 2. OG. Bis 6. April 2025, geöffnet täglich 10-18 Uhr (geschlossen nur am 24.12.2024), Eintritt 7 Euro, ermäßigt 3,50 Euro, bis 18 Jahre frei. Infos unter www.dhm.de/aufklaerung, Katalog (Hirmer Verlag) im Museum 30 Euro, im Buchhandel 39,90 Euro. 




Förmlich oder nüchtern? Dankesbekundungen gestern und heute

Gängiges Emoji für Dankesbekundungen (© EmojiTerra.com /  „Emojis zum Kopieren und Einfügen“)

Vor geraumer Zeit war hier von gängigen Grußformeln die Rede, jetzt geht es mal eben kurz um Dankesformeln. Bitte hier entlang:

Wir vergewissern uns rasch: „Vielen Dank“, „Lieben Dank“ oder – leicht gesteigert – „Vielen lieben Dank“ lauten die vielleicht meistgebrauchten Dankesbekundungen dieser Tage. Manche lassen es auch beim Emoji mit den dankbar aneinander gepressten Händen bewenden. Das erscheint freilich wie ein arg flüchtiger Dank auf bloßen Klick.

Und sonst? Ein schlichtes „Danke“ ist beinahe schon verpönt, weil es nichts hermacht. Es sollte, nach allgemeinem Empfinden, schon wenigstens „Herzlichen Dank“ oder (etwas geschäftsmäßiger) „Besten Dank“ heißen. „Heißen Dank“ entbietet man wohl nur, wenn man es ironisch meint und gar nicht wirklich Dankbarkeit erweisen möchte. Ähnliches gilt für die geflissentlich zelebrierte Wiederholung: „Danke, danke, danke!“ oder fürs multiple „Tausend Dank!“ Vollends abgehoben erscheint das sentimental triefende Liedlein von 1961, dessen (an Gott adressierte) erste von sechs Strophen da lautet: „Danke für diesen guten Morgen / Danke für jeden neuen Tag / Danke, dass ich all meine Sorgen / Auf dich werfen mag.“ Auf dich werfen… Ja, wenn das s o ist.

In Zeiten, da das Wort „Demut“ inflationär gerade bei jenen grassiert, die gar nicht so recht wissen, wie sich Demut überhaupt anfühlt, sind auch schwer veraltete Formulierungen wie „Untertänigsten Dank“ längst nicht mehr „angesagt“. Apropos: Erinnert sich noch jemand an jene Jahre, als immerzu dankbare Buben einen „Diener“ (aka Bückling oder Kotau) machen sollten und dito Mädels einen „Knicks“? Bis ungefähr zur Mitte der 1960er Jahre waren solcherlei Zumutungen üblich.

Nebenformen wie das sarkastische „Danke auch“ (empörte Betonung auf „auch“) klingen unterdessen ebenso selbstgefällig wie das vor allem online weithin verwendete „Danke für nichts“ oder unfassbar scherzhafte Verballhornungen wie „Danke, Anke!“

Nicht allzu glaubhaft hört es sich an, wenn jemand behauptet, „unendlich dankbar“ zu sein oder wenn jemand sich präsidial hierzu versteigt: „Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet!“ Wer sich so äußert, wird vielleicht auch schwülstig von „Dankesschuld“ und „Dankesbezeugung“ reden. Dankenswerterweise sind solche Wallungen aus der Mode gekommen.

Gar zu förmlich darf es also nicht mehr sein, allzu nüchtern freilich auch nicht.

Da fällt mir gerade noch ein, was noch heute so oft zu Kindern gesagt wird, die einfach unumwunden etwas haben wollen: „Wie heißt das Zauberwort?“ Eigentlich sind es ja zwei: Bitte und Danke. Viel mehr braucht es doch auch nicht, oder?

 




Nur Kunst, Liebe und Tod – Horst Bieneks Tagebücher

Der 1930 im oberschlesischen Gleiwitz geborene Horst Bienek konnte sich nach dem Krieg in die „Sowjetische Besatzungszone“ absetzen, ein Volontariat in Potsdam ergattern und erste Prosa-Texte veröffentlichen.

Im September 1951 nimmt ihn Bertolt Brecht in seine Meisterklasse am Berliner Ensemble in Ost-Berlin auf und der junge Autor beginnt mit einem Tagebuch, in dem er fortan seine Gedanken und Erlebnisse akribisch festhalten will.

Bert Brecht erwiderte seine Bewunderung nicht

Er beobachtet Brecht bei den Proben („…er klatschte in die Hände, kicherte, schnaubte; es war köstlich.“) Seine Begeisterung und Bewunderung für Brecht, das epische Theater und die ketzerische Lyrik, wird Bienek zeitlebens bewahren. Leider wurde sie nicht erwidert. Denn weder Brecht noch Helene Weigel machten einen Finger für ihn krumm, als ihn die Stasi im November 1951 wegen angeblicher Spionage verhaftete und zur Zwangsarbeit in ein sowjetisches Gulag verfrachtete. Nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass Bienek im Rahmen politischer Abkommen 1955 entlassen und in die Bundesrepublik abgeschoben wurde.

Netzwerker in der Literaturszene

Es dauerte Jahre, bis Bienek künstlerisch wieder Fuß fasste, als Kultur-Redakteur beim Hessischen Rundfunk, Herausgeber verschiedener Zeitschriften und Verlagslektor bei dtv zu einem gefragten und einflussreichen Netzwerker in der Literaturszene wurde und schriftstellerisch die Traumata seines Lebens bearbeiten konnte.

Die Tagebücher, 1951 mit großen Hoffnungen begonnen, weisen denn auch eine große Leerstelle auf. Erst 1959 holt Bienek die Hefte wieder hervor, wird dann aber bis zu seinem Tod kein Blatt mehr vor den Mund nehmen und jedes noch so intime Detail seines ruhelosen und obsessiven Lebens aufschreiben.

Völlig ungeschütztes Schreiben

Die jetzt unter dem Titel „Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichts“ veröffentlichten Tagebücher sind eine editorische Großtat, die dem Leser viel abverlangt. Denn Bienek schreibt völlig ungeschützt und oft polemisch über seine Begegnungen mit Kritikern wie Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser, seine Freund- und Feindschaften mit Kollegen wie Wolfgang Koeppen und Hans Magnus Enzensberger; er diskutiert mit Ingeborg Bachmann und Max Frisch und gibt freizügige Einblicke in seine sexuellen Vorlieben, beschreibt seine Ausflüge in die Schwulen-Bars, seine wüsten Ausschweifungen, die ihn vom Schreiben abhalten und in schummrige Klappen und dunkle Parks führen. Erst als AIDS unter seinen schwulen Freunden wütet, schränkt er seine sexuellen Obsessionen etwas ein.

„Ein flackernder Blick ins Leere“

Michael Krüger, sein Lektor und Verleger, beschreibt ihn als rastloses und „verletztes Kind“, das nur unter großen Schmerzen vom Verlust der Heimat („Die erste Polka“), von Verhaftung und Tortur im Gulag („Die Zelle“) erzählen und in zeitlos gültige Romane verwandeln konnte. Am 7. Dezember 1990 ist Bienek in München nach langem Siechtum an AIDS gestorben. „Das letzte Bild, das ich von ihm habe“, schreibt Krüger im Nachwort, „ist sein abgemagerter, geschrumpfter Körper, ein flackernder Blick ins Leere, ein Würgen, als wollte er noch etwas Wichtiges sagen. Er hat es für sich behalten müssen.“

Horst Bienek: „Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichts.“ Die Tagebücher 1951-1990. Hrsg. von Daniel Pietrek u.a., mit einem Nachwort von Michael Krüger, Hanser Verlag, München. 1712 S., 58 Euro.




Heillose Heilanstalt: Heinz Strunks Roman „Zauberberg 2″

Welch ein tollkühnes Unterfangen, schon mit dem Romantitel und sodann mit der Handlung in einen Vergleich mit Thomas Mann einzutreten! Mit „Zauberberg 2″ nimmt Heinz Strunk wie selbstverständlich Bezug auf Manns großen, just vor 100 Jahren erschienenen Roman „Der Zauberberg“, der bekanntlich hauptsächlich in einem Sanatorium zu Davos spielte und wortmächtig aus einem gewaltigen Gedanken- und Bildervorrat schöpfte.

Strunks Protagonist namens  Jonas Heidbrink macht sich hingegen mit dem eigenen Fahrzeug in den abgelegenen und untervölkerten deutschen Nordosten auf. Der Aufenthalt in der Heilanstalt, in die er sich begibt, kostet pro Nacht exorbitante 823 Euro. Selbstzahler sind gern gesehen. Heidbrink, der sich ein Start-up mit Hightech-Idee hat abkaufen lassen, verfügt fraglos über das Geld, ist aber seelisch ein armer Tropf, schon längst zu Tode betrübt. So drastisch erinnert er sich bei Strunk an seine Jugendjahre: „Bei jeder Gelegenheit hatte Heidbrink seine Verzweiflung wegzuonanieren versucht – seine Wichsdichte war wirklich schwindelerregend hoch gewesen. Not in Wichse verwandeln.“ Das ist fürwahr ein anderer Sound als bei Thomas Mann, der in seinen Tagebüchern höchstens verdruckst eine „Niederlage“ eingestand, wenn es ihn über-mannt hatte.

„Böser Blick“ und Lachnummern

Heinz Strunk erweist sich erneut als Meister der wirksamen, zuweilen fuchsfrechen Zuspitzung, der seine Figuren mit „bösem Blick“ betrachtet und zu Karikaturen ihrer selbst gerinnen lässt. Ärzte, Psychiater, Psychologen und sonstige Therapie-Fachkräfte geraten so reihenweise zu Lachnummern, diverse Maßnahmen (Musiktherapie, Kunsttherapie, Fototherapie, Biblio-Therapie, Tanz und Bewegung et cetera pp.) erscheinen als ebenso sterbenslangweilige wie groteske Zusammenkünfte, unterfüttert mit schwer erträglichem Psycho-Kauderwelsch. Die „Kulturabende“ des nur äußerlich noblen, schlossartigen Hauses sind unterdessen gottserbärmlicher Schmock. Nicht nur bestens vorstellbar, sondern höchst wahrscheinlich, dass derlei Befunde in vielen Punkten der traurigen Wirklichkeit entsprechen.

Zu allem Überfluss teilt man Heidbrink auch noch – gleich nach der Aufnahme – Verdachtsmomente für ein Melanom (Hautkrebs) und einen Nierentumor mit. Eine Folge: Ständig werden uns fortan seine „Vitaldaten“ (Laborwerte) mitgeteilt. Wie sehr wir um ihn bangen, sei dahingestellt. Nicht, dass auch wir in der Lektüre noch dem bösen Blick verfallen sind… Oder verbirgt sich hinter all der Spottlust doch heimliche, sozusagen verschämte Empathie?

Quälende Schweiger und Schwätzer

Lauter desolate Existenzen fristen in der Klinik ihr Leben – bei langsamst dahinkriechender Zeit; Tag um Tag, Monat für Monat, ohne wesentliche Veränderungen. Wir begegnen gleichermaßen quälenden Schweigern und Schwätzern am abendlichen Esstisch. Da ist etwa ein heilloser, reichlich prolliger Säufer namens Klaus oder jener Pseudo-Philosoph Zeissner, der so manche Suada absondert. Dazu die zerbrechliche, durchaus vorgestrige Fabrikerbin Margot oder eine seltsam unzertrennliche Zweiheit: Eddy und Pia, denen gleichfalls auf Erden nicht zu helfen ist. Wer daran Vergnügen findet, mag die Bezüge zu Thomas Manns Figureninventar herstellen. Demnächst werden sich Doktorierende damit befassen.

Diese Beschreibung der Klinik mutet schließlich an wie die generelle Bestandsaufnahme einer miserablen Welt: „Übrig bleibt ein Haufen Irrer und Bedürftiger, Verbrauchter und Versehrter, Belämmerter und Benommener, Hinkender und Humpelnder.“

Welch ein Jahrhundert-Abstand zu Thomas Mann!

Heinz Strunk gelingen rasante und prägnante Charakterisierungen zwischen Gelächter und Depression. Unterhaltsamkeit kann man diesem Schriftsteller (einst Musiker und Comedian) gewiss nicht absprechen, sein Roman liest sich weg wie sonst was. Aber sind es nicht manchmal doch etwas herabgedimmte Thomas-Mann-Anklänge, die er uns auftischt? Andererseits: Soll er denn den ichzentrierten Großbürger Thomas Mann nachahmen oder paraphrasieren? Das geht ja nun auch nicht. Auf sprachlichen Höhen (und in Untiefen) bewegt sich Strunk mitunter gleichfalls, wenn auch nicht in Sphären des Altvorderen.

Der vierte und letzte Teil des Romans handelt vom Verfall der Klinik, deren Schließung so unvermeidlich ist wie das finale Schicksal von Jonas Heidkamp. Ins Kapitel „Kirgisenträume“ fließen etliche Originalzitate aus Thomas Manns „Zauberberg“-Roman ein, die man sogleich am hohen Ton erkennt und die im Anhang penibel aufgeführt werden. Welch ein Abstand zu jenen Zeiten und jener Sprache! Wahrlich ein ganzes Jahrhundert, in dem sich die Gattung jedoch gar nicht so sehr verändert hat.

Heinz Strunk: „Zauberberg 2″. Roman. Rowohlt Verlag. 288 Seiten, 25 Euro.

 

 




Joachim Meyerhoff: Literarisches Denkmal für die Mutter

Theatergänger lieben die genuschelten Spracheskapaden und schlaksigen Bewegungen von Joachim Meyerhoff, Literaturfans amüsieren sich köstlich über seine tragikomischen Erlebnisse und grotesken Selbstentblößungen. Dann aber wird der Wiener Burgschauspieler von einem Schlaganfall niedergestreckt, muss das Sprechen und Spielen neu lernen und wechselt ins Ensemble der Berliner Schaubühne. Doch alles kommt anders als gehofft.

„Ich haderte mit Berlin, der Stadt, in der ich seit fünf Jahren versuchte, heimisch zu werden, und ich haderte mit meinem Beruf, der Schauspielerei, die ich über drei Jahrzehnte mit Hingabe, gar mit Obsession betrieben hatte.“

Bühnen-Ekel und Schreib-Hemmung schlagen ihm aufs Gemüt. Fluchtartig verlässt er Berlin und zieht zu seiner Mutter aufs Land, redet sich ein, er, der 56jährige Griesgram, könne der 86jährigen Frau, die vor Lebenslust strotzt und ihren parkähnlichen Garten allein in Schuss hält, im Alltag eine Hilfe sein. Das Gegenteil ist der Fall. Die Mutter sorgt mit kräftigen Worten und zarter Fürsorge dafür, dass der selbstmitleidige Sohn aus dem Tal der Tränen finden und wieder das machen kann, was er am besten beherrscht: seine tatsächlichen und seine herbeifantasierten Erlebnisse in bizarre Literatur zu verwandeln, Geschichten aufzuschreiben, die aus den traurigen Niederlagen des Lebens komischen Honig saugen und selbst dem verkniffensten Leser ein Lachen ins Gesicht zaubern.

„Man kann auch in die Höhe fallen“ nennt Joachim Meyerhoff (eine Sentenz von Friedrich Hölderlin aufnehmend) den sechsten Teil seines Roman-Zyklus‘ „Alle Toten fliegen hoch“: eine Perlenkette von todtraurigen und berstend komischen Anekdoten aus dem Leben eines Schelms. Er hat davon erzählt, wie er als Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in einem Heim für körperlich und geistig Behinderte aufwächst und sich dort pudelwohl fühlt. Wie er als Legastheniker die Kunst für sich entdeckt, als Schauspieler mit Wörtern jongliert und als Schriftsteller den Wahnsinn der Welt veralbert.

Höchste Zeit, zur Ruhe zu kommen, sich in den Alltag der Mutter einzuklinken und mit Latzhose und Gummistiefeln zum Gärtner zu mutieren. Den Tag mit einem Bad im Meer, einem guten Whiskey und einer klugen Mutter beenden, die auf (fast) jede Frage eine gescheite Antwort weiß. Wochenlang werkeln und trödeln die beiden durch den zu Ende gehenden Sommer, holen Erinnerungen hervor und schmieden neue Pläne. Die Mutter verliebt sich noch einmal und beschließt, mit ihrem Geliebten die Welt zu bereisen, der Sohn findet wieder die passenden Worte für seine abstrusen Geschichten über die Abgründe des Künstlerlebens und collagiert seine hanebüchenen Schilderungen mit liebevollen Erzählungen über seine Mutter.

Eine Geschichte („Mutter ist weg“) will er in einer Lübecker Buchhandlung vorlesen. Doch ihm ist übel und er zittert, hat Angst vor einem neuen Schlaganfall. Da ergreift die Mutter die Initiative. Während ihr Sohn im Hinterzimmer auf einer Couch liegt, tritt sie – als hätte sie nie etwas anderes getan – vor die Zuhörer und liest die Geschichte vor, die sie zuvor gar nicht kannte und jetzt so selbstsicher und Funken sprühend intoniert, als wäre sie selbst die Autorin. Weil sie eine wahre Künstlerin ist, erfindet sie spontan noch ein paar Zeilen dazu und schenkt der unfertigen Story ein großartiges Finale. Hin und weg sind nicht nur die Besucher der Lesung, sondern auch der in seinem Kabuff liegende Joachim Meyerhoff, der seiner Mutter mit seinem Roman ein literarisches Denkmal setzt.

Joachim Meyerhoff: „Man kann auch in die Höhe fallen.“ – „Alle Toten fliegen hoch“, Teil 6. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 358 Seiten, 26 Euro.

 




Boualem Sansal muss aus der Haft entlassen werden

Gladbeck 2012: der französisch-algerische Schriftsteller Boualem Sansal im Gespräch. (Foto: Jörg Briese)

Der Nächste bitte! Mit der Gewöhnung an autoritäre Politik werden Angriffe auf die Meinungsfreiheit zur Regel.

Im Oktober 2012 hatte ich das Glück, Boualem Sansal in die Stadtbücherei Gladbeck einladen zu dürfen und mit ihm zu diskutieren. Das Gespräch dolmetschte Walter Weitz, in deutscher Sprache erschienene Texte Sansals las Schauspieler Martin Brambach. Inspirierende Abende wie dieser gehörten zu den Lichtblicken meiner Arbeit im Literaturbüro Ruhr.

In Algier verhaftet und angeklagt

Umso trauriger war ich lesen zu müssen, dass am 16. November dieses Jahres der bewunderte französisch-algerische Schriftsteller nach einer Rückreise aus Frankreich am Flughafen von Algier verhaftet worden ist. Einige Tage lag sein Verbleib ganz im Dunklen. Nicht nur das deutsche PEN-Zentrum forderte deshalb Auskunft und Freilassung. Im PEN-Aufruf vom 5. Dezember heißt es kurz darauf: „Gestern nun wurde Sansal in Algier einem Gericht vorgeführt. Noch ist nicht klar, ob er einen unabhängigen Rechtsbeistand hat. Belangt werden soll er wegen Äußerungen zur algerischen Geschichte, nach algerischen Paragrafen können ihm dafür drakonische Strafen drohen.“

Auf dem Podium v.r.n.l.:
Walter Weitz (Dolmetscher), Sansal, Martin Brambach, Gerd Herholz.
(Foto: Jörg Briese)

Schon lange gilt Sansal in Algerien, wo seine Bücher nicht erscheinen dürfen, als Nestbeschmutzer, weil er das Regime seines Heimatlandes ebenso kritisiert wie den Islamismus, weil er gegen Antizionismus und Homophobie anschreibt.

Die Lüge wohnt vor allem im Westen

In seinem Büchlein „Postlagernd: Algier. Zorniger und hoffnungsvoller Brief an meine Landsleute“ rief Sansal nicht nur seine Landsleute zu mehr Mut und unabhängigem Denken auf, er forderte dies auch explizit von den Bürgern, den Citoyen im Westen:

„Die Unabhängigkeit ist universell oder es gibt sie nicht. Wenn es irgendwo einen Sklaven, einen Kolonisierten, einen vergessenen Häftling gibt, dann, weil es überall Lüge und Verrat gibt und weil die Welt von Sklavenhaltern und Kolonisatoren und ihren unzähligen Handlangern regiert wird.
Die Unabhängigkeit ist das Ende der Lüge. Bis zum Beweis des Gegenteils ist es der Westen, wo die Lüge wohnt, dort ist das Herz der Macht, dort ist es, wo man die Lüge zerstören muss, wenn man den Planeten und seine Bewohner retten will.“

Jeder kann jederzeit zum Mörder werden

Boualem Sansal lesend kann man dem Thema „Gewalt“ nirgendwo ausweichen. Sansal lenkt beharrlich den Blick auf verdrängte Kriege und Bürgerkriege, auf ihre zerstörerische Kraft – nicht nur in Algerien.
Dass dies uns – ob wir wollen oder nicht – angeht, beweist er etwa mit seinem Roman Das Dorf des Deutschen. Hier spürt er – Familiengeschichte erzählend – auch den Geheimnissen von Opfern und Tätern nach, der Geschichte von Staaten und Gesellschaften.

Martin Brambach liest aus „Das Dorf des Deutschen“. (Foto: Jörg Briese)

In Das Dorf des Deutschen müssen zwei Söhne eines Mannes aus einem algerischen Dorf erkennen, dass ihr Vater ein deutscher Nazi war, einer, der den Holocaust mitorganisiert hat, einer, der sich nach Kriegsende in Algerien versteckt hielt, eine junge Algerierin heiratete, nur, um dann erneut als Ausbilder von Kämpfern, Söldnern tätig zu werden.
So wird Gewalt über Zeiten und Länder weitergegeben; erschreckend scheint die Möglichkeit auf, dass nicht nur wider Willen jeder mit jedem verwandt sein, sondern auch jeder jederzeit zum Mörder werden könnte.

Totalitarismus in immer neuer Maskerade

Totalitäre Maschinerien und Ideologien, Terrorismen aller Couleur kommen in immer neuen Masken daher, mal als Nationalismus, mal als Stalinismus oder Islamismus oder – wie im Westen – als Terror der Ökonomie, als Primat einer Ökonomie, die unversehens zur Ökonomie der Primaten wurde und auf niemanden und nichts mehr Rücksicht zu nehmen scheint.

Auch aus der Erfahrung mit dem Jahrzehnte währenden islamistischen Terror im Maghreb ließe sich für Deutschland etwas lernen. Boualem Sansal erhellt, wie religiöser Fanatismus über das Angstmachen, das Besetzen von Sprache und Denken, über den Aufbau realer Machtstrukturen langsam aber sicher eine Gesellschaft bis in die letzten Winkel der Häuser und Hirne vergiften kann. Zurecht fordert er für seine Heimat etwas, das auch wir hier erst zu verwirklichen hätten: eine strikten Laizismus, eine striktere Trennung von Staat und Kirche(n).

Boualem Sansal (Foto: Jörg Briese)

Sansal ist ein Humanist, der erzählend und essayistisch – oft sich selbst gefährdend – für Menschenrechte und Bürgerrechte eintritt, für die Utopie demokratischer Gesellschaften. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels beschrieb er 2011, wie der Preis ihn verändert hat. Eindrückliche Sätze, die auch angesichts der aktuellen Situation in Syrien hoffnungsvoller (und naiver?) nicht sein könnten:

„Die Menschen lehnen Diktatoren ab“

„Ich diente unbewusst dem Frieden, nun werde ich ihm bewusst dienen, und das wird neue Fähigkeiten in mir wecken.“ Er hoffe, dass all das, was Schriftsteller und andere Kulturschaffende getan hätten, wenigstens einen winzig kleinen Beitrag zum Aufkommen des Arabischen Frühlings geleistet hätte: „Was derzeit geschieht, ist meines Erachtens nicht nur eine Jagd auf alte bornierte und harthörige Diktatoren, und es beschränkt sich nicht auf die arabischen Länder, sondern es kommt eine weltweite Veränderung auf, eine kopernikanische Revolution: Die Menschen wollen eine echte universelle Demokratie, ohne Grenzen und ohne Tabus. Alles, was das Leben ramponiert, verarmen lässt, beschränkt und denaturiert, ist dem Gewissen der Welt unerträglich geworden und wird mit aller Macht abgelehnt. Die Menschen lehnen Diktatoren ab, sie lehnen Extremisten ab, sie lehnen das Diktat des Marktes ab, sie lehnen den erstickenden Zugriff der Religion ab, sie lehnen den anmaßenden und feigen Zynismus der Realpolitik ab, sie verweigern sich dem Schicksal, auch wenn jenes das letzte Wort haben mag, sie lehnen sich gegen alle Arten von Verschmutzern auf; überall empören sich die Leute und widersetzen sich dem, was dem Menschen und seinem Planeten schadet.“

Sansal und Dolmetscher Wirtz  (Foto: Jörg Briese)

Ja, wirklich großartig wäre das. Boualem Sansal selbst aber hat jetzt die Macht derer zu spüren bekommen, die sich eine universelle Demokratie keinesfalls wünschen, die Menschen wie ihm deshalb schaden, wo sie nur können und so lange sie es können – und wir es zulassen. Erste hilflose Gesten dagegen wären es, Aufrufe zur Freilassung Sansals zu verbreiten, ihn nicht zu schnell als Häftling wieder zu vergessen. Und ihn zu lesen. Frei nach Gotthold Ephraim Lessing also: „Wir wollen weniger erhoben // und fleißiger gelesen sein.“




Spinnenwelt, Kunstbetrieb, Getuschel – Buchtipps vor dem Fest

Es ist mal wieder an der Zeit, in vorweihnachtlichen Tagen ein paar gesammelte Hinweise auf neue Bücher zu geben.

Das große Krabbeln

Zunächst ein Sachbuch-Thema, das viele Leute weniger erquicklich finden dürften. Jan Mohnhaupt, übrigens gebürtiger „Ruhri“ vom Jahrgang 1983, legt sein Buch „Von Spinnen und Menschen. Eine verwobene Beziehung“ (Hanser, 255 Seiten, 24 Euro) vor. Schon beim bloßen Titel könnte manche(n) das Gruseln anfassen. Doch nach der Lektüre mögen sich vielleicht etliche Arachnophobiker ein wenig kuriert fühlen. Mohnhaupt hat nicht weniger als eine Kulturgeschichte der Spinnenwesen verfasst, wie sie sich auf vielfältige Weise in die Geschichte der Menschheit einbeschrieben hat, so u. a. auch ins Christentum und in verschiedene Epochen, beispielsweise die napoleonische Zeit. Unsere Spezies hatte und hat demnach – auch im positiven Sinne – viel mehr mit den Spinnen zu tun, als wir es uns haben träumen lassen. Der Autor, der zuvor u. a. mit „Tiere im Nationalsozialismus“ aufhorchen ließ, leuchtet so ziemlich alle Aspekte seines Themas gründlich aus – oder soll man sachgerecht und wohlmeinend sagen: er spinnt sie weiter und weiter fort? Schon die reichhaltigen Anmerkungen lassen ahnen, wie intensiv Mohnhaupt recherchiert hat.

Künstler unter Einfluss

 

 

 

 

 

 

 

Dies ist ein zeitgenössischer Roman von einigem Kaliber. Als die Handlung einsetzt, ist es November im Jahr 2022. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bestimmt fast alle Debatten. Christoph Peters bricht in seinem Buch „Innerstädtischer Tod“ (Luchterhand, 302 Seiten, 24 Euro) diese weltpolitische Lage höchst plausibel auf die Befindlichkeiten seiner Figuren herunter, besonders auf den Künstler Fabian Kalb, der just seine erste Einzelausstellung in Berlin bekommt und dessen Verwandtschaft dazu aus Krefeld anreist. Kurz vor der Vernissage wird der Onkel des Künstlers, ein Protagonist der „Neuen Rechten“, unangenehm aktiv. Der Vater sucht unterdessen nach Winkelzügen, um weiterhin seine Krawatten nach Russland exportieren zu können. Und der Galerist? Hat offenbar Frauen belästigt. All das überschattet die Karriere-Hoffnungen Fabian Kalbs. Alsbald geht es längst nicht mehr nur um die hehre Kunst, sondern um Untiefen (nicht nur) des Kunstbetriebs. Ein dicht und spannend, dringlich und durchdringend erzählter Roman. Übrigens: Christoph Peters bewegt sich ein- und ausdrücklich auf den literarischen Spuren von Wolfgang Koeppen (siehe weiter unten).

Bauen für die Zukunft

 

 

 

 

 

 

 

Für Architektur sollten wir uns mehr interessieren, um laufende Planungen kritisch bewerten zu können – erst recht im regionalen und lokalen Umfeld. Dabei könnte jetzt ein neuer Band aus dem Dortmunder Kettler Verlag helfen: Der Titel „Atlas Ruhrgebiet“ (Kettler Verlag, 264 Seiten, Katalogformat, 48 Euro) führt womöglich etwas in die Irre, handelt der Band doch nicht so sehr von der allgemeinen städtischen Topographie, sondern eben von beispielhaften Bauten. Der Untertitel klärt bereits ein wenig den Ansatz: „Von der Arbeitersiedlung bis zum experimentellen Wohnungsbau“. Es geht nicht um anheimelnde Nostalgie, sondern vorwiegend um (einstmals) zukunftsweisende Bauformen. Verantwortlich zeichnen Moritz Henk, Anna Jessen und Ingmar Vollenweider vom Lehrstuhl Städtebau an der TU Dortmund. Tatsächlich ist dies ein fachwissenschaftlich ausgearbeiteter Band, der sehr ins Detail geht – auch mit exakten Planzeichnungen, Grundrissen und Schnitten. Einige Projekte würde man spontan dem Beton-„Brutalismus“ zuordnen wollen, doch wird hier wohl eine Ehrenrettung oder zumindest sachlich-nüchterne Beurteilung solchen Bauens angestrebt, übrigens auch mit Beispielen aus kleineren Revierstädten wie Dorsten und Marl.

Den „anderen“ Koeppen entdecken


Legendär sind die Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller Wolfgang Koeppen (1906-1996 – „Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“, „Der Tod in Rom“) und dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld. Immer und immer wieder musste Koeppen den Verleger vertrösten und in andauernder Schreibkrise um Vorschüsse bitten. Doch den großen Roman, den sich die literarische Republik gerade von ihm erwartete, hat er nach den drei oben erwähnten Titeln gleichwohl nicht mehr hervorgebracht. Das heißt aber keineswegs, dass er gar nichts mehr geschrieben hätte.

Zwei weitere Bände der sehr verdienstvollen (von Hans-Ulrich Treichel herausgegebenen) 16bändigen Koeppen-Ausgabe bei Suhrkamp versammeln nun Romanfragmente und Feuilletons. Der Feuilleton-Band enthält Arbeiten von 1923 bis 1948, also nicht die späteren Zeitungsbeiträge, die Koeppen als bereits arrivierter Schriftsteller verfasst hat. Diese finden sich in anderen Bänden der Werkausgabe. Wie sich Koeppen zumal die 30er Jahre erschrieben hat, ist allerdings aufregend genug.

Bei den Romanfragmenten aus einer Zeitspanne von rund 60 Jahren (u. a. „Die Jawang-Gesellschaft“, „Ein Maskenball“, „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs“) handelt es sich um Projekte, die eine beabsichtigte Vollendung zumindest erahnen lassen, aber bislang weitgehend ungedruckt geblieben sind. Auch zahlreiche Notizen und Vorüberlegungen gehören hinzu. Mithin haben wir hier auch sorgsam rekonstruierte Werkstatt-Einblicke, wie es sich bei einem Autor von Koeppens Format gehört.

Die Texte beider Bände werden durch umfangreiche Anmerkungs-Apparate erschlossen. Es sind editorische Glücksfälle für eine fortgeschrittene Leserschaft.
Wolfgang Koeppen: Romanfragmente (Werke, Band 11, 695 Seiten, 58 Euro)
Wolfgang Koeppen: Feuilletons (Werke, Band 13, 721 Seiten, 58 Euro), beide im Suhrkamp Verlag.

Botho Strauß, Tag für Tag

 

 

 

 

 

 

 

„Wenn er es schon nicht mehr versteht, so sucht er es durch lückenlose Beschreibung zu bannen.“ Das ebenso hermetisch wie kostbar anmutende Zitat, eines unter vielen von ähnlicher Art, stammt von Botho Strauß, der vor wenigen Tagen (2. Dezember) 80 Jahre alt geworden ist. Im Vorfeld dieses Datums ist sein neues Buch „Das Schattengetuschel“ (Hanser, 230 Seiten, 26 Euro) erschienen. Die Texte des Bandes mäandern durch vielerlei Vorfälle und Zustände, Strauß beginnt mit einer Episode aus dem Leben August Strindbergs (Vater wartet schmerzlich vergebens auf seinen Sohn), blickt zurück aufs alte West-Berlin der 70er Jahre, kündet von Altern, Vergeblichkeit, Entkräftung.

Diese hochreflektierte, zuallermeist ungemein präzise Prosa, durchwirkt mit Partikeln des Theaters und der Mythologie, wird man vielleicht gar nicht in einem Zug durchlesen wollen, obwohl sie einen nicht so leicht loslässt. Denkbar wäre es, dass man das Buch nutzt wie ein Brevier, welches man regelmäßig Tag für Tag aufschlägt und in dosierter Form zu sich nimmt, um etwa die eine oder andere Losung (nicht: Lösung) zu finden. Es sind überwiegend kurze Passagen, ja Miniaturen, die sich zum Schluss aphoristisch verdichten, bis zur Grenze des Verstummens. In diesem Sinne noch ein bezeichnendes Zitat, das offenbar auf ungeahnte „Erleuchtung“ aus ist: „Es muß etwas geben jenseits von Irrationalismus und Intelligenz – ein drittes Geschlcht des Geistes, die Luziden. Aufklärung brachte nicht genug Licht“. Derlei Sätze werden wahrscheinlich wieder Ärger mit „woken“ Zeitgenossen hervorrufen; wenn die den konservativ gebliebenen, freilich hie und da geläutert erscheinenden Botho Strauß überhaupt noch zur Kenntnis nehmen wollen.

 

 




Kleine, große Lichtgestalt: Die Deutsche Oper am Rhein zeigt erstmals „Der Kreidekreis“ von Alexander Zemlinsky

Beide Frauen wollen das Kind: Lavinia Dames (l.) als Tschang-Haitang und Sarah Ferede als Yü-Pei, eifersüchtige Erstfrau des Herrn Ma. (Foto: Sandra Then)

Die Federn fallen, fallen wie von weit, als kämen sie aus einer fernen Sphäre. Sanft schweben sie von den Vogelkäfigen nieder, in denen die Frauen eingesperrt sind, die für den Teehausbesitzer Tong arbeiten: gefallene Engel, verkaufte Kreaturen. Weiß sind ihre Gewänder, weiß die Federn. Weiß leuchtet hier alles, was noch gut und recht sein kann in einer düsteren Welt.

Es waren finstere Zeiten, in denen der 62-jährige Alexander Zemlinksy 1933 seine letzte vollendete Oper „Der Kreidekreis“ schrieb. Im alten Textgewand eines chinesischen Märchens steckend, ist sie eine typische Zeitoper der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Nach der Machtübernahme der Nazis verfiel sie – wie auch ihr jüdischer Komponist – der Verfemung. Regisseur David Bösch hat sie nun für die Rheinoper Düsseldorf in Szene gesetzt, zum ersten Mal in der Geschichte des Hauses.

Für sein Düsseldorfer Debüt greift Bösch gewissermaßen selbst zur Kreide. Mit liebevollem Strich zeichnet er den Lebensweg des Mädchens Tschang-Haitang nach, auf einer dunklen Spielfläche vor schwarzem Hintergrund. Von der Mutter verkauft, vom Teehausbesitzer weiterverschachert, als Nebenfrau eines Mandarins von dessen Erstfrau bekämpft und schließlich des Mordes bezichtigt, wird diese Figur bei ihm zu einer Lichtgestalt der bescheidenen Art: keine große Heldin und schon gar keine Rebellin, eher eine chinesische Butterfly.

Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird verkauft und wie ein Vogel in einen Käfig gesperrt. (Foto: Sandra Then)

Wie sie sich den Verhältnissen beugt, wie sie trotz aller Demütigungen ihre Würde bewahrt, wie sie in einer Welt voller Unrecht und Lüge aufrecht und wahrhaftig bleibt, steht mächtig – und durchaus irritierend – quer zum Kampf für Frauenrechte. Mit empathischem Blick arbeitet Bösch heraus, dass Tschang-Haitang nicht einfach unterwürfig ist, sondern sich auf ihre Weise behauptet, im märchenhaften Happy End sogar in eine Position der Stärke gelangt. Dass sie Prinz Pao glatt eine Vergewaltigung verzeiht, ist nur die halbe Wahrheit: Sie nutzt sein Geständnis für einen Deal, der ihr und ihrem Kind Sicherheit gewährt. Dann legt sie sich stolz seinen Königsmantel um. Böschs Inszenierung ist von dem Credo geprägt, dass selbst der Kleinste den großen Weltenlauf zu ändern vermag.

Die Regie fordert für dieses Märchen unseren kindlichen Blick. Strichmännchen aus Kreide, auf die Vorhänge zwischen den Akten projiziert, raffen die folgende Handlung zusammen. Das Kind, um das Tschang-Haitang mit der Erstfrau des Mandarins streitet, ist ein übermenschlich großes Riesenbaby mit einem Pappmaché-Kopf, wie Bert Brechts Meisterschüler Achim Freyer ihn seinen Bühnenfiguren zu geben pflegte. Gleich zu Beginn nimmt es auf der Bühne Platz und zieht den Kreidekreis um sich, aus dem beide Frauen das Kind herauszuziehen versuchen. Der salomonische Richterspruch ist auch aus der Bibel und aus Brechts Drama bekannt.

Im Elend: Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird zu Unrecht als Mörderin verurteilt. (Foto: Sandra Then)

Bühne und Videos (Patrick Bannwart) tragen uns aus dem Alltag fort. „Eine bessere Welt ist möglich!“ raunt nahezu alles, was wir sehen. Der Flügelschlag der Möwen, die als heller Schattenriss über den Bühnenhintergrund schweben. Die zarten Lampions in Blütenform, die auf der dunklen Bühne blühen. Die Kreideskizzen an den Wänden, die Kindheitstage heraufbeschwören. Und während das durch und durch korrupte Gerichtspersonal Papierfahnen entrollt, die Kindsraub, Vergiftung und Terror propagieren, schweben chinesische Schriftzeichen von der Decke, die hohe Ideale formulieren: Freiheit, Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit. Die Kostüme (Falko Herold) fügen sich perfekt in diese poetische Bühnensprache ein.

Die Fabel vom Kreidekreis entstand im 13. Jahrhundert in China, sie wird dem Chinesen Li Xingdao zugeschrieben. Klabund griff sie 1925 auf, Zemlinsky 1933, Bertolt Brecht 1944.
(Foto: Sandra Then)

Das zwischen Schauspiel und Oper changierende Zwitterwerk zusammenzuhalten, ist keine leichte Aufgabe. Der Stilmix ist unerhört: Es gibt freie und rhythmisch gebundene Sprache, Gesang Brecht-Weill’scher Prägung, Jazzelemente, fernöstliches Kolorit, schwelgerisch romantische Orchesterfarben und Klänge einer neuen Sachlichkeit. Die Nahtstellen zwischen Text und Musik sind kritisch, das Timing ist für die Sängerinnen und Sänger folglich heikel. Aber die Quadratur des Kreises gelingt: Die Düsseldorfer Symphoniker und das Gesangsensemble der Deutschen Oper am Rhein ziehen die Linie bemerkenswert geschlossen durch.

Unter der kundigen Leitung des Dirigenten Hendrik Vestmann fügt sich die stilistische Vielfalt zu einem faszinierenden Abenteuer für die Ohren. Was fließt da nicht alles ineinander: Jazzelemente und fernöstliche Pentatonik, romantische Schwärmerei und lakonische Sachlichkeit, Drohendes und Intimes und Groteskes, Turandot-Wucht und Butterfly-Zartheit. Das differenzierte und expressive Spiel der Düsseldorfer Symphoniker gereicht Zemlinsky zur Ehre.

Durch Leitmotiv-Techniken wird das Orchester an diesem Abend zum Erzähler, zum unentbehrlichen Kommentator. Es gleicht einer tönenden Karikatur, wie es den korrupten Richter Tschu-Tschu ankündigt, der nach durchzechter Nacht die Szene betritt. So verkatert, wie das Fagott hier in höchster Lage wimmert, und so unstet, wie die Takte hier ins Taumeln geraten, ist bereits alles gesagt, bevor dieser höchst fragwürdige Amtsträger auch nur den Mund aufmacht.

Das Gericht ist weder hoch, noch spricht es Recht: Tschang-Haitang (Lavinia Dames, am Boden), Richter Tschu-Tschu (Werner Wölbern, im roter Robe) und die Statisterie der Deutschen Oper am Rhein. (Foto: Sandra Then)

Der Schauspieler Werner Wölbern verkörpert ihn nach allen Regeln der Kunst als anmaßenden, schlecht gelaunten Gierlappen, der keinen Funken Interesse am Schicksal derer hat, über die er zu Gericht sitzt. Der Prozess führt zu einer mächtigen Steigerung im Orchester, die sich drohend aufbäumt, und einem Verzweiflungsausbruch von Tschang-Haitang, die Lavinia Dames uns mit ihrem Sopran nahebringt. Wie die Sängerin eine stille Traurigkeit in ihre hellen Farben mischt, wie sie sich stimmlich biegsam zeigt, ohne in den dramatischen Höhepunkten zu brechen, gleicht einer vokalen Studie des Phänomens, das heute Resilienz genannt wird. Für diese anrührende Charakterstudie wird die Sängerin vom Publikum begeistert gefeiert.

Dames ist von einem Ensemble umgeben, das seine Figuren nicht weniger genau zeichnet. Die Frauenstimmen ergänzen ihre Farbpalette: Katarzyna Kuncio als Tschang-Haitangs Mutter mit entsprechender Wärme, Sarah Ferede als intrigante Erstfrau Yü-Pei mit hochfahrender Dramatik. Im Baritonfach glänzen Richard Šveda, der dem Bruder der Hauptfigur wütende und rebellische Töne gibt, und Joachim Goltz, der den Mandarin Ma auch stimmlich von starrer Autorität in einen weicheren, liebenderen Mann verwandelt. Hinzu kommen Matthias Koziorowski (als Prinz Pao mit teils heldischen Farben), Jorge Espino (als Gerichtssekretär Tschao mit abgerundet sonorem Volumen), sowie einige hübsch gestaltete Mini-Rollen.

„Es ist Zemlinksy-Zeit“, heißt es im Programmheft der Rheinoper: Eine Behauptung, die durch diese starke Premiere beglaubigt wird. „Der Kreidekreis“ verdient unsere Aufmerksamkeit. Es ist Zeit für dieses Klangabenteuer, für dieses Werk, in dem die Schwachen die Starken sind und die Menschlichkeit gegen Gewalt und Lüge gewinnt.

(Karten und Termine: www.operamrhein.de)




Goethe-Institut: Harte Jahre, schmale Mittel

Es sind harte Jahre – auch fürs weltweit aufgestellte Goethe-Institut, das deutsche Sprache und Kultur möglichst global vermitteln soll. Gesche Joost, erst seit 19. November neue Präsidentin des dem Außenministerium angegliederten Instituts, spricht von einer „Welt der neuen Rauheit“, in der man umso dringlicher für demokratische Werte einstehen wolle.

Gesche Joost, seit gerade mal zwei Wochen Präsidentin des Goethe-Instituts. (Foto: © Loredana La Rocca / Goethe-Institut)

In Zeiten des erstarkten Rechtspopulismus, so Joost auf der Jahrespressekonferenz weiter, müsse man sich auf die zweite Amtszeit von Donald Trump und auf den Fortgang kriegerischer Krisen (Ukraine, Nahost etc.) einstellen. In diesem Umfeld gelte es, dem Institut und seinen Anliegen mehr „Sichtbarkeit“ zu verschaffen und „Resilienz“ (Widerstandskraft) zu entwickeln. Gängige Schlagworte, die wohl nicht fehlen dürfen.

Etat erneut gekürzt

All das muss jedenfalls auch noch mit schmalen Finanzen bewirkt werden: Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, stellte klar, dass man nach dem Aus der „Ampel“-Koalition nur mit einem vorläufigen Haushalt wirtschaften könne. Der aktuelle Regierungsentwurf sehe abermals Kürzungen beim Goethe-Institut vor – um 4,1 Mio. Euro (rund 2,8 Prozentpunkte) auf 226,2 Mio. Euro; dies wiederum bei allseits steigenden Kosten, die sich besonders international bemerkbar machen. Inzwischen sei man durch ständige Einsparungen (etwa 10% seit der Corona-Pandemie) wieder auf dem Niveau von 2017 angelangt. Ob man bei einer neuen Regierung mehr Gehör finden wird, steht wahrlich dahin. Die Hoffnung stirbt auch hier zuletzt.

Rekordeinnahmen durch Sprachkurse

Unterdessen wird gezwungenermaßen eine „Transformation“ des Instituts vorangetrieben, worunter vor allem eine Verschlankung zu verstehen ist. Struktur- und Verwaltungskosten sollen im größeren Stil reduziert werden. Eine Reihe von Instituts-Schließungen (u. a. in Bordeaux, Genua, Turin, Rotterdam, Osaka, Washington) ist weitgehend über die Bühne gegangen, die Zentrale muss derweil mit 27 Stellen (7,5%) weniger auskommen. Dadurch frei werdende Mittel sollen verstärkt für Sprachvermittlung eingesetzt werden. In diesem Bereich hat man ohnehin schon einen neuen Rekord aufgestellt. Bereits im Oktober verzeichnete das Institut für 2024 weltweit über 1 Million abgenommene Deutsch-Prüfungen und Einnahmen von 152 Millionen Euro. Angesichts der seit Jahren sinkenden staatlichen Förderung bedeutet dies freilich nur eine Teilentlastung.

Moskauer Niederlassung radikal geschrumpft

Neben einigen schmerzlichen Schließungen gab es vereinzelt auch ein paar Neueinstiege mit anderen Schwerpunkten – in Jerewan (Armenien) und Bischkek (Kirgisistan), dazu kommen Präsenzen in Chisinau (Republik Moldau) und Houston (USA). Moskau, mit einst 180 Mitarbeitern weltweit größtes Goethe-Institut, ist jedoch unterm Druck der Verhältnisse vehement auf 12 Leute geschrumpft (plus 3 in St. Petersburg). Dennoch wird versucht, den Betrieb notdürftig aufrecht zu erhalten. Bloß nicht alle Fäden abreißen lassen, heißt die Devise.

Fachkräfte auf Deutschland vorbereiten

Eine seiner Hauptaufgaben sieht das Goethe-Institut darin, dringend benötigte Fachkräfte nach Deutschland zu holen und diese mit Spracherwerb und nachhaltigen Integrations-Angeboten auf die neue Umgebung vorzubereiten. Hierbei konkurriert man mit Ländern wie Japan, Kanada oder den USA. Immerhin: Erste Erfolge zeigen sich offenbar bei Anwerbungen in Indien oder Vietnam. Wie Goethe-Generalsekretär Ebert ausführte, gibt es seit den AfD-Wahlerfolgen allerdings viele bange Nachfragen, ob man denn in Deutschland auch willkommen sei.

Die beste Bratwurst von Hanoi

Goethe-Präsidentin Joost (ansonsten Professorin für Designforschung an der Berliner Hochschule der Künste – HdK) versicherte, sie werde in ihrer Amtszeit nicht nur auf hehre Hochkultur achten, sondern auch auf alltägliche Dinge des niedrigschwelligen Zugangs. Beispiel? Sie habe kürzlich das Goethe-Institut in Hanoi (Vietnam) besucht. Es habe sich herumgesprochen, dass es dort nicht nur gute Sprachkurse gebe, sondern auch „die beste Bratwurst“ weit und breit.

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P. S. Die Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts hat heute in Berlin stattgefunden. Ich war online via Zoom dabei.