Namen über Namen: Michael Krügers „Verabredung mit Dichtern“

Eines gleich vorweg: Der Lebensleistung von Michael Krüger, dem langjährigen Leiter des Münchner Hanser-Verlags und – keinesfalls nur nebenbei – Schriftsteller, gebührt unbedingt großer Respekt, ja Bewunderung. Kaum einer neben und nach dem Suhrkamp-Doyen Siegfried Ungeld hat dermaßen viel für die Literatur seit den mittleren 1960er Jahren bewirkt. Umso mehr Aufschlüsse erwartet man von Krügers Buch „Verabredung mit Dichtern“, das im Untertitel „Erinnerungen und Begegnungen“ verheißt.

Der Band umfasst immerhin 447 Seiten, lässt also eigentlich Raum für Gründlichkeit. Doch, ach! Satt dessen wird man geradezu erdrückt von lauter Namedropping. Wenn Krüger erst einmal in Fahrt geraten ist, vergisst er (obwohl er mehrmals auf sein schwaches Gedächtnis verweist) offenbar gar keine Begegnung mit höchstkarätigen Literaten und sonstigen Künstlern aus Musik, Bildnerei, Film und Theater zu erwähnen. Nur leider erschöpfen sich seine Aufzählungen eben oftmals darin. Häufig driften sie ins bloß Anekdotische oder schlimmstenfalls ins Prätentiöse ab.

Worüber hat er mit Susan Sontag gesprochen?

Nur ein Beispiel von Hunderten: Da lässt uns Krüger wissen, er habe mit der legendären Susan Sonntag (eine von relativ wenigen Frauen als Protagonistinnen im Buch, viele andere haben lediglich Kurzauftritte als kluge Partnerinnen berühmter Schriftsteller) in der ebenso legendären Berliner „Paris Bar“ gesessen. Was sie dort geredet haben, bleibt freilich im Verborgenen. Es hätte sehr interessant sein können – wie so vieles andere. Ist es Diskretion, Notizen-Chaos, Erinnerungsverlust oder Unlust, die uns so manches vorenthält?

Offenbar hat niemand bei Suhrkamp einem wie Michael Krüger dreinzureden gewagt. Seine Einleitung folgt etwa dem Motto „Kinder, wenn ich wollte, könnte ich ungeheuer viel erzählen.“ Doch dafür, so Krüger in majestätischer Bescheidenheit, sei er gar nicht so recht begabt. Dann legt er allerdings los…

Bloß niemanden verprellen!

Nach einem längeren Exkurs zu seiner Berliner Nachkriegsjugend wendet sich der 1943 geborene, schwer an Leukämie erkrankte Krüger (der am 9. Dezember 80 Jahre alt geworden ist) seinen verlegerischen Anfängen zu. Zunächst absolvierte er eine Art Praktikum in London, dann ging’s alsbald zu Hanser in München – in einer enorm spannenden Zeit des politischen und literarischen Aufbruchs, in der freilich die Literatur zu Krügers Leidwesen von vielen Leuten totgesagt und der Politik untergeordnet wurde.

Bis hierhin wird das Geschehen noch ziemlich plastisch wiedergegeben, Krügers Stil wirkt zunächst angenehm entschlackt. Doch dann hat er immer mehr, wenn nicht nahezu alle damaligen und späteren Berühmtheiten des Literaturbetriebs kennen gelernt. Deshalb gerät er nun immer öfter in Versuchung, Namenslisten aufzustellen und abzuarbeiten, ja durchzuhecheln. Bloß niemanden durch Nichtnennung verprellen!

Einer, der zu rühmen weiß

Da könnte man wirklich neidisch werden: Wen er gekannt hat! Bei wem er eingeladen war oder ein und aus ging. Mit wem er nach eigenem Bekunden befreundet war. Wo und bei wem er genächtigt hat und an traumschönen Orten dieser Welt Wochen oder Monate verbringen durfte! Stets in ungemein anregendem, hochgeistigem Ambiente, versteht sich. Überdies in einer Ära, in der das Verlagswesen noch nicht so durchkommerzialisiert war…

Michael Krüger ist einer, der vor allem zu rühmen weiß. Auch scheut er das zwischenzeitlich in der Literaturwissenschaft verpönte, recht weihevolle Wort „Dichter“ nicht. Die allermeisten, die er erwähnt, waren oder sind demnach ungemein polyglott und haben die Inhalte abertausender Bücher in ihren Köpfen. Nie versäumt es Krüger, geradezu unfassbare geistige Kräfte seiner Freunde zu schildern. Wie Koketterie mutet es an, wenn er immer mal wieder betont, wie wenig fähig und berühmt er selbst im Vergleich sei (Zitat, anlässlich einer Tagung: „…außer mir alles berühmte Namen, die zu dem Thema wichtige Gedanken liefern konnten“). Sollte das etwa Fishing for compliments sein?

Warum denn kein Personenregister?

Die lange Liste der Namen füllt sich zunächst mit einem Aufenthalt in der römischen Villa Massimo, der sich als ausschweifender persönlicher Streifzug durch die italienische Gegenwartsliteratur und darüber hinaus erweist. Weitere Kapitel heißen z. B. „Meine schwedischen Freunde“, „Meine israelischen Dichter“, „The Boys und einige andere“ (USA), „Meine holländischen Dichter“ und „Meine polnischen Freunde“. Wohlgemerkt: Meine…

Da gibt es Abschnitte, in denen sich weltweit geschätzte Autoren wie Derek Walcott,  Joseph Brodsky, Seamus Heaney und Philip Roth gleichsam die Klinke in die Hand geben oder gleich mit Krüger beieinander sitzen. Da wohnt er in London beim ruhmreichen Pianisten Alfred Brendel, um Julian Barnes zu treffen, wobei auch… Halt! Wir wollen hier nicht die schier endlosen Namenslisten der Kulturgrößen nachbeten. Es fragt sich jedoch, warum gerade ein solcher Band völlig ohne Personenregister auskommt. Die ganze Herangehensweise ruft doch nach abschließender alphabetischer Sortierung und Überblick. Auch hätte man sich ein paar prägnante Abbildungen mehr gewünscht.

Manches bleibt noch zu tun

Dass Krüger ein Verleger war, der sich für „seine“ Autorinnen und Autoren eingesetzt und sie – bei fachlicher Kritik im Detail – grundsätzlich „beschützt“ hat, ahnt man gleichwohl in vielen Passagen dieses Buches. Dass er außerdem über weitaus subtilere Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, als er sie hier über weite Strecken erkennen lässt, zeigen eingestreute Auszüge aus seinen Gedichten und etliche Zitate aus Nachrufen und Preisreden, die er auf Schriftsteller gehalten hat. Apropos: Im obligatorischen Frack hat er die eine oder andere Nobelpreisverleihung erlebt. Hingegen schreibt er mit einer Regung zwischen Scham und Stolz, über Jahrzehnte keinen kompletten Anzug getragen zu haben.

In einer knappen Nachbemerkung entschuldigt sich Michael Krüger, einige Literatur-Nationalitäten diesmal noch nicht berücksichtigt zu haben. Er nennt mal eben pauschal: Frankreich, Spanien, Portugal, das Baltikum, Russland, die Ukraine, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, die Türkei, Japan, China – und last, but not least: all die „deutschen Dichter, mit denen ich mein Leben verbracht habe (…) Es bleibt also noch etwas zu tun.“

Michael Krüger: „Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen“. Suhrkamp, 447 Seiten, 30 Euro.

 

 




Was wäre ich geworden, wenn…? – Uraufführung der Oper „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in Düsseldorf

Surreale Treppen auf der Bühne von Heike Scheele: „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in der Inszenierung von Johannes Erath in Düsseldorf mit Holger Falk (Osbert Brydon) und Juliane Banse (Ellice Staverton). (Foto: Wolf Silveri)

Spätestens, seit die Romantik die Welten hinter der Welt entdeckt hat, werden die Grenzen zwischen der positivistischen Realität in einer aufklärerisch-rationalen Perspektive und der Fiktion brüchig.

Einer Fiktion, die sich als mächtiger Einfluss auf das offenbart, was gemeinhin als „real“ beschrieben wird. Einer Fiktion, die sich im Begriff manifestiert, jenem denkerischen Instrument, mit dem wir unsere Welt „begreifen“. Aber auch, wenn Gott ein Hirngespinst sein sollte, auch, wenn Heilige und Helden nie leibhaftig gelebt haben, so existieren sie doch, haben auf den Lauf der Ereignisse gewaltigen Einfluss. Doktor Faust oder Harry Potter: Die Erinnerung, die Erzählung macht sie zu Personen unserer inneren Welten.

Erfahrungen und Erinnerungen, Träume und Traumata, Visionen und Projektionen: Die Antriebskräfte, die das Leben mit vitaler Dynamik aufladen, balancieren zwischen Realem und Fiktionalem, durchdringen das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, geben ihm Sinn, Motiv und Richtung.

In Manfred Trojahns neuer Oper „Septembersonate“ treffen sich zwei Menschen, die schon in ihrer Existenz die Grenzüberschreitung in sich tragen: Er, Osbert Brydon, hat vor Jahrzehnten die auf realen Gelderwerb zielenden Aktivitäten seiner vermögenden Familie verlassen und ist nach „dort drüben“ gegangen, um ein Schriftsteller zu werden – also jemand, der fiktive Welten gestaltet. Sie, Ellice Staverton, ist Schauspielerin geworden, wechselt die Rollen und verleiht im Spiel fiktiven Personen eine leibhaftige Existenz. Beide liebten einst als Kinder das Puppentheater, in dem die Frauen Königin werden – oder das Krokodil.

Manfred Trojahn. (Foto: Dietlind Kobold)

Eine „Konjunktiv-Oper“ nannte Dramaturgin Anna Melcher Trojahns gut 100 Minuten wenig dramatisches, aber intensiv meditatives Musiktheater. Ein Satz der früheren Jugendfreundin bringt Osbert zum Nachdenken: „Was hätte ich dafür gegeben, Sie als junge Frau so getroffen zu haben, ich hätte mich auf der Stelle in Sie verliebt.“ Die Möglichkeit – die Frage „Was wäre, wenn?“ – lässt den Schriftsteller nicht mehr los. Im Traum, so Ellice, habe sie den anderen Osbert gesehen – den, der er geworden wäre, hätte er sich den Konten und Häusern seiner Familie gewidmet.

Wer ist dieser „Andere“? In einer surrealen Vision – oder ist es eine gespenstische Manifestation? – trifft Osbert auf sein anderes Ich: „Voll Wehmut grüßt der, der ich bin, den, der ich hätte sein können.“ Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ geben den Protagonisten die letzten Worte: „Du machst mich allein ….“ Das Ende bleibt offen.

Trojahn hat sein eigenes Libretto nach der Erzählung „The Jolly Corner“ von Henry James entworfen – jenem amerikanischen Schriftsteller, dessen Biografie sich in seiner 1908 erschienenen Story spiegelt. James ist ein Meister des Ungesagten, des Uneindeutigen, des dunkel Ungreifbaren – Benjamin Britten hat das in „The Turn of the Screw“ in unerreichter Meisterschaft in Musik gefasst. Auch bei Trojahn findet sich diese Atmosphäre mit dem Hauch des Surrealen und einer dämonischen Transzendenz wieder.

Blasen aus leiser Grundierung

Zitiert wird Richard Strauss‘ „Tod und Verklärung“, über Reminiszenzen an „Arabella“ oder an Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ berichtet der Komponist im Programmbuch. Erinnerungen werden wach, an Korngolds „Die tote Stadt“, an Debussys „Pelléas et Mélisande“, an Richard Rodney Bennetts „The Mines of Sulphur“ oder an Philip Glass‘ „The Fall of the House of Usher“. Aber das fünfzehnköpfige Orchester, schon vor dem ersten Ton von einem ständigen Herzschlag-Pochen grundiert, findet nicht oft zu klangfülligem Ausbruch, bewegt sich meist in unendlichen Variationen von trüben Piano- bis delikatesten Pianissimo-Klängen, intim bis zum verschwimmenden Verschwinden.

Juliane Banse (Ellice Staverton) in der „Septembersonate“ in Düsseldorf. (Foto: Wolf Silveri)

Musikalisch erinnert nichts an eine „Sonate“: der Komponist hat den Begriff nicht strukturell, sondern eher atmosphärisch verstanden. Stattdessen sind flexibel-flächige Tonfolgen zu hören, die lange gleich bleiben, um sich plötzlich wie Blasen aus leiser Grundierung zu einem kurzen Forte aufzuwölben. Ihre Klangglätte wird aufgeraut, wenn Trojahn von den Ketten der Triolen oder Quintolen Staccato oder Marcato fordert. Die Gruppe der fünf Bläser (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn) agiert im Kontrast oder in Wechselwirkung mit den Streichern, bei denen die Violinen fehlen, dafür die tiefen Instrumente in extreme Höhen getrieben werden. Die Folge ist ein melancholischer, an signifikanten Stellen unwirklich schwebender Flageolett-Klang.

Harfe, Klavier und Schlagzeug akzentuieren sparsam, brechen aber ebenfalls punktuell kraftvoller durch das Gewebe der Töne. Die Celesta taucht erstmals in der zweiten Szene auf, in der Osbert in seine Vergangenheit, in seine Erinnerung tanzt. Ihr entrückter Klang umschwebt das Bedrohliche der Erinnerung, vor dem die Haushälterin Mrs. Muldoon warnt: Sie versucht, das Nachwirken des Gewesenen zu verdrängen und auszulöschen – wie Mrs. Grose in „Turn of the Screw“.

Ein Meister des Uneigentlichen

Ein Meister des Uneigentlichen ist auch Regisseur Johannes Erath, der an der Deutschen Oper am Rhein zuletzt mit Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“ ein anderes Werk mit schwankendem Realitätsbegriff inszeniert hat. Er nimmt die Statisterie der Rheinoper in Beschlag, um den geheimnisvoll in schwärzliche Fernen geöffneten Bühnenraum Heike Scheeles mit stummen Menschen(gruppen) zu füllen – einzig durch ihr Dasein sprechende Resonanzkörper zu den vier Akteuren.

Bibi Abel erweitert die Raumwirkung mit Video-Stills surrealer Treppenkonstruktionen – manchmal scharf definiert, als wären sie gegenständlich in drei Dimensionen erbaut, manchmal nur in Konturen in den wunderbar plastisch geführten Lichtakzenten Nicol Hungsbergs zu erahnen, dann wieder deutlich als Projektionen erkennbar, in denen sich dennoch die Protagonisten wie schwarze Schatten bewegen, so als seien die Stufen aus fester Materie.

Erath wechselt zwischen handfester Aktion und traumnahen Bewegungssequenzen. Osberts zweites Ich – der Kampf beider spielt sich in cineastisch wirkender Großaufnahme ab – wankt mit wunderliche Eselsohren durch die Szene. Ellice, die Schauspielerin, manifestiert sich in vielerlei „Rollen“-Kostümen, vom Zwanziger-Jahre-Girl über die Projektion einer ikonischen Szene von Marylin Monroe mit aufgebauschtem Kleid bis hin zur Diva, die auf einem lackweißem Krokodil reitet und von Bibi Abel einen opulenten Theatervorhang – als Projektion! – bekommt. Erath legt sich bewusst nicht fest, stellt eher Fragen als Antworten zu geben. Der Abend endet mit einem Coup, einer weiteren Ebene von Fiktionalität, die den Zuschauer von vielleicht mühsam errungenen Gewissheitsinseln in finale Unsicherheit vertreibt.

Souveräner Dirigent

Unter der souveränen Leitung des designierten Chefdirigenten der Deutschen Oper am Rhein, Vitali Alekseenok, sind die Solisten der Düsseldorfer Symphoniker hochkonzentriert und mit Klangsinn am Werk. Die vier singenden Darsteller gehen in ihren Rollen auf: Holger Falk als zunehmend an Boden verlierender Osbert Brydon, mit sprechstimmenhaft zurückgenommenem Bariton, aber exzellent deklamierend, kämpft manchmal mit dem Orchester. Juliane Banse als Ellice setzt all ihre Stimmkoloristik, all ihre körperhafte Präsenz, all ihre variablen Tonbildungskünste ein, um eine schillernde, kraftvolle Frauenfigur auf die Bühne zu zaubern.

Roman Hoza ist das andere Ich Osberts und achtet in seinen wenigen Sätzen darauf, das Spannungsfeld zwischen Distanz und Identifikation nicht zu verletzen. Susan Maclean (Mrs. Muldoon) wirkt zunächst tief in der Vergangenheit erstarrt, wie ihr pompöses viktorianisches Kostüm signalisiert, deutet aber am Ende eine überraschende Wendung an: Zögernd schlägt sie eine Taste der Schreibmaschine an, deren Geklapper am Beginn der Oper, vielfach multipliziert, als Signet für jene andere Welt steht, in der sich Osbert und Ellice ihre erinnerungsgetränkten Wenn-Fragen gestellt haben.

Manfred Trojahns „Septembersonate“ steht am 9.,14., 29. Dezember 2023 und am 3., 14. und 27. Januar 2024 auf dem Spielplan der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/a-z/septembersonate/

Am Sonntag, 10. Dezember, 11 Uhr, zeigt das Opernhaus den halbstündigen Film „Das weiße Blatt“ mit anschließendem Publikumsgespräch. Der Film von Jo Alex Berg zeigt, wie die Uraufführung entstanden ist. Er begleitet die Künstler von der Arbeit an der Partitur bis zur ersten Hauptprobe auf der Bühne. Der Eintritt ist frei.




Immer wieder „Alles gut“

Gerne hätten wir folgende Zeilen unter das Bild gesetzt: „Das Licht der Aufklärung durchdringt den sprachlichen Nebel.“ Aber das lassen wir lieber bleiben. (Foto: Bernd Berke)

Zugegeben, es wird im deutschen Sprachraum schon seit einigen Jahren gesagt, allerdings mit der Zeit immer und immer öfter. Inzwischen ist es längst eine feste Formel, ja ein Passepartout geworden, eigentlich immer und überall zu gebrauchen:

„Alles gut.“

Soll man’s schriftlich und stimmlich mit oder ohne Punkt ausklingen lassen, mit Ausrufezeichen oder gar mit drei Auslassungs-Punkten? Das bleibt jedem Menschen selbst überlassen. Wichtig ist nur: Es soll beruhigend wirken, lindernd und beschwichtigend (Achtung, auch darin verbirgt sich das Wort „wichtig“), es soll an sich schon harmlose Situationen weiter entschärfen, die sowieso gar nicht allzu viel Konfliktpotential bergen. Sollte es sich etwa nur um eine nette Nichtigkeit handeln?

Erstaunlich ist, dass sich dieses sedierende „Alles gut“ ausgerechnet in Zeiten des grassierenden Wutbürgertums und der „kurzen Zündschnüre“ entwickelt hat – wie zum Ausgleich für brüllend obszöne Verwünschungen. Fraglich ist, ob ein echter Wutbürger gelegentlich „Alles gut“ sagt. Es ist nicht anzunehmen. Mithin scheinen die beiden (im Grunde herzlich unverbindlichen) Wörtchen eine Domäne der Friedliebenden im Lande zu sein. Gewisse Draufgänger halten solche Leute für Schwächlinge oder auf Neudeutsch für „Lauch“.

Wer möglichst jeglichen Streit vermeiden, sich aber auch komplizierte Widerreden und überhaupt langwierige Dialoge ersparen will, kann alles rasch mit seinem versöhnlerischen „Alles gut“ zukleistern. Es sagt sich ja so einfach und gedankenlos dahin. Aber trifft es auch inhaltlich zu?

Die ans Philosophische grenzende Frage lautet doch: Kann denn überhaupt unentwegt „Alles gut“ sein, oder wird das Sprüchlein eh nur auf Nebensachen angewendet? Dann dürfte es sich um ein schnellstens angerührtes Lösungsmittel für Kleinigkeiten handeln, für Peanuts und Petitessen. Eher einem sehr flüchtigen Lächeln vergleichbar, dem Zwinkern und Flunkern nicht fern.

Sobald es ernster wird, verfehlt das „Alles gut“ ohnehin seine mildernde Wirkung. Man stelle sich vor, wie die vielfach landesübliche, rechtsschutzbewehrte juristische Kampfbereitschaft auf Widersacher trifft, die ein ganzes Verfahren mit „Alles gut“ quittieren wollen. Dann wäre nichts mehr gut.

 




Jenseits der Mythen – Interview mit dem Callas-Biographen Arnold Jacobshagen

Vor 100 Jahren, am 2. Dezember 1923, wurde in New York eine der bedeutendsten Sängerinnen der Musikgeschichte geboren: Maria Callas. Zum ihrem 100. Geburtstag sprach Werner Häußner mit dem Autor einer neuen Biographie, dem Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen, über das Geheimnis der Gesangskunst der Callas und die Mythen um ihre Person.

Als Achtzehnjährige begann Maria Callas 1942 in Giacomo Puccinis „Tosca“ eine beispiellose Karriere. Mit Rollen wie Vincenzo Bellinis Norma und Amina („La Sonnambula“), Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor und Anna Bolena, Giuseppe Verdis Aida und Violetta („La Traviata“), vor allem aber mit der Wiederentdeckung von Opern wie Luigi Cherubinis „Medea“, Gasparo Spontinis „La Vestale“ oder Gioachino Rossinis „Armida“ wurde Maria Callas zur bis heute unerreichten Wegbereiterin des damals vergessenen Belcanto-Repertoires des 19. Jahrhunderts und eines technisch perfektionierten, von dramatischem Ausdruck geprägten Singens. Der Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen hat sich in seinem im Reclam-Verlag erschienenen Buch „Maria Callas. Kunst und Mythos“ auf die Spuren der großen Künstlerin jenseits des Mythos und hartnäckig wiederholter Klatschgeschichten begeben.

Was war Ihre Motivation, ein Buch über Maria Callas zu schreiben, nachdem es von John Ardoin bis Jürgen Kesting bereits viel und auch seriöse Literatur über diese Jahrhundertsängerin gibt?

Maria Callas ist für jeden, der sich intensiv mit Oper beschäftigt, eine Herausforderung. Besonders für mich, weil mich das italienische Belcanto-Repertoire von Rossini bis Puccini sehr interessiert. Ihre Stimme ist für viele Partien aus diesem Repertoire bis heute unübertroffen, auch wenn ich die Schwierigkeiten in ihrer stimmlichen Entwicklung sehe und hoffentlich auch gerecht beschrieben habe. Was die Callas-Literatur betrifft: Es gibt einige sehr gute und sehr viele nicht so gute Bücher, die leider bis heute das Callas-Bild prägen. Dieses etwas zu entrümpeln und einige Mythen zu hinterfragen war das eine Anliegen meines Buches. Das andere ist, ihre künstlerische Entwicklung möglichst genau zu beschreiben.

Wissenschaftler interessieren ungeklärte Fragen und Gebiete, auf denen man etwas Neues entdecken kann. Gibt es im Leben und der Karriere von Callas überhaupt noch „weiße Flecken“?

Ja, angefangen mit ihrer frühen Karriere in Athen, wo sie doch mehr als bisher bekannt von der Protektion der deutschen Besatzungsherrschaft profitiert hat. Das führte allerdings auch dazu, dass sie 1945 von der Operndirektion in Athen entlassen wurde und erst einmal zwei Jahre nicht auftreten konnte. In der späteren Karriere ist vieles gut bekannt. Wenig reflektiert sind die wahren Hintergründe ihres stimmlichen Abbaus, die vermutlich mit der erst 1971 diagnostizierten Dermatomyositis zusammenhängen. Die schleichende, aber dramatische und seltene entzündlichen Muskelerkrankung war ihr selbst bis dahin nicht bekannt. Sie führt zu einem kontinuierlichen Abbau des Muskelgewebes mit allen Konsequenzen für die Stimme. Den stimmlichen Niedergang, der ab 1957 offensichtlich war, kann man heute aus medizinischer Sicht besser verstehen. Die anderen Geschichten, die in der Callas-Literatur angeführt werden, die Onassis-Beziehung zum Beispiel, spielen hier keine wichtige Rolle.

Der Kölner Musikwissenschaftler und Callas-Biograph Arnold Jacobshagen. (Foto: privat)

Gehört dann auch die Rolle, die ihrer Gewichtsabnahme zugeschrieben wird, zu den aufklärungsbedürftigen Mythen?

Das ist ein komplexer Prozess, der auf die Singstimme unterschiedliche Auswirkungen haben kann. Es gibt positive wie negative Effekte; die positiven werden, denke ich, überwogen haben. Singen ist eine körperliche Ausdauerleistung. Gerade in den Jahren 1953 bis 1955, die den Höhepunkt ihrer künstlerischen Karriere bilden und die größte Dichte und Intensität an Auftritten in großen, unterschiedlichen Partien aufweisen, hat sie sehr wenig gegessen und einige Spezialbehandlungen wahrgenommen, um ihr erwünschtes Gewicht zu erreichen und zu halten. Über andere Ursachen für den frühzeitigen Verschleiß der Stimme kann man spekulieren. Man muss auch bedenken, dass Maria Callas sehr früh ihre Karriere begonnen hat. Aus meiner Perspektive müssen diese Faktoren eben anders gewichtet werden als bisher in der Literatur.

Stichwort Karriere: Es ist aus heutiger Perspektive sehr ungewöhnlich, dass eine 15-Jährige Santuzza, eine Frau mit Anfang Zwanzig Tosca, Kundry, Isolde und kurze Zeit später Bellinis Norma und Elvira in „I Puritani“ singt. Kommt man dem Geheimnis der Gesangstechnik auf die Spur, die so etwas ermöglicht?

Man kann vergleichen mit Sängerinnen der Gegenwart, aber auch der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Im 19. Jahrhundert gibt es dafür Beispiele wie die von Callas bewunderte Rosa Ponselle oder Maria Malibran, die auch schon mit Fünfzehn die Rosina in Rossinis „Barbiere di Siviglia“ in London, einer der wichtigsten Bühnen der damaligen Welt, gesungen hat. Natürlich waren das Ausnahmepersönlichkeiten – genau wie Maria Callas. Da muss man andere Maßstäbe anlegen als an den Durchschnitt von Bewerberinnen an einer heutigen deutschen Musikhochschule.

Die Vielfalt der Repertoires, das sie in jungen Jahren gesungen hat, gehört dazu – gerade die Wagner-Partien, die sie zwischen 1947 und 1950 mit großer Freude gesungen hat. Sie sagte, Wagner sei einfach zu singen, da es keine komplizierten Verzierungen und Kadenzen gebe. Und dann habe man noch das wunderbare Orchester, das die Stimme trägt! Die meisten Sängerinnen fürchten sich dagegen davor, vom Orchesterklang erschlagen zu werden.

Callas hatte die enormen Möglichkeiten einer „grande vocaccia“, einer großen Stimme, die gepaart mit einer brillanten Technik Wagner und Bellini-Partien mit anspruchsvoller Agilität scheinbar mühelos bewältigen konnte. Größere Probleme hatte sie etwa mit der Partie der Turandot, die auch hochdramatisch ist, aber im Unterschied etwa zu Kundry ständig sehr hoch liegt. Turandot hat sie 1948/49 häufig gesungen, aber diese Rolle hat sie, wie sie selbst beklagt, zu viel Kraft gekostet.

Es gibt ja auch andere, die gesangstechnisch ein unglaubliches Repertoire auf einem ähnlichen Qualitätslevel gesungen haben, Lilli Lehmann etwa. Heute gibt es solche Sängerinnen so gut wie nicht mehr. Warum nicht?

Eine schwierige Frage. Es gibt ja hin und wieder Sängerinnen, die versuchen, in die Fußstapfen von Maria Callas zu treten, zuletzt Anna Netrebko. Heute gibt es eine starke Spezialisierung der Fächer, die Callas immer vehement bestritten hat. Sie hat immer gesagt, ein Sopran müsse alles singen können. Heute wird man schon in der Ausbildung auf Fächer festgelegt, in denen die Lehrer das Entwicklungspotenzial der Stimme sehen. Das hat alles gute Gründe. Solche Ausnahmeerscheinungen wie Maria Callas sehe ich heute allerdings nicht mehr.

In der Ausbildung von Maria Callas spielt Elvira de Hidalgo ja eine entscheidende Rolle. Sie haben aber noch einen Gesangslehrer erwähnt, Ferruccio Cusinati, langjähriger Chordirektor der Arena di Verona: Ist das eine Person, die bisher nicht genügend gewürdigt wurde auf dem Weg der Callas zum technisch perfekten Singen?

Das wäre übertrieben, aber er wird in der bisherigen Callas-Literatur nicht einmal erwähnt; der einzige war Callas‘ Ehemann Giovanni Battista Meneghini, der den Kontakt zu Cusinati vermittelt hatte. Es ging ab 1947 einfach darum, bei Callas, die zwei Jahre ohne wesentliche Auftritte in New York gelebt hat und nun in die italienische Opernszene eingeführt werden sollte, möglichst schnell Lücken ihres Repertoires zu schließen, damit sie als Primadonna auf dem Markt von ihrem künftigen Ehemann platziert werden konnte. Cusinatis Leistung war, mit ihr Rollen zu studieren, wohl auch Schwächen auszubügeln und die italienische Diktion zu perfektionieren. Die technischen Grundlagen hat Elvira de Hidalgo gelegt, die eine der letzten virtuosen Koloratursoprane war.

De Hidalgo hat ihre Partien ja noch ganz aus dem Geist des Belcanto gesungen, mit völlig ebenmäßig gebildeten Tönen und einer tollen Projektion des Klangs in den Raum, aber eben auch sehr instrumental. Dieses Streben nach absoluter Schönheit unterscheidet sie von Callas, die all ihre Farben einsetzt, um ihre Partien zu gestalten.

Der Vergleich vokal – instrumental ist interessant, denn es ist eine der besonderen Qualitäten der Stimme von Maria Callas, dass sie über unglaublich viele Schattierungen und Facetten verfügte. Darin liegt aber auch ein Problem des Kontrollverlustes. Man kennt ja die Schwierigkeiten, die sie bei Registerübergängen immer hatte. Es gibt auch unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob Callas diese Palette vokaler Schattierungen bewusst eingesetzt oder aus der Not eine Tugend gemacht und dieses unglaubliche Organ gar nicht kontrolliert eingesetzt habe, so wie es Elvira de Hidalgo in dieser Feinheit und Instrumentalität beherrscht hat. Für Callas war der Ausdruck der notwendige Kontrapunkt zur vorhandenen technischen Meisterschaft. Eines der Geheimnisse ihrer Stimme ist sicher, dass sie Expressivität mit einer stupenden Technik vereinen konnte.

Maria Callas war ja keine Intellektuelle. Woraus speist sich ihre unglaubliche dramatische Kompetenz? War das ein instinktives Erfassen ihrer Rollen, eine Empathie, die in ihrer Persönlichkeit wurzelt? Oder hatte sie ein tiefes Verständnis von den tragischen Seiten der menschlichen Existenz?

Ich denke beides. Es ist nicht notwendig, eine belesene Intellektuelle zu sein, um eine tragische Partie zu durchdringen, Dazu gehört eher Lebenserfahrung, Charakter, Empathie, Musikalität sowieso, weil Callas überzeugt war, dass alles, was eine Partie ausmacht, aus der Musik kommt. Sie hat auch viel übernommen von ihren Lehrern und den Dirigenten, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Und so unbelesen war sie gar nicht: Zumindest nach dem Abschied von der Bühne hat sie sich Bücher empfehlen lassen und gelesen. Aber ich bezweifle, dass es unter den Sängerinnen ihrer Generation sonst so viele ausgewiesene Intellektuelle gab. Dessen ungeachtet ist die Frage nach der Bildung für das Verständnis der Partituren, die Aufführungspraxis oder die Art und Weise der Interpretation sehr wichtig. Maria Callas hatte eine rasche Auffassungsgabe, ihre Partien in kürzester Zeit beherrscht und ihre eigene Interpretation immer weiter verfeinert und vertieft.

Maria Callas wird in der Literatur als Persönlichkeit unterschiedlich beschrieben. Es gibt diesen Mythos von der tragisch verschatteten Existenz. Sie schreiben, sie sei in den meisten Phasen ihres Lebens ein glücklicher Mensch gewesen, der viel Liebe erfahren und sich wohl gefühlt habe.

Es wurden viele kurzschlüssige Folgerungen gezogen. Man hat ihre Bühnenpräsenz und ihre tragischen Rollen zum Ausgangspunkt genommen, ihre Persönlichkeit zu bewerten. Das heißt, man hat die vielen tragischen Frauenschicksale der Opern auf sie selbst projiziert. Die äußeren Umstände, besonders die Begegnung mit Aristoteles Onassis und der Verlust dieser Beziehung durch die auftretende Rivalin Jackie Kennedy, boten genügend Anlass, diese Mythen weiterzuspinnen. Aber selbst diesen Schicksalsschlag scheint sie einigermaßen schnell bewältigt zu haben, abgesehen davon, dass er mit ihrer künstlerischen Karriere nichts zu tun hat, denn er lag Jahre nach ihren großen Opernauftritten.

Was ist aus Ihrer Sicht des kritischen Wissenschaftlers der ärgerlichste Mythos über Maria Callas?

Das ist die Vorstellung, dass eine Frau aus Liebe zu ihrem Mann ihre Karriere aufgibt und dadurch in eine tragische Sackgasse gerät. Das ist vollkommen absurd: Maria Callas hat ihre Karriere aus künstlerischen und gesundheitlichen Gründen Ende der fünfziger Jahre stark reduzieren müssen und natürlich in ihrem Privatleben dann größere Erfüllung gefunden. Das eine muss man vom anderen trennen, und das geschieht in der Literatur nicht.

Ich halte es für ein sexistisches Element, Frauen grundsätzlich anders zu bewerten als Männer. Niemand käme auf die Idee, einen männlichen Sänger in gleicher Weise in einer – fast sklavischen – Abhängigkeit von einer Liebesbeziehung darzustellen. Ein Mann macht seinen Weg, aber von einer Frau wird erwartet, dass sie durch eine schicksalhafte Begegnung mit einem Mann ihre ganze Karriere verändert? Das mag man im 19. Jahrhundert erwartet haben – und diese Vorstellung scheint heute in vielen Köpfen noch so präsent, dass man einer Jahrhundertkünstlerin nicht zugesteht, auch unabhängig von Männergeschichten großartige Kunstwerke auf die Bühne zu stellen. Das finde ich sehr ärgerlich, obwohl ein guter Teil der Callas-Literatur von Frauen verfasst wurde.

Eine Frage zur Diskografie. Callas hat viel aufgenommen, es gibt auch viele Live-Mitschnitte. Welche Aufnahmen würden Sie als maßstäblich und unverzichtbar bezeichnen? Welche wären für Sie für die „einsame Insel“?

Heute hat man’s einfach, weil man mit der 131-CD-Box von Warner Classics alles mit auf die Insel nehmen kann. Aber im Unterschied zu vielen Callas-Enthusiasten würde ich die Studioproduktionen der früheren Zeit komplett mitnehmen. Sie war ja der erste Superstar in der Ära der neu entwickelten Langspielplatte. Wie Enrico Caruso durch die Schellackplatte hat Maria Callas von dieser medientechnischen Innovation profitiert. Gerade die frühen Aufnahmen sind technisch perfekte, mustergültige Interpretationen „für die Ewigkeit“, und es ist zu bedauern, dass Produzent Walter Legge kein großer Kenner des italienischen Opernrepertoires war und viele Rollen, die Callas live gesungen hat, nicht im Studio produziert hat. Umgekehrt finden viele Enthusiasten die wahre Diva in ihren Bühnenauftritten und nicht in den Studioaufnahmen.

Callas und die Region: Ihre deutschen Stationen waren Berlin und Köln.

Ja, in Köln gab es im Juli 1957 eine Jubiläumswoche der Mailänder Scala zur Eröffnung des Kölner Opernhauses. Zwei der insgesamt vier Opernvorstellungen mit Maria Callas in Deutschland fanden in Köln statt, beide Male Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“. Die beiden anderen, zwei Mal „Lucia di Lammermoor“, gingen unter der Leitung von Herbert von Karajan in Berlin über die Bühne. Köln ist also eigentlich eine der deutschen Callas-Metropolen. Später ist sie noch öfter in Deutschland aufgetreten, aber nur in Konzerten – bis hin zu der problematischen Abschiedstournee mit Giuseppe di Stefano 1973/74.

_______________________

Arnold Jacobshagen: „Maria Callas. Kunst und Mythos“. Reclam, 367 Seiten, 38 Abbildungen. 25 Euro.




Dem Tod gefasst entgegensehen – Paul Austers Roman „Baumgartner“

Ein doppeltes Missgeschick wirft das Gedanken-Karussell des Erzählens an: Zuerst hantiert Professor Seymour T. Baumgartner (genannt „Sy“), emeritierter Phänomenologe und Schriftsteller aus Princeton (USA), höchst ungeschickt mit einem glühend überhitzten Topf. Kurz darauf stürzt er eine Treppe hinunter. Slapstick mit schmerzlichen Folgen.

Doch da ist ein bleibender, ungleich tieferer Schmerz, der phantomhaft fortwirkt: Vor einigen Jahren ist Anna, die Frau seines Lebens, wider seinen Rat abends noch einmal zum Schwimmen ins Meer gegangen und von einer tödlichen Monsterwelle erfasst worden. Wie kann der Hinterbliebene das aushalten? Zitat: „Leben heißt Schmerz empfinden, sagte er sich, und in Angst vor Schmerz zu leben, heißt das Leben verweigern.“ Für eine solche Einsicht muss das Ereignis wohl schon eine Weile zurückliegen.

Seit Annas Tod schwindet jenes Gefühl nicht mehr, dass einem immer und überall etwas zustoßen kann. Aus dem andauernden Bewusstsein von Endlichkeit und Vergänglichkeit erwächst hier mit der Zeit Gefasstheit, während die Panik sich nach und nach vermindert.

Auf schwankendem Boden

Gleichwohl: Auf unsicherem, schwankendem Boden bewegt sich Paul Austers Roman „Baumgartner“, der aus Reflexionen und Erinnerungen des nunmehr 71 Jahre alten Witwers besteht; freilich nicht in der Ich-Form, sondern distanziert in der dritten Person wiedergegeben, doch kaum minder eindringlich. Es stehen nun solche Fragen an:  Wie viel Zeit bleibt noch auf Erden? Was geschieht nach dem Tod? Besteht dann noch eine geheime Verbindung mit einst geliebten Lebenden?

„Er ist jetzt einundsiebzig, in sechs Wochen steht der nächste Geburtstag an, und ist man erst einmal in dieser Zone schrumpfender Perspektiven angelangt, muss man mit allem rechnen.“ Gekommen sind demnach die Zeiten, in denen nicht nur generell das Gedächtnis nachlässt, sondern man auch öfter vergisst, den Hosenstall zuzumachen. Das Altern als lachhaft traurige Groteske… Aber wäre es denn besser, so früh, selbstgewiss, kühn und aufrecht in den Tod zu gehen wie seinerzeit Anna?

Lektüre unter anderen Vorzeichen

Unterdessen schweifen Baumgartners Gedanken in die Vergangenheit. Es ziehen so manche Szenen aus seinem Leben noch einmal vorüber; besonders aus der Frühzeit, als er Anna kennenlernte, die damals zunächst den Ehrgeiz hatte, Baseball-Spielerin zu werden, um es den Jungs zu zeigen. Ein Paar wurden sie erst nach etlichen Jahren, vor dem Zeithorizont des Vietnamkriegs und der heftigen Proteste dagegen. Durch Zufall sind sie einander wieder begegnet, doch auch wie vorherbestimmt. Es wurde eine anfangs wild erotische, sodann zunehmend intellektuell bereichernde Partnerschaft.

Austers treue Leserinnen und Leser mögen hierbei an sein reales Leben mit der ebenfalls ruhmreichen Schriftstellerin Siri Hustvedt denken. Es bleibt ihnen unbenommen. Aber in derlei Analogien geht dieses Buch natürlich längst nicht auf. Seit Siri Hustvedt die (literarische) Welt hat wissen lassen, dass Paul Auster an einer schweren Krebserkrankung leidet, liest man einen solchen Roman allerdings unter anderen Vorzeichen und mit anderen Regungen. Je nach Lebensalter dürften sich zudem verschiedene Lektüren ergeben. Doch darunter sollte keinerlei fruchtlose Lektüre sein.

Ukraine als Zone des Schreckens

Die Rückblicke führen jedenfalls über die wechselhafte Lebensgeschichte der Eltern (welche Optionen hatten sie, welche haben sie genutzt?) bis in die Kindheit und weiter hinab zum Gedenken an den jüdischen Großvater in der Ukraine, wo Baumgartner sich viele Jahrzehnte später – am Rande einer PEN-Autorentagung – in der entsprechenden Region um Lwiw umsehen konnte. In der Gegend sind viele Gräuel des 20. Jahrhunderts kulminiert, sie war wiederholt eine Zone schrecklichen Massensterbens. Dieser Roman schildert eben keine rein persönliche Geschichte, er umgreift auch das Weltgeschehen. Übrigens erinnert sich Auster und mit ihm Baumgartner in diesem Zusammenhang an ein deutsches Gedicht, das Georg Trakl in jenen Breiten über den Ersten Weltkrieg geschrieben hat. Es heißt „Im Osten“ und endet mit der Strophe:

Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
Die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.

Gegen Ende hin scheint die Handlung gleichsam ein wenig ins Schlingern zu geraten, als würde es Auster aus der Kurve tragen. Auch Baumgartner hat ein Buch mit dem Titel „Rätsel des Steuers“ vollendet, das sich zwischen Aristoteles und allerlei Erwägungen zum „autonomen Fahren“ ergeht. Er fragt sich selbst, ob etwa seine Kraft zum Schreiben nachgelassen habe. Auch hier also das Menetekel des Alterns. Doch noch einmal, ein letztes Mal, so scheint es, hat er einen Text auf eigener Höhe verfasst.

An wessen Türe klopft er schließlich an?

Es geht derweil nicht nur um Todesnähe und Zeitvergang, sondern zuinnerst auch um die Liebe. Nach Jahren der flehentlichen Trauer hatte Baumgartner jüngst eine Affäre, aus der mehr zu werden schien und aus der dann doch nichts geworden ist. Und nun? Hat sich eine junge, offenbar ausgesprochen kluge und vitale Wissenschaftlerin gemeldet, die sehr eingehend über Annas vorliegendes und verborgenes Werk forschen möchte, wobei ihr Baumgartner sicherlich am besten helfen kann. Er lädt sie auf unbestimmte Dauer ein, lässt eigens ein Einlieger-Apartment für sie herrichten, blüht auf vor lauter Vorfreude, ja Vor-Verliebtheit. Ist sie nicht gar so etwas wie eine wiedergeborene Anna? Als sie im fernen Bundesstaat losfährt, macht er sich ungeheure Sorgen wegen der Wetterverhältnisse. Ob und wann diese Beatrix („Bebe“) Coen bei ihm eintrifft, erfahren wir jedoch nicht mehr. Der Roman nimmt ein jähes Ende, das ins Leere zu laufen scheint. Ob es auch im Nichts endet, steht dahin.

An diesem Ende geschieht abermals ein Unfall, diesmal mit dem Auto, in das sich Baumgartner gegen alle Vernunft beim widrigem Winterwetter gesetzt hat. Er scheint nur leicht verletzt zu sein und selbst Hilfe in einem nahegelegenen Haus aufsuchen zu können. Doch dann klingt es in den vieldeutigen Schlusssätzen so, als habe er vielleicht nicht bei gewöhnlichen „Leuten“, sondern an die Tür des Todes geklopft. Welch ein rätselvoller Aus- und Übergang. Niemand weiß mehr.

Paul Auster: „Baumgartner“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt, 204 Seiten, 22 Euro.




„Nie in Mode gewesen“ – Julien Gracq und seine „Lebensknoten“

In der Handschriftenabteilung der „Bibliothèque Nationale de France“ befinden sich neunundzwanzig mit „Notules“ (Randnotizen) betitelte Hefte des Schriftstellers und Dichters Julien Gracq. Ihre Veröffentlichung hat der Autor bis 2027, zwanzig Jahre nach seinem Tod, untersagt. Jedoch hatte Gracq einige Prosastücke ins Reine geschrieben und zum Abtippen gegeben, die 2021 in Frankreich unter dem Titel „Noeuds de vie“ („Lebensknoten“) und jetzt in der Friedenauer Presse auf Deutsch erschienen sind.

Abseits des Literaturbetriebs

Nachdem Julien Gracq mit seinem ersten Roman „Auf Schloss Argon“ (1938) und seinem einzigen Theaterstück „Le Roi pêcheur“ (UA 1949) bei Verlagen und Kritikern nicht die erhoffte Anerkennung fand, wandte er sich enttäuscht vom französischen Literaturbetrieb ab, unterrichtete unter seinem bürgerlichem Namen Louis Poirier bis zu seiner Pensionierung im Alter von sechzig Jahren als Gymnasiallehrer Geografie und Geschichte, schrieb in dieser langen Zeit ununterbrochen weiter, hielt sich aber von der Öffentlichkeit fern. Das änderte sich auch nicht, als ihm 1951 für seinen Roman „Das Ufer der Syrten“ der Prix Goncourt zuerkannt wurde. Die bedeutende Auszeichnung nahm er nicht an – eine solche Ablehnung war beispiellos in der Geschichte des renommierten Preises, was umso mehr für Furore sorgte. „Es ist für einen Schriftsteller heute ein Glücksfall, nie in Mode gewesen zu sein, sondern in einer Zone des Rückzugs und Halbschattens verweilt zu haben“, wird er später in einem seiner Notizbücher festhalten.

In den letzten Lebensjahren zog er sich in seinen Geburtstort Saint-Florent-le-Vieil an der Loire zurück, wo er 2007 im Alter von 97 Jahren starb. „Nie in Mode gewesen“ – das schließt einige bedeutsame Ehrungen und eine große Zahl literaturwissenschaftlicher Studien über den Autor und sein Werk nicht aus. Julien Gracq gehört zu den wenigen Literaten, deren Gesamtwerk bereits zu seinen Lebzeiten in die „Bibliothèque de la Pléiade“ aufgenommen wurde, die in Frankreich gleichsam den Kanon der Literatur bestimmt.

Nähe zum Surrealismus

Anfang der 1930er Jahre entdeckte der Zwanzigjährige das „Manifest des Surrealismus“ und André Bretons 1928 erschienenen Roman „Nadja“, der ihn tief beeindruckte. Umgekehrt schuf er durch die Zusendung seines ersten Romans an André Breton auch die Voraussetzung, um von den Surrealisten entdeckt und als einer der Ihren wahrgenommen zu werden. Seine Nähe zum Surrealismus wird beispielsweise in den frühen Prosagedichten des Bandes „Liberté Grande“ (1946) deutlich, aus dem die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ (Heft 1, 2019) eine Auswahl veröffentlichte, die ebenso wie der vorliegende Band „Lebensknoten“ von Gernot Krämer ins Deutsche übersetzt wurde.

Julien Gracq wird mit Breton bis zu dessen Tod 1966 eine lebenslange Freundschaft verbinden. Gleichwohl blieb er skeptisch gegenüber so manchem, wodurch sich der Surrealismus auszeichnet. Mit dessen Ursprüngen aus der Dada-Bewegung konnte Gracq wenig anfangen. Ebenso wenig sah er in der „Écriture automatique“, dem Schreiben unter Ausschaltung aller inneren Kontrollinstanzen, einen Ansatz, den zu verfolgen sich für ihn gelohnt hätte. Er trat auch nie, wie ein Großteil der Surrealisten, in die Kommunistische Partei ein, und es lag ihm fern, sein Schreiben in den Dienst der Revolution zu stellen.

Gracq betont jedoch wie die Surrealisten die Kraft von Träumen. Bei seinem bevorzugten kleinen Schreibtisch, von dem ein Foto in den Band aufgenommen wurde, ist ihm die Nähe zum Bett wichtig, als „Symbol für Rückzug und nächtlichen Rat“. Wie aus einer anderen Notiz hervorgeht, teilt er jedoch keineswegs die Begeisterung vieler Surrealisten für Traumdeutung und die psychoanalytischen Theorien Sigmund Freuds. „Wie sollte man nicht argwöhnisch sein gegen einen Magier, dessen Zaubertricks die Rätsel weitgehend erst schaffen, die er lösen will?“

Verlockende Fahrten

Für den Band „Lebensknoten“ hat die Herausgeberin Bernhild Boie die literarischen Miniaturen in vier Themenbereiche untergliedert. Im ersten Teil führen uns Notizen unter der Überschrift „Wege und Straßen“ durch verschiedene Landschaften Frankreichs und der Schweiz, etwa von Sancerre aus nordwestlich durch die als finster beschriebene Sologne – „Frankreichs Kuhle, (…), ein stehender, eingekellerter Nabel, den nur selten der Wind besucht und der wie ein Tümpel unter grünem Schaum schläft“; in das winterliche Loire-Tal und durch die rechts und links des Flusses gelegenen Orte.

Die Landschaften der Vendée und der Bretagne stellt Gracq vergleichend gegenüber – in detailreichen sprachlichen Momentaufnahmen, mit denen der Autor Stimmungen evoziert. Vom Boot aus betrachtet er das französische und das Schweizer Ufer des Genfer Sees, das sich mit den Jahren nicht zu seinem Vorteil verändert hat. So beginnt der Band mit mehreren Fahrten, die trotz ihrer stillen Melancholie zum Nachreisen verlocken. Auf seinen Spaziergängen rund um seinen Geburts- und letzten Rückzugsort Saint-Florent-le-Vieil empfindet Gracq auch in der vertrauten Umgebung „keine Ruhe, kein ermutigendes Gefühl der Beständigkeit, sondern eher das sorgenvolle Unbehagen, das uns vor einer zur Fällung markierten Baumgruppe beschleicht, vor einem vertrauten Bauwerk, das abgerissen werden soll (…)“. Im Garten seines Großvaters erinnert er sich an „einen auf Spalier gezogenen Apfelbaum und einen Streifen Wermutsetzlinge“.

Kristallisationspunkte

Während sich der erste Teil den räumlichen Bewegungen widmet, versammelt der zweite Teil, „Augenblicke“, verschiedene Kristallisationspunkte im Längsschnitt der Zeit, historische Momentaufnahmen oder Erlebnisse von subjektiver Wichtigkeit. Für das Jahr 1945 stellt er in Frankreich „in jeder Hinsicht eine Krise des Ausdrucks“ fest; die Zeit schreie „verzweifelt nach einer Form“ – „Ein Verlangen nach Dichtern vielleicht, auf jeder Ebene.“ Eine Ausstellung im Invalidendom zum sogenannten „Sitzkrieg“ (im Französischen bekannt als „Drôle de guerre“), der von September 1939 bis Mai 1940 andauerte und den Gracq als Soldat erlebte, enttäuscht ihn durch ihre, wie er findet, dürftigen, belanglosen Exponate. „Nichts verbindet diese mittelmäßigen Beweisstücke mit dem taghellen Somnambulismus, der sich acht Monate lang einer ganzen Nation bemächtigt hatte.“

Kriegsschilderungen

Gracq weiß, wovon er spricht, hat er doch  in zahlreichen Prosaskizzen den Zweiten Weltkrieg in unideologischer, poetischer Sprache eindringlich festgehalten – die Absurdität eines gewaltigen, desorganisierten Militärapparats, surreal und als komische Farce. Julien Gracqs „Manuscrits de guerre“ wurden 2011 posthum aus seinem Nachlass veröffentlicht und sind als „Aufzeichnungen aus dem Krieg“ (2013) im Literaturverlag Droschl erschienen. Aber auch in seinen Romanen wie „Das Ufer der Syrten“ (1951) und „Der Balkon im Wald“ (1958) ist der Krieg präsent. In Besprechungen und literaturgeschichtlichen Arbeiten zu Gracq wurde auf die frühe, ihn prägende Lektüre von Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“ hingewiesen, einem Autor, mit dem er sich später anfreunden sollte; zwei Schriftsteller der „alten Schule“. Aus manchen seiner Texte spricht eine Haltung, ähnlich wie Gracq sie 1986 im Gespräch mit Jean Carrière geäußert hat (von Bernhild Boie in ihrem Vorwort zitiert): „(…) man kann die Welt sehr wohl als unersetzliches Wunder für den Menschen betrachten und in aller Gelassenheit bar jeder Hoffnung sein.“

Der Autor als Leser

Gracqs frühe Lektüren zeugen von einer Vorliebe für Abenteuer und Phantastik: James Fenimore Cooper, Jules Verne, Robert Louis Stevenson, E. A. Poe, „Die Gesänge des Maldoror“ von Lautréamont. Gracq benennt die Imagination als „eine Vitalfunktion genau wie die Atmung“, ja mehr noch: „sie ist es, die die Luft atembar macht.“ Als handele es sich dabei um eine Selbstverständlichkeit, setzt er solche literarischen Preziosen in die Klammern eines Satzes, der auf Pierre Reverdy und nebenbei auch auf Hegel antwortet. Im dritten Teil der „Lebensknoten“ können wir einige der klugen Beobachtungen des lesenden Autors Julien Gracq goutieren. Etliche Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts geraten unter sein Seziermesser und werden entweder für ihre Verdienste gewürdigt, oder aber es werden, oft mit einem von Ironie gewürzten Urteilsvermögen, ihre Schwächen aufgezeigt.

Da ist Stendhal, den er früh schon bewunderte, Arthur Rimbaud, mit dem er sich sehr gut auskennt, Henry de Montherlant, dessen „herrliche Sprache“ darüber hinwegtäuschen könnte, „dass er doch nur das tägliche Brot austeilt.“ Zwei Buchseiten über J. R. R. Tolkien – und damit eine der längsten Notizen dieses Bandes – mögen überraschen. Die Lektüre von „Der Herr der Ringe“ erlebt er als befreiend, nicht zuletzt, weil nach seiner Lesart das dort beschriebene Geschehen unter kompletter Auslassung „geltender und praktizierter Religionen entstanden“ sei. „Hier treffen Mächte aufeinander und nicht Werte; nicht Gut und Böse, sondern weiße Mächte und schwarze Mächte.“ Gracqs Anfang der fünfziger Jahre begonnenes, aber erst posthum veröffentlichtes Romanfragment „Das Abendreich“ wurde von einigen Kritikern mit Tolkiens Großepos verglichen.

Dichterisches Selbstverständnis

Aus seinen scharfsinnigen Analysen und pointierten Kommentaren zu Zeitgenossen und älteren Autoren spricht ein dichterisches Selbstverständnis, das sich, wie selbst die relativ wenigen in „Lebensknoten“ versammelten Notizen erkennen lassen, zu einer eigenen Poetologie erweitert. „Niemand ist wirklich in Kommunion mit der Literatur, der nicht das Gefühl für das Ganze hat, das noch im kleinsten ihrer Teile vorhanden ist.“ Bei einem Roman sei die „Navigation“ entscheidender als „die Häfen und Landstriche, die unterwegs besucht werden.“ Es gelte zunächst, eine „bestimmte Anfangsgeschwindigkeit zu erreichen“, danach dürften Kräfte auf den „vorwärts getriebenen Körper einwirken, die seine Richtung verändern, ihn bremsen, wieder beschleunigen.“ Die Macht der Bewegung müsse stark genug sein, um jeden Gedanken an ein Ziel auszulöschen. Darüber werde das Sujet beinah nebensächlich.

Worauf es beim Romanschreiben ankommt

Einige solcher Statements, die er in der Auseinandersetzung mit schreibenden Zeitgenossen entwickelt, werden im vierten Teil der Textsammlung aufgegriffen, wenn es um Gracqs eigenes Schreiben geht. Eine Formulierung Paul Valérys zum Vorausdenken beim Schach und die Übertragbarkeit dieser Fähigkeit auf das Schreiben von Romanen nimmt er zum Anlass, darzulegen, worauf es ihm beim Schreiben mehr noch ankommt als auf das Durchspielen vieler möglicher Varianten: Auf die „Fähigkeit, blitzschnell, instinktiv zwischen aufscheinenden Kombinationen zu wählen, automatisch, ohne auch nur zehn Sekunden zu verschwenden, acht von zehn Möglichkeiten auszuschließen.“ Ein „Tastsinn für Positionen“, die „Fähigkeit umfassender Ortung“ – „Am Anfang eines Romans steht keineswegs die tatsächliche Richtung des künftigen Werks, sondern das Vorgefühl seiner Autonomie.“ In einer anderen Notiz hält er folgerichtig fest: „Seinen Zauber und seine Würze erhält ein Roman allein durch das Schwänzen der Schreibschule und nicht durch den unfehlbaren Konstruktionsplan.“

Solche Sätze machen neugierig auf Julien Gracqs Romane, die in insgesamt 26 Sprachen und von denen mehrere auch auf Deutsch erschienen sind. Hoffentlich gelingt es dem schönen und handlichen Band aus der Friedenauer Presse, den Autor Julien Gracq auch Leserinnen und Lesern zugänglich zu machen, die bislang noch nicht zu seinen Verehrern zählten. Die Voraussetzungen dafür dürften durch die gelungene Übersetzung geschaffen und der Zeitpunkt für eine (Wieder-)Entdeckung des Autors dürfte mehr als reif sein.

Julien Gracq: „Lebensknoten“. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Friedenauer Presse, 174 Seiten, 20 Euro.




Im Land der schönen Stadttheater – Bildband präsentiert Spielstätten des Reviers

„Theaterszene Ruhr“ steht auf dem Buchdeckel, und „Einblicke in die Theaterwelt“. Das Fotobuch im A-4-Querformat zeigt den Zuschauerraum eines Großen Hauses, Festspielhaus Recklinghausen, Ruhrfestspiele. Dieses Foto ist, wenn man einmal so sagen darf, das einzig ehrliche an dieser Titelseite. Denn weder geht es um Theaterszene noch um Theaterwelt (was wäre übrigens der Unterschied?); es geht um die Theater, die real existierenden Bauwerke.

Titel des besprochenen Buches. (Foto: Fabian Linden / Repro rp)

Fabian Linden, Fotodesigner, Jahrgang 1959, hat zwischen Moers und Dortmund Spielorte fotografiert, Innenräume vorwiegend aus der Zentralperspektive, dazu stets ein, zwei Gebäudedetails und einzelne Menschen, die in diesen Theatern arbeiten: Garderobiere, Beleuchter, Dramaturgin, Puppenspielerin, Korrepetitor und so weiter. Ab und an ergänzen gut gesehene Details die Präsentationen der Häuser, Bochumer Schauspielhaus-Tütenlampen zum Beispiel oder Wandflächen im Yves-Klein-Blau im Gelsenkirchener Musiktheater. Lindens Architekturbilder und seine Industriefotografie (von Teilen der Theatertechnik zum Beispiel) sind handwerklich untadelig, die Portraits der Funktionsträger hingegen hätten gerne etwas lebhafter ausfallen können. Oft wähnt man sich im Paßbildstudio.

Kein einziges Inszenierungsfoto

Gleichwohl fragt man sich, wie ein Fotograf, ein Mensch des Sehens und der visuellen Inszenierung doch mithin, sein Bilderbuch „Einblicke in die Theaterwelt“ untertiteln kann, wenn er buchstäblich nicht ein einziges Inszenierungsfoto bringt. Von den Chefs und Intendanten hat es, sieht man von der freien Szene ab, gerade einmal Roberto Ciulli aus Mülheim an der Ruhr, der Dottore, in das Buch geschafft. Natürlich gehört er hier auch hin, das Revier verdankt ihm viel; aber es gäbe doch etliche mehr, die man ebenfalls vorstellen könnte, Männer wie Frauen. Auch wenn man sie persönlich nicht sämtlich in gleicher Weise schätzt.

Und dann wären da ja auch noch die Bühnenkünstler! Einer hat es immerhin geschafft, Martin Zaik, die Rampensau vom Mondpalast (was unbedingt als dickes Kompliment zu verstehen ist!). Auch er verdient es, welche Frage, doch nur er?

In diesen Stuhlreihen hat man oft gesessen

Nun gut, ein unbeackertes Feld. Schauen wir also auf das, was wir mit diesem Buch bekommen, nämlich eine relativ vollständige, professionell fotografierte Versammlung der schönen Stadttheater, der Schauspiel-, Opern- und Festivalhäuser des Reviers. Zunehmend verfestigt sich beim Durchblättern der Eindruck, daß wir hier wirklich viele großartige Spielstätten haben – schwungvoll Wiedererrichtetes aus den 50er Jahren, gestrengen Klassizismus, Beton-Brutalismus, die unbedingte Zweckmäßigkeit der Studiobühnen-Bestuhlung. In etlichen von ihnen hat man schon viel schöne – manchmal natürlich auch weniger schöne – Theaterkunst gesehen, da kann man fast schon sentimental werden.

Deshalb jetzt noch ein paar Nörgelpunkte zum Ende hin: Die Texte, die der pensionierte Gymnasiallehrer Hajo Salmen beisteuert, halten das Niveau der Fotografien und des fotografischen Konzeptes nicht; die thematische Auswahl zeigt auch Schwächen: Während kleine Spielstätten wie die „Volksbühne“ oder das „Rottstr 5 Theater“ in Bochum erstaunlich viel Zuwendung erfahren, fehlen Orte wie das traditionsreiche Dortmunder Fletch Bizzel ganz. Ebenso fehlen Theater ohne eigenes Ensemble, wie etwa Marl oder Lünen, was zumindest aus architektonischer Sicht schade ist. Ärgerlichstes Manko aber ist das Fehlen der Bochumer Jahrhunderthalle; nur Duisburg-Nord wird als Spielort der Ruhrtriennale präsentiert.

  • Fabian Linden, Hajo Salmen: „Theaterszene Ruhr – Einblicke in die Theaterwelt“
  • Eigenverlag. www.fotodesign-linden.de

 

 




Aus dem Leben gerissen: Klavier-Festival-Intendant Franz Xaver Ohnesorg ist tot

Franz Xaver Ohnesorg, + 14. November 2023. (Foto: Mark Wohlrab)

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“:  Der alte gregorianische Choral hat sich bitter bewahrheitet, als am Morgen des 15. November die schockierende Nachricht eintraf: Franz Xaver Ohnesorg, Intendant des Klavier-Festivals Ruhr, ist tot.

Man kann es kaum fassen, es dringt erst allmählich vom Verstand ins Herz vor: Der dynamische 75-Jährige, vor zehn Tagen noch brillant plaudernder Moderator einer Benefiz-Jazz-Gala in Duisburg zugunsten der Stiftung Klavier-Festival Ruhr, soll nicht mehr unter uns sein? Kein melodisches „Ohnesorg“ mehr am Telefon, kein charmanter Gastgeber mit der obligatorischen Fliege für sein kommendes, den Abschied vom Klavier-Festival markierendes Benefizkonzert in Essen, zu dem er noch einmal Musiker aus der Elite der Weltkünstler begrüßen wollte, von Martha Argerich bis Anne-Sophie Mutter? Man schaut verstört auf den Stuhl in seinem kleinen Büro und versteht nicht, dass er nie mehr hier sitzen wird, über Unterlagen gebeugt, ein Kännchen Tee an der Seite.

Franz Xaver Ohnesorg war ein Begriff in der Musikwelt, in die er 1979 mit einem Paukenschlag eingetreten ist, als der junge Orchesterdirektor der Münchner Philharmoniker den kapriziösen Sergiu Celibidache als Generalmusikdirektor gewann. Seine 16 Jahre Intendanz der Kölner Philharmonie ab 1983 waren prägend: Noch heute kursieren unter alten Hasen die Geschichten über ihn als Gründungsintendant; noch heute sind die Spuren seines Wirkens sichtbar. Sein phänomenales Händchen für das Knüpfen stabiler Beziehungen, heute zum „Networking“ vertechnisiert, sicherte den Kölnern den Genuss vieler Künstler von Weltrang. Mit Durchschnitt hat sich „FXO“ nie zufrieden gegeben.

Auch sein Intermezzo in New York ging er mit der ihm eigenen Energie und Zielstrebigkeit an. Isaac Stern, der legendäre Geiger, hatte ihn dazu gebracht, als erster nicht-amerikanischer Executive and Artistic Director die Leitung der Carnegie Hall zu übernehmen. Dass diese Zeit nur bis 2002 dauerte, ist den Berliner Philharmonikern zu verdanken. Als deren Intendant gestaltete Ohnesorg die ausklingende Ära von Claudio Abbado und den Beginn der Regentschaft von Sir Simon Rattle mit.

28 Spielzeiten beim Klavier-Festival Ruhr

So kannte man ihn: Am 1. Juli 2023 sprach Franz Xaver Ohnesorg vor dem Konzert mit Evgeny Kissin beim Klavier-Festival Ruhr in Essen. (Foto: Peter Wieler)

Das Klavier-Festival Ruhr hat er sagenhafte 28 Spielzeiten unter seine Fittiche genommen, zunächst 1996 als künstlerischer Leiter, ab 2005 als Intendant. In seinem Fall bedeutete das weit mehr als das Bestimmen einer künstlerischen Linie. Das Klavier-Festival als vollständig privat finanziertes kulturelles Leitprojekt des Initiativkreises Ruhr fordert einen Intendanten, der Jahr für Jahr die Finanzierung sichern muss.

Seine faszinierende Vielseitigkeit im Umgang mit Menschen machte ihn zur Idealbesetzung auf diesem Posten: Sponsoren, Donatoren und Förderer des Festivals können erzählen, wie „Xaver“ seinen bestrickenden Charme einsetzte, um an Ruhr, Rhein und Wupper große Klavierkunst zu ermöglichen, aber auch hoffnungsvollen jungen Pianisten einen Start in eine internationale Karriere zu ebnen. Joseph Moog oder Sergio Tiempo, die am 25. November auf dem Programm des Essener Benefizkonzerts stehen, sind ebenso Beispiele wie Fabian Müller, der fünf Preise beim ARD Musikwettbewerb 2017 abräumte und – inzwischen Professor an der Musikhochschule Köln/Wuppertal – international konzertiert.

Ohnesorg hat das Klavier-Festival zu dem gemacht, was es heute ist: das wohl weltweit größte Pianistentreffen, ein Zentrum großer, vielfältiger Klavierkunst. Ob er stolz darauf war? Wenn ja, ließ er es sich nicht anmerken, rückte immer die Künstler in den Mittelpunkt. Aber in seiner Stimme schwang der Enthusiasmus mit, wenn er berichtete, wie er beim Festival etwa George Antheils „Ballet Mecanique“ ermöglichte, wie viele Uraufführungen von Philip Glass – zuletzt sein Klavierkonzert – im Ruhrgebiet stattfanden, wie er immer wieder Pianisten dazu brachte, beim Klavier-Festival exklusive Programme zu präsentieren. Dass sein Herz besonders an der Musik von Franz Schubert hing, hat er in seiner letzten Saison vor seinem geplanten Abschied als Intendant zum 31.12.2023 immer wieder in bewegenden Worten bekundet.

Erzähler mit leuchtenden Augen

Richtig leuchtende Augen bekam er aber, wenn er von den Education-Programmen des Klavier-Festivals berichten konnte. Die Projekte für Kinder und Jugendliche, denen der Zugang zur Musik nicht in die Wiege gelegt wurde, hielt er für eine „moralische Pflicht“. Wichtig waren ihm dabei Nachhaltigkeit und Qualität. Dafür holte er sich bewährte Mitarbeiter ins Boot. „Glücklich bin ich, wenn ich in die Gesichter der Kinder in Marxloh schaue, wie sie durch unsere ‚Piano School‘ das Zuhören lernen oder bei Tanzprojekten stolz sind auf eigene Erfolge“, sagte er in einem Interview.

Faszinierender Erzähler: Franz Xaver Ohnesorg und Bundestagspräsident a. D. Norbert Lammert bei der Veranstaltung „Ein Gast. Eine Stunde“ am 23. Juni 2023 im Schauspielhaus Bochum. (Foto: Werner Häußner)

Das Erzählen lag ihm. Franz Xaver Ohnesorg hatte ein unbestechliches Gedächtnis, wusste auf Anhieb, wer wann und wo beim Klavier-Festival was gespielt hat. Als er im Juni 2023 an einem Sonntagvormittag im Bochumer Schauspielhaus in der Reihe „Ein Gast – eine Stunde“ auf der Bühne saß, sprudelte er vor Erinnerungen, Anekdoten, Bonmots. Unterhielt man sich mit ihm über Musik, zog er mühelos große Linien, beleuchtete wie selbstverständlich wichtige Details. Und er kannte buchstäblich Gott und die Welt, unter den Pianisten sowieso, aber auch unter Geigern, Cellisten, Bläsern und Dirigenten. Spannend war aber auch, wer bei ihm durchs Raster fiel. Das geschah meist durch beredtes Schweigen.

Perfektion im Dienste der Künstler

Franz Xaver Ohnesorg (links) bedankt sich bei den Künstlern des Galakonzerts des Klavier-Festivals Ruhr am 27. Oktober 2023 in der Historischen Stadthalle Wuppertal. (Foto: Peter Wieler)

Ohnesorg war ein Perfektionist, und was er von sich selbst verlangte, erwartete er auch von seinen Mitarbeitern. Alles musste stimmen, von Details des äußeren Rahmens der Konzerte bis zur hingebungsvollen Betreuung der Musiker. Er wollte „Künstlern helfen, besonders gut zu sein“ und ihnen das Musizieren leicht machen, „von der Abholung vom Flughafen bis zum idealen Saal.“ Sie sollten sich umsorgt fühlen. Große Stars und junge Pianisten dankten es ihm durch ihre Treue. Ein Lieblingsprojekt in seinen letzten Jahren waren die „Lebenslinien“: In seinen Ansprachen und in den Programmen der Konzerte zählte er gerne auf, wie oft die Künstler beim Klavier-Festival aufgetreten sind und wie lange die Verbundenheit schon währt.

Diese freundschaftlichen Beziehungen kamen nicht nur der Programmatik des Festivals zugute, sondern eröffneten dem Publikum die Chance, alle Facetten des Könnens berühmter Pianisten kennenzulernen, die Entwicklung von Künstlerpersönlichkeiten mitzuverfolgen, Legenden der Klaviermusik hautnah zu erleben, musikalische Aufbrüche und junge Talente zu bestaunen. Und wer kann sich schon ans Revers heften, eine Martha Argerich 30 mal, einen Pierre-Laurent Aimard gar 36 mal, einen Grigory Sokolov 25 mal zu Gast gehabt zu haben?

Bei einer Pressekonferenz am 22. Mai 2022 stellte Franz Xaver Ohnesorg Katrin Zagrosek, seine Nachfolgerin ab 1. Januar 2024, vor. (Foto: Peter Wieler)

Zur Ruhe wollte er sich nicht setzen, der unermüdliche Franz Xaver Ohnesorg. Sicher, er wünschte sich mehr Zeit für die Familie und für Freunde, mehr Muße für Bücher und versäumte Filme. Ehrenamtlich hatte er vor, sich um das Kölner Kammerorchester zu kümmern, dessen Trägerverein er bereits als Vorsitzender diente. Der plötzliche Tod hat einen grausamen Strich durch diese Planung gemacht.

Franz Xaver Ohnesorgs Memoiren bleiben ungeschrieben: Sie hätten mit Sicherheit viel Gewinn bei der Lektüre und manche Erkenntnis bereitgehalten. Das letzte der drei Benefizkonzerte – nach einer grandiosen Gala in Wuppertal und einem Fest für Jazz-Freunde in Duisburg – wird nun am 25. November in Essen zum Gedächtniskonzert für einen Menschen, dem nicht nur das Ruhrgebiet unschätzbar viel verdankt, sondern der bei jedem, der die Gunst hatte, ihm zu begegnen, markante Spuren hinterlassen hat. Requiescat in pace, lieber FXO!

_________________________________

(Transparenzhinweis: Der Autor ist seit 2016 für die Pressearbeit des Klavier-Festivals Ruhr zuständig).




Gehen und Innehalten – Peter Handkes „Ballade des letzten Gastes“

Aus gänzlicher Fremde, wieder aus einem anderen Erdteil kommend, kehrt ein Mann namens Gregor – wie alljährlich zuvor – für eine Woche heim. Taufpate des Sohnes seiner Schwester soll er diesmal werden.

Was gibt es noch am einst heimischen Ort, was und wen kennt er noch? Nur noch Bruchstücke. Die frühere Dorflandschaft ist längst Teil einer gestaltlos ausufernden städtischen Agglomeration.

Unterwegs erhält Gregor die Nachricht, dass sein jüngerer Bruder, ein Söldner, gestorben sei. Er verschweigt es seiner Familie, erst kurz vor Gregors Abreise erfährt es wenigstens die Schwester.

Überaus sorgsam und skrupulös registriert der Heimkehrende jede Kleinigkeit, jeden Vorgang am Wegesrand. Mit Ungeduld darf das jedenfalls nicht gelesen werden. Sonst müsste man das Buch alsbald beiseite legen. Passender wär’s, man läse es – verwegene Idee? – wie ein lernendes Kind, gleichsam mit dem Zeigefinger die Zeilen nachfahrend.

Keine „fertige“ Erzählung

„Die Ballade des letzten Gastes“ von Peter Handke kommt nicht als „fertige“ Erzählung daher, sondern ergeht sich in mühsamen Wortfindungen voller Sprachzweifel. Kein Satz geht einfach so dahin. Beispielzitat für viele: „In der Krone des einen (…) Baums jetzt ein Knacken, nein, ein Knistern, nein, ein Rascheln, nein, ein Rumoren, nein, ein Klopfen – Unsinn, ein Geräusch, für das es kein Wort gab, oder mehrere, viele, unendlich viele…“ Selbstkorrekturen ohne Unterlass. Nichts steht fest, nichts ist gewiss. Gar vieles steht nur in Anführungszeichen.

Allerdings verwendet Handke – wie zum Trotz – erneut seine bekräftigenden Lieblings-Fügungen wie „jetzt und jetzt“, „jetzt, und jetzt, und abermals jetzt“, „nicht und nicht“, „nichts und wieder nichts“. Es klingt in der Häufung nach Manier und Marotte, mag aber auch auf Dringlichkeit hindeuten. Denn immerzu droht die allgemeine Katastrophe. Zitat: „Wir Kippfiguren! Wir auf des Messers Schneide!“

„Her mit einer Diktatur…“

Zwischendurch dann jene, für Handke gleichfalls nicht untypischen Ausbrüche solchen Zuschnitts, die einen ratlos lassen, Rollenprosa hin oder her: „Nie wieder Kino. Schluß mit den Filmen als Zuschauerrechtsverletzungen. Teil der Demokratie das Zeug? Nieder mit der Demokratie,  weg mit all den Alles-geht-Demokratien (…) Her mit einer Diktatur, einer neuen, die verbietet, was verboten gehört. Vita nuova!“ Inwieweit wäre dies wörtlich zu nehmen? Von Peter Handke, dem erklärten Feind jeglicher Meinungen? Doch der Autor der legendären „Publikumsbeschimpfung“ lässt Gregor im Laufe der Erzählung beispielsweise auch noch den kleinen Täufling und die Natur verfluchen.

Vor allem aber zelebriert Handke das Nichtgeschehen. Er beschwört Vorstellungen wie jene von der Einäugigkeit, noch gesteigert mit dunkelster Brille – oder jene von ziellosen Fahrten in nahezu leeren Straßenbahnen. Am Rande des Nicht-Sehens, des Nicht-Begegnens. Abkehr von Zumutungen der Mitwelt. Sodann aber der nächtliche Kauf unscheinbarer, ja nichtiger Dinge, durch den Gregor sich unversehens geerdet und zugehörig fühlt. Übliche Sinnstiftung im Kapitalismus? Nein, nicht so profan. Zugleich wird ja der gewichtige Mythos vom heimkehrenden Odysseus aufgerufen. Doch auch Zeilen aus einem unbedarften Popsong („Sheila“ von Tommy Roe) oder Western-Zitate fließen mit ein. Solche Jukebox-Anklänge kennt man von Handke gleichfalls.

Erst im Wald, dann in den Gaststätten

Der mitunter umständliche, bisweilen seherische und weihevolle Erzählduktus – oder: Fortgang – ist ein beständiger Wechsel zwischen „gehen, gehen, gehen“ (Zitat, Seite 102) und Innehalten. Daraus ergibt sich eine Chronik des Verirrens (Odyssee) und einer schweifenden Sehnsucht, die insbesondere in einem rätselhaft widersprüchlichen Wald-Erlebnis gipfelt. Schließlich, gegen Ende der Heimkehr-Woche, sucht Gregor allabendlich irgendwelche Gaststätten auf, in denen er unbedingt stets der „letzte Gast“ sein will. Dort findet er so etwas wie gutwillige Gemeinschaft vor, die ihn aber nicht behelligt.

Das zweite von drei Kapiteln heißt denn auch „Die Ballade vom letzten Gast“, das dritte (eine Art Essenz des Vorherigen) „Die Ballade des letzten Gastes“. Nanu! Erst gegen Schluss erfahren wir den Nachnamen der Hauptfigur: Gregor Werfer wird er genannt. Nochmals nanu! Über derlei Feinheiten mag man sich das Hirn zermartern – oder lieber die wohl wundersamste Episode des Buches inhalieren, wie sie so vielleicht nur Peter Handke beschreiben kann. Auf einem seiner einsamen Gänge in einem leeren Stadion pausierend, sieht Gregor einem selbstvergessen Fußball spielenden Mädchen zu – ein Inbild der stillen Zuversicht; nicht flüchtig, sondern auf Dauer und Tragweite angelegt.

Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“. Suhrkamp, 185 Seiten, 24 Euro.




Violinspiel wie von einem anderen Stern: Eine Woche mit der Geigerin Hilary Hahn im Konzerthaus Dortmund

Hilary Hahn durfte als „Curating Artist“ ihr eigenes Festival im Konzerthaus Dortmund gestalten. Eine Woche lang trat sie dort täglich auf, mit wechselndem Programm. (Foto: Petra Coddington)

Sie ist zweifache Mutter, dreifache Grammy-Preisträgerin, 43 Jahre alt und fraglos eine der besten Geigerinnen unserer Zeit. Die Amerikanerin Hilary Hahn erreicht in ihrem Violinspiel eine Perfektion wie von einem anderen Stern. Zugleich ist sie das Gegenteil einer hochglanzpolierten Künstlerin: Sie präsentiert sich nahbar und erstaunlich ungeschminkt. So auch im Konzerthaus Dortmund, wo sie als „Curating artist“ ihr eigenes Festival gestalten durfte: „Hilary Hahn & friends“.

Den Freibrief, den das Konzerthaus ihr für diese Woche ausstellte, nimmt sie als Gelegenheit, um mit Freunden zu musizieren und Neues auszuprobieren. Auch eine öffentliche Meisterklasse ist Teil des Programms. Bezeichnend, dass sie dafür nicht die besten Studierenden der umliegenden Musikhochschulen herausgepickt hat, sondern ganz normale Geigenschülerinnen- und -schüler aus Dortmund und Umgebung unterrichtet.

Der Weg ist das Ziel, sagt Hilary Hahn, und Wahrhaftigkeit wichtiger als Makellosigkeit. Mit voller Absicht präsentiert sie Stücke auf Instagram in unfertigem Zustand, zeigt sich selbst beim Üben, manchmal unfrisiert oder gar im Schlafanzug. Gerade Frauen sollten sich öfter trauen, weniger perfekt in der Öffentlichkeit aufzutreten, sagt sie beim eröffnenden Podiumsgespräch mit Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech – und erntet dafür spontanen Beifall.

Den eigentlichen Auftakt gestaltet sie einen Tag später, gemeinsam mit dem hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Andrés Orozco-Estrada. Tschaikowskys Violinkonzert wirkt unter ihren Händen wie mit klarem Wasser gereinigt. Wie nebenbei befreit Hilary Hahn das nahezu totgespielte Repertoirestück von angeberischen Gebärden, von süßlicher Gefühlsseligkeit und all den Schlieren des schlechten Geschmacks, mit denen man es häufig hört. Bei ihr erhält das Werk einen tänzerisch-biegsamen Charakter, grüßt zu Tschaikowskys großen Ballettmusiken hinüber.

Ihr Violinton ist nie aufgedonnert, suhlt sich nie in der Saite. Er bleibt stets fein, kann bestürzend verletzlich klingen, aber auch durchdringend kristallin. Das ist keinesfalls mädchenhaft, denn Hahn ist zugleich eine überragende Virtuosin, die Höchstschwierigkeiten mit voller Attacke in die Saiten meißelt. Die große Solo-Kadenz im Kopfsatz steht exemplarisch für ihre Deutung. Statt eine Bravourshow abzuziehen, wandelt sie auf dem schmalen Grat zwischen Verlorenheit und Rebellion.

Hilary Hahn bedankt sich beim hr-Sinfonieorchester. (Foto: Petra Coddington)

Auf die Beifallsstürme antwortet Hilary Hahn mit zwei Solo-Stücken von Bach. Das Andante aus der a-Moll-Sonate wird zu einer Sternstunde: in dieser Ruhe, in dieser Reinheit, in dieser Überlegenheit macht ihr das niemand nach.

Die seltene, aber klanglich reizvolle Kombination von Geige und Orgel probiert sie gemeinsam mit Iveta Apkalna aus. Grundpfeiler dieses Programms ist die berühmte Ciaconna aus der d-Moll-Partita für Solovioline von Johann Johann Sebastian Bach. Das Stück dreht sich um Tod und Auferstehung: Es besteht aus freien Variationen über einem Thema in der Bass-Stimme, das ununterbrochen wiederholt wird. Ein ständig um sich selbst kreisender Gedanke, den Bach 32 Mal variiert. Hilary Hahn durchmisst dieses Planetensystem zunächst allein, im traumwandlerischen Gleitflug. Danach lässt Iveta Apkalna die Majestät der mehr als 3565 Pfeifen der Konzerthausorgel aus dem Hause Klais erstrahlen.

Er war der „Joker“ von Hilary Hahn: Abel Selaocoe und das Bantu Ensemble. (Foto: Petra Coddington)

Wie unerschrocken Hilary Hahn über den Tellerrand schaut, zeigt das „Joker“-Konzert mit dem südafrikanischen Cellisten Abel Selaocoe und dem Bantu Ensemble als Überraschungsgästen. Sie wagt es, ein paar Töne zum Spiel dieser experimentell angehauchten Improvisationskünstler beizutragen, überlässt ihnen schließlich aber doch die Bühne.

Was folgt, gleicht einer Klangreise nach Afrika. Abel Selaocoe ist ein Künstler mit riesiger Bandbreite: Sprache, Gesang, Cellospiel, Schnalz- und Zungenlaute gehen bei ihm nahtlos ineinander über. Mit überbordender Energie animiert er das Publikum zum Mitmachen, heizt die Temperatur im Saal so lange an, bis alle stehen, tanzen, feiern. Schlagzeuger Dudù Kouaté zaubert mit afrikanischen Instrumenten die schönsten Stimmungen in den Saal.

Mit dem Kaleidoscope Chamber Collective, das der Londoner Wigmore Hall eng verbunden ist, unternimmt Hilary Hahn einen Streifzug durch die amerikanische Musik des 20. Jahrhunderts. Der Abend wird vom Publikum zu Recht gefeiert: Zu erleben ist spannende Kammermusik auf allerhöchstem Niveau. Jennifer Higdons „Dark Wood“ für Fagott, Violine, Violoncello und Klavier enthält köstlich groteske Elemente. Samuel Barbers Streichquartett op. 11, von dem fast alle nur den 2. Satz als „Adagio for strings“ kennen, erfährt endlich einmal eine Gesamtaufführung. Aaron Coplands „Appalachian spring“ Suite gleicht einem faszinierenden Kaleidoskop: Farben und Formen gruppieren sich immer neu, mit leuchtender Transparenz.

Das Kaleidoscope Chamber Collective und Hilary Hahn. (Foto: Petra Coddington)

Auch vor Live-Elektronik scheut Hilary Hahn nicht zurück. In Dortmund tritt sie als „Special Guest“ mit dem Cellisten Seth Parker Woods auf, der sein multimediales, halb-biographisches Programm „Difficult Grace“ hier in einer Variation präsentiert. Verschränkt mit einigen Solostücken von Bach kommt hier das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert zum Klingen: Werke von Coleridge-Taylor Perkinson, Giacinto Scelsi, Nathalie Joachim, Monty Adkins, Conrad Beck, Carlos Simon und Chinary Ung, natürlich auch das titelgebende Stück von Fredrick Gifford, in dem der Cellist zugleich Erzähler, Schauspieler und Sänger ist.

Zum Abschluss fegt ein Wirbelsturm aus Kolumbien durchs Haus. Dirigent Andrés Orozco-Estrada, mit dem Hilary Hahn besonders gerne musiziert, kehrt mit der Jungen Philharmonie seines Heimatlandes zurück, die Musikerinnen und Musiker zwischen 16 und 24 Jahren vereint. Gefördert von einer Stiftung, ist sie nicht nur ein wichtiges Bildungs- und Sozialprojekt, sondern ein künstlerisches Kollektiv, das durch Können und Kreativität besticht.

Das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy, das unter Hilary Hahns Händen funkelt und blitzt, kommt ihrem kristallinen Ton ganz besonders entgegen. Aber was die jungen Kolumbianer in Igor Strawinskys Musik zum Ballett „Petruschka“ treiben, ist abenteuerlich. Der Handlung des Balletts entsprechend, machen sie die Bühne zum Jahrmarkt: treten in fröhlich lärmenden Gruppen auf, spielen die Szenen nach wie Schauspieler, oft gleichzeitig musizierend.

Halbszenische Aufführung: Die Musikerinnen und Musiker der Jungen Philharmonie Kolumbiens spielen die Ballettmusik „Petruschka“ mit Masken und agieren wie Schauspieler. (Foto: Petra Coddington)

Es bekommt der Kunst bekanntlich nicht immer gut, wenn der Konzertsaal zum Zirkus wird. Aber diese Performance ist von Martin Buczko auf den Punkt genau durchchoreographiert. Sie wird musikalisch und darstellerisch so überzeugend präsentiert, dass jede Skepsis dem Hör- und Sehvergnügen weicht.

Da werden Geiger zu Marionetten und Hornisten zu Hanswursten, die sich den Trichter ihrer Instrumente auf den Kopf setzen, als seien es komische Hüte. Die Posaunisten heben ihre Instrumente in die Höhe, als wollten sie Ausrufezeichen setzen, und die Geiger schwenken ihre Bögen durch die Luft, als wollten sie nach etwas angeln. Am Kontrafagottisten ist glatt ein Pantomime verloren gegangen. Bunte Masken erheben die farbenreiche Musik vollends zum Fest.

Nach dem Schlusston herrscht Partystimmung, auf der Bühne und abseits davon. Sie setzt sich im Foyer fort: Einige Blechbläser und Schlagzeuger des Orchesters finden kein Ende, feiern zu den Klängen und Rhythmen Kolumbiens weiter. Und während einige noch an der Garderobe anstehen, tanzen andere schon ausgelassen mit.




Vom Pasta-Rezept zur Bellini-Oper und zurück

Im Entstehen begriffen: das erwähnte Pasta-Rezept mit Penne Rigate. (Foto: BB)

Zufälle gibt’s! Beispielsweise solche, die sich zwischen Kulinarik und Opernwelt begeben.

Der Reihe nach: Wir haben ein Rezept ausprobiert, es trägt den Titel „Sizilianische Pasta mit Ricotta und Auberginen (alla Norma)“ und soll hier selbstverständlich auch sogleich verlinkt werden. Damit niemand sagen kann, er/sie sei um den Genuss gebracht worden.

Ich will aber auf etwas anderes hinaus. Warum trägt das Gericht eigentlich die Zusatz-Bezeichnung „alla Norma“? Dazu verzeichnet Wikipedia zwei Erklärungsversuche. Der eine besagt, ein sizilianischer Koch sei vor Zeiten so begeistert gewesen, dass er die Pasta-Variation nach der Oper „Norma“ des ruhmreichen Komponisten Vincenzo Bellini benannt habe, der just in Catania (Sizilien) geboren wurde. Die zweite Version klingt weniger leidenschaftlich, sie bezieht sich auf den Ausdruck „una vera norma“ („eine echte/wirkliche Norm“), der die Beispielhaftigkeit allgemein feiert.

Zurück zu Bellini. Seine hochdramatische Belcanto-Oper umkreist jene gallische Druiden-Priesterin Norma und spielt zur römischen Besatzungszeit, rund 50 Jahre vor Christus. (Wer sich nebenbei an Asterix erinnert fühlen sollte, kann schwerlich daran gehindert werden). Norma lässt sich jedenfalls – sozusagen gegen jede gesellschaftliche Norm – mit dem römischen Prokonsul Pollione ein, also mit dem Feind ihres Volkes. Die beiden haben sogar zwei Kinder miteinander, die Norma versteckt hält. Als sich Pollione in die gallische Novizin Adalgisa verliebt, nimmt eine tödliche Tragödie ihren Lauf…

Ein aufwühlender Stoff, fürwahr, der sich in Arien sondergleichen ergießt. Auch und vor allem Maria Callas hat damit Erfolge gefeiert. Und doch musste ich, der ich mit Opern fremdele, ziemlich schmunzeln, als ich las, wer die Titelpartie bei der Uraufführung am 26. Dezember 1831 in der Mailänder Scala gesungen hat. Ob Zufall oder Fügung: Der Weg führt verbal zum eingangs erwähnten Rezept zurück, denn die Dame hieß Giuditta Pasta.

Jaja, ich weiß, keine Scherze mit Namen. Nennt mich albern. Ich kann es doch auch nicht ändern. Und damit Basta!




Fleisch und Geist: Dortmunder Festival „Klangvokal“ geht zurück zu den Anfängen der Oper

„Vox Luminis“ im Reinoldihaus Dortmund beim Festival „Klangvokal“. (Foto: Klangvokal)

Das Festival „Klangvokal“ in Dortmund pflegt über seinen Schwerpunkt im Mai/Juni hinaus eine Serie von Konzerten über das ganze Jahr hinweg. Letzter Höhepunkt war eine halbszenische Aufführung von Emilio de‘ Cavalieris „Rappresentatione di Anima, et di Corpo“. Damit geht das Musikfestival an den Anfang der Operngeschichte zurück.

De‘Cavalieri, ein hochgebildetes Multitalent, schrieb das allegorische Spiel im Jahr 1600 für die Bruderschaft des heiligen Filippo Neri in Rom. Jacopo Peri, der gemeinsam mit seinem römischen Kollegen mit seiner „Euridice“ am Ursprung der Oper steht, rühmt die „wundervolle Erfindungsgabe“ der Musik. In Dortmund sorgte das Ensemble „Vox Luminis“ mit einem vielfarbigen Instrumentarium nicht nur für beredte Rhythmen und variablen Klang, sondern vor allem für Transparenz, damit die kontrapunktischen Experimente, die sich über dem Generalbass erheben, deutlich zu verfolgen sind.

Cavalieris Spiel über den alten Gegensatz von Fleisch und Geist ist eindeutig für eine szenische Aufführung gedacht, denn die ersten Ausgaben enthalten Bühnenanweisungen. Kein Oratorium also, sondern eine in Szenen gegossene theologische Philosophie, geschrieben von Agostino Manni, einem Juristen, Schriftsteller und Biographen Filippo Neris. Die flüchtige Zeit – der Tenor Raffaele Giordani – äußert sich zuerst, dazu schlägt die Harfe (Sarah Ridy) eine tiefe Saite an wie den Glockenschlag einer Uhr. Der Theologe Anselm von Canterbury und der große Augustinus lassen grüßen, wenn der Verstand nach dem unstillbaren gierigen Verlangen fragt und eigentlich schon die Antwort des ganzen geistlichen Dramas vorwegnimmt: Zu erstreben ist das höchste Gut, das jedes andere Gut in sich einschließt – und das ist im christlichen Horizont des Stücks die Gemeinschaft mit Gott, die alles Sehnen stillt. André Peréz Muíño reflektiert diese existenziellen Fragen mit präsentem, brillant gebildetem Tenor.

Aber zuvor haben Körper und Geist ihren Weg der Erkenntnis zurückzulegen. Der führt über die Einsicht, dass Genuss den brennenden Durst des Menschen nur verstärkt und die Seele in sich selbst keine Befriedigung auf Dauer  erreichen kann. Giordani und seine Seelen-Partnerin – Sophia Faltas mit dem in der „alten“ Musik üblichen flach-schneidenden, vibratolosen Ton – formulieren diesen Disput sehr wort- und bedeutungsorientiert. Spannend im Sinne einer christlichen Auffassung ist, dass der Körper am Ende des ersten Aktes keinem Dualismus das Wort redet, sondern gemeinsam mit der Seele die Liebe, den Himmel, das ewige Leben und Gott, den Herrn suchen will.

Heiterkeit und Harmonie des Paradieses

Die Hindernisse, die es zu bewältigen gilt, formulieren zunächst der Counter Jan Kullmann als „Piacere“ mit seinen Begleitern Roberto Rilievi und Guglielmo Buonsanti in einem rhythmisch ausgelassenem Terzett, das in polyphoner Wirrnis endet. Das Vergnügen kann mit seiner irdischen Genuss-Botschaft nicht überzeugen. Geschliffenere Waffen zücken dann die Welt und das irdische Leben (scharf und kokett: Estelle Lefort), aber sie werden entlarvt und erweisen sich unter ihrer Verkleidung als todesträchtig. Ein Schutzengel (nicht ohne Mühe: Victoria Cassano) bestärkt die beiden Wanderer durch die Untiefen der Versuchung. Das lyrische Lamento des Körpers („Non so s’è stato bene“) und die folgende Echo-Arie der Seele sind Höhepunkte der Komposition de’Cavalieris.

Im dritten Akt erweitert sich dann der Horizont: Unter kräftiger Anteilnahme des „Guten Rats“ (Massimo Lombardi bringt eine neue Farbe ins Spiel, könnte aber die Stimme sorgfältiger kontrollieren) zeugen auch die seligen und die verdammten Seelen vom ewigen Tod und ewigem Leben (Zsuzsi Tóth und Lóránt Najbauer), bevor in einem finalen „Fest“ der Chor Heiterkeit und Harmonie des Paradieses besingen, wobei der Tenor Olivier Berten und vor allem der Altus Korneel van Neste wohlklingende, technisch befriedigende Stimmen erklingen lassen.

Die geschmückte Erde als Abbild des Himmels ist das in kraftvollen Farben gemalte musikalische Schlussbild, und sicherlich hat Emilio de‘ Cavalieri nichts gegen die Aufforderung an die „himmlischen Hierarchien“ gehabt, „neue Melodien“ zu machen. „Vox Luminis“ jedenfalls, unter der diskreten Leitung des Bassisten Lionel Meunier hat mit seiner beherzten Spielweise, seinem farbigen Instrumentarium, auch den durchaus unterhaltsamen Intermezzi und seiner Sensibilität für das gesungene Wort einen brillanten Beitrag geleistet, ein Stückchen Himmel auf dieser Erde erscheinen zu lassen.

Weiter geht’s am 10. November

Am Freitag, 10. November, setzt das Festival „Klangvokal“ die Reihe seiner Konzerte fort: Im Reinoldihaus Dortmund gestalten um 19.30 Uhr die Tenöre Emiliano Gonzalez Toro und Anders Dahlin zusammen mit dem Ensemble Gemelli Vokalmusik des italienischen Frühbarock und machen dabei auch auf unbekannte Komponisten wie Vincenzo Calestani oder Francesco Turini aufmerksam. Das Naghash Ensemble folgt am Freitag, 1. Dezember (19.30 Uhr) an gleicher Stelle mit Musik aus Armenien.

Tickets und Infos: www.klangvokal.de, Ticket-Hotline (01806) 57 00 70.    

 




„Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin“: 100 Jahre Rundfunk als Massenmedium

Aus frühen Radiozeiten: historische Rundfunkempfänger im Radiomuseum Hans Necker zu Bad Laasphe. (Aufnahme von 2007: Bernd Berke)

Am 29. Oktober 1923 beginnt die Geschichte des Rundfunks als Massenmedium in Deutschland. Auf „Welle 400 Meter“ ist der Sprecher Friedrich Georg Knöpfke zu hören, wie er mit getragenem Pathos „Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin, im Vox Haus“ ansagt. In Nordrhein-Westfalen und dem besetzten Ruhrgebiet startet die Radiogeschichte jedoch erst ein Jahr später.

An jenem Oktobertag, Punkt acht Uhr abends, teilt der Direktor der „Funkstunde Berlin“ den 253 Personen, die bereits eine Hör-Lizenz besaßen, mit, „dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt. Die Benutzung ist genehmigungspflichtig. Als erste Nummer bringen wir: Cellosolo mit Klavierbegleitung, Andantino von Kreisler, gespielt von Herrn Kapellmeister Otto Urack, am Flügel Herr Fritz Goldschmidt.“

An diese erste Sendung erinnert sich Otto Urack in einem dreißig Jahre später entstandenen Interview: „… am Tag vorher hatten wir schon ein Programm zusammengestellt von einer Stunde und dieses Programm wurde am 29. Oktober vormittags nach dem Abgeordnetenhaus probeweise übertragen. Nach Ende des Konzert habe Hans Bredow, damals Staatssekretär für das Telegraphen-, Fernsprech- und Funkwesen im Reichspostministerium, angerufen: „Kinder, das hat gut geklungen, wir fangen an.“ Urack erinnert sich: „Als wir uns erkundigten, wann wir anfangen sollten, sagte er: Heute Abend.“

Anregung für ein „freudloses Volk“

Bredow erkennt weitsichtig, dass sich der „Rund-Funk“ für jedermann als neues Massenmedium eignet. Vorher hatte es nach ersten militärischen Experimenten ab 1920 die Ausstrahlung von Wirtschaftsnachrichten für Banken und von aktuellen Mitteilungen für Journalisten und Presseorgane gegeben. Bredow umreißt die Aufgabe der neuen technischen Möglichkeit, Worte und Musik zu übertragen: Der Rundfunk solle einem „freudlosen Volk“ Anregung und Freude bringen, es durch künstlerisch und geistig hochstehende Vorträge aller Art unterhalten. Er sollte mit seinen Sendungen der geistigen Verarmung der Bevölkerung entgegenwirken, für Erholung und Zerstreuung sorgen und die Arbeitsfreude steigern.

Der erste Käufer einer Lizenz ist der Berliner Zigarettenhändler Wilhelm Kollhoff. Nur mit der Hörgenehmigung kann er sich einen Radioapparat bei Telefunken bestellen. Aber schon ein halbes Jahr nach dem Start des Rundfunks überschreitet die Zuhörerzahl der Funk-Stunde die Marke von 100.000. Schnell gründen sich weitere Rundfunkanstalten: Noch 1923 der Südwestdeutsche Rundfunkdienst in Frankfurt (SWR), 1924 der Mitteldeutsche Rundfunk in Leipzig, die Deutsche Stunde in Bayern in München, die Nordische Rundfunk AG (Norag) in Hamburg und in Bremen. Da im besetzten Ruhrgebiet kein Sender eingerichtet werden darf, sendet die Westdeutsche Funkstunde AG (WEFAG) ab 10. Oktober 1924 aus Münster. Erst 1925 werden die „Nebensender“ Dortmund und Elberfeld eingerichtet; der Münsteraner Sender ein gutes Jahr später nach Köln verlegt. Die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft in Berlin fasst 1925 die regionalen Sender unter einem Dach zusammen. Da war die Zahl der Rundfunkteilnehmer schon auf über eine Million angestiegen.

Fußball live im Radio

Das Interesse an der technischen Neuentwicklung ist gewaltig. Noch 1924 findet in Hamburg die erste Funkausstellung statt. 1925 strahlt der Nordische Rundfunk mir Richard Hughes‘ „Gefahr“ das erste Hörspiel in Europa aus. Am 1. November kommentiert Bernhard Ernst erstmals live ein Fußballspiel im Radio – eine Begegnung von Preußen Münster und Arminia Bielefeld; im folgenden Jahr schon gibt es die erste Live-Übertragung eines Länderspiels (Deutschland – Niederlande) aus Düsseldorf. 1927 ordnet die Internationale Weltfunkkonferenz in Washington Frequenzen und Wellenbereiche weltweit.

Eine Sendung aus den Pioniertagen des Rundfunks hat bis heute überlebt: Mehr als 3.500 Mal war seit 9. Juni 1929 das Hamburger Hafenkonzert zu hören, das am Sonntagmorgen ausgestrahlt wird. In dieser Zeit werden Sendeanlagen in ganz Deutschland ausgebaut, auch die Radiogeräte entwickeln sich stürmisch weiter. Der Röhrenempfänger mit Lautsprecher erobert den Markt. Die Nationalsozialisten erkennen den Nutzen des Rundfunks für propagandistische Zwecke. Die selbständigen Rundfunkgesellschaften werden aufgelöst.

Joseph Goebbels sieht in dem Medium „das aller modernste und … aller wichtigste Massenbeeinflussungsinstrument, das es überhaupt gibt“. Der „Volksempfänger“ sollte den Rundfunk weiter popularisieren. Führerreden werden übertragen, Kriegsberichtserstattung nimmt breiten Raum ein. Die pathetische Hymne aus Franz Liszts „Les Préludes“ ist bis heute vergiftet durch den Missbrauch als Ankündigung für Sondermeldungen von der Front.

„Radio Hamburg“ und der WDR

Nach dem Krieg bauen die Alliierten den Rundfunk schnell wieder auf. Schon am Tag der Besetzung Hamburgs, am 4. Mai 1945, beginnt „Radio Hamburg“ mit dem Sendebetrieb im unzerstörten Funkhaus unter der Aufsicht britischer Offiziere. Im Herbst 1945 wird in allen Zonen ein Vollprogramm ausgestrahlt. In der Sowjetzone entstand aus dem „Berliner Rundfunk“ der künftige, staatlich gelenkte Rundfunk der DDR mit fünf Programmen. Im Westen entwickeln die Briten mit dem am 1.  Mai 1948 lizenzierten Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) die spätere Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit einem Verwaltungsrat, bestehend aus Vertretern aller gesellschaftlichen Gruppen, als Kontrollgremium.

Die neu entstandenen Landesrundfunkanstalten schließen sich 1950 zur ARD zusammen. Am 25. Dezember 1952 fällt nach zwei Versuchsjahren der Startschuss für ein reguläres Fernsehprogramm. Die erste „Tagesschau“ einen Tag später können nur 1000 Haushalte empfangen. Am 1. Januar 1956 entstehen aus dem NWDR die beiden selbständigen Rundfunkanstalten NDR und WDR mit seinem Hauptsitz in Köln.

_______________________________________________

Die „Geburtstagssendung“ des WDR: https://www1.wdr.de/radio/wdr3/thementag-hundert-jahre-radio-102.html?wt_mc=mail.wdr.newsletter.Happy+Birthday%2C+liebes+Radio.link

Im Technoseum Mannheim ist noch bis 12. November 2023 die Sonderausstellung „Auf Empfang! Die Geschichte von Radio und Fernsehen“ zu sehen: https://www.technoseum.de

In Königs Wusterhausen bei Berlin erinnert das Museum Funkerberg u.a. an die Sendestelle, von der 1920 das erste Rundfunkkonzert ausgestrahlt wurde: https://museum.funkerberg.de/

Historische Rundfunksendungen sind u.a. hörbar auf https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/

 




Arbeitsschweiß und Maschinenrhythmus: „Stahlkocher“ als Thema eines Konzerts in Dortmund

Die Torte trägt einen Smoking, ist eingehüllt in Noten und fußt auf einer Klaviertastatur. Damit es endlich weitergeht, betätigt sich Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz ausnahmsweise destruktiv. Messer her, energische Schnitte, und schon landen die ersten saftigen Schokoladenkuchenstücke auf den Tellern.

Dortmunds GMD Gabriel Feltz schneidet seine Torte an. (Foto: Werner Häußner)

Das Produkt der Konditorenkunst gilt der Hommage an eine ansonsten durch und durch aufbauende Persönlichkeit: Gabriel Feltz feiert nach dem Zweiten Philharmonischen Konzert der Dortmunder Philharmoniker sein zehnjähriges Dienstjubiläum in der Stadt.

Da wird viel Harmonie bekundet: Oberbürgermeister Thomas Westphal, Theaterdirektor Tobias Ehinger und Orchestervorstand Hauke Hack singen Hymnen auf den rührigen GMD, heben Ideenreichtum, Innovationskraft, Energie und Fleiß hervor, lassen mit launigen Bonmots auch mal schmunzeln. Feltz dankt, bekundet seine Verbundenheit mit Dortmund und verteilt dann entschlossen das süße Präsent.

Künstlerisch hat das Philharmonische Konzert das Lob mit einem so originellen wie hochkarätig dargebotenen Programm unterfüttert. Einer der glückhaften Abende mit Feltz, von dem – der Kritiker hat die undankbare Aufgabe solcher Hinweise – es auch schon andere zu erleben gab. Ein Abend unter dem Motto „Stahlkocher“, denn diese Saison widmet das Orchester seiner Heimatregion, dem Ruhrgebiet. Die programmatischen Linien ziehen sich von unter Tage über Fußball, Flora und Fauna bis zum Tanz und mit der Taubenzucht auch hinauf in den früher gar nicht so blauen Himmel über der Ruhr.

Ein T-Shirt zum Jubiläum. (Foto: Sophia Hegewald)

Mit unbekannten Werken lassen die Philharmoniker also noch einmal die vergangene Landschaft der Schwerindustrie künstlerisch greifbar werden. Dass die Welt der Industriearbeit im Sozialismus zumindest dem Anspruch nach einen zentralen Schwerpunkt bildete, hat sich auch im musikalischen Schaffen niedergeschlagen. „In der Eisengießerei“ ist ein dreiminütiges Stück des in großen Musiklexika nicht auffindbaren Alexander Mossolow (1900-1973), das diesen Blickwinkel beispielhaft repräsentiert.

Mossolow, vor seiner Verurteilung als „Konterrevolutionär“ ein musikalischer Avantgardist, lässt das Orchester unter Missachtung herkömmlicher Regeln den Geräuschpegel einer Fabrik erzeugen: Lärmcluster, rhythmisches Stampfen, das regelmäßige Quietschen irgendeines mechanischen Teils, dumpfe und grelle Schläge – und dazwischen dürfen vier Hörner mit vollem Schalldruck Signale gellen lassen, bevor mit Gong und Knall die Maschinerie zum Stillstand kommt. Naturalistischer geht’s nimmer, und man fragt sich, was wohl geworden wäre, hätten Bert Brecht und Kurt Weill ihre von konservativen Kreisen in Essen hintertriebene „Ruhr-Oper“ tatsächlich geschrieben – oder Mossolow sein Ballett „Stahl“, das bis auf diesen Satz über die Fabrik unausgeführt blieb.

Mossolow hat noch andere solcher Werke wie „Die Traktorenbrigade fährt in die Kolchose ein“ hinterlassen; viele sind verschollen, fast alle wissenschaftlich unbearbeitet, aber die drei Minuten wecken Lust, zum Beispiel einmal eine seiner Sinfonien zu hören, die wohl einen wunderlichen Kontrast zu seinem Zeitgenossen Dmitri Schostakowitsch bilden würden. Denn Mossolow unterwarf sich später dem Diktat der sowjetischen Kunstdoktrin, um unauffällig sein Leben zu führen.

Das andere in den thematischen Rahmen passende Werk ist Sergej Prokofjews „Der stählerne Schritt“ op. 41, ein unverkennbares Propagandawerk, das nach Folklore-Fetzen, schrägem Pathos und verfremdetem Mussorgsky in eine hochvirtuos stilisierte Stahlfabrik führt, wo der neue „heroische“ Sowjetmensch in Richtung Kommunismus unterwegs ist. Dass die Entfremdung nicht aufgehoben ist, macht Prokofjews Musik – bewusst oder nicht – aber auch deutlich. Unter dem brutalen Stampfen des Rhythmus, dem Takt von Maschinen dem schrillen Kreischen unerkannt bleibender technischer Vorgänge droht das Individuum unterzugehen.

Vielleicht ist diese Lesart zu spekulativ: Aber Prokofjew sträubt sich dagegen. Er lässt immer wieder Soli durch die Kulisse des Lärmens brechen; zwei Fagotte haben viel zu tun, die anderen Holzbläser treten auf einmal mit einer Kantilene hervor und der Klang verschiebt sich immer wieder in neuen Instrumentenkombinationen. Die Dortmunder lassen keinen Arbeitsschweiß auf ihre Stirnen treten. Sie sind in jedem Moment souverän und reaktionsschnell bei der Sache, und Feltz plustert die dissonanten Blechbläser nicht auf, sondern strukturiert den Maschinenlärm, der weit stilisierter und „abstrakter“ gefasst ist als bei Mossolow.

Das ist eine der deutschen „Pacifics“ der Baureihe 01, wie sie Arthur Honegger musikalisch porträtiert hat. Solche Lokomotiven waren bis in die sechziger Jahre auch in Dortmund in großer Zahl anzutreffen. (Foto: Archiv Häußner)

Ein dritter Aspekt der Industrialisierung beschließt das Konzert. Arthur Honegger, wie übrigens auch Antonín Dvořák ein bekennender Eisenbahnfan, lässt in seinem Klanggemälde „Pacific 2.3.1.“ die Arbeitsgeräusche einer Schnellzug-Dampflokomotive zu einem raffinierten Musikerlebnis werden. Auch für dieses Stück kann man einen Dortmund-Bezug reklamieren: „231“ sagt in angelsächsischen Ländern etwas über Anzahl und Anordnung der Achsen einer Lokomotive. In Deutschland waren etwa die ab 1925 gebauten Dampfloks der Baureihe 01 solche „Pacifics“, und in Dortmund war bis zum Ende der Dampfzeit in den sechziger Jahren eine erhebliche Anzahl dieser Maschinen stationiert.

Das Orchester  bringt Honeggers beschreibende Musik mit Glanz und Verve zum Klingen, aber Feltz lässt sie nicht klangmalerisch schnaufen und pulsieren wie etwa Rossini in seinem köstlich-ironischen „Vergnügungszug“. Vielmehr stellt er heraus, dass Honegger eine gewitzte analytische Studie über Bewegung, Metrum und Rhythmus geschaffen hat.

Den Kontrast zu all diesen Reminiszenzen an das Industriezeitalter bildet Sergej Rachmaninows beliebtes c-Moll-Klavierkonzert op. 18, das Herz des Abends. Nikolai Lugansky hat am Anfang nicht die Entschiedenheit, den Flügel aus der Deckung des Orchesters treten zu lassen, aber die Balance findet sich rasch. Die dunkel timbrierten Streicher des Beginns münden in eine wirkungsvolle Steigerung, und dann findet der Pianist zu schwebenden Klängen, aparten Rückungen und Varianten im Tempo.

Der dritte Satz, ein „allegro scherzando“, gelingt konturenscharf, kraftvoll zupackend, aber nicht dröhnend. Brillanten Schritts geht es in Richtung Finale, es herrscht die Lust am saftigen Musizieren, das auch vor Pathos nicht zurückscheut. Rachmaninow als Gegenwelt – lassen da nicht die grünen Eilande des Ruhrgebiets grüßen, in die Denkmäler der Industrie als neue Orte einer Romantik ragen, die unseren schaffenden Vorfahren unwirklich vorgekommen wäre?

Das nächste Philharmonische Konzert, diesmal mit Christoph Altstaedt als Dirigent, trägt den Titel „Taubenzüchter“ und präsentiert Antonín Dvořáks „Die Waldtaube“, seine 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ und das farbig-sinnliche Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds mit Anna Tifu als Solistin. Termin: 14./15. November, jeweils 19.30 Uhr im Konzerthaus Dortmund. Tickets: www.theaterdo.de, Tel.: (0231) 50 27 222.




Wie es im Revier gewesen ist – Fotografien von Helmut Orwat

Taubenzüchter im Sonntagsanzug, Castrop-Rauxel, 1967. (Foto: Helmut Orwat)

Helmut Orwat war stets nah dran. Nah am Alltag und den Menschen im Ruhrgebiet, speziell in und um Castrop-Rauxel. Seit 1960 arbeitete er als freier Fotograf für diverse Zeitungen und Zeitschriften, von 1984 bis 2000 war er bei den Ruhrnachrichten festangestellt. Rund 150 ausgewählte Fotografien sind im LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg zu sehen.

Der Ausstellungstitel „Täglich Bilder fürs Revier“ lässt etwas von der Eile ahnen, mit der Orwat meist zu Werke ging. Aktuelle Geschehnisse mussten eben sofort festgehalten werden, und zwar unter härteren Bedingungen als heute, wo digitale Kamera- und Nachbearbeitungs-Technik die Sache doch deutlich erleichtert. Dennoch (oder gerade deshalb, weil eben noch viel mehr echte Handarbeit darin steckt) haben seine Bilder die Jahrzehnte überdauert und legen nun gültiges Zeugnis ab vom Ruhrgebiet, wie es einmal gewesen ist. Manche Besucher werden sich wehmütig erinnern.

Kernkraftwerk in Hamm-Uentrop, 1980. (Foto: Helmut Orwat)

Die besten Fotos haben gleichsam eine „Seele“, man merkt ihnen die Freude des Herstellens an. Ganz klar: Solche kontraststarken Ansichten müssen schwarzweiß sein, jede Kolorierung täte ihnen Gewalt an. Vorbilder Orwats waren Fotografie-Größen wie Chargesheimer und Otto Steinert, die sich gleichfalls im Revier umgetan hatten.

Die Auswahl ist in Kapitel gegliedert, zum Beispiel: Industrie und Landschaft, Kanal und Schifffahrt, Beruf und Arbeit, Stadt und Verkehr, Familie und Freizeit. Die Aufnahmen vergegenwärtigen inzwischen verblasste, typische Merkmale des Ruhrgebiets und seiner Menschen, zunächst vor allem im Umkreis des Bergbaus – nicht nur in den Zechen selbst, sondern etwa auch am Straßenrand, wenn haufenweise Kohle geliefert wurde und nun in den Keller geschaufelt werden sollte. Auch sieht man prominente Besucher der Castroper Zeche Erin mit kohleschwarzen Gesichtern als kalkuliertes Signal für „Volksnähe“: den früheren Bundespräsidenten Walter Scheel (1975) oder den damaligen CSU-Chef Franz Josef Strauß (1980).

Feuerlöschübung mit Ordensschwestern des St. Rochus-Hospitals, Castrop-Rauxel, 1972. (Foto: Orwat)

Vor allem aber hat Orwat die „ganz normalen“ Bewohner des Reviers in den Blick genommen. Die Camper am Dortmund-Ems-Kanal, den Taubenzüchter, die Frau von der Trinkhalle, den Klüngelskerl, Frauen in der Bochumer Opel-Montage, die Jury des Kleingartenwettbewerbs – und immer wieder spielende Kinder, ein Motiv-Genre, für das Helmut Orwat einen besonderen Blick hatte. Bemerkenswert auch die Fotos von einer Modenschau bei Hertie in Castrop oder vom Castroper Pferderennen und seinem Publikum. Da zeigt sich überdeutlich: Das einstige Revier war beileibe weder Paris noch Ascot, doch auch hier konnte man die karge Freizeit genießen, wenngleich längst nicht so edel stilisiert. Dafür aber ohne Dünkel.

Montagestraße Opel Kadett, Opel Werk I, Bochum, 1963. (Foto: Helmut Orwat)

Orwat, 1938 als Bergmannssohn in Castrop-Rauxel geboren, erfasste imposante, zuweilen auch beängstigende Industrielandschaften, zeichnete dann aber auch den Niedergang der alten Industrien nach. Die Folgen werden fassbar, wenn Arbeiter gegen Schließungen demonstrieren und Orwat ihre letztlich vergebliche Entschlossenheit zu zeigen vermag. Als schon etliche Zechen dicht waren, bekam er Götz George vor die Linse: 1981 als „Schimanski“ beim Dreh zum Duisburger „Tatort“. Es war ein bedeutsamer zeitlicher Schnittpunkt: Die Industrie war im Schwinden begriffen, eine Figur wie Schimanski trug jetzt zur Legendenbildung bei.

Das nahende Ende des früheren Reviers zeigt sich bereits in Aufnahmen wie jener des sterilen City-Centers Herne (1975) mit seiner ganz und gar nicht mehr regionaltypischen Anmutung. Das war keine wirkliche Alternative zum schmutzigen Hinterhof der alten Zeiten. Überhaupt dokumentierte Orwat einige brutale „Bausünden“ im Ruhrgebiet. Noch betrüblicher: Sein Beruf brachte es mit sich, auch Unglücke ablichten zu müssen. Das Auto, das aus dem Kanal geborgen werden musste, den explodierten Tanklaster, den Trauerzug nach einem Grubenunglück.

Helmut Ornat: Selbstporträt mit Leica-Kamera im Jahr 1965.

Leute wie Helmut Orwat gibt es nicht mehr. Tageszeitungen leisten sich kaum noch ambitionierte Fotografie. Statt dessen zücken häufig die Texter ihre Handys. Mit entsprechend dürftigen Ergebnissen.

„Täglich Bilder fürs Revier“. Pressefotografien von Helmut Orwat 1960-1992. Waltrop, LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg (Hafengebäude). Noch bis 4. Februar 2024. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Begleitender Bildband mit 150 Aufnahmen im Tecklenborg Verlag, 200 Seiten, 19,80 Euro.

Das LWL-Medienzentrum für Westfalen hat das fotografische Lebenswerk von Helmut Ornat übernommen. Eine Auswahl von über 3000 Motiven wurde digitalisiert und kann online recherchiert werden unter:

www.orwat-fotosammlung.lwl.org

___________________________________________________

Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel erschienen: 

www.westfalenspiegel.de




Lecken, schmecken, lispeln, lallen: Fast alles über die Zunge

Florian Werner knöpft sich die kulturgeschichtlichen Themen vor, wie sie ihm beikommen. Zuletzt hatte er sich mit allerlei Fährnissen rund um die Raststätte befasst, es wurde an dieser Stelle gewürdigt. Nun ist ein ganz spezieller Körperteil an der Reihe: die Zunge, also das eigenwillig schlüpfrige Ding in der Mundhöhle, das manchmal so keck hervorkommt.

Schnell wird klar, wie fleißig der Autor Materialien gesammelt hat. Nahezu jede denkbare (zumindest deutschsprachige) Redensart mit Zungenbezug wird zitiert und aufs pralle Leben bezogen. Da kommt einiges zusammen. Derlei Bücher tendieren überhaupt dazu, die ganze Welt auf ihr Thema zu fokussieren. Dem Zungen-Autor ist irgendwann alles Zunge. Und so heißt es auch hier: bloß nichts vergessen, bloß nichts auslassen, keinen Gag verschenken. So wird die Phänomenologie der Zunge um und um gewendet. Beim Ameisenbär ist sie übrigens rund 60 Zentimeter lang, die Giraffe bringt’s auf 50 Zentimeter. Nur mal fürs Protokoll.

Provokation und Sexualität

Was kann die Zunge nicht alles sein und vollführen – von frühauf: gemeinsam mit den Lippen an der Mutterbrust saugen. Aber sie ist auch körperpolitisch aktiv. Vor allem seit den 1960er Jahren gerät sie zum immer offensiveren Zeichen der Provokation, sofern frech rausgestreckt (man denke ans berühmte Stones-Cover und dergleichen Ikonen); ein höchst bewegliches Organ, schleimig und zuweilen etwas eklig. Sodann die sexuelle Konnotation beim Lecken und Gelecktwerden. Mit den Geschlechtsteilen hört die Leckerei ja noch lange nicht auf, das weite Feld wird von A bis Z (Klartext: Arschlecken bis Zungenkuss) durchbuchstabiert. Feinsinnige Unterscheidung: Kommt die Zunge aus dem Mund und wölbt sich nach oben, so darf die Mimik als lasziv gelten (das walte Mick Jagger), richtet sie sich nach unten, so wird es schnell beleidigend. Bäh!

Beileibe nicht jedes Lecken ist erotisch, es kommt auch in biederen Bereichen vor. Vordem wurden zumeist auch Briefmarken rückseitig geleckt, heute gibt’s überwiegend selbstklebende Postwertzeichen. Da deutet sich wohl ein Wandel zu mehr Sterilität und Hygiene an. Auch so eine Zeitsignatur.

Belege quer durch die Kulturgeschichte

Sodann die Feinheiten der Geschmackswahrnehmung (Nebenaspekt: Abwertung des Süßen, nicht erst seit Özdemir und Lauterbach) und der Sprachlichkeit, deren Artikulation wesentlich von der Zunge erzeugt wird – bis hin zum Lispeln und Lallen. Linguistik kommt vom romanischen Wortstamm für Zunge. Schließlich der verzückt-religiöse und esoterische Aspekt („In Zungen reden“), Teufel und Schlange mit ihren gespaltenen Zungen. Kurzum: Man denke sich irgend etwas Zungenhaftes aus, es wird mit ziemlicher Sicherheit in diesem Buch auftauchen.

Von biblischen und antiken Mythen über die Philosophie (Kant etc.) bis zu Kunst, Kino und Pop-Videos reicht das Spektrum der Beleg- und Beleck-Stücke. Haha, auf diesen halbgaren Gag mochte ich jetzt auch nicht verzichten. Die jeweilige Deutung bewerkstelligt Florian Werner vielfach inspiriert, zumindest aber mit Geschick und Routine. Er hat den nötigen Horizont. Dennoch erschöpft sich das Repertoire irgendwann. Das Buch hätte nicht viel umfangreicher werden sollen.

Als Agassi Boris Beckers Gedanken las

Der Verfasser bringt unterwegs einige hübsche Anekdoten unter, so auch jene, nach der der US-Tennisstar (und nachmalige Ehemann von Steffi Graf) Andre Agassi häufig gegen Boris Becker gewinnen konnte, weil er geahnt hat, wohin Boris schlagen würde. Warum? Weil er Beckers Zunge beobachtete. Sie zeigte die Richtung des Balles vorab an. Agassi konnte sich das Grinsen kaum verkneifen, als er belauschte, wie Becker nebenan der Weltpresse sagte, dieser amerikanische Gegner könne wohl seine Gedanken lesen…

Gegen Ende die multiple Horrorvorstellung: Variationen auf abgeschnittene Zungen. Abgründe brutaler Herrschaftsausübung, vor allem in kolonialistischen Zusammenhängen oder im schwerkriminellen Milieu. Da geht’s beispielsweise um die „Kolumbianische Krawatte“ (die ich hier nicht näher erläutern mag) sowie einschlägige Fundstellen von Ovid über Shakespeare und Houellebecq bis hin zur Netflix-Serie „Breaking Bad“. Am Ende glimmt, trotz viehischer Gewalttaten, so etwas wie vage Hoffnung auf. Werden auch einzelne Zungen verletzt und zerfetzt, so werden sie niemals alle zum Schweigen gebracht.

Florian Werner: „Die Zunge. Ein Portrait“. Hanser Berlin, 216 Seiten, 24 Euro.




Entwaffnend: Platons „Apologie des Sokrates“, neu übersetzt

Sonderlich geschickt war es eigentlich nicht, was Sokrates da angerichtet hat. Er hat allerlei Fachleuten in Athen, die sich für ungemein wissend hielten, glasklar vorgeführt, dass sie im Grunde nichts wussten – und damit natürlich mancherlei Eitelkeiten verletzt.

Eigentlich kein Wunder, dass sich viele dieser Kleingeister gegen den umtriebig umher ziehenden und disputierenden Philosophen verbündet haben, Anklage gegen den angeblichen Verderber der Jugend erhoben und schließlich gegen ihn die Todesstrafe durch den berühmt-berüchtigten Schierlingsbecher erwirkten. Dabei war es keine hochfahrende Arroganz, die Sokrates antrieb; auch er selbst wusste von sich, dass er (nahezu) nichts wusste. Nur vielleicht ein klein wenig mehr als seine Gegner.

Vor dem erwähnten Todesurteil durfte Sokrates eine öffentliche Verteidigungsrede halten, seine Apologie. Platon hat sie bekanntlich aufgezeichnet und für alle kommenden Zeiten festgehalten. Und Kurt Steinmann hat sie für die vorliegende Ausgabe neu übersetzt. Flüssig, aber doch nicht gar zu eingängig. Da sagt schon mal jemand schlichtweg „Ja, klar.“ Warum auch nicht? Es mag salopp klingen, ist aber passend, bezeichnen die zwei Wörtchen doch den hilflosen Duktus des größten Sokrates-Feindes, der halt nicht wortmächtig, sondern einfältig und beschränkt ist. Überdies dürften auch die schlaueren alten Griechen nicht ständig auf sprachlich hohem Kothurn einher gestakst sein.

Gar manches andere kommt entwaffnend einfach daher. So entwaffnend wie Sokrates‘ Logik, mit der er in der Apologie den Unsinn seiner Widersacher vorführt. Doch so klug und fintenreich er auch argumentiert, die Mehrheit der 500 ausgelosten Laienrichter ist nun einmal gegen ihn und lässt sich nicht umstimmen. Immerhin konnte er einige auf seine Seite ziehen: 280 „Männer Athens“ (wie Sokrates sie anspricht) plädierten für schuldig, 220 dagegen.

Es ist sonderbar bewegend, durch einen (letztlich auch subjektiv zugerichteten) Text Kunde zu erhalten von einem Prozess, der vor rund 2400 Jahren stattgefunden hat. Da fühlen wir uns dem Geschehen ganz nah, ja, wir sehen es womöglich geradezu filmisch vor uns ablaufen wie eines der großen Gerichtsdramen des Kinos.

Übrigens sind es – genau genommen – drei Reden, die Sokrates gehalten hat; eine Hauptansprache vor dem Urteil, eine nach dem Schuldspruch und schließlich letzte Worte nach Bestimmung des maximalen Strafmaßes. Sokrates ist, Platon zufolge, wahrhaft aufrecht in den Tod gegangen. Das Sterben erschien ihm nicht als finales Übel, sondern als Sphäre des Durchgangs. Und das unbeirrte Einstehen für die Wahrheit war ihm wichtiger als das bloße Überleben.

Dass und wie sehr Platons „Apologie des Sokrates“ zu den ewigen Klassikern und sozusagen zu den Gründungstexten Europas gehört, wird spätestens durch den Anhang des Bandes deutlich. Hier werden erlauchte Geister der letzten Jahrhunderte zitiert, die sich auf die sokratische Denk- und Redeweise bezogen haben – von Cicero bis Dante, von Montaigne bis Lessing und Goethe, von Hegel, Schopenhauer und Nietzsche bis Walter Benjamin und Elias Canetti. Lauter Denkanstöße und Lese-Anregungen erster Güte.

Platon: „Apologie des Sokrates“. Manesse. 192 Seiten, 24 Euro (Aus dem Griechischen übersetzt und kommentiert von Kurt Steinmann. Anhang mit zahlreichen Zitaten aus der Geistesgeschichte. Nachwort von Otto Schily).




Abschied ohne Nostalgie: Waltraud Meier hat die Opernbühne verlassen

Waltraud Meier auf der Bühne der Berliner Lindenoper. Die große Künstlerin hat ihre Karriere beendet. (Foto: Jakob Tillmann)

Eine der prägenden Künstlerinnen der Opernbühne der letzten Jahrzehnte hat Abschied genommen: In Berlin sang Waltraud Meier zum letzten Mal die Klytämnestra in Richard Strauss‘ „Elektra“. Werner Häußner kennt die Sängerin seit ihrem Debüt in Würzburg 1976 und lässt Stationen einer Karriere Revue passieren, die von 1980 bis 1983 auch nach Dortmund führte. Dort sang Meier erstmals die Kundry in Wagners „Parsifal“. Eine Rolle, die ihr 1983 den Durchbruch in Bayreuth bescherte.

Was soll man zum Bühnenabschied einer Sängerin schreiben, über die in den 47 Jahren ihrer Karriere wohl alles schon in Zeilen gefasst wurde, was öffentlich zu sagen ist? Wozu den Lebenslauf rekapitulieren, der überall nachzulesen ist; wozu das umfangreiche Repertoire aufzählen, das nun eh der Vergangenheit angehört?

Oder sollte man die Stimme von Waltraud Meier preisen, die am Freitag, 20. Oktober 2023, in der Berliner Staatsoper unter den Linden zum letzten Mal in einem Theater erklungen ist? Sollte noch einmal das „Bühnentier“ in den Vordergrund treten, das um 20.44 Uhr, nach langem herzlichem Beifall raschen Schrittes von der offenen Szene eilt, die Richard Peduzzi einst für Patrice Chéreaus „Elektra“ gebaut hat und die nun abgespielt ist?

„Tschüss“ für ein wunderbares Publikum

Waltraud Meier hat beklagt, dass heutzutage keine Blumen mehr geworfen werden. Bei ihrem Abschied in Berlin war das anders. (Foto: Jakob Tillmann)

Berlin erlebte den Bühnenabschied einer Sängerin, die mehr ist als eine verkörperte Stimme, die als „Jahrhundertsängerin“ bewundert, als „Callas der Jetzt-Zeit“ gerühmt wurde. Alle Rekapitulationen oder Lobeshymnen klingen in einer solchen Situation wie ein Nachruf, und den hätte Waltraud Meier noch lange nicht verdient und hoffentlich noch viel länger nicht nötig. Von ihrem „wunderbaren treuen Publikum“ verabschiedet sich mit einem fast schüchtern klingendem „Tschüss“ eine entschlossene Frau, bereit, das Leben nach dem Bühnendasein anzupacken und zu genießen. Wehmut? Wenn, ist er tapfer verborgen. Nostalgie oder gar Tränen? Das sind Waltraud Meiers Sachen nicht.

In Interviews hat sie deutlich gemacht: Es wird keine Rückkehr mehr geben, Altersrollen sind ausgeschlossen, und das Leben geht auch ohne Klytämnestra, Kundry, Waltraute oder Isolde weiter. Waltraud Meier hat musikalisch gesagt, was sie zu sagen hatte, jetzt ist Schluss. So kontrolliert, so entschieden und klar kennt man die Fränkin, die 1976 am Stadttheater Würzburg als Lola in Mascagnis „Cavalleria rusticana“ ihre Bühnenkarriere begann. Da hatte sie die Szene noch nicht betreten und war schon nach Mannheim wegengagiert.

Zum letzten Mal Klytämnestra in „Elektra“ von Richard Strauss, u. a. mit Ricarda Merbeth (Elektra) und Vida Miknevičiūtė (Chrysothemis). Dirigiert hat den Abschiedsabend Markus Poschner anstelle des ursprünglich vorgesehenen Daniel Barenboim, der leider nicht anwesend sein konnte. Waltraud Meier bedankte sich mit warmen Worten bei ihrem „Lebensdirigenten“: „Ich habe den ganzen Abend an ihn gedacht und er bleibt in meinem Herzen“. (Foto: Jakob Tillmann)

Was bleibt also noch übrig? Vielleicht ein paar persönliche Erinnerungen an die Anfänge von Waltraud Meiers Laufbahn, ein paar Eindrücke von Stationen dieses beinahe halben Jahrhunderts, in dem sich auch die Welt der Oper neuen Zeiten angepasst hat. Welcher Intendant würde heute eine zwanzigjährige Romanistikstudentin verpflichten, die keine „ordentliche“ Hochschulausbildung absolviert hat, beim Chordirektor des Hauses (damals war das Anton Theisen) Unterricht bekam und ansonsten „nur“ von unbändiger Lust am Singen angetrieben war? Wo fände sich noch ein Ensemble wie die Bühnenfamilie in Würzburg, die dieses Küken aufnimmt und mitträgt? Welcher Regisseur hätte noch die Geduld, mit einer unerfahrenen, aber selbstbewussten jungen Frau kleine Rollen sorgfältig einzustudieren? Aus Würzburg kann Waltraud Meier köstliche Anekdoten erzählen – sympathische Reminiszenzen an ein Theater, das es heute so wohl kaum mehr gibt.

Angeschwipst die Treppe runter

Die Lola habe ich von ihr gesehen und gehört, kann mich aber eher an die fulminante Gertraud Halasz-Kiefel erinnern, die Santuzza des Abends. Genauer steht mir die Rolle der Berta vor Augen, deren hübsche melodische Arie Waltraud Meier im Würzburger „Barbier von Sevilla“ singen durfte. Regisseur Wolfram Dehmel wollte sie als angeschwipstes, gar nicht so ältliches Fräulein eine Treppe hinuntertänzeln lassen, und in solchen Szenen zeigte sich ihre rasche Auffassungsgabe und ihre Bewegungsfreude. „Ich bin eigentlich ein Bewegungsmensch. Mein Ausdruck kommt nicht nur über die Stimme, sondern auch über den Körper, die Bewegung“, sagt sie in einem Interview.

Das war in Würzburg schon zu erkennen: Ihre Muse in „Hoffmanns Erzählungen“ und die Concepcion in Ravels „Die spanische Stunde“ profitierten nicht nur vom jugendlich frischen, warmen, dunkel-sinnlichen Klang ihres Mezzosoprans, sondern auch von diesem Geschick, eine Person mit dem Körper zu formen. Waltraud Meier stand auch in diesen Jahren nie einfach herum; sie hatte selbst dem provinziellsten Stückeeinrichter etwas anzubieten.

„Lebensfreude, Lebensenergie, Lebenslust will sich manifestieren durch Stimme. Wo das Wort nicht ausreicht, da geht die Emotion in Gesang über.“
(Waltraud Meier)

Die Stimme: Erinnerungen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, drohen zu verblassen oder verklärter zu schimmern, als sie in der Routine-Wirklichkeit der Zeiten tatsächlich waren. Waltraud Meier sang 1976 in einer bemerkenswert atmosphärischen Inszenierung von Manfred W. von Wildemann die Alisa in „Lucia di Lammermoor“. Einer der beteiligten Sänger hatte sich einen Mitschnitt angefertigt, auf dem auch der noch nicht erstrahlte künftige Star zu hören ist.

Waltraud Meier. (Foto: Nomi Baumgartl)

Das Dokument bestätigt: Bei aller Entwicklung, die Waltraud Meier vor allem in ihren „Galeerenjahren“ in Mannheim und Dortmund durchmachte und für die sie immer wieder den Dirigenten Hans Wallat erwähnte: Die Stimme von damals ist in ihrer Klarheit und in ihrem sinnlich-individuellen Timbre unzweifelhaft identifizierbar. Der Keim des Erfolgs spross damals schon ins schummrige Licht eines stilisierten schottischen Friedhofs, mit dem Wildemann in der „Provinz“ die Oper Donizettis ernst genommen und aus der Rolle des „Primadonnenvehikels“ erlöst hat, als die sie in den siebziger Jahren an den Staatstheatern noch zelebriert wurde.

Wort und Klang durchdringen sich

Für den Belcanto hat sich Waltraud Meier in den kommenden Jahren nicht besonders interessiert. Die artifizielle Kunst des Singens, so sehr sie auch Seelenströme offenbaren kann, blieb ihr fremd. Klar, die großen Verdi-Partien, die Azucena, die Amneris, die Eboli waren von ihr zu hören – und manchmal bedauerte sie, auf Wagner festgelegt und für Verdi nicht gefragt zu werden. Aber ihre Domäne lag woanders. Nicht umsonst bestimmte Richard Wagner einen großen Teil ihres Bühnenlebens. Das „Gesamtkunstwerk“ hatte sie gepackt.

Mit Regisseuren wie dem von ihr unendlich geschätzten Patrice Chéreau, mit Dirigenten wie dem seit Jahrzehnten mit ihr verbundenen Daniel Barenboim („mein Lebensmensch“) konnte sie Musik, Wort und Szene mit der Intensität durchdringen, die für sie Voraussetzung einer gelingenden, glaubwürdigen, fundierten Interpretation ist. Das war in ihrer letzten Rolle in Berlin noch einmal deutlich zu spüren: Der Moment, in dem Klytämnestra auf extra ausgelegtem rotem Teppich aus dem Palast eilt und Ricarda Merbeth als Elektra fixiert, reißt in den wenigen Sekunden einer stummen Konfrontation dieses verdorbene Mutter-Tochter-Verhältnis auf. Und das Erschlaffen der anfangs so beherrschten Königin – „Götter … warum verwüstet ihr mich so“ – ist das erste Signal, dass diese Frau nur mit „furchtbarer Anstrengung“ Haltung bewahren kann.

„Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus“ singt Waltraud Meier mit der ihr eigenen Gabe, Wort und Klang zu Ausdruck zu verschmelzen. Hier ist sie, die Größe einer Sängerin, die über die schönen Töne hinaus in die Tiefe des Gesungenen dringt. Joachim Kaisers Wort von der „Callas“ wirkt in solchen Momenten zutreffend: Waltraud Meier ist nicht zum Scherzen aufgelegt, wenn es darum geht, eine glaubwürdige Figur zu erschaffen. Da arbeitete sie so hart und beharrlich wie Maria Callas. Der Scherz kommt später, in den Anekdoten, in den witzig absurden Momenten, die sich ereignen, weil auf der Bühne eben auch „nur“ Menschen arbeiten. Aber: Was die Wahrheit einer Rolle ist, das herauszubringen, war ihr Ziel.

Mit Loriot ins komische Genre

In einem der hoffentlich nächsten Gespräche werde ich ihr die Frage stellen, welches Verhältnis sie eigentlich zur „lustigen Person“ auf der Bühne hat. Komische Rollen? Ihr Repertoireverzeichnis auf ihrer Webseite verzeichnet keine einzige. Wie gut hätte man sich vorstellen können, in Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ oder als Lady Billows in Brittens „Albert Herring“ ganz andere Seiten als die Wagner’sche Schwere an Waltraud Meier zu entdecken. Aber das hat sie ihrem Publikum – soweit ich mich erinnere – nur einmal wirklich von Herzen gegönnt: als Vicco von Bülow, der im November 100 Jahre alt werden würde, in Stuttgart Friedrich von Flotows „Martha“ als feine erotisch-ironische Petitesse inszeniert hat. Da war sie, Loriot zuliebe, mit allem Spielwitz dabei.

„Das hier ist das Ende einer Ära“, sagte ein Besucher der Lindenoper beim Rausgehen im Foyer. Das stimmt, weil mit Waltraud Meier eine prägende Bühnenkünstlerin der letzten 40 Jahre ihre Karriere beendet hat. Aber es stimmt auch nicht: Das Pathos, das im Begriff der „Ära“ steckt, wollte sich nicht einstellen, weil der Abschied die unverkennbar frischen Züge eines Aufbruchs trägt. Ein Aufbruch in einen neuen Abschnitt des Lebens. „Io me ne vado“, singt Lola leichtherzig bei ihrem Abgang in „Cavalleria rusticana“.

Auch Waltraud Meier hat nun die Bühne verlassen – und wie sie immer wieder beteuerte, nicht mit Herzensschwere. So wünschen wir der wunderbaren, einzigartigen Künstlerin dankbar auch für die kommenden Jahre die Leichtigkeit des Herzens und die Lebensfreude und Lebenslust, aus der heraus sie ihr Publikum 47 Jahre lang mit ihrer Stimme, ihrer Kunst und ihrem Wesen beschenkt hat.




Im Bann der bunten Farben – Ausstellung zum 100. Geburtstag des Malers Heinz Kreutz in der Duisburger Küppersmühle

Heinz Kreutz: Ohne Titel, 1959 Öl auf Leinwand 65,5 x 81 cm (Bild: Henning Krause, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, MKM Stiftung, Sammlung Ströher, Duisburg © Nachlass Heinz Kreutz)

Rot quillt aus blaugrünem Nebel hervor, unheilverkündendes Schwarz links davon, etwas schüchternes Gelb im Hintergrund. Gräulich-weiß das Drumherum, was die Bedrohlichkeit etwas abmildert. Irgendwie allegorisch, vielleicht; doch würde man angesichts des Bildes „Aus dem Leben der Eisblumen“, das Heinz Kreutz 1955 schuf, vor allem auf eine große Lust an Farben und ihren Kompositionen schließen, läge man wohl auch nicht falsch.

Nach der Nazizeit

Kreutz ist einer von den vielen Malern, die nach der Nazizeit mit ihren unsäglichen Kunstvorstellungen einen geradezu unstillbaren Drang nach Buntheit, Fläche, Bewegung verspürten, dem kein gegenständliches Postulat entgegenzustehen hatte. Gleichwohl ist er  eher einer aus der zweiten Reihe. Wenn seine großformatigen Gemälde in der Vergangenheit gehandelt wurden, lagen die Preise vorwiegend im vierstelligen Bereich, was ja auch nicht wenig Geld ist, aber doch wenig im Vergleich zu Hervorbringungen der Prominenz.

Kunst der Sieger

Er hatte aber auch zeitlebens viele Mitbewerber (die zudem, teilweise jedenfalls, erstaunlich alt wurden). Abstrakter Expressionismus erlebte in den Jahren nach dem Krieg in Deutschland West eine gewaltige Blüte, was zum einen wohl daran lag, daß er aus dem bewunderten Westen, nämlich den USA, zu uns kam, und zum anderen, daß er formal dem „sozialistischen Realismus“ der DDR geradezu diametral gegenüberstand. Kunst der Siegermächte mithin? Vielleicht auch, jedenfalls ein bißchen. Alles lange vorbei.

Quadriga

Bemerkenswert ist an Heinz Kreutz, der 2016 im gesegneten Alter von 93 Jahren starb, daß er zusammen mit drei Kollegen, die alle deutlich berühmter wurden als er, 1952 die Künstlergruppe Quadriga gründete. Die anderen drei waren Bernard Schultze (2015 – 2005), K.O. Götz (2014 – 2017) und Otto Greis (2013 – 2001), und jedem von ihnen widmet mein Brockhaus (der letzte!) einen Absatz nebst Abbildung, nicht aber Heinz Kreutz. Einen Grund dafür in der künstlerischen Qualität zu suchen, wirkt wenig zielführend. Eher schon könnte von Bedeutung sein, daß Kreutz, Jahrgang 1923, acht Jahre jünger war als der nächstjüngste im Bunde, Schultze, 1915. War er zu spät dran im unerbittlichen Kunstbetrieb? Natürlich ist das eine rein spekulative Frage.

Heinz Kreutz: Weiß und schwarz, 1967, Acryl auf Leinwand 130,5 x 130 cm (Bild: Henning Krause, KMKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, MKM Stiftung, Duisburg © Nachlass Heinz Kreutz)

Anfang der 50er bis 2006

Jedenfalls schickt sich jetzt das Museum Küppersmühle (MKM) an, den Maler Heinz Kreutz anläßlich seines 100. Geburtstags mit einer feinen und keineswegs kleinen Ausstellung im so wohlgestalteten Neubau dem Vergessen zu entreißen. Die Werkschau beginnt Anfang der 50er Jahre – unter anderem, eben, mit dem beschriebenen „Eisblumen“-Bild, die letzte Arbeit datiert von 2006 und hat den Titel „Farbenleben Triptychon“. Mit seinen letzten Arbeiten, die nach der Jahrtausendwende entstanden, kehrt der Maler mit geradezu erstaunlicher Konsequenz zu seinen Anfängen zurück, kombiniert bei hoch emotionaler Grundierung Farben, Rhythmen, Strukturen, im Alter vielleicht etwas entspannter, flächiger, aber die enge Verbindung von früher und später Kunst ist ganz unübersehbar.

Die neue Strenge

Dabei gab es in Kreutz’ Schaffen durchaus Phasen, wo man ihn nicht wiedererkannt hätte. In den 1960er Jahren kombiniert er streng Farbflächen, die mit ihrem entindividualisierten Erscheinungsbild bunten Strichcodes auf Warenverpackungen ähneln. Um Farbe geht es nach wie vor, „Weiss, gelb und grau“ oder „Um Rot herum“ heißen Arbeiten aus dieser Zeit (1967), und denkt man beispielsweise an die quadratischen Farbkompositionen Josef Albers’, dann spürt man Verwandtschaft.

Heinz Kreutz: Mittag in der Nähe des RE, 1990 Acryl auf Leinwand 90 x 109,5 cm (Bild: Henning Krause, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher © Nachlass Heinz Kreutz)

Pop Art

Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger hat Kreutz wohl auch mit der Pop Art geliebäugelt. Eine Arbeit mit dem denkwürdigen Titel „Denkmal für Philipp Otto Runge“ (1967) – vier typographisch gestaltete Quadrate („IIII“, wenn man so will) formen zusammen ein großes Quadrat, das Robert Indianas berühmtem ikonischem Pop-Schriftzug „LOVE“ (1964) formal stark ähnelt. Starkfarbige Flächenkompositionen wirken wie maschinell auf das Papier gebracht. „36 Quadrate über Blau / 36 Quadrate über Gelb“ ist ein Diptychon von 1973-1974 betitelt, sehr streng das alles, wie aus Legosteinen zusammengesetzt (wenn sie denn quadratisch wären), und eigentlich auch reichlich blutleer für einen abstrakten Expressionisten. In den späten Achtzigern scheint diese stocknüchterne Befassung mit klarer Form und steril aufgetragener Farbe überwunden zu sein, die Bilder haben, wenn man einmal so sagen darf, wieder Seele, Impuls, ursprüngliche Kraft, und man ahnt zumindest häufig auch wieder, mit welcher Methode der Farbauftrag erfolgte. Das vielleicht in Kürze zu dem was nun in Duisburg zu sehen ist.

Kombinierte Malgründe

Eine Besonderheit im Werk von Heinz Kreutz, dies sei noch vermerkt, ist die Zusammenfassung mehrerer Bilder zu waagerecht und senkrecht kombinierten Diptychen und zu Triptychen. Die wunderschön bunte, mit viel Blau und Gelb und zeichnerischer Struktur leuchtende „Hommage à Gustav Mahler“ (1989) gar besteht aus vier verschieden großen Gemälden und läßt an ein Kreuz (ohne „t“) denken. Und dem Betrachter geht durch den Kopf, daß vier komponierte Malgründe für diesen Komponisten wohl eine durchaus angemessene Größenordnung sind.

  • Heinz Kreutz: Schwarz-weiss und in Farbe zum 100. Geburtstag
  • Bis 28. Januar 2024
  • Museum Küppersmühle, Duisburg
  • www.museum-kueppersmuehle.de

 




Im Zaubernebel des Klangs: Essener Philharmoniker und Cellistin Raphaela Gromes spielen Konzert einer vergessenen Komponistin

Die Cellistin Raphaela Gromes. Foto: wildundleise

Seit Mitte August schon sind die Essener Philharmoniker wieder auf ihrem Posten. Sie haben die Spielzeit unter einer Dirigentin eröffnet und setzten sie jetzt mit dem Werk einer vergessenen Komponistin fort.

Anna Skryleva, noch bis 2025 Generalmusikdirektorin in Magdeburg, gab im August dem Saisonstart mit Gershwin und Bernstein angemessenen Schwung. Der neue Essener GMD Andrea Sanguineti präsentierte sich im Zweiten Sinfoniekonzert mit einer Rarität aus seiner italienischen Heimat, „Feste Romane“ von Ottorino Respighi, und einem sehr massiven, sehr lauten „Don Juan“ von Richard Strauss. Über ausufernde Lautstärke konnte man sich nun im Dritten Sinfoniekonzert unter Leitung des Geigers und Dirigenten Julian Rachlin nicht beschweren. Die Essener Philharmoniker spielten sich mit Diskretion und Finesse in die Herzen der Zuhörer in der Philharmonie, deren Großer Saal durchaus noch eine Hundertschaft Besucher vertragen hätte.

Schade, denn wer nicht da war, hat etwas verpasst. Das Programm ließ eine geschickt gestaltende Hand spüren: Den ersten Teil eröffnete das a-Moll-Cellokonzert op. 33 von Camille Saint-Saëns, eines der bedeutendsten Solokonzerte für dieses Instrument, gefolgt von einer Wiederentdeckung: Solistin Raphaela Gromes hatte ein Konzert der Saint-Saëns-Schülerin Marie Jaëll mitgebracht, das sich neben dem etablierten Stück mühelos behaupten kann und zum Höhepunkt des Abends avancierte. Nach der Pause zeigten die Philharmoniker, wie spannend und beredt Felix Mendelssohn Bartholdys „Schottische“ Sinfonie klingen kann, auch wenn sie nicht als Schaustück inszeniert wird.

Schottland als Inspiration

Mendelssohns Dritte Sinfonie hat nicht nur die Tonart a-Moll mit dem Cellokonzert von Saint-Saëns gemeinsam, sondern auch den Ausgangspunkt in einer klassischen Orientierung an der Form. Schottland war für den reisefreudigen Mendelssohn Quelle der Inspiration, nicht jedoch eine Ressource von Musik. Die Sinfonie hat keine folkloristischen Züge, das thematische Material stammt nicht etwa aus „schottischer“ Folklore, die der gebildete Berliner als „vulgären, verstimmten Müll“ schmähte. Es gibt wundervolle, lyrisch ausgekostete Stimmungen, es gibt erhabenes Pathos und lebhaft tänzerische Passagen. Alles ist jedoch in eine Form gebracht, die eher an die Wiener Klassik als an ein schroff-schottisches Landschaftsgemälde erinnert. Der Vergleich mag gewagt sein – aber die edle Einfalt und stille Größe erinnert ein wenig an die Zeichnungen, in denen der Komponist selbst die wilden Landschaften einfing.

Mit Blick auf die leisen Töne: Dirigent Julian Rachlin. (Foto: Janine Gulpener)

Rachlin hat in seinem Dirigat diese Züge bestätigt und nicht durch angespannte Expressivität zu verdrängen versucht. Das klingt im ersten Satz manchmal marmorfriesartig poliert, leidenschaftslos und mit Spuren von Langeweile. Das Allegro entwickelt keinen „agitato“-Biss, wird aber plastisch ausgeleuchtet. Wenn die Akkorde stampfen und der chromatische Wind heult, sind Heinrich Marschners Opern und Wagners „Fliegender Holländer“ nicht weit, aber sie treten nicht auf, sondern grüßen um die Ecke. Nicht ganz so gewollt ausgewogen der letzte Satz: Da wirft Mendelssohn Franz Liszts Schatten an die Wand, aber das Orchester wird nicht lauter oder schneller, sondern straffer.

Auch Saint-Saëns‘ Cellokonzert opfert die Form nicht der Emotion, was dem Franzosen ästhetische Vorwürfe eingebracht hat. Aber das aparte Spiel mit Triolen in variantenreicher Artikulation, die verspielten Verzierungen, die kostbar gestalteten Übergänge zwischen den Teilen der drei pausenlos aufeinander folgenden Sätze und die Verwendung des thematischen Materials lassen weder Zweifel noch Ermüdung aufkommen. Zumal mit Raphaela Gromes eine Cellistin am Werk ist, die formale Strenge und gelöst-lyrischen Ausdruck zu verbinden weiß.

Sind die Triolen des ersten Themas noch etwas verschwommen artikuliert, findet die Solistin im Wechselspiel mit den Orchesterstreichern einen intimen, leuchtenden Ton, der dramatische Zuspitzung erlaubt, ohne aufgedreht zu wirken. Die punktierten Achtel und Triolenfigürchen sind bei den Essener Philharmonikern bestens aufgehoben, die sich unter Rachlins Leitung in der Transparenz der Piano- und Pianissimo-Stellen selbst übertroffen haben. Gromes spielt verhalten, ohne sonor-blühenden Ton, aber mit luftiger Diskretion, und baut im ersten Satz eine entspannte Kadenz ohne Virtuosenhuberei auf. Dass sich die Dynamik nach 400 Takten zum Fortissimo steigert, macht das Orchester strahlend deutlich – aber knalliger Lärm bleibt tabu.

Lust auf mehr von Marie Jaëll

Die Überraschung des Abends war das F-Dur-Cellokonzert von Marie Jaëll, einer der vergessenen komponierenden Frauen des 19. Jahrhunderts. 1846 im Elsass geboren, wurde sie als Kind von dem legendären Pianisten Henri Herz unterrichtet, gab zusammen mit ihrem Mann Alfred Jaëll ab 1866 Konzerte in ganz Europa, wurde von Camille Saint-Saëns unterrichtet und vom eng befreundeten Franz Liszt beeinflusst. Bis zu ihrem Tod 1925 trat sie als Pädagogin hervor, die mit der „Méthode Jaëll“ eine von der Physiologie der Hand ausgehende Spieltechnik entwickelte. Ihr kompositorisches Erbe ist vielfältig und reicht über Solowerke zu Kammermusik für verschiedene Instrumente bis hin zu zwei Klavierkonzerten und dem in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstandenen Cellokonzert.

Dieses beginnt verschattet mit aufsteigenden Linien in den Celli und Kontrabässen, bevor das Solo-Cello die melodischen Motive aufgreift, mit zarter Violinbegleitung weiterentwickelt und quasi improvisando fortspinnt. Gromes entfaltet das Spiel mit dem thematischen Material, das durch sinnlich-spannende Harmonien getragen wird, und führt es durch den Zaubernebel des Klangs zum Satzfinale. Die hohen Ansprüche an die Solistin setzen sich im Andantino-Mittelsatz fort, der wie ein Notturno gedämpft anhebt, bevor lichte Bläserakkorde einen zärtlichen Abschluss herbeiführen. Im dritten Satz kann Raphaela Gromes dann Verve und Zugriff demonstrieren.

Das Konzert weckt Lust, mehr von Marie Jaëll kennenzulernen: Vielleicht ist ihr 100. Todestag 2025 ein Anlass, das Augenmerk auf diese außergewöhnliche Frau zu richten, die als eine der ersten in die Pariser Société des compositeurs aufgenommen wurde.




Männliche Familienbande – Johan Simons inszeniert Dostojewskijs „Brüder Karamasow“ mit viel Gelassenheit

Elsie de Brauw als Stariza Sossima in ihrer Klause. Der brave Hund taucht in der Besetzungsliste namentlich leider nicht auf. (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Dies könnte eine Kirche sein, ein lichter Raum mit hohen Fenstern und vielen Kerzen, sparsam möbliert; es könnte aber auch ein Labor sein, steriler Ort für emotionslose Untersuchungen und Experimente. Beide Deutungen haben etwas für sich. Auf der Bühne des Großen Hauses inszeniert Bochums Schauspielchef Johan Simons den ersten Teil seiner „Brüder Karamasow“-Produktion.

Später wird das Publikum ins Kleine Haus umziehen, noch später im Foyer des Großen Hauses ein „Gemeinsames Dinner“ zu sich nehmen. Dies ist nicht eben ein unaufwendiges Projekt, schon das erste überaus beeindruckende Bühnenbild (Wolfgang Menardi) läßt daran keinen Zweifel.

Dostojewskijs Qualen

Tief tauchen wir ein in den Kosmos der Dostojewskijschen Qualen, in dem Himmel und Hölle, Wiederauferstehung, ewiges Leben, Schuld, Strafe, Vergebung, Lebensüberdruß zentrale Begriffe sind. Klug sind sie auch in diesem Spätwerk in Kontrast zu den quasi niederen Motiven der Menschen montiert, der Gier, dem skrupellosen sexuellen Verlangen, dem Schuldenmachen. Die Figuren des Romans finden in jenen auf der Bühne kongeniale Entsprechungen, allen voran im alten Pierre Bokma als Fjodor Pawlowitsch Karamasow, Vater, Lebemann und Dummschwätzer, dem seine Söhne in ehrlicher Abneigung zugetan sind. Voneinander lassen kann man nicht, auch deshalb nicht, weil eine üppige Erbschaft lockt. Und irgendwann, sehr viel später an diesem Abend, ist der Alte tot.

Karamasows in Teilansicht: Bruder Iwan (Steven Scharf, links), Vater Fjodor Pawlowitsch (Pierre Bokma, Mitte) und Halbbruder Smerdjakow (Oliver Möller, rechts). (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Vorkenntnisse

Manches erklärt die Inszenierung dem Publikum, vieles aber auch nicht. Ohne recht genaue Kenntnis des Stoffs, der Charaktere und ihrer philosophisch-religiösen Verortungen ist es nicht leicht zu folgen. Johan Simons’ Inszenierung zeigt wenig Interesse daran, die dem Drama innewohnende Mechanik offenzulegen, sondern verströmt sich in der oft detailverliebten Illustration des als bekannt Vorausgesetzten. So stehen hier hübsche Spielszenen großer Intensität neben schwergewichtigen Sätzen, die, einmal in den großen Bühnenraum hineindeklamiert, beziehungslos hängenbleiben und dann langsam verblassen. Entschleunigung ist die Devise, doch führt sie nicht zwingend zu Erkenntnisgewinnen.

Gute Leute

Gleichwohl ist das Schauspielhaus Bochum in der Intendanz von Johan Simons nach wie vor und mehr als viele andere Häuser immer noch ein Theater der Schauspielkunst. Und deshalb muß man jetzt noch einige Namen nennen: Steven Scharf bringt es als Iwan zu beachtlicher Intensität, Jele Brückner zeigt als desillusionierte Katerina Ossipowna Chochlakowa im Gespräch mit dem Schuldner Smerdjakow (Oliver Möller) unerwartete Abgründigkeit; die Rolle des weisen Starec Zosima wurde zur Stariza Sossima und wird nun in Bochum von Elsie de Brauw verkörpert, die sie souverän füllt und der man höchstens vorwerfen könnte, daß sie für eine Sterbenskranke etwas zu kraftvoll agiert. Als Hexe – später – ist sie noch besser. Die Frauenriege wird vervollständigt durch Anne Rietmeijer als von Vater und Sohn Dimitrij (Victor Ijdens) begehrte Schönheit Gruschenka. Danai Chatzipetrou schließlich ist Katerinas behinderte Tochter Lise im elektrischen Rollstuhl. Konstantin Bühler als zottelbärtiger Nachbar Nikolaj Iljitsch Snegirjow sowie die Kinder Davin Cakmak und Mina Skrövset vervollständigen die Riege.

Abgeranzte Küche

Erste Pause um Viertel vor fünf, Wanderung durch die Kulissen zum Kleinen Haus, Zwischenstop im Foyer. Weitergeht es um halb sechs, mit einem völlig anderen Bühnenbild. Im Kleinen Haus wird deutlich, warum im Großen Haus so viele Sitze frei bleiben mußten. Hier ist nun alles besetzt. Auf der Bühne steht als raumgreifende, naturalistisch durchgestaltete Kulisse eine recht professionelle, aber auch reichlich abgeranzte Küche, Lüftungsrohre unter der Decke, Kellerlage mit Treppenaufgang. Ein sinnfälliger Ort natürlich, hier unten werden Sachen angerichtet, der Kohl (für den Borschtsch) ebenso wie die eine oder andere Mordidee. Hier fliegt das Gemüse, hier fliegen die Töpfe; Konflikte werden zelebriert und auch gelöst mit den Methoden des Tür-auf-Tür-zu-Theaters, wenngleich es nur eine einzige Tür links im Bild – und eben die Treppe – gibt. Fast hatte man es bei der ganzen Statuarik im ersten Teil schon vergessen: Johan Simons ist ja auch ein ganz vorzüglicher Possenreißer mit Wurzeln im Straßentheater, der mit burlesken Späßen souverän dramatische Fallhöhe zu erzeugen weiß. Das wissen wir in Deutschland spätestens seit „Sentimenti“.

Die Küche ist das Bühnenbild des zweiten Teils. Im Vordergrund liegt Smerdjakow (Oliver Möller). (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Fallhöhe

Dramatische Fallhöhe – das Drama strebt dem Höhepunkt zu – gibt es in Teil 3, nach dem Gemeinsamen Essen, nun wieder im Großen Haus. Der Alte ist mittlerweile tot, liegt in der Ecke. Wie kein anderer Dostojewskij-Stoff gelten „Die Brüder Karamasow“ ja auch als „Kriminalstory“, doch explizite Elemente einer solchen fehlen in dieser Inszenierung. Spannung oder ein bißchen „Whodunnit“ ebenso.

Fast kommt die nun geradezu unerträglich entschleunigte Inszenierung zum Stillstand, doch dann wird die Verlangsamung dankenswerterweise gebrochen durch den wunderbaren Dialog, in dem Iwan (Steven Scharf) Smerdjakow (Oliver Möller) gleichsam zu der Einsicht verführt, den Mord begangen zu haben. Mit einem frommen Epilog des jüngsten Bruders Aljoscha (Dominik Dos-Reis) geht die Inszenierung sieben Stunden nach dem Start dann endlich zu Ende. Diese Zeit abzusitzen war schon ein Angang; um so größer allerdings Respekt und Anerkennung für die nicht eben große Schauspielerriege, die in dieser Zeit eine unglaubliche Textmenge zu bewältigen hatte und dies mit Bravour meisterte.

Borschtsch und Gemüsequiche

Zu essen gab es übrigens den nämlichen Borschtsch (vegetarisch), ein Stück Gemüsequiche und ein Pöttchen Panna Cotta, alles qualitativ nicht zu beanstanden, von einem Catering schnell und freundlich auf die Tische gebracht. Zu essen soll es auch an den weiteren Terminen geben; bei sieben Stunden, sollte es denn dabei bleiben, braucht man schon was Kleines zwischendurch.

Materieller Aufwand

Und nun sitzt man zu Hause, massiert sich die immer noch schmerzenden Knie (vom langen Sitzen), wühlt sich durch die Unterlagen und fragt sich, was man eigentlich erlebt hat, im Kern, in der Essenz. Großes Theater war es sicherlich, schon hinsichtlich des materiellen Aufwandes (beide Häuser, Publikumswanderung durch Kulissen und Garderoben, Heerscharen von Mitarbeitern, die den Weg weisen mußten, usw.). Das Ensemble gut bis großartig, eine doch sehr homogene Truppe, deren holländische Mitglieder mittlerweile ein untadeliges Deutsch sprechen. Und schließlich: Eine gelassene Sicht auf Stück und Autor, die sich nur ein Regisseur mit uneingeschränkter Souveränität leisten kann, einer wie eben Johan Simons mit seinen 77 Jahren.

Nicht alles geht in 90 Minuten

Bochum bietet großes, anspruchsvolles Theater, wie es nicht (mehr) oft zu sehen ist im Ruhrgebiet. Es läßt sich nicht alles in „90 Minuten, keine Pause“ (heutzutage ein beliebtes Inszenierungsformat) erzählen, und das muß man auch nicht, und das tut man hier eben auch nicht, jedenfalls nicht immer. Das Publikum, wie könnte es auch anders sein, zeigte begeistertes Verständnis für das anspruchsvolle theatralische Großformat und spendete reichen, anhaltenden Beifall.




Das „Opernhaus des Jahres“ Frankfurt zeigt „Le Nozze di Figaro“ als schwerelose Komödie

Danylo Matviienko (Graf Almaviva) und Elena Villalón (Susanna) in der Frankfurter Neuinszenierung von Mozarts „Hochzeit des Figaro“. Foto: Barbara Aumüller

Im Frankfurter Opernhaus atmet alles Leichtigkeit. Thomas Guggeis, neuer GMD als Nachfolger von Sebastian Weigle dirigiert zum Einstand Wolfgang Amadeus Mozarts so leichtfüßiges wie gewichtiges Meisterwerk „Le Nozze di Figaro“.

Sein blonder Schopf hebt sich über die Brüstung des Grabens. Rötlich schimmern die Haare, rucken im Rhythmus eines Körpers, der dem Orchester Signale setzt. Eine Hand erscheint, dreht sich, winkt, zeigt, kommandiert, schlängelt sich um ein scheinbar ohne Widerstand bewegliches Gelenk. Das diskret alle Nuancen ausspielende Orchester zieht so federnd und flexibel mit, als würde Rossini den Musikern Bögen, Tasten, Klappen, Ventile und Schlägel führen.

Und Tilmann Köhlers Regie kleidet Beaumarchais‘ und da Pontes untergründig aufgeladene Komödie entsprechend in gewichtslose Beweglichkeit, bei der die jungen Darsteller mit Freude und Witz dabei sind. Bedeutung wird nicht vorgezeigt, nicht aufgesetzt, sondern ergibt sich wie von selbst aus der Bewegung eines Augenblicks, einem betonten Gang, einer kräftiger nuancierten Geste. Nichts wirkt schwer, wir blicken auf keine Atlanten, die das Gewölbe einer Deutung zu tragen hätten. Sogar das Finale lässt einen „glücklichen“ Ausgang offen: Der fast schon genetische Pessimismus heutigen Post-Regietheaters ist lustvoll mit leichter Hand gebannt. Das tut, gerade bei Mozarts quirliger, nervöser, manchmal hyperaktiver Musik richtig gut!

Schmerz in luftigem Gewand

Die sich beißenden Farben der Kostüme zeigen: keine Harmonie zwischen Graf und Gräfin (Adriana González). Foto: Barbara Aumüller

Das heißt nun nicht, dass Köhler die verschattete Seite der Medaille gnadenlos trivial wegleuchtet. Die kindlich-feine Verzweiflung der – reizend gesungenen – Barbarina Karolina Bengtssons lässt ahnen, wie sich Schmerz in luftiges Gewand hüllen kann. Und wenn die Gräfin in sattem Rot ihrer Robe auftritt, weht Melancholie durch den Saal. Thomas Guggeis wandelt dann die musikalischen Haltung hin zu einem träumerischen Impressionismus, den Adriana González auch vokal verströmt, wenn sie ihre Piano-Phrasen korrekt auf den Atem legt und sich nicht, wie manches Mal im Ensemble, auf zweifelhaft gelagerte Töne verlässt.

Aber auch dieser Hauch der anderen, der seelenmörderischen Welt strömt schwerelos: Die Qual enttäuschter Liebe trägt ja für die Außenwelt oft komische Züge; das Weh der bitteren Erkenntnis einer verdorbenen Lebenschance muss nicht zwangsläufig Betroffenheit oder Empathie auslösen. Das ordnet die Figur der Gräfin Rosina in die Komödie ein, macht aber ganz behutsam auch ihre endlose Einsamkeit spürbar. Wenn sich solche feinsten Charakter-Schattierungen vermitteln, ist Regie – auch ohne spektakulären Zugriff – gelungen.

Auch Thomas Guggeis kann im Graben getrost auf Spektakel verzichten. Er versteht die endlosen Achtelketten Mozarts als den dynamischen Triebimpuls der Musik, die vorwärts strebt, keine Pause einlegen will. Das passt zum Tempo der Musik, die ja „presto“ drängt und drängt und selbst im Innehalten den nächsten Impuls zum Lospreschen kaum zurückhalten kann. Guggeis macht aber auch deutlich, wo dieser hurtige Fluss auf Klippen stößt und scharfe Kanten umspülen muss: Die Bläser grätschen scharf dazwischen, wenn sich Figaro und Susanna in die Wolle kriegen, und die Dissonanzen im Umgang der Personen hallen nicht nur in Kostümen von Susanne Uhl, sondern auch im Orchester deutlich wider.

Ungeduldige Energie hat ihren Preis

Bei all der luftigen Präzision, dem ziselierten Tempo, das die Streicher des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters vorlegen, den lichtvollen Bläserakkorden und den sanft, aber mit Kontur getupften Staccati ist es kein Wunder, dass Guggeis nach dreieinhalb Stunden herzlich gefeiert wird. Aber man hört auch, dass der jugendliche Überschwang und die ungeduldige Energie einen Preis haben: Die Ouvertüre gerät überraschend flach, das Wechselspiel von Flöten und Klarinetten auf der einen aufsteigenden, Oboe und Horn auf der anderen absteigenden Seite bleibt beiläufig, die Doppelachtel der Bläser in Takt 16 und 17 sind nicht deutlich artikuliert, so wie zuvor die Violinen ihre Mini-Verzierungen nicht ausformen können.

„Presto“ ist, das ist den Mozart-Tempolimitgegnern á la Currentzis immer wieder vorzuhalten, eben eine Musizierhaltung, und keine Anweisung, sich das „Blaue Band“ der Orchesterrennen zu holen. Ein organischer Atem lässt selbst bei raschestem Puls Zeit, Melodie zu formen und Details zu modellieren. Schnappatmung verbreitet nur Hektik. Und das ist keine Frage der Virtuosität des Orchesters, dessen Mitglieder wohl in allen Taktschnellen den Kopf über Wasser halten können. Guggeis vergibt sich so manche Chance, den Klang plastisch zu gestalten, die Haltung zu wechseln, mit der Varietät des Tempos Ausdruck zu gestalten. Aber so, wie er dirigiert, wie er dann wieder den Sinn von Ensembles, von ariosen Momenten, von Rhythmus-Coups Mozarts erfasst, mag man getrost sagen: Kommt noch!

Was Guggeis als glückliche Wahl für die Oper Frankfurt qualifiziert, ist seine Expertise im Umgang mit den Sängern. Es ist ein Vergnügen zu beobachten, wie klar er durch komplexe Ensembles führt, wie er den Menschen auf der Bühne hilft, wie er dadurch Präzision und souveräne Leichtigkeit erreicht, auch, wie er selbst am Flügel die Rezitative mit witzigen Erinnerungsmotiven verziert. So kann Kihwan Sim seinen klangvollen Bassbariton frei entfalten und seinem Konkurrenten, dem Grafen von Danylo Matviienko Paroli bieten. „Non piu andrai“, von ausnehmend aparten Bläsern veredelt, vertrüge deutlicher ironische Farben in der Stimme. Matviienko hebt dagegen mit seiner stimmlichen Eleganz hervor, dass er das Spiel der Geschlechter durchaus als solches verstehen will, manchmal vordergründig gefasst, aber nie harmlos.

Vollendete Studie eines Zwischenwesens

Ganz zeitgenössisch, auch im Kostüm: Kelsey Lauritano (links) mit der Gräfin (Adriana González) als Cherubino – ein Wesen ohne festgelegte Geschlechtssignale. Foto: Barbara Aumüller

Kelsey Lauritanos Cherubino ist eine vollendete Studie eines Zwischenwesens, das sich im Labyrinth der Geschlechter erst orientieren muss. Die Sängerin gestaltet eher hell und brillant als mit sanften Mezzorundungen; ihr „Non so piu cosa son …“ huscht wie ein Irrwisch vorbei, ein rastloser Spuk ohne die Chance, auf differenzierte Artikulation. Auch „Voi che sapete“ könnte Lauritano sicher bewusster ausformen, würde ihr der Dirigent eine Spur mehr Zeit geben. Elena Villalón brilliert als Susanna in den Ensembles mit einer fabelhaften Sprach-Musik-Sensibilität. Zwischendurch will es ihr nicht gelingen, die Stimme im Körper zu halten – die Töne werden spitz und kopfig. Aber ihre Arie im vierten Akt ist ein Musterbeispiel bewussten, makellosen Singens.

Dass Frankfurt nicht umsonst zum wiederholten Mal den Titel „Opernhaus des Jahres“ eingeheimst hat, ist nicht nur der exquisiten Spielplanpolitik von Intendant Bernd Loebe zu verdanken, sondern auch seiner Ensemblepflege. Die zeigt sich in diesem „Figaro“ von ihrer besten Seite: Die kleineren, dennoch wichtigen Rollen sind mit der leuchtenden Cecilia Hall als Marcellina, dem wunderbar diskret polternden Donato di Stefano als Bartolo, dem fast zu schönstimmigen jungen Tenor Magnus Dietrich als Basilio und dem bewährten Franz Mayer als Antonio durchweg vorzüglich besetzt. Sie alle nutzen die Chance des neutralen Bühnenkastens von Karoly Risz, der sich mit raumhohen Drehlamellen durchlässig oder verschlossen geben kann: Hier triumphieren nicht die Szenerie, nicht die Atmosphäre, sondern die Darsteller.

Weitere Vorstellungen: 12., 14., 21. Oktober; 28., 30. Dezember 2023; 5., 7., 18., 21. Januar 2024. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/le-nozze-di-figaro_3/




„Schönes“ vor 20 Jahren – Erinnerung an eine Bochumer Erstaufführung des jetzigen Nobelpreisträgers Jon Fosse

Der Norweger Jon Fosse erhält den Literaturnobelpreis 2023. Wenn man schon ein paar Jährchen schreibt, findet sich irgend etwas Einschlägiges im Archiv, so z. B. diese – nun nahezu 20 Jahre alte – Bochumer Theaterbesprechung vom 3. Dezember 2003:

Bochum. Verglichen mit den Bühnen-Gestalten des Norwegers Jon Fosse, wirken selbst die gelangweilten Figuren eines Anton Tschechow wie Action-Helden. Hier geschieht nahezu nichts, die Dialoge sind extrem karg. So auch in Fosses neuem Stück „Schönes“. Abermals klingt jede Zwiesprache derart lakonisch, als sei’s bereits eingeübte Tiefsinns-„Masche“.

Doch es ist eine geradezu schwatzsüchtige Lakonie, die redundant in sich kreist und unversehens schräge Komik (irgendwo zwischen Loriot und Kaurismäki) freisetzt. Die Figuren haben Angst vor dem Verstummen, vor der großen Leere.

Fosse (Jahrgang 1959), in den letzten Jahren wohl meistgespielter Dramatiker des Kontinents, lässt weite Deutungs-Spielräume klaffen. Bei der deutschen Erstaufführung in Bochum nutzt Regisseur Dieter Giesing diese schmerzliche Freiheit beharrlich und behutsam.

Das Bühnenbild (Karl-Ernst Herrmann) atmet raumgreifend Ewigkeit: Einander kreuzende (Boots)-Stege verlieren sich nach hinten in die melancholische Unendlichkeit eines einsamen Fjords, vorn ragt eine Planke bis zum Publikum. Die schwarze Silhouette eines Bootshauses wandert geisterhaft langsam über die schimmernde Szenerie. Die Zeit schleicht dahin und verrinnt. Worte kommen aus dem Nichts und versickern im Nichts.

Vor dem Horizont des Stillstands

Vor diesem Horizont des Stillstands verbringt ein Ehepaar mit fast erwachsener Tochter die Sommerferien. Die Frau (Catrin Striebeck) fühlt sich angeödet. Mal geht sie links den Strand entlang, mal rechts. Ein Buch lesen? Ach was! Antriebe und Interessen sind erloschen. Es schwillt in ihr lediglich eine zickige, ziellose Gier an, die sich eher zufällig auf Leif (Ernst Stötzner) richtet, den grandios maulfaulen Freund ihres Mannes aus Kindertagen. Dieser allzeit im Dorf gebliebene Sonderling („Hat sich so ergeben“) lässt sich wohl nur aus höflichem Mitleid auf eine Begegnung im alten Bootshaus ein.

Was dort wirklich geschieht, bleibt freilich ebenso ungewiss wie alles andere: Ahnt der Ehetrottel Geir (Burghart Klaußner) etwas? Warum erschöpft sich dann sein Aufbegehren darin, dass er seine Gitarre immerzu mit hackenden Griffen (verdruckster Frust-Gipfel: „Bang, Bang – I’ll shoot you down“) traktiert?

Anders als bei Ibsen wird hier nichts enthüllt

Warum hat Leif in der Pubertät alle Neugier auf die Welt verloren, warum haben er und Geir damals ihre Rockband aufgelöst? Wird die einstweilen halbwegs vitale, mitunter patzige Tochter (Julie Bräuning), die im Dorf einen farblos strotzenden jungen Mann (Manuel Bürgin) kennen gelernt hat, so heil- und haltlos enden wie ihre Mutter? Und warum preisen sie alle so kleinlaut die Natur? Ist sie ein unnennbar „Schönes“, vor dem der Mensch nur versagen kann? Ganz anders als bei Ibsen, mit dem man Fosse häufig vergleicht, wird hier nichts enthüllt. Die Eltern reisen vorzeitig ab – zurück von der ländlichen in die städtische Seelen-Ödnis. Das ist alles.

Das wattierte Unglück in Hier und Jetzt

Irgend etwas ist vorgefallen und schief gelaufen, doch nun ist es, wie es ist. Existenziell und gnadenlos scharf umrissen stehen die Gestalten in reinster Gegenwart da, im allerdings gedämpften, wattierten Unglück des Hier und Jetzt. Und nun? Was soll noch werden? Dieses folgenlose Weh ergreift einen mehr, als wenn (wie in Gegenwartsdramen oft üblich) aller Schmutz und Ekel im Blut- und Spermastrom verrührt wird.

Dieter Giesings Inszenierung lässt beklemmende Atmosphäre ganz unaufdringlich quellen. Die Darsteller gewinnen diesem stockenden Text staunenswert viele Akzente, Rhythmen und Nuancen ab. Äußerst gespannt folgt man ihrer Expedition in die Leere.




Der Veranstaltungsort als Ausstellungsstück: Bonner Bundeskunsthalle widmet sich der Postmoderne

Alessando Mendini: „Interno di un interno (Sofa)“, 1990 (Foto: Collection Groninger Museum, Bundeskunsthalle Bonn)

Sind wir zu früh? Über die „Postmoderne“ – um die geht es hier – ließe sich eigentlich doch erst streiten, wenn man sie gut und ganz im Blick hätte. Dafür müßte man sie aber verlassen haben, sich in einer Art Post-Postmoderne befinden mit sachlich-distanziertem Blick auf das, was bisher geschah.

Wenn die Bonner Bundeskunsthalle nun in einer großen Ausstellung eben jene Postmoderne zum Thema macht: „Alles auf einmal: die Postmoderne. 1967 – 1992“, mag der Grund auch eher schlichter Natur sein. Sie sind nicht eher fertiggeworden. Eigentlich war diese oder eine doch recht ähnliche Veranstaltung geplant für das Jahr 2022, in dem nämliche Bundeskunsthalle 30 Jahre alt wurde. 1992 fing das an in Bonn, man erinnert sich, wenn man älter ist.

Sehr postmodern: Die spitzen blauen Türmchen auf dem Dach der Bundskunsthalle (Foto: Bundeskunsthalle Bonn)

Blaue Türmchen

In Sonderheit erinnert man sich aber auch an die damals wiederholt geäußerte Kritik an der Architektur dieser Bundesinstitution, die den bombastischen, triumphal-verspielten, quasi „unsachlichen“ Stil des Gebäudes geißelte. Die blaubunten Spitztürmchen auf dem Dach wurden heftig kritisiert, ebenso die Säulen auf Seiten der Helmut-Kohl-Allee, von denen jede für ein Bundesland stehen sollte, alte wie neue. Manchen Kritikern zeigte das Bauwerk gar Anklänge an nationalsozialistische Überwältigungsarchitektur, und das in etwa zeitgleich entstehende Museum des Bonner Kunstvereins mit seinem pompösen Entree gleich gegenüber tat das Seine (wenn man so will), um dieses Architekturensemble verwerflich erscheinen zu lassen.

Zeiträume

Tja. Das alles, und noch viel mehr, hätte man 2022 mit einer gewissen Schlüssigkeit wieder erzählen können. Doch dann wurde die Schau nicht fertig, Corona vermutlich, und das runde Datum schwand dahin. Um der jetzigen Ausstellung wenigstens ein bißchen Aktualität mitzugeben, hat man neben 1992 auch noch die Jahreszahl 1967 in den Titel geschrieben. So ergeben sich zwei annähernd gleich große Betrachtungszeiträume von 25 und 31 Jahren, 1967 bis 1992 und 1992 bis 2023, und bei allen Vorbehalten gegenüber allzu zeitnaher historischer Betrachtung weisen diese beiden Zeiträume fraglos unterschiedliche Prägungen auf. Eine „Erfindung“ der Bonner Ausstellung sind die beiden Jahreszahlen als Zäsuren der Postmoderne übrigens nicht, man findet sie, geäußert meistens unter Vorbehalt, auch andernorts.

Ettore Sottsass‘ Regal „Carlton“ der italienischen Postmoderne, beschichtet & bedruckt (Foto: Bundeskunsthalle Bonn)

Alles mögliche

Großen Wert legt Kolja Reichert, der die Ausstellung neben seiner Chefin Eva Kraus maßgeblich gestaltete, darauf, daß in Bonn nicht nur Architektur und Design zum Zuge kommen, sondern alle Künste, die Philosophie, der technische Fortschritt, die politischen Bewegungen. Nun gut; doch der Begriff der Postmoderne bezog sich in der ersten Hälfte der 90er Jahre – und da führte man ihn durchaus im Munde – ganz wesentlich auf Architektur und Design.

Gewiß, damals war der Kalte Krieg zu Ende, und Francis Fukuyamas Buchtitel „Das Ende der Geschichte“ machte die Menschen glücklich, weil sie es mit einem Ende von Krieg und Gewalt gleichsetzten. Aber sichtbar wurde Postmoderne vor allem – eben – in Dingen, Architekturen, Veranstaltungen. Nicht das Motto der Moderne „Form Follows Function“ galt fürderhin, sondern, in den Worten Eva Kraus’, „Form Follows Fun“. Man war weitgehend frei in der Gestaltung, bewundernd sprachen die Betrachter von einer Revision der Moderne oder, je nach dem, von Methodenpluralismus.

Ruiniert und verspielt

Ein bißchen Unsicherheit war aber wohl auch mit im Spiel, was die Ausstellung in ihrer Struktur sinnfällig spiegelt. Nach einer ersten, etwas anmaßend mit „Das Erwachen der Medien“ überschriebenen und mit vielen flachen Bildern bestückten Abteilung wird in der zweiten „die Moderne buchstäblich in die Luft gejagt“ (O-Ton Katalog) – in Zeichnungen, Film-Stills und Videos, aber auch (scheinbar) in der (fotografierten) Trümmer-Architektur James Wines‘ für die Supermarktkette „Best“. Doch die Postmoderne bot auch viel Platz für Verspieltheiten wie die pompös-barocken, knallbunt bezogenen Sessel und Sofas  Alessandro Mendinis, die weitgehend funktionsfreien, als Raumteiler titulierten vielfarbigen Holzgebilde von Ettore Sottsass, die frei fantasierte und nur scheinbar maßstäblich verkleinerte Ideallandschaft „Piazza d’Italia“ von Charles Moore. Auch eine Arbeit David Hockneys hat man hier einsortiert, „Kerby (After Hogarth), Useful Knowledge“, entstanden 1975, unerwartet allegorisch.

David Hockeys Bild „Kerby (After Hogarth), Useful Knowledge“ (1975), Oil on Canvas (Foto: David Hockey Collection, Museum of Modern Art (MOMA), New York, Pru Cuming Associates Ltd., Bundeskunsthalle Bonn)

Aerobic

Körperkult – Jane Fonda und Aerobic – und bei aller Skepsis auch ein gewisser Machbarkeitswahn sind weitere Stichworte der Schau, dargeboten ganz überwiegend mit flachem Bildmaterial. „Richtige“ Objekte aber sind bei Mode und Design zu bestaunen. Wir begegnen Alessis weltberühmten Salzstreuern und Pfeffermühlen, den putzigen PCs der Siebziger, den wattierten Schultern, den ehrfurchtgebietenden Schnurtelefonen mit Tasten, silbernen Teegeschirren, utopistischen Auto-Karosserien und manchem mehr. Über die Sinnhaftigkeit der Zusammenstellung möge das Publikum befinden. Denn wie gesagt: Wir sind ja viel zu nahe dran, als daß abschließende Urteile möglich wären, und je nach Perspektive mag die Gewichtung unterschiedlich erlebt und gutgeheißen werden.

Dröhnende Thesen

Allerdings irritiert mitunter die dröhnende Thesenhaftigkeit der Schau. Exemplarisches Zitat: „Kultur für alle!, heißt es ab Ende der 1970er-Jahre. Während der Sozialstaat rückgebaut wird, schießen Museen und Bibliotheken aus dem Boden. Die Idee ökonomischer Gerechtigkeit wird ersetzt durch kulturelle Teilhabe. Kultur wird zur Währung, die man haben muß.“ Ein bißchen revolutionär, ein bißchen anklagend, aber nicht zu sehr – vielleicht Kennzeichen des Kritisierens in der Post-Postmoderne, über die uns Nachfolgende in zwanzig, dreißig, vierzig Jahren schreiben werden.

Tea & Coffee von Aldi Rossi (1983) (Foto: Collection Groninger Museum, John Stiel, Bundeskunsthalle Bonn)

Schlechtes Beispiel

Als ein architektonisches Exempel der Kulturbauten in den Siebzigerjahren wird übrigens das 1977 eröffnete Centre Pompidou in Paris genannt; nur ganz leise sei vermerkt, daß dieses Haus in seiner Modernität (von Postmoderne sollte man sicherlich nicht reden, eher folgt ja hier ganz im Sinne der Moderne die Form der Funktion) in der Pariser Museumslandschaft nach wie vor ein Solitär ist. Das meiste, der Louvre vorneweg, ist gravitätisch und, wenn wir in diesem Begrifflichkeiten bleiben wollen, eher „vormodern“.

Blicken wir einmal noch in die Ausstellung. Medienpräsenz und Mediennutzung veränderten sich in den genannten Zeiträumen dramatisch, erzählt sie uns, die Clubszene expandierte, „Women of Colour“ erfanden die Identitätspolitik. Außerdem gab es Helmut Kohl und, nicht zu leugnen, das Erstarken einer neuen Rechten. Alles richtig.

Die Grünen

Es gab aber auch, und dazu findet sich wenig bis nichts in Katalog und Ausstellung, das Erstarken der Atomkraftgegner, der ökologischen Bewegung zunächst („Tunix“), der grünen Parteien späterhin in Deutschland und anderswo. Das geschah nicht nach dem Ende der Moderne, sondern wesentlich nach der Ernüchterung und der Selbstauflösung maoistischer Parteien wie KBW und KPD-AO. Auch die RAF hätte ungefähr hier ins Bild gehört, doch die Ausstellung bleibt da eigentümlich unpolitisch. Wie gesagt, bei der kurzen Betrachtungsdistanz noch erlaubt, aber nicht völlig zufriedenstellend. Doch vielleicht lohnt gerade dies den Besuch: Eigenes Erleben, eigene Erinnerung neben das zu stellen, was Ausstellungsmachern wichtig war.

Übrigens: „Anything Goes“, eine der vielen Zwischenzeilen dieser Schau, war 1934 schon Titel eines Musicals von Cole Porter. Was die Botschaft allerdings nicht schmälert.

  • „Alles auf einmal. Die Postmoderne, 1967 – 1992″
  • Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Bundeskunsthalle), Bonn
  • Bis 28. Januar 2024
  • www.bundeskunsthalle.de

 




Wer hat die Nase vorn? „Parsifal“ in Düsseldorf und Hannover

Szene aus dem dritten Aufzug des „Parsifal“ in Düsseldorf mit Daniel Frank (Parsifal) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Sandra Then)

In Düsseldorf steht er mit leeren Händen im gleißenden Licht, der neue Gralskönig Parsifal. In Hannover bleibt von den Wirrnissen der Ritter- und der Klingsor-Welt ein Kind übrig. Erlösung wird der Welt in beiden Inszenierungen nicht zuteil. Die Sicht auf Richard Wagners „Bühnenweihfestspiel“ ist pessimistisch, bei allen Unterschieden. Und die sind markant, in der szenischen wie in der musikalischen Gestaltung.

Die Premiere in Düsseldorf bringt den viel gelobten „Parsifal“ aus Genf an den Rhein, in einer minimalistischen Regie von Michael Thalheimer, der in der letzten Spielzeit einen faszinierenden Verdi-„Macbeth“ an der Deutschen Oper herausgebracht hat. Auf der Drehbühne (Henrik Ahr) ein Podest, abgeschlossen nach hinten durch eine mittig vertikal geteilte, schmutzigweiße Wand, horizontal gegliedert durch einen Querbalken. So ergibt sich ein Kreuz, einziger Hinweis auf die christlichen Konnotationen von Wagners Weltabschiedswerk.

Der künftige Erlöser schreitet strahlend weiß aus diesem Spalt auf eine Fläche, auf der Gurnemanz, ein stattlicher, gebrochener Mann, allzu hörbar schlurfend seine Runden dreht. Bis zu den Hüften muss er einmal im Blut gestanden haben – so wirkt jedenfalls sein schwerer Mantel. Das Blut holt alle ein: Die Gewänder von Michaela Barth, in denen die Gralsritter geistern, sind rot verschmiert; Kundry malt im dritten Aufzug unentwegt den Kernsatz des Werks wie eine Beschwörungsformel an die Wand: „Durch Mitleid wissend der reine Tor. Parsifal“. Die Sphäre Klingsors ist schwarz und vertikal gebrochen – die Rückseite der Welt der Gralsgesellschaft.

Woher das Blut, woher die Schuld? Thalheimer verweigert die Antwort, so wie er seinen „Parsifal“ überhaupt strikt von Deutung frei hält und damit bisweilen Bedeutung gefährdet. Mit den Mitteln minutiöser Personenführung und der peniblen Planung von Gesten und Gängen schafft Thalheimer ein zugespitztes Kammerspiel, das die Gefahr öder Langeweile bannt, weil die Figuren auch durch die szenische Konzentration der Darsteller selbst in langen Passagen gesungener Texte spannend und lebendig bleiben. Dieser „Parsifal“ hat viel mit der Magie des Spielens zu tun und ist deshalb auch ein Stück faszinierendes Schauspieler-Theater.

Vollgepackte Bühne in Hannover

Der Kontrast zu Hannover könnte nicht größer sein: Dort inszeniert einer der neuen Mode-Regisseure, der Isländer Thorleifur Örn Arnarsson, designiert für „Tristan und Isolde“ in Bayreuth 2024. Er schafft es, auf der vollgepackten Bühne von Wolfgang Menardi trotz ausgiebigen Einsatzes von Licht, Nebel und Personal langatmige Ödnis zu verbreiten. Auch bei Arnarsson gibt es verlangsamte Bewegung, wankende Choraufmärsche wie weiland bei Wolfgang Wagner, aber auch Schreiten und Stolpern, Holpern und Rennen, dazu einen nervigen Umbau bei offener Bühne, ein auf- und abfahrendes Gerüstpaneel mit Neonröhren über einem rätselhaften Becken, und verkohlte Baumstämme, die uns die wie auch immer geartete Katastrophe signalisieren und am Ende des ersten Aufzugs erwartungsgemäß nach oben entschweben.

Irgendwie Katastrophe: Die Bühne von Wolfgang Menardi für den „Parsifal“ in Hannover, hier mit Marco Jentzsch (Parsifal) und Shavleg Armasi (Gurnemanz). (Foto: Sandra Then)

Im Klingsor-Akt umschließt ein weißer Kasten eine steril-museale Landschaft, bevölkert von lethargischen Frauen mit aufgemalten primären Geschlechtsmerkmalen auf halbtransparenten Verschleierungen (Kostüme: Karen Briem). Das Gespräch zwischen Parsifal und der unruhig auf und ab tigernden Kundry wird zum finalen Durchhänger eines mit geschäftigen Leerläufen gesegneten Abends. Der im Interview im Programm zitierte C.G. Jung mag erklären, warum Arnarsson Amfortas und Klingsor vom selben Sänger – dem energisch, rotzig und gewalttätig, aber auch erbarmenswert schmerzvoll singenden Michael Kupfer-Radecky – verkörpern lässt. Aber die zentrale Idee der Regie wirkt trotz Psychologie als bloße Bedeutungs-Behauptung: Parsifal erscheint als Kind, junger Erwachsener und reifer Mann, um seine Entwicklung erfahrbar zu machen. Doch die Doppelungen und Mehrfachauftritte von Sänger Marco Jentzsch mit den Kindern Maximilian Blossfeld und Leandro Klyszcz vermitteln keine konzentrierte Erzähllinie.

Steril und ohne Blumenzauber: Klingsors Welt in Hannover. Im Zentrum Michael Kupfer-Radecky. (Foto: Sandra Then)

Was am Ende des Assoziationstrubels bleibt, als die blendende Weißlichtfläche, die wohl den „Gral“ symbolisieren soll, endgültig zur Hölle gefahren ist und die Gralsritter ihre Hörnerhüte – eine Assoziation an Hägar-der-Schreckliche-Helme und Frickas Widder – abgelegt haben, bleibt unklar. Die Sinnlosigkeit jeder Entwicklung? Das Kind – der Anfang der immergleichen Geschichte? Das Panorama vergeblicher menschlicher Versuche, der Akzeptanz des immerwährenden Leids der Welt zu entkommen? Das Gefühl der Erlösung jedenfalls wird nur in der erleichterten Erkenntnis spürbar, dass der Abend endlich zu Ende geht.

Spannungsreiches Klangbild

Musikalisch allerdings hätte er noch länger dauern dürfen, denn der Hannoveraner GMD Stephan Zilias spornt das vorzüglich auf Wagner eingestellte Niedersächsische Staatsorchester zu einem lebendigen und spannungsreichen Klangbild an. Man mag über das eine oder andere langsame Tempo an der Grenze zum Zähen streiten, man mag manche Steigerung für zu überbordend halten – am fabelhaften Eindruck des Abends ändert das nichts.

Zilias zeigt, dass „Parsifal“ sich nicht im Rausch der Linien erschöpft, dass die psychedelische Verführungsabsicht Wagners keineswegs das bestimmende Element der Musik sein muss, wie offenbar ein hartnäckiger, Protest im Publikum hervorrufender Buh-Rufer annimmt. Deutlich wird vielmehr, dass die Musik aus Konturen lebt, dass der Klang ausdifferenziert werden will, dass Einsätze, Farb- und Haltungswechsel nicht nur unmerklich ineinander übergehen, sondern akzentuierenden Zugriff brauchen. Auch der Chor von Lorenzo da Rio verliert sich nicht im Säuseln, lässt im marcato auch die aggressive Note dieser Gesellschaft erkennen. In den Fernchören gibt es schmerzhafte Wackler, das ist aber auch in Düsseldorf nicht anders, wo Gerhard Michalski seine Herren auf satte Sonorität und entschieden drängenden Gleichklang getrimmt hat.

Axel Kober in Düsseldorf, mit der Erfahrung des Bayreuther „Abgrunds“ im Sinn, liest die „Parsifal“-Partitur mischklangverliebter, aber auch mit Lust an langsamem, im ersten Aufzug zerfließend lahmendem Zeitmaß. Die Düsseldorfer Symphoniker zeigen in den Violinen wenig Kontur, bleiben im Finale zu sehr im Hintergrund und ohne Magie. Für die sensualistischen Provokationen der Klingsor-Welt produziert das Orchester nur gedeckte Farben und schalen erotischen Kitzel.

Sänger-Triumphe an beiden Häusern

Düsseldorf: Hans-Peter König (Gurnemanz) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Andreas Etter)

Gesungen wird an beiden Häusern sehr achtbar, teilweise auf einem Niveau, das man sich für Bayreuth wünschen würde. Der Trumpf in Düsseldorf heißt Hans-Peter König: ein beispielhafter Wagner-Sänger, klangvoll im Timbre, ausgeglichen in der Tonproduktion, wortverständlich und mit musikalischen Nuancen gestaltend. Ein großartig erzählender Gurnemanz. Aber auch Luke Stoker als präsenter Titurel überzeugt auf ganzer Linie. Michael Nagy erscheint im Zentrum der sich kreuzenden Linien der Bühne als blutige Christus-Assoziation und singt entspannt und expressiv – ein markanter Kontrast zum Klingsor von Joachim Goltz, der mit bewusst gehärteten, schneidenden Tönen und konzentriert fokussierend aus dem verstoßenen einstigen Gralsritter die grimmige Enttäuschung und den Willen zur Vergeltung herausstößt.

Daniel Frank, der Düsseldorfer Parsifal, wirkt zunächst recht dünnstimmig und grell, fängt sich im zweiten Aufzug und kann im dritten beweisen, dass er mit Kern und gesichertem Klang aussingen kann. Sarah Ferede wird in die Partie der Kundry noch hineinwachsen: Ihr Auftritt im Reiche Klingsors beginnt imposant, ihren Schmeicheltönen fehlt es nicht an Schmelz. Die letzte Rundung, die Souveränität über die Momente des Extremen, das Vermeiden von Schärfe in der Kraft fordernden Höhe sind noch nicht ausgereift. Auch Irene Roberts, die Kundry in Hannover, ist noch nicht so weit: Lautstärke ist keine Garantie für die Intensität des Ausdrucks, eine Stimme am Limit wirkt eher gefährdet als gefährlich und das Vibrato darf kontrollierter sein.

Der Star in Hannover heißt Michael Kupfer-Radecky – in Bayreuth war er Wotan in der „Walküre“ und Gunther in der „Götterdämmerung“. In der Doppelrolle Amfortas/Klingsor versteht er es, das Gemeinsame der ähnlichen existenziellen Verletzung, aber auch die Spannung zwischen den beiden so unterschiedlichen Charakteren herauszuarbeiten. Sein Bariton ist kraftvoll, aber nicht übermächtig, der Klang konzentriert, ohne verfestigt zu wirken. Kupfer-Radecky legt die Seele der Worte frei, und allenfalls in der einen oder anderen Verzerrung eines Vokals macht sich bemerkbar, wie viel Einsatz und Mühe hinter einer solchen Gesangsleistung steckt.

Daniel Eggert rückt als Titurel nicht in den Vordergrund; er singt klangschön zurückhaltend, Shavleg Armasi ist ein beredter Gurnemanz, der dieser Figur eine sympathische menschliche Note mitgibt – kein Grund, Missfallen zu äußern, wie es am Ende vom Rang herabschallte. Marco Jentzsch entkleidet den Parsifal in Hannover jeder heldischen Attitüde, hat aber nicht die Reserven, um die plötzliche Einsicht nach dem Kuss Kundrys und die daraus folgende Entschlossenheit zu beglaubigen. Zumal der Tenor auch im Lyrischen dünn wirkt, Piani nicht gestützt sind und die ausgemergelte Schärfe des Tons in dramatischen Momenten nur lautes und explosives Stemmen erlaubt. Dennoch bleibt es dabei: Musikalisch hat Hannover wegen der Klasse des Orchesters und einem spannungsvolleren Dirigat die Nase vorn, szenisch muss sich Düsseldorf vor dem Aufwand auf der niedersächsischen Bühne in keinem Augenblick verstecken.

Vorstellungen in Düsseldorf: 1., 15., 21.10.2023; 29.03., 07.04.2024. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/kalender/parsifal/1285/?a=termine

Vorstellungen in Hannover: 3., 8., 15., 22., 31.10. Info: https://staatstheater-hannover.de/de_DE/programm-staatsoper/parsifal.1343152

 




Der Wetterpilz – ein deutsches Phänomen?

Dieser Tage fotografiertes Prachtexemplar der Gattung: der in den 1950er Jahren errichtete Wetterpilz auf dem Dortmunder Hauptfriedhof – Geo-Koordinaten laut Homepage www. wetterpilze.de: 51.515964, 7.546124. (Foto: Bernd Berke)

Wie nennen wir sie eigentlich, diese schützenden „Pilze“, die meist in Wäldern oder Parks aufragen und bei Wind und Wetter als Unterstand dienen? Nun, je nach Region wohl ganz unterschiedlich. Am häufigsten heißen sie Wetterpilze oder eben Schutzpilze, andernorts auch Rastpilz, Schirmdach, Parasol oder (im Süden der Republik) Schwammerl.

Als ich neulich mal wieder ein Gewächs aus der naturnahen Gattung sah, dachte ich, dass man darüber auch mal ein paar Zeilen schreiben sollte, denn es schien mir, als seien Wetterpilze ein typisch deutsches Phänomen. Wie es sich vergleichsweise mit der Schweiz und Österreich et cetera verhält, das müsste noch näher beleuchtet werden. Zusatzfrage: Darf man sich bei Blitz und Donner unter einen solchen Pilz begeben? Reichlich Stoff für Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten! Aber in welcher Fakultät? Vielleicht doch Architektur, schon wegen der vielfältigen Pilz-Dachformen.

Als Laie habe ich zunächst eine Suchmaschine angeworfen – zum Thema, das ich nahezu für mich allein zu haben glaubte. Doch weit gefehlt! Sehr schnell bin ich auf den Namen Klaus-Heinz Herda gestoßen. Der Kölner ist offenbar geradezu besessen von Wetterpilzen. Er betreibt dazu eine einschlägige Homepage, sammelt allüberall Fotografien und mehr oder weniger detaillierte Beschreibungen dieser Zufluchten. Mit Hilfe einer überschaubaren Community und mit Online-Diensten versucht er, im Waldesgrün verborgene Pilz-Plätze zu orten. Überdies ist er dankbar für jeden konkreten Hinweis. Ob demnächst auch KI zum Einsatz kommen wird? Man weiß es nicht.

Rund 1000 Exemplare in der ganzen Republik?

Aus all diesen Nachforschungen sind mit der Zeit veritable „Wetterpilz-Karten“ entstanden, die die Schutzschirme geographisch exakt zuordnen. Rund 300 Stück hatte Herda – einem Bericht der „Leipziger Zeitung“ zufolge – bereits im Jahre 2013 beisammen. Damals schätzte er den mutmaßlichen Gesamtbestand auf rund 1000 Exemplare in ganz Deutschland. 2013 war es auch, als die Wochenzeitung „Die Zeit“ über Herda und seine erstaunliche Wetterpilz-Expertise schrieb (Ausgabe No. 30 vom 18. Juli 2013 – auch im eingangs verknüpften Wikipedia-Artikel verlinkt). Am 31. Juli 2020 kam dann die Tageszeitung (TAZ) ausführlich auf Herda und seine Leidenschaft zurück.

Je mehr Wetterpilze gelistet wurden, desto deutlicher haben sich auch Ansätze zu einer Typologie ergeben: In und um Köln, so hat Herda festgestellt, bestehen die Pilze größtenteils aus Beton, im Ruhrgebiet (wen wundert’s?) haben sie häufig ein stählernes Gerüst, in anderen Landstrichen herrscht Holz vor. Lauter unscheinbare Sonderfälle der Architekturgeschichte. Apropos Historie: Die ersten Wetterpilze wurden in unseren Breiten gegen Ende des 18. Jahrhunderts errichtet, anfangs noch als Bestandteil der Gartenkunst und zum Vergnügen des Adels. Ferne Vorbilder waren Standschirme in der Südsee, wie sie z. B. Captain James Cook bei seinen Expeditionen gesehen hatte. Im 19. Jahrhundert wurden die Pilze in Preußen „Tahitisches Schirmdach“ genannt. Damit wäre Jauchs Millionenfrage beantwortet.

Stählerne „Gewächse“ im Ruhrgebiet

Längst hat Klaus Herda, mit Unterstützung weiterer Pilzfreunde, auch in anderen Ländern (meist eher vereinzelte) Standorte gefunden. Doch tatsächlich sind sie wohl in Deutschland in besonderer Dichte aufzuspüren, nicht zuletzt im Ruhrgebiet und hier wiederum speziell in Dortmund, beispielsweise im Westpark, im Fredenbaumpark, auf dem Hauptfriedhof, im Hoeschpark und im Rombergpark. Wenn ich es richtig gesehen habe, hat Klaus Herda in seinen Verzeichnissen bis heute (mindestens) eine Dortmunder Stelle noch nicht erfasst, nämlich jene im Niederhofener Wald. Was die Fülle anbelangt: Okay, in Berlin gibt es noch ein paar mehr. Kunststück – bei der Fläche. Auch der angeblich weltgrößte Wetterpilz soll in der Hauptstadt stehen, genauer: in Berlin-Frohnau. Wie denn überhaupt laut TAZ Berlin ein Hotspot der „Pilzkultur“ ist.

Ein Platz für hart gekochte Eier

Wetterpilze haben etwas anheimelnd Gestriges, ja Konservatives an sich. Oder sollte ihnen auch etwas Muffiges anhaften? Man denkt vielleicht an die 1950er oder frühen 1960er Jahre, an Wanderausflüge und Jugendherbergen traditionell bescheidenen Zuschnitts, an Picknick-Rast mit selbst geschmierten Butterbroten, Schnitzeln und gekochten Eiern, womöglich auch an heimatliche Zusammenschlüsse wie den SGV (Sauerländischer Gebirgsverein). Sonderlich „Cool“ klingt das alles nicht. Freilich dürften heute im Schatten der Pilze auch schon mal ganz andere Dinge als harte Eier konsumiert werden.

Schließlich noch ein Vorschlag zur Güte: Statt dass „woke“ Leute abschätzig über „Biodeutsche“ oder gar „Kartoffeln“ spotten, könnten sie meinethalben „Ihr Wetterpilze!“ sagen. Hört sich doch irgendwie netter an, oder?

Klaus Herdas Homepage: www.wetterpilze.de




Podcasts überall – Tipps aus Politik, Kultur und Fußball

Links die derzeit liebsten Radiosender, rechts dito Podcasts und Mediatheken-Inhalte: Meine (teilweise temporären) Favoriten-Listen auf der geschätzten Seite radio.de (Screenshot: BB)

Zugegeben: Ich bin reichlich spät an der Reihe, habe ich mich doch erst in jüngster Zeit darauf verlegt, gelegentlich Podcasts zu hören. Jetzt aber!

Diese Form der akustischen Versorgung scheint die herkömmlichen Angebote der Radio-Stationen seit einiger Zeit geradewegs zu überwuchern. Unschätzbarer Vorteil: hören, wann immer es genehm ist; nach Gusto unterbrechen und den Faden später neu aufnehmen. Nicht nur das „lineare“ Fernsehen hat weithin abgedankt, auch das Radio nach festem Programmschema hat wohl seine besten Zeiten hinter sich. Doch Radioleute, vor allem aus dem öffentlich-rechtlichen Sektor, und überregionale Zeitungen mischen bei den Podcasts kräftig mit. Bei den großen Blättern hat praktisch jedes Ressort wenigstens einen eigenen Podcast. Mit entsprechendem Know-how kann inzwischen praktisch jede(r) einen Podcast aufsetzen, so wie theoretisch auch alle Leute Bücher im Selbstverlag herausbringen können.

Längere Strecken ohne lästiges Gedudel 

Zuallermeist können Podcasts kostenlos gehört werden. Kurze Werbeunterbrechungen scheinen allerdings hie und da zuzunehmen. Tatsache ist: Es gibt inzwischen Abertausende von Podcasts aller denkbaren Genres, allein schon in deutscher Sprache. Wenn man dann noch die anglophonen Angebote hinzunimmt, wird’s schon etwas unübersichtlich. Jedenfalls ist eine spezialisierte Suche unabdingbar (dazu zwei Hinweise am Schluss dieses Beitrags).

Einige Podcasts weisen erstaunliche Zugriffszahlen auf. Das lässt buchstäblich aufhorchen, deutet es doch darauf hin, dass viele Menschen sich auf ausgedehnte Mono- und Dialoge ohne ständiges Gedudel einlassen. Sie sind offenbar weitaus schlauer und geduldiger, als manche Radio- und Fernsehmacher glauben. Eine Stunde oder gar 90 Minuten unterbrechungsfreies Sprechen – wie wohltuend kann das im Glücksfalle sein; wie tief- und hintergründig, wie bereichernd.

Eine beliebte Herangehensweise ist jene, zwei möglichst intelligente und/oder gewitzte (zudem gern wenigstens halbwegs prominente) Leute miteinander plaudern zu lassen – entweder über „Gott und die Welt“ oder über allerlei Besonderheiten. Bei solchen, oft recht munteren Diskursen kommen durchaus originelle Kombinationen mit Reibungspotenzial zusammen. Oder es treffen Leute aufeinander, die herrlich miteinander harmonieren.

Wohltuende Distanz zur täglichen Aufregung 

Doch reden wir nicht noch weiter um den heißen Brei herum. Es folgen ein paar Tipps aus verschiedenen Sparten:

Sehr angenehm überrascht bin ich z. B. vom Format „Gysi gegen Guttenberg“ (erscheint wöchentlich – auch via YouTube), das den altbekannten Politiker der Linkspartei, Gregor Gysi, und die einstige, vermeintlich kanzlertaugliche, hernach ziemlich unsanft abgestürzte CSU-Hoffnung Karl-Theodor zu Guttenberg zusammenspannt. Beide sind außerordentlich eloquent, beide haben reichlich Erfahrungen im Politik-Betrieb gesammelt und können auch anekdotisch aus dem Vollen schöpfen. Wichtiger noch: Beide haben eine wohltuend entspannte Distanz zu den (partei)politischen Aufregungen des Tages gewonnen, sie betrachten das Ganze gleichsam von höherer Warte, ohne arrogant herabzublicken. Bislang habe ich drei (jeweils fast einstündige) Folgen der empfehlenswerten Reihe gehört. Eine handelte vom Wesen der Wahlkämpfe, eine andere vom Mit- und Gegeneinander der Politik und der Medien, eine dritte vom Aushalten harscher Meinungskämpfe in Zeiten grassierenden Wutbürgertums.

Verbale Doppelpässe sondergleichen

Mindestens ebenso angetan bin ich vom Fußball-Podcast „Zeigler & Köster“ (wöchentlich). Arnd Zeigler ist bekannt durch seine hellwache TV-Sendung „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“, Philip Köster firmiert als Chefredakteur des gleichfalls fröhlich aufgeweckten Fußball-Magazins „11 Freunde“. Beide als Kenner des Metiers zu bezeichnen, wäre untertrieben. Sie verfügen über stupendes Fußball-Wissen bis in abstruse Details hinein. Oft werfen sie einander fast schon vergessene Kicker-Namen und Jahrzehnte zurückliegende Vorfälle auf und neben dem grünen Rasen derart um die Ohren, dass es nur so seine Art hat. Sie spielen sich die verbalen Bälle zu, als vollführten sie atemberaubende Doppelpässe, Fallrück- oder Seitfallzieher und dergleichen. Wenn’s drauf ankommt, argumentieren sie ernsthaft und meinungsstark, doch kosten sie auch gut und gerne die humoristischen Valeurs der Fußball-Betrachtung aus. Großer Sport!

Innenansichten aus dem Literatur-Betrieb

In ein anderes Regal gehört der vom Hanser-Verlag lancierte Podcast „Hanser Rauschen“ (vierzehntägig), der von der Lektorin Emily Modick und dem Lektor Florian Kessler bestritten wird. Hier geht es keineswegs nur um Hanser, sondern generell um Ansichten aus dem Literatur-Betrieb. Die vollmundige Eigenwerbung setzt noch etwas drauf: „Es geht um Skandale und Strukturen, Stoffe und Ekstasen – um alles, was in Bücher passt und außenrum passiert.“ Die recht muntere Plauderei wird ein klein wenig getrübt durchs allzu routiniert abgespulte „Gendern“. Doch lohnt es sich, ins Rauschen ab und zu mal reinzulauschen. Solche Insider-Perspektiven zur Bücherwelt bekommt man sonst nicht alle Tage serviert. Zuletzt ging es um „Gossip“ (also Klatsch und Tratsch) im Literatur-Betrieb. Anspielungsweise war etwa von #MeToo in der Buchbranche die Rede. Wer allerdings gehofft haben sollte, hierbei konkrete Namen zu hören, musste freilich enttäuscht werden. Modick und Kessler wollen ja auch ihre spannenden Jobs behalten.

Vergleichsweise nüchtern mutet der NDR-Podcast mit dem schlichten Titel „Die Idee“ (in loser Folge) an. Hier führt der Redakteur Norbert Grundei ausgiebige Gespräche mit wechselnden Gästen. Ich bin zunächst auf eine Ausgabe gestoßen, in der sich Oliver Kalkofe zur Entwicklung des Fernsehens äußert, und zwar durchaus erhellend und plausibel. Eine seiner Grundthesen: Nahezu jedes Medienformat habe eine anfänglich wilde und ungemein kreative Phase – bis jene oberschlauen „Optimierer“ hereinschneien, die den Machern erzählen wollen, wie das alles noch besser und lukrativer geht. In aller Regel handelt es sich dabei um Verschlimmbesserungen bis hin zum völligen Niedergang. Ob von dieser Entwicklung auch der eine oder andere Podcast betroffen ist?

Es geht auch ohne Lanz, Precht und Beisenherz

Schließlich noch ein Blitzlicht auf „Megahertz“ (wöchentlich), einen Podcast aus dem Hause Neue Zürcher Zeitung (NZZ), die politisch teilweise in trüben Gewässern fischt, hier aber offenbar unterhaltsame Plauderstückchen anrichtet. Versuchs- und versuchungsweise reingehört habe ich in ein Gespräch mit der Berliner Porno-Produzentin Paulita Pappel, die freilich mittlerweile allüberall als Gast oder – wie die erklärte Feministin wohl sagen würde:  „Gästin“ (natürlich auch bei Böhmermann) – „herumgereicht“ worden ist, weil sie so zeitgeistig über Sex zu reden versteht. Seltsam genug: Es inspiriert und nervt gleichermaßen. Man müsste halt noch ein paar anderweitige Hörproben nehmen, um das „Megahertz“-Angebot fundierter zu beurteilen.

Wer nun Hinweise auf Blockbuster der Szene vermisst, beispielsweise auf „Lanz & Precht“ oder auf „Apokalypse & Filterkaffee“ (täglich) mit dem umtriebigen Micky Beisenherz (und Gästen wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder Markus Feldenkirchen), der/die möge sich das halt anhören. Mir ging es hier um Entdeckungen, wenn nicht um „Geheimtipps“. Lanz kommt oft genug im TV, die Dauer-Kombi mit Precht mag ich persönlich gar nicht ***. Wie aufgekratzt und kreischig der hyperdynamische, womöglich doch etwas überschätzte Beisenherz die Schlagzeilen der Stunde durchhechelt, geht mir auf den Wecker. Eine Folge habe ich tapfer durchgestanden. Weiterer Bedarf besteht kaum. Was darf man denn auch von einem Gehetzten erwarten, der tagtäglich ran muss (bzw. zu müssen glaubt)?

Und wie finden sich passende Podcasts? Nun, beispielsweise über die Suchfunktion von Websites wie radio.de oder podcast.de Es möge fruchten.

____________________________________________________

Nachtrag:

*** Erst recht nicht nach Prechts abgründigen Äußerungen zu Israel und zu dem, was er unter Judentum „versteht“.




Abschluss einer Ära: Hermann Max nimmt Abschied vom Festival Alte Musik in Knechtsteden

Hermann Max und seine Ensembles beim Eröffnungskonzert des Festivals Alte Musik Knechtsteden. (Foto: Michael Ratsmann)

Das mit den Kränzen, die den Mimen von der Nachwelt nicht geflochten werden, galt lange auch für ausübende Musiker. Erst Platten, Bänder und Speicher halten fest, was sonst ein flüchtiges Opfer der unaufhaltsam verrinnenden Zeit gewesen ist.

Hermann Max, der mittlerweile 82jährige Doyen der historischen Aufführungspraxis, hat mit vielen Rundfunk- und über 60 CD-Aufnahmen die Entwicklung seiner Klangästhetik dokumentiert, noch vor den ersten Anfängen des 1992 von ihm gegründeten Festivals Alte Musik Knechtsteden  bis in die Gegenwart – mit einem Passionsoratorium von Gottfried Heinrich Stölzel im Jahr 2021. Die Nachwelt hat also die Chance, die von Friedrich Schiller bedauerten fehlenden Kränze zu flechten.

Nun nimmt Hermann Max Abschied von „seinem“ Festival und lässt in acht Konzerten noch einmal die Musikerdynastie der Bachs feiern. Neben den berühmtesten aus allen „Bächen“, Johann Sebastian, treten Vorfahren, Verwandte und Nachkommen aus dem 16. bis in 19. Jahrhundert. Natürlich mit von der Partie sind die von Max gegründete „Rheinische Kantorei“ und „Das kleine Konzert“. Eröffnet hat der Bach-Medaillenträger des Jahres 2008 seine letzte Konzertreihe mit einem „Familientreffen“ der Bachs: Johann Christoph, Johann Ludwig, Carl Philipp Emanuel, Johann Christian, Johann Christoph Friedrich, Wilhelm Friedrich und natürlich Johann Sebastian fanden sich zusammen zu einem festlichen Pasticcio großartiger Musik. Ein Programm, das für eine der Leitlinien im Musikerleben Max‘ steht: Verschollenes entdecken, auf Rares aufmerksam machen, Unterschätztes ins rechte Licht rücken.

Aus der Verwandtschaft Bachs

Schauplatz der meisten Festivalkonzerte ist die romanische Basilika von Knechtsteden. (Foto: Werner Häußner)

In diese Linie gehört auch das Konzert in der Wochenmitte, bei dem in der romanischen Basilika der ehemaligen Prämonstratenserabtei Knechtsteden (auf dem Gebiet der Gemeinde Dormagen) Motetten von Bach-Familienmitgliedern erklangen. Rund 150 Lebensjahre durchmessen die sechs aufgeführten Motetten, die bei Begräbnissen bedeutender Persönlichkeiten gesungen wurden und entsprechend Themen von Trauer, Trost, Trübsal und Hoffnung behandeln. In allen Werken ist spürbar, wie hoch entwickelt die Komponisten das Wort-Ton-Verhältnis gestalten, wie sehr ihnen die Aussage der Texte am Herzen liegt, und wie bestrebt sie sind, in kunstvoller Anlage der Musik zu ihrem Recht zu verhelfen.

Der älteste der aufgeführten Meister ist Johann Christoph Bach, den Johann Sebastian als einen „profonden Componisten“ schätzte. 1642 in Arnstadt als Sohn von Heinrich Bach geboren und 1703 in Eisenach verstorben, hinterließ er rund ein Dutzend Motetten. „Der Gerechte, ob er gleich zu zeitlich stirbt“ ist im sogenannten Altbachischen Archiv überliefert. Die Ruhe des „Gerechten“ wird in der getragenen Einleitung versinnbildlicht, wenn er gleichsam unter einem großen musikalischen Bogen gelegt ist. „Er gefällt Gott wohl und ist ihm lieb“ schildert dann in aufsteigender Bewegung auch die Freude, endlich aus dem „bösen Leben“ zu enteilen.

Ob die Motette „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn“ von Christoph oder von Johann Sebastian Bach stammt, ist nicht klar, denn in Leipzig wurden unter Bach auch Werke von Johann Christoph aufgeführt. Die an den Vatergott gerichteten Worte aus dem Buch Genesis des Alten Testaments werden theologisch neu interpretiert, wenn sie mit dem Einwurf „mein Jesu“ auf den Erlöser der Christen hin bezogen werden. Die herbe Harmonik dieses Werks fällt auf: Der Ernst der Bitte drückt sich in der Musik aus.

Ausgeprägte Persönlichkeiten

Edzard Burchards leitet das Motettenkonzert in Knechtsteden. (Foto: Michael Ratsmann)

Bestens dokumentiert und eindeutig Johann Sebastians Feder entsprungen ist „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“. Die Musik hat wenig vom getragenen Trauerpathos des 19. Jahrhunderts, sondern ist leicht und lebhaft: Der „Geist“ ist eben nichts Statisches, sondern bewegte Energie und inspirierender Beweger. Der Inspirator am Pult, Edzard Burchards, verdeutlicht das durch straffe Tempi; die reiche Polyphonie mündet am Ende in ein leuchtend harmonisches Halleluja.

Wie unterschiedlich sich trotz der Konventionen der geistlichen Musik der persönliche Stil des jeweiligen Komponisten ausformt, macht die Motette „Wir wissen, so unser irdisches Haus dieser Hütten zerbrochen wird“ von Johann Ludwig Bach deutlich. Der entfernte Verwandte des Leipziger Thomaskantors, 1677 in Thal bei Eisenach geboren, war bis zu seinem Tod 1731 Kapellmeister am Hof zu Meiningen. Elf Motetten aus seiner Hand sind in der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek überliefert. Ludwig Bach macht aus dem Gegensatz der irdischen Hütten zu den verheißenen himmlischen Wohnungen ein expressives Mini-Drama: „Wir wissen“ erklingt betont, in einer Generalpause wird die melodische Linie gekappt und das Wort „zerbrochen“ tatsächlich in zwei Teile gespalten.

Carl Philipp Emanuel Bach, das zeigt die vierstimmige Motette „Oft klagt dein Herz, wie schwer es sei, den Weg des Herrn zu wandeln …“, gehört dann einer anderen Zeit an. Nicht mehr die kontrapunktische Arbeit, die lebendige Polyphonie stehen im Vordergrund. Er vertraut den Ausdruck der Melodie an, auf der die Worte kontinuierlich getragen statt im Einzelnen musikalisch ausgedeutet werden. Das Pathos etwa der Opern Christoph Willibald Glucks oder Antonio Salieris ist nahe.

Das Solistenensemble der Rheinischen Kantorei und die Continuo-Gruppe von „Das kleine Konzert“. Foto: Michael Rathmann

Das Solistenensemble der Rheinischen Kantorei mit acht Sängern widmet sich diesen unterschiedlichen musikalischen Stilen so engagiert wie kompetent. Burchards hatte sich entschieden, die Motetten nicht – nach dem Ideal des 19. Jahrhunderts – unbegleitet singen zu lassen. Er lässt die Stimmen von der Continuo-Gruppe von „Das kleine Konzert“ begleiten. Sibylle Huntgeburth (Cello), Miriam Shalinsky (Violone) und Johann Liedbergius (Orgel) sind einfühlsame Partner des Gesangsensembles: Die begleiteten Stimmen klingen runder, die harmonischen Verläufe wirken wie von Brokat umkleidet, auch einzelne Schärfen oder Missverhältnisse in der Balance werden ausgeglichen.

Die Flexibilität der Stimmen, die Intonation, die Expressivität des Wortes, die noble Emphase des Klangs, die Präzision in Fugen und polyphonen Abschnitten sind auf dem professionellen Niveau, das man von Hermann Max‘ Ensembles gewohnt ist. Lediglich der Sopran tut sich schwer, sich in den Klang einzufügen: Forcierte, grell und flach gesungene hohe Töne stören die Balance. – Zum Abschluss des Programms trug „Jesu meine Freude“ in kunstvoller Ausformung zur Freude der Zuhörer in der Basilika bei, die nicht zuletzt auch Flóra Fábri mit vier Duetten aus der „Clavier Übung“ Johann Sebastian Bachs vital befeuerte: Ihr nobles Spiel an der Truhenorgel war eine willkommene „Gemüths Ergezung“.

Seinen Abschied nahm Hermann Max am Samstag, 23. September, in einem festlichen Konzert in der Abteikirche, das vier Kantaten aus dem Frühwerk Bachs vor seiner Leipziger Zeit vorstellte – krönender Abschluss einer Festival-Leitung, die man getrost als Ära bezeichnen darf.

Das Festival Alte Musik in Knechtsteden (Gemeinde Dormagen) findet alljährlich im September statt. Info: https://knechtsteden.com/




Geschichtenerzähler im Videokabinett – Kunstsammlung NRW präsentiert den britischen Künstler Isaac Julien

Isaac Juliens Zehnkanalinstallation „Lessons of The Hour“ über den ehemaligen Sklaven, Freiheitkämpfer und Fotografen Frederick Douglass. (Foto: Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Achim Kukulies)

Überall Videos. Abgedunkelte Räume voll von unterschiedlich großen Projektionsflächen, auf denen in bunten Farben Bewegtbilder ablaufen. Alles sehr ordentlich, professionell und, ja, so kann man durchaus sagen: schön. Natürlich ordnet sich der überwältigende erste Eindruck zügig, die realen Räume sind eben auch Themenräume, in denen auf drei, fünf, zehn Bildflächen, je nachdem, Geschichten erzählt werden.

Große Werkschau

Der Schöpfer dieser Arbeiten, den Videokünstler zu nennen es nur zum Teil trifft, ist Isaac Julien, Jahrgang 1960, Brite, Documenta- und Biennale-Teilnehmer und für sein künstlerisches Schaffen bereits hoch geehrt. Zu sehen sind nun elf Video-Installationen sowie eine Reihe von Fotografien in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, im K21, dem Haus für das Zeitgenössische, das früher mal den Landtag beherbergte.

Videokünstler, Filmemacher, Fotograf: Isaac Julien (Foto: Theirry Bal/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen)

Schwarz und schwul

Seit Julien in den frühen 80er Jahren, mit Amateurvideo-, 8- und 16-Millimetermaterial zunächst, zu arbeiten begann, sind „schwarz“ und „schwul“ zentrale Motive. Von Anfang an ist da der Zorn über die ungerechten Verhältnisse. „Who Killed Colin Roach?“ aus dem Jahr 1983 etwa thematisiert den Mord an einem Farbigen vor einem Londoner Polizeirevier, „Territories“ (1984) Erfahrungen junger farbiger Frauen in England, und der Titel des Zehnminüters „This Is Not An AIDS Advertisement“ (1987) ist quasi selbsterklärend. „Western Union: Small Boats“ (2007) erzählt von afrikanischer Migration, verwebt die Dokumentation auf unerhörte Weise mit einer Tanzperformance Russell Maliphants. Altchinesische Mythen wiederum und die zu Anfang des 20. Jahrhunderts glamouröse Filmstadt Shanghai sind Thema von „Ten Thousand Waves“ (2010), werden thematisch in Zusammenhang gebracht mit dem tragischen Tod von chinesischen Wanderarbeitern in England. Es gibt der Themen etliche mehr.

Harlem Renaissance: Szene aus „Looking For Langston“ von 1989 (Foto: Isaac Julien, Courtesy the artist and Victoria Miro/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen)

Geschichte

Seit dem Ende der 80er Jahre, jedenfalls vermittelt die Düsseldorfer Schau diesen Eindruck, verlagert sich Juliens Interesse stärker hin zu historischen Themen. „Looking for Langston“ (1989), ein zwischen schwelgerischer Reinszenierung, Spielhandlung und eleganter Erotik meisterlich changierendes Werk in Schwarzweiß, thematisiert die „Harlem Renaissance“, die selbstbewußte Manifestation schwarzen homosexuellen Lebens in den 20er Jahren. „Ein wichtiger Beitrag zur Erforschung schwarzen, queeren Begehrens“ ist „Looking…“ laut Pressetext, „die wichtigste Arbeit der Ausstellung“ in den Worten von Kuratorin Doris Krystof.

Sklave, Freiheitskämpfer, Fotograf

Auch das üppigste Werk der Schau hat ein historisches Thema. „Lessons of The Hour“ (2019) – 10 Bildkanäle, Surroundsound, knapp eine halbe Stunde lang – portraitiert Leben und Werk des ehemaligen Sklaven Frederick Douglass, der sich selbst befreite und zum Freiheitskämpfer wurde. Douglass befaßte sich intensiv mit Fotografie, schrieb über sie, gilt überdies „als die meistfotografierte Persönlichkeit in den USA im 19. Jahrhundert“. „Der moralische und soziale Einfluß des Bildermachens“, noch einmal sei mit diesem Terminus der Pressetext zitiert, hat Isaac Julien in seinem eigenen Schaffen tief und nachhaltig motiviert. Und das Video (wenn man es denn doch einmal so nennen darf): schöne Bilder aus einer versunkenen Zeit, lange Kleider, Samt und Seide. Bilder gerade so, wie sie seinerzeit in den Fotoateliers entstanden.

In einem Fotoatelier des 19. Jahrhunderts; Szene und Still aus „Lessons of The Hour“ von 2019 (Foto: Isaac Julien, Courtesy the artist and Victoria Miro/Kunstsammlung Nodrhein-Westfalen)

Bildergalerie

Vier Stunden 35 Minuten braucht man, um alle in Düsseldorf gezeigten Filme vollständig anzuschauen. Aber dazu muß man sich schon zwingen, denn die Gleichzeitigkeit vieler Bildbotschaften nebeneinander vermittelt einen paradoxen Eindruck von Bewegungslosigkeit, von Gemäldeausstellung mithin. Das scheint ein wenig auch gewollt zu sein, ähnelt die Bildpräsentation doch sehr jener der brasilianischen Architektin und Designerin Lina Bo Bardi, die in von ihr geplanten Museumsbauten Alte Meister gerade so im Raum platzierte wie Isaac Julien in seinen Ausstellungen die Videoflächen. „Lina Bo Bardi – A Marvellous Entanglement“ (2019) heißt sein Film über sie, der übrigens nur über drei Videoflächen läuft.

Freiheit bedeutet, keine Furcht zu haben

Je länger man in der Schau verweilt, im Untergeschoß des K21, desto mehr verflüchtigt sich der Eindruck von „Oberflächlichkeit“ (ich stelle das mal in Tüttelchen, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen), den die formal makellose, technisch aufwendige Präsentation zunächst hervorgerufen hatte. In der zeitgenössischen Kunstproduktion begegnet man einem gewissen Mißverhältnis zwischen Aufwand und Botschaft häufiger, da hat sich beim Betrachter vielleicht eine falsche Erwartungshaltung herausgebildet. Isaac Julien jedenfalls erzählt ganze Geschichten, die trotz ihrer Opulenz nur zu einem Teil über die Videowand laufen und ihre Ergänzungen in den Köpfen der Betrachter finden. Und vielleicht erzählt er auch nur eine Geschichte. „I’ll tell you what freedom is to me. No fear” zitiert er die amerikanische Jazz-Sängerin und Bürgerrechtsaktivistin Nina Simone. Aus ihrem Satz ist der Titel der Ausstellung, die vor Düsseldorf übrigens in der Londoner Tate-Gallery zu sehen war, abgeleitet.

  • „Isaac Julien. What Freedom Is To Me“
  • Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K21, Ständehaus, Ständehausstr. 1
  • Bis 14. Januar 2024
  • Geöffnet Di-So 11-18 Uhr
  • www.kunstsammlung.de
  • Katalog 207 Seiten, 46 €

 




Unauflösliche Märchenwelt: Oper Köln eröffnet die Spielzeit mit „Die Frau ohne Schatten“

Daniela Köhler (Kaiserin) und Irmgard Vilsmaier Der(Amme). (Foto: Matthias Jung)

Dem früheren Intendanten des Aalto-Theaters Essen, Hein Mulders, ist mit der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ zum Spielzeitauftakt ein markantes Statement gelungen. Die Inszenierung von Katharina Thoma hat jedoch Leerstellen, die auch von der hervorragenden Orchesterleistung unter Marc Albrecht nicht verfüllt werden können.

Das üppige Orchester, die häufigen Verwandlungen, die Länge und die fünf extrem anspruchsvollen Hauptpartien: Richard Strauss‘ und Hugo von Hofmannsthals „letzte romantische Oper“ über ein Zwischenwesen aus dem Geisterreich, das keinen Schatten wirft, ist ein dicker Brocken selbst für große Bühnen. Im Staatenhaus, der Spielstätte der Oper Köln bis zur hoffentlich baldigen Wiedereröffnung des Hauses am Offenbachplatz, sind häufige Verwandlungen oder ein technischer Bühnenzauber nicht zu realisieren. So macht Johannes Leiacker die Not zur Tugend: Eine Erhöhung, aus Schichten geformt wie eine geologische Formation, ganz in Weiß, in organisch verlaufenden Kurven, mit einem krönenden Felsen – das war’s in Sachen Bühnenbild.

Das Gürzenich-Orchester sitzt weit gestaffelt rechts von der Bühne: Der Klang ist weniger fokussiert als in einem Graben. Dirigent Marc Albrecht lässt die Musiker diesen Raum nutzen: Strauss‘ filigran verwobene Linien und Motive bündeln sich, streben massiert zusammen, spritzen in glitzernder Gischt wieder auseinander, entfalten sich frei und räumlich. Die wundervoll ausgekosteten Piano-Stellen tragen. Albrecht kann die Musik großzügig aufblühen lassen, breitet ein leuchtendes Spektrum aparter Klangfarben aus, baut vom zurückhaltenden ersten bis zum pathossatten dritten Akt einen Spannungsbogen auf, der sich nicht dynamisch verausgabt, bevor er die Kulminationspunkte in der zweiten Hälfte des Abends erreicht.

Sinnlich und klug disponierte Musik

Die Musiker des Gürzenich-Orchesters können zeigen, was sie drauf haben, ob Celli oder Celesta, die fünf Tuben oder Tamtam und chinesische Gongs. Aber der Raum setzt auch Grenzen: Blechbläsereinsätze geraten allzu gerundet, wo sie scharf attackieren müssten, die Holzbläser gehen seltsamerweise immer wieder unter. Trotzdem: Albrecht präsentiert sich als ein Strauss-Dirigent von Format, der diese „Frau ohne Schatten“ so sinnlich wie klug disponiert und nicht an den knalligen Effekt verrät.

Der Kaiser (AJ Glueckert) und sein Falke (Giulia Montanari). (Foto: Matthias Jung)

Für die Sänger ist der Vorteil unüberhörbar: Sie müssen nicht forcieren, werden vom Orchester nicht übertönt, auch wenn Albrecht die massive Wucht dieser vollkommenen Synthese des Symphonischen und des Dramatischen auskostet. Diese Chance nutzt AJ Glueckert als Kaiser. Er nimmt die Dramatik zurück, legt die Partie kantabel an, betont so, dass dieser romantische Jäger der weißen Gazelle, die sich zur Frau verwandeln sollte, ein verträumter Held ist, dem Geisterreich nicht zugehörig, aber zugetan. Der Stimme des Tenors kommt dieser Ansatz sehr entgegen.

Die Kaiserin Daniela Köhler setzt zu Beginn („Ist mein Liebster dahin …“) zu viel Vibrato ein und stört damit den ruhigen Fluss der Stellen im piano. Doch mit zunehmend bewusstem Stützen normalisiert sich das Schwingen des Soprans, der substanzvoll, leuchtend und sich in den typischen weiten Strauss-Phrasen blühend aufschwingt. Köhler verkörpert die zentrale Figur dieser Inszenierung: Das Streben nach einem Schatten führt sie in die Welt einfacher Menschen, in der sie mehr und mehr erkennt, wie Empathie und Zuwendung das Leben menschlich machen – und der Schatten steht ja als Symbol nicht nur für weibliche Fruchtbarkeit, für die Erweiterung der Person in die Welt hinein, sondern für die ambivalente menschliche Existenz, die auch Schmerz, Opfer und Tod umfasst. Im Kontakt mit dem Färber Barak und seiner unverbrüchlich naiven Bereitschaft, Schattenseiten anzunehmen und zu ertragen, erkennt sie, was es bedeutet, als Mensch zu fühlen und zu handeln. Deutlich wird ihr Wandel in einer berührenden Szene im zweiten Akt, als sie dem erschöpften Barak den Schweiß von Stirn und Füßen wäscht.

Kampf mit vokalen Herausforderungen

Die Hierarchie ist klar: Oben steht die Kaiserin (Daniela Köhler), unten die Färberin (Lise Lindstrom), dazwischen die Amme (Irmgard Vilsmaier). Foto: Matthias Jung.

Auch die Färberin gestaltet ihre Rolle als einen Lernprozess: Lise Lindstrom kämpft nicht nur mit der Armut, mit den Zumutungen der drei versehrten Brüder im Haushalt (Insik Choi, Christoph Seidl, Ralf Rachbauer), sondern auch mit ihren unerfüllten Wünschen. Die bunten Kleider, die ihr Kostümbildnerin Irina Bartels verpasst, stehen für ein Lebensbegehren, das die Färberin im Mutterglück sucht, und für das Streben nach Anerkennung in einem Haus, in dem sie als „Weib“ abgewertet und lediglich „gehegt und gefüttert“ wird. Beide, der Färber und seine Frau, lernen, sich zu achten und Liebe aus gegenseitigem Respekt zu gewinnen.

Lindstrom kämpft aber auch mit den vokalen Herausforderungen: Ihr Sopran leidet unter übermäßigem Vibrato. Spitzen- und andere im Metrum bedeutende Töne werden überstark herauskatapultiert, während Linien unterbelichtet bleiben und nicht kontinuierlich durchgestützt werden. Die flackernde Tonproduktion lässt die Farben der Stimme verblassen und stört eine saubere Artikulation. Anders der Färber von Jordan Shanahan: Er singt verständlich, bildet den Klang füllig und sonor, ist auf entspannten Fluss bedacht.

Als Amme hat Irmgard Vilsmaier eine Reihe exponierter Momente, in denen sie stimmlich alles geben muss. Als alte Dame mit Stock, altbackenem Hütchen und einem großmütterlich schwarzem Kostüm mit weißen Handschuhen steht die Amme zwischen dem cleanen, gestylten Weiß der Geister und der realistisch farbvielfältigen Welt der Menschen. Die „schwarz-weiße Schlange“ wirkt enthoben und mutiert zum Symbol, wenn sie im zweiten Akt als Spinne in einem projizierten Netz den Schlaftrunk für Barak bereitet, auf dass der verführerische Jüngling als Preis für den Schatten ungestört für die Färbersfrau verfügbar sei. (Bryan Lopez Gonzalez sieht blendend aus, bewältigt die Rolle aber mit müden und mühevollen Tönen unbefriedigend). „Was Menschen bedürfen, du weißt es zu wenig“ sagt ihr die Kaiserin: Die Amme konnte die Entwicklung ihres Schützlings nicht mitvollziehen. Stimmlich wie szenisch bleibt Irmgard Vilsmaier mit herben und gleißenden Tönen präsent, bis sie von der machtvollen Stimme des Boten (Karl-Heinz Lehner) aus dem Geisterreich verstoßen und bewegungslos hinausgefahren wird.

Zwischen Phantastik und Sozialrealismus

Der Vorzug der Inszenierung von Katharina Thoma ist, den Personen den erzählerischen Raum zu öffnen, soweit die Berg-Insel Leiackers es zulässt. Doch wohin mit dem Märchenhaften der „Frau ohne Schatten“, mit dem Symbolismus? Der Falke ist lediglich eine aparte, rot leuchtende Erscheinung (Giulia Montanari), aber die Nachtwächter (Sinhu Kim, Yongmin Kwon, Michael Terada) dürfen in schwarzen Priestersoutanen über die Bühne schreiten und ihren Sinnspruch in magischen Strauss-Choralklängen verkünden. Und wohin mit dem anfechtbaren Frauenbild oder gar dem Immanentismus von Richard Strauss, der seltsam quer zu den transzendierenden „romantischen“ Bestrebungen des Hoffmannsthal-Librettos steht? Dafür bietet Thoma keine plausible Lösung.

Die Regisseurin, Wunschkandidatin von Intendant Hein Mulders, gestaltet in den ersten beiden Aufzüge weitgehend die Story aus, nutzt Georg Lendorffs Projektionen, um erzählerischen Realismus aufzubrechen, setzt aber mit dem Verteilen und Verpacken von Altkleidern szenische Markierungen, die sich erst im dritten Aufzug auflösen: Jetzt wird verständlich, warum vorher schon Kinder die Fetzen und Lumpen von der Bühne geräumt haben. Alttextilhändler Barak ist am Werk! Doch jetzt, nach der videogesättigten Katastrophe am Ende des zweiten Aufzugs, wird ein Lebloser von Sanitätern abtransportiert, bevölkern Kinder und Erwachsene die Stufen wie Migranten den Strand von Lampedusa.

Gleichzeitig kriechen fantastische Lemuren am Bühnenrand entlang, die später die Amme hinausfahren werden. Die Kaiserin hat ihr Geisterweiß verloren und tritt in fraulichem Gewande auf, der Fels, an dem der Kaiser bereits in ununterscheidbarem Grau angeklebt war, zerbricht. Übermächte und Sozialrealismus vermischen sich, ohne dass eine Sinn-Synthese geboren würde. Katharina Thomas Inszenierung verpufft. Was bleibt, sind szenische Bilder und das Gefühl, diese unzeitgemäße „Frau ohne Schatten“ beharre starrköpfig in einer unauflösbaren Märchenwelt.

Weitere Vorstellungen am 23., 29. September, 3., 8., 11. Oktober.
Info: https://www.oper.koeln/de/programm/die-frau-ohne-schatten/6547




Mit Lust in die neue Spielzeit: Daniel Hope eröffnet den Konzertreigen der Essener Philharmonie

Daniel Hope und Ryszard Groblewski beim Eröffnungskonzert der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz)

Was für eine sympathische Idee, die Spielzeit der Essener Philharmonie mit Mozart und mit einer Uraufführung zu beginnen.

Da haben wir musikalisch den „inspirierenden Dialog“, den sich die neue Intendantin Marie Babette Nierenz für die Philharmonie als Teil der Stadtgesellschaft wünscht. Da haben wir die künstlerische Exzellenz, die einen Konzertsaal dieser Größe und diesen Renommees füllt. Und wir richten den Blick auf ein musikalisches Genie, das mit früher höher geschätztem Pathos, aber nicht zu Unrecht als „apollinisch“ bezeichnet wurde: Wenn es denn einen Gott gibt, dann hat er in Musik wie der „Jupiter“-Sinfonie seinen tönenden Abglanz auf Erden gefunden.

Mit dieser C-Dur-Sinfonie, die den Höhepunkt der musikalischen Entwicklung des 18. Jahrhunderts markiert und gleichzeitig visionär in die Zukunft weist, präsentieren sich Daniel Hope und das Zürcher Kammerorchester vor fast voll besetztem Saal. Der in Südafrika geborene Geiger mit irischen und deutschen Wurzeln ist seit mehr als zehn Jahren häufiger Gast in Essen. Das Konzert war der erste von drei Teilen einer Reihe, welche die Philharmonie Hope zum 50. Geburtstag widmet. Die beiden anderen Konzerte – eines davon seine „Irish roots“ musikalisch freilegend – folgen am 20. und 21. April 2024.

Daniel Hope. (Foto: Daniel Waldhecker)

Das Zürcher Kammerorchester hat sich die Frische im Spiel bewahrt, die sein Gründer und langjähriger Leiter Edmond de Stoutz gepflegt hat – auch wenn diese Generation unter seinen Musikern inzwischen abgetreten sein dürfte. Hope leitet die Sinfonie als „Erster unter Gleichen“ an der Violine und lässt den frisch-geschmeidigen, auf Transparenz und sauber polierte Tongebung achtenden Klang des Orchesters frei sich entfalten. Nicht ohne Dramatik das heftige Pochen, in dem man den Komtur aus „Don Giovanni“ an die Pforten klopfen hört; mit sanfter Eleganz und wunderbar warmem Flair die kontrapunktischen Spiele der Bläser mit ihrer „Zauberflöten“-Poesie. Flott das Tempo, deutlich die Artikulation – nur die Balance zwischen Streichern und Bläsern fällt dann fragil aus, wenn die Violinen einmal kräftig Contra geben müssten. Da sind dann doch die Limits der Besetzung zu spüren.

Elegante Transparenz

Ganz aus dem Geist eleganter, beseelter Transparenz heraus entwickelt sich auch Mozarts Sinfonia concertante (KV 364). Daniel Hope und der Bratscher Ryszard Groblewski spielen sich die Notenlinien zu, turnen auf den Phrasen mit stupender Leichtigkeit, sorgen für Beleuchtungswechsel und bebend sanfte Rhythmik. Manchmal wirkt die Artikulation ein wenig weich und kraftlos, dann werden auch die Tutti des Orchesters mulmig. Aber das straffe Tempo, vor allem im prägnanten „Presto“-Finalsatz, richtet es wieder: Wenn’s hurtig wird, zeigen die Musiker, wie trennscharf und präzise sie zu gestalten wissen. Mozart, unsere Freude!

Ob in Salzburg, Paris, Mannheim, Italien oder Wien: Wolfgang Amadé hat stets Neues begierig aufgesogen, als genialer Imitator adaptiert und in seine eigene Sprache verwandelt. So passt es programmatisch bestens, zwischen Mozarts Paradestücken eine Uraufführung zu platzieren: Der 1970 in Stanford, Connecticut geborene und in England aufgewachsene David Bruce hat bereits 2014 Gil Shaham ein Violinkonzert („Fragile Lights“) gewidmet und nun für Daniel Hope sein zweites Werk in diesem Genre vorgelegt: „Lully Loops“ ist ein gewitzt-spielerisches Capriccio, das Fragmente des italienisch-französischen Komponisten und Violinisten in neue musikalische Zusammenhänge stellt – eben auch eine Anverwandlung in eigene Sprache.

Knistern und Blühen

Die vier Teile werden jeweils von einem knisternd aufgenommenen, kaum verständlichen Text – soll der Ton lediglich nostalgisches Gefühl wecken? – eingeleitet. Die Themen Lullys treten deutlich hervor und wiederholen sich wie „loops“. Im ersten Teil setzen sich unterschiedlich artikulierte harmonisch konsonante und spannungsreiche Liegetöne mit dem Thema auseinander, im zweiten kommentieren Pizzicati ein eher tänzerisches Thema. Im dritten blühen aus einer Art Bordun die Töne heraus, die sich zur Melodie verdichten. Das vierte lässt den klaren Rhythmus Lullys hören und bricht mit einem Absinken der Stimmung ab, so, als werde ein Tonband verlangsamt. Ein harmonisch dichtes Gewebe, das spielerisch sicherlich Freude bereitet und den Zuhörer nicht ohne Humor mit Vergnügen am Entdecken und an der Verfremdung, aber auch einem Hauch augenzwinkernder Nostalgie abholt.

Bunte Vielfalt im Herbst

Ein Saisonauftakt voller Musiklust und ohne bemühte Schwere, dem die Philharmonie in den nächsten Wochen eine bunte Vielfalt von Konzerten folgen lässt. Mit dem Dirigenten Sir Antonio Pappano und der Geigerin Patricia Kopatchinskaja stellen sich demnächst die beiden „Porträtkünstler“ dieser Saison vor. Beide kommen am 22. Oktober mit dem London Symphony Orchestra, als dessen neuer Chefdirigent Pappano fungiert: Kopatchinskaja spielt das Violinkonzert „Tausend und eine Nacht im Harem“ von Fazil Say; Pappano widmet sich Beethovens Siebter Sinfonie. Am 8. November ist Pappano dann mit seinem bisherigen Orchester, der römischen Accademia di S. Cecilia und Igor Levit zu Gast, diesmal mit dem c-Moll-Klavierkonzert Beethovens und zwei Tondichtungen, „En Saga“ von Jean Sibelius und Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“.

Schon am 22. September eröffnet die moldawische Geigerin die Reihe ihrer sechs Saisonkonzerte mit einem sehr persönlichen Programm im RWE Pavillon. „Zu Hause bei Patricia Kopatchinskaja“ vereint Werke von George Enescu, Béla Bartók, Darius Milhaud, Paul Schoenfield, Igor Strawinsky und ein eigenes Stück „für Polina und andere Traumwesen“: Gemeint ist die Pianistin Polina Leschenko, die mit dem Klarinettisten Reto Bieri den instrumentalen Part des Abends gestaltet. Am 9. und 10. November spielt Kopatchinskaja mit den Essener Philharmonikern als Uraufführung ein Violinkonzert von Aurelio Cattaneo.

Ligeti und Bruckner

Mit fünf Konzerten in den kommenden zwei Monaten fehlt auch ein Schwerpunkt zum 100. Geburtstag von György Ligeti nicht. Die Spanne reicht von einem Abend mit Pierre-Laurent Aimard und Ligetis „Musica ricercata“ am 26. September, dem „Poème Symphonique“ für 100 Metronome am 1. November, Ligetis „Lux Aeterna“ und dem Requiem, verbunden mit einem neuen Orchesterwerk von Clara Iannotta ebenfalls am 1. November, bis zu Ligetis Erstem Streichquartett in einem Konzert des Mannheimer Streichquartetts am 19. November in der Alten Synagoge.

Im nächsten Jahr erklingt dann in einem Schwerpunkt zum 200. Geburtstag Anton Bruckners vor allem geistliche Musik des österreichischen Meisters. Damit nicht genug des Chorklangs: Mit Mozarts „Requiem“ mit Philippe Herreweghe, Felix Mendelssohn Bartholdys „Elias“ mit Raphaël Pichon und Joseph Haydns „Die Jahreszeiten“ mit Jordi Savall erwarten das Essener Publikum große Vokalwerke in hochkarätigen Besetzungen.

Info: www.theater-essen.de

(Das Konzert mit Daniel Hope wurde vom WDR aufgezeichnet und wird am Sonntag, 8. Oktober, im Fernsehen ausgestrahlt).

 




Die feine Art des Speisens: Vincent Moissonniers Ratgeber „Der Käse kommt vor dem Dessert“

Das literarische amuse gueule, also das geschmacksanregende Vorwort stammt vom Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, einem sinnenfrohen Genießer. Autor des Haupttextes ist indes der aus Frankreich stammende Küchenchef Vincent Moissonnier. Er hat sich seit langer Zeit mit seinem Spitzenrestaurant in der vermeintlich „französischsten“ deutschen Stadt niedergelassen, in Köln. Das Prädikat ist anfechtbar, aber egal.

In frankophilen Zusammenhängen, so weiß man, wird seit jeher am edelsten gespeist. Auch die zugehörigen Benimmregeln sind ursprünglich aus der höfischen Kultur Frankreichs hervorgegangen. Just um die heute wünschenswerten Varianten und Nuancen geht es im vorliegenden Buch „Der Käse kommt vor dem Dessert“. Untertitel: „Goldene Regeln für den Restaurantbesuch – von Dresscode bis Trinkgeld“.

Sind wir etwa wieder in Zeiten angelangt, in denen förmlicher Benimm abermals eine größere Rolle spielt? Mit mehr oder weniger wohligem Gruseln erinnern sich die Älteren unter uns an bestens parodierbare Publikationen wie „Der gute Ton in allen Lebenslagen“. Doch wahrscheinlich brauchen wir ja dringlich solche Gegenkräfte zur oftmals waltenden Rüpelhaftigkeit; wenn auch nicht mehr so steifleinen wie ehedem.

Köln mit französischen Akzenten

Argwöhnische Menschen mögen „kölschen Klüngel“ dahinter wittern, andere die kuschelige Vertrautheit zu schätzen wissen: Vorwortgeber Ortheil ist gebürtiger und überzeugter Kölner. Moissonnier betreibt just dort sein Gourmet-Restaurant, in dem gewiss auch Ortheil gelegentlich zu dinieren pflegt. Ko-Autor des Buches ist Joachim Frank, seines Zeichens Mitglied der Chefredaktion beim Kölner Stadtanzeiger, der wiederum im Dumont-Verlag erscheint. Kein Wunder also, dass dieses Buch im Dumont-Buchverlag herauskommt. Man ahnt: Hier herrscht gesteigerte Kölschigkeit mit französischem Akzent, mithin nicht nach lässiger Art der ortsüblichen Köbes-Gastronomie.

Moissonnier will uns einerseits die Furcht vor allzu rigiden Verhaltensregeln nehmen, es gehe vornehmlich darum, ein Gefühl für Stil zu entwickeln. Eine seiner Grundregeln lautet: Hauptsache, dass alle Beteiligten sich wohlfühlen. Dennoch häuft er im Laufe des Buches viele, viele Empfehlungen an, die sich denn doch zum dicht geflochtenen Regelwerk summieren. Was da alles zu beachten ist!

Sind Smoking und Frack vorhanden?

Wann verschickt man die Einladungskarte, was sollte draufstehen, wie wird zu- oder abgesagt, welcher Dresscode soll jeweils gelten (hoffentlich haben alle Herren zur Not wenigstens einen Smoking und einen Frack parat, es wird hier quasi vorausgesetzt), wie verhält es sich mit der Sitzordnung, wie schaut der perfekt gedeckte Tisch aus, wie die Speisen- und Getränkefolge, wann und wo darf zwischendurch geraucht werden, wie wird diskret reklamiert, wie am besten bezahlt und ein Trinkgeld gegeben, wie genau wird das auch nicht ganz unkomplizierte Begrüßungs- und Abschiedsritual absolviert? Und so weiter, und so fort. Puh!

Die Benutzung der Servietten (selbstverständlich aus Stoff, keine – so wörtlich – „gottverdammten Papierservietten“) möge als kleines Beispiel dienen. Zitat:

„Zum Essen legen Sie die Serviette einmal quer gefaltet auf Ihre Beine, die offene Seite zu Ihnen gewandt, und putzen sich die Lippen immer mit der Innenseite ab. Wenn Sie die Serviette danach zurücklegen, bleibt die Außenseite sauber und man sieht die Flecken nicht. Denken Sie auch daran, während des Essens jedes Mal die Serviette zu benutzen, bevor Sie etwas trinken. Fettränder vom Essen am Glas sehen einfach scheußlich aus. (…) Am Ende des Essens landet die Serviette bitte nicht auf dem Teller. Das ist eine Katastrophe…“

Mit Gläsern anstoßen oder nicht

Man hat ja schon von schlimmeren Katastrophen gehört, aber sei’s drum. Auch nationale Unterschiede der Esskultur geraten hin und wieder in den Blick. Die englische und US-amerikanische Angewohnheit etwa, die Linke aufs Knie zu legen, während die Rechte nur noch mit der Gabel operiert; die deutsche Sitte, mit den Trinkgläsern anzustoßen, die in Frankreich unbekannt ist; die angeblich vorwiegend niederländische Neigung, sich am Buffet für ganze Tage zu versorgen… Moissonnier wird es wohl wissen, er hat Gäste aus praktisch allen Ländern dieser Erde bewirtet. Freilich wohl kaum aus unteren Schichten der Gesellschaft.

Der Buchtitel bezieht sich natürlich aufs Finale der Speisenfolge. Der alte Merksatz, demzufolge „Käse den Magen schließt“, sei unsinnig, befindet Moissonnier. Stets gehöre das Dessert ans Ende eines stilvollen Essens. Dazu gibt es einleuchtende Begründungen.

Butter nicht streichen, sondern heben

Zuweilen geht es allerdings arg ins Detail. Wird etwa Brot auf einem Vorspeisenteller kredenzt, so sollen wir die Butter um Himmels Willen nicht schnöde aufstreichen, sondern mit dem Messerchen als hauchdünne Schicht aufs Brot heben. Tja. Wer solche Feinheiten nicht befolgt, steht in diesem Kontext ganz schön belämmert da. Vor einem Besuch im „Moissonnier“ zu Köln (oder vergleichbar ambitionierten Etablissements) sollte man tunlichst dieses Buch gelesen haben, sonst tuschelt eventuell das Personal – oder es erscheint gar der Maître persönlich am Tisch, was in besonders peinlichen Fällen geschehen sein soll.

Einzelheiten muten übertrieben penibel an. Dass jedoch gewisse Grundformen gewahrt und gepflegt werden, ist keinesfalls nur hochnäsiger Unsinn im bourgeoisen Sinne. Insofern haben wir hier doch einen kundigen Ratgeber aus wahrlich berufenem Munde. Muss auch nicht jeder Satz beherzigt werden, so eben doch der Geist und das stilistische Empfinden.

Vincent Moissonnier / Joachim Frank: „Der Käse kommt vor dem Dessert.“ Mit einem Geleitwort von Hanns-Josef Ortheil und Illustrationen von Nishant Choksi. Dumont. 160 Seiten, 20 Euro.

 




Klangreise in die Unterwelt: Das Orchester „Les essences“ spielt ein Konzeptkonzert im Essener Katakomben-Theater

Das Kammerorchester „Les essences“ wird vom Kulturministerium des Landes NRW gefördert (Foto: eyedoit)

Wir steigen hinab, Stufe um Stufe, Stockwerk um Stockwerk. Aus der Hitze, der blendenden Helligkeit eines Spätsommertags in die dunklen Räume des Essener Katakomben-Theaters, die uns verschlucken wie ein Höhlensystem: eine fensterlose Gegenwelt mit schwarzen Wänden und verwinkelten Verbindungsgängen.

Schon bevor der erste Ton erklingt, sind wir mitten im Spiel des Kammerorchesters „Les essences“, das diesen Ort sehr bewusst für ein Konzeptkonzert zu den Themen Trauer und Tod ausgewählt hat. Wie Klang und Raum zusammenwirken, wird bei den Konzerten dieses jungen, international besetzten Orchesters besonders deutlich. Sein Gründer und Leiter, der deutsch-türkische Geiger Önder Baloglu, legt hohen Wert darauf, die Musik mit den Orten zu verbinden, für die sie ursprünglich geschrieben wurde. So spielt „Les essences“ Serenaden unter freiem Himmel, geistliche Werke in der Kirche und Kammermusik gerne mal im Salon.

Die Räumlichkeiten im Katakomben-Theater nutzt das Orchester für eine Art Wandelkonzert. Durch eine geöffnete Seitentür spielt es in den fast vollständig abgedunkelten Saal hinein, dessen Bühne lange leer bleibt. Nur für ein paar Streichquartettstücke wechseln vier Musikerinnen und Musiker vom Nebenraum auf die Hauptbühne, wo sie nahezu ohne Beleuchtung spielen. Die weißen Oberhemden der Musikerinnen und Musiker schimmern matt im Schein der iPads, die auf den Notenpulten stehen.

Für das Publikum gibt es fast nichts zu sehen, dafür aber viel zu hören. Wie der Klang der Streicher in den Zuschauerraum hinein sickert, sich dort flächig ausbreitet und Atmosphäre schafft, hat meditative Qualitäten. Zwischenapplaus gibt es nicht, denn alle Stücke werden nahtlos durch den Obertongesang des Bratschisten Gareth Lubbe verbunden, der singend und spielend durch die Räume schreitet, als sei er ein Wiedergänger des Orpheus aus der griechischen Sage.

Durch seine Zwischenspiele verschmilzt die Programmfolge zu einer Einheit, verbunden durch das kristallklare Flöten der Obertöne, die Gareth Lubbe mit großer Beherrschung aus seinem Kehlkopf zaubert. Selbst Triller sind ihm keine Unmöglichkeit. Exotisch und zugleich vertraut wirken die diversen „Om“-Laute und Vokale, die er anstimmt. Manchmal erinnern sie auch an den Klang des australischen Didgeridoos. Die Bratsche, dem Klang der menschlichen Stimme ebenfalls nahe, ergänzt dieses Spektrum passgenau.

Önder Baloglu ist Gründer und Leiter des Kammerorchesters „Les essences“ (Foto: Ulrike von Loeper)

Das Orchester schaut seinerseits über den Gartenzaun der Genregrenzen. Türkische Klage- und Volkslieder wie „Ich bin auf einem langen, schmalen Weg“ (Uzun ince bir yoldayim) von Asik Veysel stehen gleichberechtigt neben der Trauermusik von Paul Hindemith, Benjamin Brittens „Lachrymae“ und einem Stück des im Libanon geborenen Armeniers Tigran Mansurian, der seine Komposition „Testament“ zu einem Zeitpunkt schrieb, als seine Frau sehr krank war.

Einem so dicht konzipierten und durchdachten Programm tut es kaum Schaden an, wenn live nicht alles gelingt. Es bleibt eine Randnotiz, dass die Intonation der Geigen im Variationssatz von Franz Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ hörbar auf die Probe gestellt wird. Dafür blühen Puccinis „Chrysanthemen“ in einer Luft auf, in der ein Hauch von Salon liegt: fein parfümiert, ohne übergroße Süße.

Samuel Barbers berühmtes „Adagio for Strings“ in einem einzigen, bruchlosen Crescendo zum Höhepunkt zu steigern, ist in der Kammermusikbesetzung weit schwerer als mit einem großen Sinfonieorchester. Aber die Musikerinnen und Musiker von „Les essences“ treffen die richtige Stimmung: Der resignierte Tonfall legt sich wie Mehltau über die weit geschwungenen Melodiebögen. Hätte dieses Programm im Rahmen der Ruhrtriennale stattgefunden, zu der es übrigens nahezu perfekt gepasst hätte, wäre es gewiss gefeiert worden.

Damit der Abend nicht gar zu morbid endet, gibt es zum Ausklang einen Rembetiko: die Musik des griechischen Undergrounds, entstanden aus den Liedern rebellischer Außenseiter. Das Publikum regt sich, verlässt den Saal zu lebensfrohen Klängen. Draußen scheint die Sonne noch immer.

(Transparenzhinweis: Die Autorin ist freie Musikjournalistin, unterstützt das Orchester aber gelegentlich bei der Pressearbeit. Weitere Informationen zu „Les essences“ unter https://lesessences.net/)




Nachbarschaftliches Tauwetter – Elke Heidenreichs Buch „Frau Dr. Moormann & ich“

Beginnen wir mit Binsen: Im Hanser Verlag dürfen beileibe nicht Hinz und Kunz veröffentlichen. Und ein Michael Sowa wird auch nicht die Texte aller möglichen Leute illustrieren. Wenn aber die Bestseller-Autorin Elke Heidenreich mit einer Kleinigkeit käme? Ja, dann… Dann fügt es sich natürlich.

Ihr neues Buch heißt „Frau Dr. Moormann & ich“. Es handelt vom Ärger mit einer ziemlich bärbeißigen Hausnachbarin, die immer etwas zu beanstanden hat. Die Geschichte ist recht einfach gestrickt. Schon bald ist absehbar, dass es zwischen den beiden Frauen ganz allmählich ein nachbarschaftliches Tauwetter geben wird. Daran nicht ganz unbeteiligt ist der Mops der Ich-Erzählerin, der den Namen Gustav trägt. Friede den Menschen und den Nachbarinnen ein Wohlgefallen.

Zwischendurch tröpfeln etwas Botanik (Frau Dr. Moormann als Pflanzen-Expertin) und klassische Hochkultur (renommierter Dirigent als Gefährte der Erzählerin) hinein. Womit auch dem Bildungsauftrag Genüge getan wäre. So bereichert die Mitteilung, dass es karierte Pflanzen gibt, unsere bisweilen schüttere Allgemeinbildung.

Elke Heidenreich erzählt die Petitesse routiniert, unangestrengt, sozusagen mit spätsommerlicher Leichtigkeit, ohne sonderliche Ambition. Hie und da hat ihr Buch einen ganz leisen pädagogischen, jedoch stets freundlichen Unterton, so etwa nach dem wohlmeinenden Motto: Kinder, merkt euch das doch bitte. Beispielsweise, dass Ex-Bundespräsident Gustav (!) Heinemann einst gesagt hat, er liebe nicht Deutschland, sondern seine Frau. Zwischendurch gibt’s immer mal wieder schnellfertig hingeworfene, selbst gebastelte Sprichwörter und Merksätze von solcher Art:

„Der Mops ist prächtig, schau nur hin!
Ein Mops gibt deinem Leben Sinn.“

Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? Aber gewiss doch! Schon Loriot wusste ja: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.“

Bliebe noch die Frage, ob dies vorwiegend ein Buch für Kinder sei. Darauf könnte etwa ein liebevoll ausgiebiger Exkurs über einige Teddybären hindeuten.  Doch auch ältere Leute erinnern sich gern an diese Genossen ihrer Frühzeit. Jedenfalls dürfte das schmale Bändchen weihnachtstauglich sein, auch als nettes kleines Mitbringsel. Wem ihr es schenken könntet? Doch nicht etwa der Nachbarin?

Elke Heidenreich: „Frau Dr. Moormann & ich“. Mit Bildern von Michael Sowa. Hanser Verlag, 88 Seiten, 20 Euro.




Vom Dosenaufreißer bis zum Propeller – Schau zur Archäologie der Moderne in Herne

In Herne wie ein Kleinod präsentiert: Dosenring vom Woodstock-Festival, 15. bis 18. August 1969. (Leihgeber: The Museum at Bethel Woods, Bethel (USA) / Foto: Bernd Berke)

Was glitzert denn da in der Vitrine? Ein ziemlich kleines Objekt. Wahrscheinlich kostbar. Mal näher rangehen. Nanu? Das ist ja ein ringförmiger Dosenaufzieher der gewöhnlichsten Sorte (mutmaßlich für Coca oder Pepsi); noch dazu angerostet, aber präsentiert wie ein Kleinod oder gar Kronjuwel. Dazu muss man allerdings wissen, dass das alltägliche Stück zu den materiellen Hinterlassenschaften des legendären Woodstock-Festivals (1969) gehört und vielleicht Rückschlüsse auf das Ereignis zulässt, das eine ganze Generation mitgeprägt hat. Und wer zeigt so etwas?

Nun, wir befinden uns im LWL-Museum für Archäologie und Kultur in Herne. Das Haus zählt zu den Vorreitern einer neueren Entwicklung im Ausgrabungs-Wesen. Seit immerhin rund 15 Jahren befasst man sich hier mit Archäologie der Moderne, also nicht mehr ausschließlich mit ur- und frühgeschichtlichen oder antiken Funden, sondern auch mit Dingresten der letzten 200 Jahre.

Ergänzung zu schriftlichen Quellen

Aber ist denn nicht die herkömmliche Geschichtswissenschaft für die letzten Jahrhunderte zuständig? Doch, gewiss. Das wird auch so bleiben. Doch die Archäologen glauben, dass ihre Fundstücke noch einmal andere Befunde erschließen können, die den Umgang der Menschen mit der Dingwelt in den Blick nehmen und das sonstige, schriftlich und visuell reichlich angesammelte Wissen womöglich ergänzen. Georg Lunemann, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), bringt es auf eine Formel: „Auch Schrott, Schutt und Müll können eine Geschichte erzählen.“ Wenn man sie denn mit archäologischem Rüstzeug zu bergen und zu deuten versteht. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders spricht von einem buchstäblich „handfesten Beitrag“ zur Geschichte. Ob alle Historiker diese Hilfestellung zu schätzen wissen oder sie als Einmischung in ihre Belange begreifen? Abwarten.

Viele Exponate aus westfälischen Grabungen

Wie breit das Spektrum ist, das sich da zu eröffnen verspricht, zeigt nun jedenfalls die große, in Deutschland bislang beispiellose Überblicks-Ausstellung mit dem bezeichnenden Titel „Modern Times“. Rund 100 Funde und Fundkomplexe aus der Zeit zwischen 1800 und 1989 sind zu sehen, darunter etwa die Hälfte aus westfälischen Grabungskampagnen. Eine eigens erstellte App und Leih-Tablets im Museum sollen die Geschichte(n) hinter den Objekten so ausführlich darstellen, wie es mit musealen Texten und Schautafeln nun mal nicht geht. Die Ausstellung gliedert sich in sechs Stränge, deren Titel eher willkürlich und assoziativ klingen: Innovation, Gefühl, Zerstörung, Besonderes, Zweck und Erinnerung. Wahrscheinlich könnten die meisten Objekte in mehrere Kategorien eingeordnet werden. Sei’s drum.

Diese Champagnerflasche aus den 1840er Jahren hat es wirklich in sich. (Foto: Bernd Berke)

Champagner vom 1840er Jahrgang

Eines der erstaunlichsten Exponate ist jene noch gefüllte Champagnerflasche von etwa 1840. Gleich 168 solcher Flaschen wurden 2010 in der Ostsee aus einem alten Schiffswrack geborgen. 50 Meter unter dem Meeresspiegel herrschten Temperatur- und Druckverhältnisse, die das edle Getränk konserviert haben. Es soll sogar noch trinkbar sein, versichern Fachleute. Freilich: Der Zuckergehalt, so ergab eine Analyse, sei damals ungefähr zehnmal so hoch gewesen wie bei heutigem „Schampus“. Also doch eher nicht trinkbar, zumindest nicht genussreich für jetzige Geschmäcker. Dennoch ist der Fund wertvoll. Er gibt eben Auskunft über die damalige Wein- und Champagner-Herstellung, über den Stand des Luxus und der Moden sowie über mutmaßliche Verschiffungswege. War die Fracht gar für den russischen Zarenhof bestimmt? Lieferscheine lagen nicht mehr bei…

Was und wie sie wohl im Protestcamp zu Gorleben gegessen haben? Das lassen weitere Vitrinenstücke in der Herner Schau zur Archäologie der Moderne ahnen. (Foto: Bernd Berke)

Was vom Protestcamp übrig blieb

Ganz anderer Themenkreis: Da gibt es beispielsweise – Jahrzehnte später ausgegrabene – Funde vom einstigen Protestcamp „Republik Freies Wendland“ aus Gorleben. Auch hierzu sieht man einige Relikte als Vitrinenstücke. Fast schon zum Schmunzeln, wie sich die Überbleibsel den verschiedenen Seiten zuordnen lassen. Die jeweils kurzfristig dorthin beorderten Polizeikräfte nahmen in Gorleben offenkundig eilige Mahlzeiten von Papptellern ein, während die campierenden Demonstranten sich auf längere Dauer mitsamt Kochstellen eingerichtet hatten und beispielsweise Livio-Speiseöl in Blechdosen mit sich führten. Keine grundlegend neue Erkenntnis zur historischen Sachlage, aber sozusagen doch eine Art zusätzlicher, lebensnaher Farbtupfer.

Erschütternde Relikte aus der NS-Zeit

Bis hierher ging es um Exponate, die relativ harmlos anmuten. Doch man wird in Herne auch durch Fundstücke erschüttert, die von Stätten des NS-Terrors stammen, so etwa von Erschießungsplätzen zwischen Warstein und Meschede oder vom Kriegsgefangenenlager Stalag 326 bei Stukenbrock (Ostwestfalen), wo russische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg gepeinigt wurden. Diese schrecklichen Fundstätten werden zu verschiedenen Zeitpunkten Thema flankierender Studio-Ausstellungen sein. Besonders nahe geht einem der Anblick persönlicher Hinterlassenschaften, wie etwa Frauenschuhe oder bunte Perlen. Das Leben hätte schön sein können…

Britischer Kampfflugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg. (Foto: Bernd Berke)

Probleme mit tonnenschweren Fundstücken

Während übliche archäologische Funde aus weit zurück liegender Zeit meist sehr kleinteilig sind (Gefäß-Fragmente, Schmuckstücke, Knochenreste), hat es die Archäologie der Moderne öfter mit deutlich größeren und manchmal tonnenschweren Kalibern zu tun. So gehören zur Herner Schau beispielsweise eine gußeiserne Säule aus zwischenzeitlich verschütteten Beständen der Firma Krupp, ein kapitaler Heizungs-Ventilator aus dem zerstörten kaiserlichen Berliner Schloss (als Zeugnis zur Technikgeschichte) oder ein in Essen aufgefundener britischer Flugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg, der ein Einschussloch aufweist. Dieser Umstand lässt wiederum vermuten, dass das Objekt in Deutschland als vermeintlicher Abschuss-Triumph der Wehrmacht öffentlich vorgezeigt worden ist. LWL-Chefarchäologe Prof. Michael Rind betont, dass derlei Dinge ungeahnte Herausforderungen im Hinblick auf Konservierung, Restaurierung und Lagerung bedeuten. Zu fragen wäre wohl auch, ob wirklich alles aufgehoben werden muss oder ob hie und da eine präzise Dokumentation der Funde genügt.

Urzeit des Videospiels

Jetzt noch eine Spezialität für Videospiel-Fans: Aus der Urzeit des Genres, den frühen 1980er Jahren, stammt die Spielkassette für Konsolen, die tatsächlich später ausgegraben wurde. Die vom Kommerz-Flop tief ettäuschte Firma hatte das gesamte Material in der Wüste von New Mexico verscharren lassen, um möglichst nie wieder daran denken zu müssen. Es ist einigermaßen kurios, dass diese einst so unliebsame Erinnerung jetzt in Herne wiederbelebt wird.

Unterwegs zur „klimaneutralen“ Ausstellung

Die Ausstellung hat schließlich noch einen anderen Aspekt. Es soll erkundet werden, wie „nachhaltig und klimaneutral“ eine solche Schau zu bewerkstelligen ist – angefangen bei wiederverwertbaren Stellwänden, Katalog auf Recycling-Papier und so fort. Das zukunftsweisende Projekt wird gefördert – im Rahmen des Programms „Zero – klimaneutrale Kunst- und Kulturprojekte des Bundes“. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders möchte sämtliche Möglichkeiten zur ressourcenschonenden Gestaltung ausloten, stellt aber vorsichtshalber klar, dass das schonendste aller Verfahren nicht in Frage kommt: „Keine Ausstellungen mehr zu machen, das ist keine Option“.

„Modern Times“. Ausstellung zur Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts. LWL-Museum für Archäologie und Kultur, Herne, Europaplatz 1.

Ab 8. September 2023 bis zum 18. August 2024. Di / Mi / Fr 9-17, Do 9-19, Sa / So / Feiertage 11-18 Uhr. Tel.: 02323 / 94628-0. Katalog (632 Seiten) für 34,95 Euro im Museumsshop.

www.lwl-landesmuseum-herne.de
und
https://www.sonderausstellung-herne.lwl.org/de/

___________________________________________

Ähnlich gelagerte Schau im Essener Ruhr Museum

Archäologie der Moderne scheint wirklich im Schwange zu sein. Just in diesen Tagen wirbt das Essener Ruhr Museum auf Zollverein (Gelsenkirchener Straße 181) für seine offenbar ähnlich gelagerte Schau „Jüngste Zeiten. Archäologie der Moderne an Rhein und Ruhr“, die vom 25. September 2023 bis zum 7. April 2024 in der Kohlenwäsche zu sehen sein soll. Öffnungszeiten: Mo-So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Katalog (304 Seiten) 29 Euro. www.ruhrmuseum.de

Herne und Essen geben Eintritts-Rabatte bei Vorlage eines Tickets der jeweils anderen Ausstellung.




Malen für die guten Schwingungen – Christoph M. Gais in der Duisburger Küppersmühle

Tableaus, wandgroß (Foto: MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, 2023)

Was ist hier das Kunstwerk? Ist es das riesige, rechteckige Tableau, das fast so groß ist wie die Wand, vor der es hängt, in der nicht eben raumsparend konzipierten Küppersmühle?

Oder sind es die vielen unterschiedlich großen und formatierten Einzelbilder, die in ihrer Summe das Tableau bilden und die, wie es scheint, immer Ähnliches zeigen: Rhythmisierte Muster, Strukturen, Malgründe, vor die relativ einfach gestaltete Gesichter gesetzt sind. Punkt, Punkt, Komma, Strich wurden überwiegend als Öffnungen ausgefertigt, was wiederum den Blick auf die dahinterliegende Struktur freilegt und den bezüglichen Charakter der Gesichter unterstreicht.

Die Wand hing lange in Italien

Es sind schematische Menschen-Abbilder aus der Vorstellung des Künstlers, expressive Hervorbringungen mithin vor informeller Grundierung. Und nun erhebt sich nebelgleich die Frage, was der Dichter, der hier ein Maler ist, uns damit sagen will. „Diese Wand hing lange in meinem Atelier in Italien“, erläutert er bereitwillig, doch macht uns das zunächst einmal nicht klüger.

Künstler Christoph M. Gais in seiner Ausstellung (Foto: Daniel Sadrowski, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, 2023)

Kein Wilder

Der Künstler, dem das renommierte Duisburger Privatmuseum Küppersmühle (MKM) nun eine opulente Werkschau ausrichtet, heißt Christoph M. Gais, geboren 1951 in Stuttgart, tätig in Orvieto (Italien) und in Berlin. Wo soll man ihn verorten? Für die Pop-Art war er vielleicht noch zu jung, aber bei den Jungen Wilden hätte er durchaus schon mitmachen können, damals, in den 80ern. Doch scheint es nicht das gewesen zu sein, was er suchte, oder, genauer, was er vielleicht deutlicher und schmerzlicher wahrnahm als andere.

Zwei prominent präsentierte Großformate ohne richtige Titel aus den späten 80er Jahren zeigen in dystopischer, aus der Ferne scheinbar hyperrealistischer Dreidimensionalität feindselige Rechteckkörper aus dem Chaos sich erhebend, Hohlkörper mögen es in einem Fall sein, Steine im anderen. Das andere – Bild – trägt als Titel das Datum seiner Entstehung „12.1.88“, und ohne allzu große Phantasie kommt man assoziativ zum wenig später erfolgten Mauerfall und dem Ende der DDR. Gais gibt gerne zu, daß seine Empfindungen in jener Zeit, in Berlin, Aufbruch, Abbruch, tiefgreifende Veränderung waren, schwer erträglich für einen empfindsamen Menschen und ein Grund, die Stadt zu verlassen. Im anderen großen Bild dieses Raumes Untergangsphantasien auszumachen ist gleichfalls nicht schwierig, auch wenn 9/11 da noch 12 Jahre entfernt war.

Vorweggenommener Mauerfall: „Ohne Titel (12.1.88)“, Öl, Pastell und Gouache auf Karton (Foto: Henning Krause, Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher © Christoph M. Gais)

Drei Esel

Kurz und gut: Anfang der Neunziger ging Christoph M. Gais aufs Land, kleiner Bauernhof in italien, viele, viele Tiere um ihn herum, unter ihnen drei Esel. Nun malte er Strukturen, schön und gleichförmig, schwingend, schwebend, schwerelos, in großen Formaten, Öl auf Leinwand, ganz klassisch.

Manchmal meint man ein antikes Fries zu erkennen, was natürlich sein kann, aber nicht das Ziel der Bemühungen war. Eher wirken diese Arbeiten wie der malerische Versuch, zu Harmonie mit dem eigenen Inneren zu gelangen, zu den sprichwörtlichen guten Schwingungen. Und küchenpsychologisch sei noch die Vermutung angehängt, daß die vielleicht einfacheren, regelmäßigeren, zuverlässigeren Schwingungen der Tiere auf dem Bauernhof ebenfalls ihren Anteil daran gehabt haben könnten, dem Künstler Stabilität und Stärke zu verleihen.

Afrikanische Skulpturen vor blauem Dreiecke-Tableau (Foto: Daniel Sadrowski, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, 2023)

Intensive Figuren

Doch die afrikanischen Holzskulpturen, die Gais in einem anderen (etwas kleineren) Raum aufgestellt hat, verheißen Veränderung. Solche Figuren, ein jeder weiß es, entstanden nicht nach der Natur, sondern zeigen in frappierender Intensivierung Eigenschaften, Eigenheiten, Grundlegendes; gleichgültig letztlich, ob diese Wahrheiten religiöse, rituelle oder schlicht menschliche sind. „Gais begegnet der afrikanischen Kunst mit großem Respekt“, sagt sein Künstlerkollege Thomas Huber, der diese Ausstellung auch kuratiert hat, „er sieht afrikanische Werke als künstlerische Werke.“

Es ist die Auseinandersetzung mit der Kunst anderer Künstler, die vielleicht, manchmal sind die Dinge ja auch nicht ganz so einfach wie sie scheinen, dazu geführt hat, in den eigenen Arbeiten die Expression menschlicher Gesichter, menschlicher Präsenz mithin, als zentralen Bezugspunkt einzufügen. Übrigens ist der „afrikanische“ Raum mit, kann man gar nicht anders sagen, wunderschönen Gemälden bestückt, die in betörenden Blautönen ein schlichtes Muster aus kleinen Dreiecken zu einer nur scheinbar homogenen Fläche machen. Gaus hat diese Flächen mit Schaumgummistempeln und Ölfarbe „gedruckt“ und brauchte Unmengen Schaumgummi dafür, weil dies sich in der Ölfarbe schnell auflöste und nicht mehr zu gebrauchen war.

Regal aus dem Berliner Atelier des Künstlers, in Duisburg originalgetreu aufgebaut (Foto: Kay Heymer, © Christoph M. Gais, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher)

Schweinchen

Vis-à-vis vom Eingangsbereich – Besucher der Küppersmühle kennen das – gibt es in einem ersten Raum fast immer den umgehbaren Kubus, in dem häufig Werke aus früheren Schaffensperioden der Künstlerinnen und Künstler gezeigt werden. Hier nun aber ist das Berliner Atelier von Gais nachgebaut worden, das große, überaus dekorative Regal mit seinen Bildern und Skulpturen, den Kleinmöbeln, den knubbeligen Schweineskulpturen, aus afrikanischer Erde oder aus Eselkot. Ein hervorragendes Material, beteuert der Künstler, sehr formstabil durch den natürlichen Anteil von unverdautem Heu und Stroh.

Das Publikum kommt mit ins Bild

Im Gang neben dem Kubus hängen einige besondere Einzelportraits. Ihr Hintergrund ist rhythmisierte Struktur, der Vordergrund jedoch eine ornamentierte Glasscheibe, die in der Kontur des Gesichts klar bleibt. Außerdem spiegelt sich der Betrachter in der Scheibe, wird mithin hineingezogen in den Sehraum des Bildes, wird somit Teil des Kunstwerks. Und einmal mehr ist man beeindruckt von den vielen Spielarten der Bezüglichkeit, die dieser Künstler in seinem Werk herausarbeitet. „Acht Räume, acht Klänge“ – so beschreibt Gais das Ausstellungskonzept seines Kollegen Thomas Huber für die Küppersmühle in knappen Worten. Wir wollen dem nicht widersprechen. Aber fraglos sind in dieser eindrucksvollen Werkschau auch viele reizvolle Zwischentöne zu entdecken.

  • „Christoph M. Gais – Bilderwelten von 1990 bis heute“, Museum Küppersmühle, Duisburg
  • Bis 26. November 2023. Mi 14-18 Uhr, Do-So und Feiertage 11-18 Uhr
  • Eintritt 6 EUR, gesamtes Haus 12 EUR
  • www.museum-kueppersmuehle.de



60 Jahre Bundesliga – und der zwecklose Versuch, online eine BVB-Karte zu kaufen

Kurz nach 12 Uhr – und noch 55 Minuten Wartezeit bis zum Eintritt in den eigentlichen Ticketshop. (Screenshot von der BVB-Homepage)

Tätäääää! Großer Tusch. Heute ist es auf den Tag genau 60 Jahre her, dass die Bundesliga ihren Spielbetrieb aufgenommen hat. Die Gründung der höchsten deutschen Spielklasse war übrigens vom DFB in Dortmund beschlossen worden. Und das allererste Liga-Tor hat Timo Konietzka vom BVB erzielt – beim Auswärtsspiel gegen Werder Bremen. Die Grünweißen haben dann doch noch 3:2 gewonnen. Naja, Schwamm drüber. Es lässt sich derweil gar nicht ermessen, wie viel gesamtgesellschaftlicher Gesprächsstoff und verbra(u)chte Lebenszeit sich aus der Liga ergeben hat.

Apropos Lebenszeit. Damit zu einem allzeit dringlichen Thema beim BVB. Nein, es geht nicht um weitere Spielertransfers, sondern um dies: Während man sich andernorts schlicht und einfach eine Karte kauft, um ein Spiel zu sehen, ist das in Dortmund anders. Ganz anders. Hier muss man Zeit opfern und großes Glück haben. Selbst im europäischen Vergleich ist der Kartenabsatz beispiellos. Da sage noch jemand, die Bundesliga sei kein Erfolgsmodell. Hier ist sie jedenfalls eins.

In jedem Falle ausverkauft

Bei 81.365 Zuschauern wird im größten deutschen Stadion regelmäßig „ausverkauft“ gemeldet. Egal, gegen wen die Partie bestritten wird. Scherzbolde sagen, das Westfalenstadion sei schon proppenvoll, wenn der Platzwart den Rasen mäht. Satte 55.000 Plätze werden bereits durch Dauerkarteninhaber belegt (abzüglich derer, die am jeweilen Spieltag verhindert sind, ihre Tickets aber anderweitig vergeben). Bleiben rechnerisch also gerade mal 26.365 „freie“ Plätze, von denen wiederum das Gäste-Kontingent abgezogen werden muss – je nach Gegner mal mehr, mal weniger. Von Frei- und Gefälligkeitskarten (für Sponsoren etc.) mal ganz abgesehen.

Beispiel: Am 23. September geht es für die Borussia gegen den VfL Wolfsburg, der – gelinde gesagt – nicht allzu viele Fans zur Fahrt nach Dortmund mobilisiert. Also bleiben ein paar Plätze mehr für heimische Fans übrig. Doch was nützt es?

Habe mich also heute ins Abenteuer der Online-Kartenvergabe gestürzt. Wohlgemerkt: Es geht nicht etwa gegen die ungeliebten Bayern oder dito Leipzig, sondern eben gegen das nicht übermäßig attraktive Wolfsburg. Noch dazu kann ich mich – theoretisch mit zigtausend anderen Leuten – als Vereinsmitglied einloggen. Für uns Auserwählte gibt es den „freien“ Vorverkauf einen Tag vor dem offiziellen. Doch was nützt es?

„Ebenfalls per Zufallsprinzip“

Der Online-Zugang zum Ticketshop ist am entsprechenden Vorverkaufstag aus guten Gründen streng geregelt. Zitat aus der bürokratisch trockenen Erläuterung:

„Erst mit Beginn des Vorverkaufs (um 12 Uhr) wird eine festgelegte Anzahl an Personen per Zufallsprinzip in den Ticketshop gelassen. Alle Fans, die nicht sofort in den Shop geführt werden können (Hahaha! d. Red.), befinden sich dann in einem Warteraum, der transparent die Zeit angibt, bis die jeweilige Person an der Reihe ist. Die Position im Warteraum wird ebenfalls per Zufallsprinzip zugeteilt…“

Und wenn man sich nun schon um 10 Uhr einloggt? Dann bringt das offenbar auch keinen Vorteil: „Der Zeitpunkt, wann der Ticketshop (vor 12 Uhr) aufgerufen wird, ist nicht entscheidend für die spätere Ticketvergabe!“

Viele geben vorzeitig auf

Nun muss man also im virtuellen Warteraum ausharren. Ein kleines Männlein, das durch einen gelben Streifen auf ein Ziel hin schreitet, zeigt den Fortgang an. Wie niedlich. Jedoch ein schwacher Trost. Erste Meldung: 55 Minuten (!) Wartezeit bis zum ersehnten Eintritt in den Ticketshop. Offenbar geben an diesem Punkt manche schon auf, denn die Wartezeit verkürzt sich nun schneller, als die Uhrzeit voranschreitet. Plötzlich sind es „nur“ noch 42 Minuten, dann sprungweise 35, 29, 25, 18, 14, 8, 6, 5, 3… Bereits um 12.14 Uhr plus ein paar Sekunden ist die imaginäre Null-Linie erreicht, ich darf in die heiligen Hallen eintreten. Großes Oh und Ah!

Doch was ist das? Die knappe Viertelstunde hat anscheinend schon ausgereicht, dass andere Fans den gesamten Kartenbestand abräumen konnten. Ich verkneife es mir, sie „gierige Geier“ zu nennen. Ich wäre ja im Erfolgsfalle selbst einer gewesen. Jedenfalls heißt es an dieser Stelle, dass keine Karten mehr zur Verfügung stünden.

Einen anderen Browser benutzen? Längst probiert. Dauerfeuer mit der F5-Aktualisierungstaste? Zwecklos. Da muss man sich wohl ins Schicksal fügen.

 




„Wenn man einmal in Bayreuth war, ist man süchtig danach“: Altistin Karolin Zeinert aus Düsseldorf singt im Chor der Festspiele

Karolin Zeinert vor dem Bayreuther Festspielhaus. (Foto: Werner Häußner)

Die Düsseldorfer Altistin Karolin Zeinert singt mittlerweile in ihrer 11. Spielzeit im Chor der Bayreuther Festspiele. Im Interview erzählt sie, wie sie in Bayreuth ihre professionelle Laufbahn begonnen hat und warum es so faszinierend ist, im Chor der Festspiele mitzuwirken.

Wie hat’s bei Ihnen begonnen mit Bayreuth?

Ich habe immer gerne im Chor gesungen. Mit fünf habe ich damit angefangen, bin dann in meiner Heimatstadt Gera auf ein chororientiertes Gymnasium gegangen und wollte immer Choristin werden. Ich habe dann das Studium begonnen, war nach vier Semestern beim RIAS Kammerchor als Praktikantin und habe festgestellt: Chorsingen ist wirklich meins. Dann habe ich an verschiedenen Theatern Produktionen mitgemacht. Nach dem Abschluss meines Studiums habe ich mich initiativ in Bayreuth beworben. Wagners Musik mochte ich immer, ich habe ja auch am gleichen Tag wie er Geburtstag. Ich habe vorgesungen und ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass es klappt, aber ich wurde genommen und bin nun seit 2012 jedes Jahr bei den Festspielen in Bayreuth. Als ich 2014 an der Deutschen Oper am Rhein ins Festengagement ging, habe ich mir das Okay geholt, dass ich im Sommer nach Bayreuth gehen kann. Mein Chef ist da extrem kulant und die Kollegen haben Verständnis für mich. Das klappt also ganz gut.

Sie sind also bei den Bayreuther Festspielen in Ihre professionelle Laufbahn eingestiegen?

Karolin Zeinert. (Foto: privat)

Ja, tatsächlich. Vorher war ich mal eine Spielzeit in Leipzig, hatte aber sonst immer nur Gastverträge. Ich habe so mein Studium finanziert und Erfahrungen gesammelt. Und nicht zuletzt für mich geklärt, ob ich diesen Job mein Leben lang machen möchte und auch kann. Denn das Singen im Chor ist schon ein spezieller Beruf. Man ist viel unterwegs, soziale Kontakte zu Menschen außerhalb des Theaterbetriebs sind schwierig, und immer, wenn andere frei haben, arbeiten wir. Aber Bayreuth war schon das Highlight für mich. Als ich hier anfing, war ich 26, und lange war ich die jüngste unter den zweiten Altistinnen im Festspielchor.

War Bayreuth neu für Sie? Waren Sie vorher einmal hier?

Weder als Gast noch als Stipendiatin. Die Festspiele waren für mich totales Neuland. Ich kannte auch die Stadt nicht, fühlte mich aber sehr schnell zu Hause. Auch weil ich in Weimar studiert hatte, eine Stadt von ähnlicher Größe und Struktur.

Und wie sind sie mit der Arbeit am Grünen Hügel umgegangen? Hat Sie ein besonderes Bayreuth-Gefühl erfasst?

Die Damen des Bayreuther Festspielchores in Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ mit Nadine Weissmann als Mary (links) und Elisabeth Teige als Senta. (Foto: Enrico Nawrath)

Ich erinnere mich, dass ich an einem der ersten Tage einmal an der Hinterbühne vorbeigegangen bin. Die großen Tore waren offen, so dass man von dort in den Zuschauerraum blicken konnte. Ich hatte noch nie in einem Haus mit so vielen Plätzen gesungen und noch nie ein Theater mit so einer tiefen Bühne gesehen. Das war ehrfurchtgebietend, aber ich habe es damals nicht als furchteinflößend erlebt. Erst später, wenn ich jungen Kollegen davon erzählt habe, wurde mir bewusst, was man für Produktionen erlebt hat und mit welchen Sängern man zusammen auf der Bühne gestanden hat. Da habe ich so ein bisschen „das Fürchten gelernt“. Der Premierentag in Bayreuth macht mich immer noch etwas nervös und auch die Vorstellungen sind etwas Besonderes, wenn ich zum Beispiel die kleine Rolle eines Edelknaben im „Tannhäuser“ singe. Da herrscht eine andere Anspannung, weil man es besonders gut machen möchte.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Wagners Musik entwickelt?

Ich hatte eine Lehrerin in Weimar, die schon recht früh gesagt hat, meine Stimme passe gut ins deutsche Fach und zu Wagner. Daher habe ich mich bald dran versucht und im Studium Erda oder die Wesendonck-Lieder gesungen. Das lag mir gut und passte zu meiner Stimme, weil es viel um die Ausgestaltung von Text geht. So habe ich mich in Wagner reinverliebt. Meine erste Produktion, da war ich Anfang Zwanzig, habe ich in Gera mitgemacht, das war „Tannhäuser“ mit einem Vierzig-Personen-Chor. Das habe ich sehr genossen, und so habe ich mich nach und nach mit den anderen Opern befasst.

Welche ist Ihre Wagner-Lieblingsoper?

Karolin Zeinert im Kostüm – hier für Wagners „Tannhäuser“. Rainer Sellmaier hat die Kostüme für Tobias Kratzers Inszenierung entworfen. (Foto: privat)

Das ist eine fiese Frage, schwierig zu beantworten und von den Umständen abhängig. Beim Bayreuther „Ratten-Lohengrin“ von Hans Neuenfels dachte ich, ja, das ist „meine“ Wagner-Oper. Dann kam der nächste „Lohengrin“, der szenisch anders war und bei dem ich die Längen des Stücks spürte. Ich bin auch eine große Freundin von „Parsifal“, der kann aber auch ewig dauern. Wenn ich mich entscheiden müsste, dann zwischen „Tannhäuser“ und „Parsifal“. Das Elegische im „Parsifal“ finde ich ganz wunderbar, und das zaubert Pablo Heras-Casado in diesem Jahr wirklich toll. Er lässt das Orchester so leise spielen, dass wir in der Höhe stehen und uns manchmal fragen, ob das Orchester überhaupt noch spielt. Für jemanden, der in Bayreuth debütiert hat und die akustischen Finessen des Hauses noch nicht kennt, hat er die Musik großartig umgesetzt. Er hat auch eine Chorsaalprobe mit uns gemacht und ganz fein gearbeitet. An einem normalen Haus ist gar keine Zeit, so intensiv an Details zu arbeiten. Hier ist es möglich, auszuprobieren, wie weit man ein piano dimmen kann, damit es noch trägt und hörbar bleibt. Das hat großen Spaß gemacht.

Wenn Sie die Arbeit hier mit Düsseldorf oder anderen Theatern vergleichen: Was ist das Spezielle in Bayreuth? Gibt es das?

Ja, das gibt es auf jeden Fall, und zwar unter einigen Aspekten. Zum einen ist der Chor mit 134 Personen hier groß genug. Wir haben zum Beispiel in Düsseldorf auch einen „Fliegenden Holländer“, und da ist es nicht üblich, dass am Abend die Matrosen und der Geisterchor beide live gesungen werden. Die Geister kommen in aller Regel vom Band. Und dabei sind wir in Düsseldorf mit 65 Sängern ein relativ großer Chor – aber hier ist es eben das Doppelte. Hier kommt alles live. Zum anderen konzentriert man sich hier nur auf Wagner. In Düsseldorf haben wir innerhalb einer Spielzeit ein breites Repertoire. Da ist für eine solche Konzentration einfach kein Raum. Es gibt auch nicht so viele musikalische Proben und nicht so viel Zeit, an kleinsten Nuancen zu feilen.

Hier machen wir zehn Wochen lang nichts anderes als Wagner. Wir treffen uns bei „Parsifal“ vor jeder Vorstellung, sogar vor jedem Akt, und singen uns ein. Das heißt, man singt sich zusammen, geht nahe ans Dirigat, lotet noch einmal die Dynamik aus. Man ist hier sehr darauf angewiesen, auf die Chordirigenten zu achten, weil auf der Bühne eine andere Akustik herrscht als im Saal. Wir sind extrem davon abhängig, dass unsere Chordirigenten gut hören und uns perfekt führen. Wir leben hier in der „Glocke Bayreuth“, das ist keine Alltagssituation.

Was nehmen Sie mit aus Bayreuth für Ihre Arbeit an Ihrem Stammhaus? Auch wenn das Niveau der Dirigate unterschiedlich beurteilt wird, arbeiten Sie hier mit verschiedenen musikalischen Charakteren mit unterschiedlichen Auffassungen.

Man nimmt in jedem Fall die unterschiedlichen Weisen des Herangehens an die Musik mit. Wir haben dieses Jahr mit Nathalie Stutzmann im „Tannhäuser“ eine Sängerin als Dirigentin, und es ist interessant, wie ganz anders sie mit der Musik umgeht als Axel Kober, der ja mein Chef in Düsseldorf ist und mit dem wir hier in den letzten Jahren viel Freude hatten. Frau Stutzmann macht viel vor, dirigiert sehr gesanglich, mit viel Bogen und Fläche. Für das Orchester mag das schwierig sein, weil sie wohl weniger akzentuiert. Aber für uns im Chor ist das etwas ganz anderes. Manchmal ist es auch ein bisschen schwierig, wenn ich zurückkomme und von Bayreuth eine genaue Vorstellung mitbringe, wie bestimmte Stellen zu klingen haben.

Aufschlussreich ist auch zu beobachten, wie unterschiedlich Dirigenten im Umgang mit dem Orchester, dem Ensemble und auch mit Regisseuren sind – und welche Entwicklung sie im Lauf der Zeit machen. Ich erinnere mich an meine ersten Begegnungen mit Christian Thielemann, bei denen ich dachte: Oh, das ist hier aber ein harscher Ton. Einige Jahre später habe ich ihn viel gelöster erlebt. Da wirkte er, als wäre er „angekommen“. Was ich an Bayreuth schätze, ist das Verschwimmen der Distanz zu den „großen“ Sänger-Solisten. Man sitzt in der Kantine, und dann setzt sich ein Georg Zeppenfeld einfach mit an den Tisch. Wenn solche Solisten an einem Haus als Gast kommen und gehen, kommt dieses Miteinander nicht auf.

Wie erleben Sie die Arbeit mit den Regisseuren?

In den letzten elf Jahren habe ich hier – wie auch anderswo – festgestellt: Arbeit und Name gehen nicht immer konform. Es gibt Leute mit großem Ruf, bei denen ich bei der Arbeit die Hände über dem Kopf zusammenschlage und denke, die Ergebnisse sind nur ihrem Team zu verdanken. Und dann gibt es welche, die vielleicht nicht den prominentesten Namen haben, aber genau wissen, was sie wollen und eine tolle Arbeit machen, bei der man sich als Choristin auch mitgenommen fühlt. Die große Herausforderung speziell in Bayreuth ist, dass man den großen Chor auf der Bühne abholt und mitnimmt. Wenn von 134 Leuten jeder am Abend wissen soll, was er zu tun hat, wie seine Rolle und Funktion ist, dann ist das nochmal eine andere Hausnummer als beispielsweise den Chor in Düsseldorf zu führen, der halb so groß ist. Manche Regisseure sind von dieser Menschenmasse einfach eingeschüchtert und vielleicht auch überfordert.

In welchen Inszenierungen haben Sie sich besonders wohl gefühlt?

Die beste Produktion, die ich in den letzten Jahren mitgemacht habe, ist sicherlich der „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer. Er kam zur ersten Probe und konnte jeden mit Namen ansprechen! Jeder hat von ihm eine Intention, eine Rolle bekommen, hat genau erfahren, was er wann und wo zu tun hat. Da ist eine solche Truppe dann natürlich voll dabei. Genauso Barrie Kosky. Bei ihm würde ich gerne noch einmal eine Regierarbeit mitmachen, weil mich seine Perfektion beeindruckt hat. Das ist natürlich anstrengend. Im letzten Akt seiner „Meistersinger“ gab es einige „freeze“-Situationen, in denen alle Bewegungen auf Stichwort „einfrieren“ müssen. Das hat er so lange geprobt, bis es 134 Leute plus Statisterie auf den Punkt gemacht haben. Das beeindruckt, nimmt den Chor mit und macht Spaß. Bei Regisseuren, die den Chor eher als Masse oder als Kollektiv betrachten, fühlen sich nicht alle angesprochen. Das ist ein normales Gruppenproblem.

Hat der Bayreuther Festspielchor im Vergleich zu anderen Chören eine eigene Gruppendynamik?

Von den 134 Menschen, die wir in diesem Jahr glücklicherweise wieder sind, sind nicht alle in festen Engagements. Viele arbeiten frei, treffen sich im Sommer hier und haben Bayreuth als Schwerpunkt in ihrem Arbeitsplan. Wer nach Bayreuth kommt, um hier seinen Sommerurlaub zu verbringen, bringt ein spezielles Arbeitsethos mit. Das zeigt sich, wenn der Chor nach einem Jahr wieder zusammenkommt zur ersten Probe. Wir haben die Stücke im Jahr zuvor so minutiös geprobt, dass man das Ergebnis unter den Umständen eines anderen Opernhauses ohne weiteres auf die Bühne stellen könnte. Aber an diesem Punkt beginnt die Arbeit in Bayreuth erst. Da wird an der Intonation gefeilt, da werden Einzelstimmen herausgekitzelt. Das ist anstrengend, aber die Chorsänger, die hier sind, wollen genau das. In einem normalen Opernhaus würde man das zeitlich überhaupt nicht schaffen. Außerdem ist das Klangerlebnis ein ganz anderes. In Düsseldorf haben wir sechs Stellen im zweiten Alt, hier sind es zwölf. Das ist ein ganz anderes Gefühl in der Gruppe. Wenn man da die Augen zumacht, ist der Klang traumschön.

Kann es dieses Erlebnis nicht doch auch anderswo geben?

Ich glaube, das kann man an keinem anderen Haus erreichen. Der Chor ist auch sehr multikulturell, die Sänger kommen von überall her, man trifft so viele Leute, was total schön ist und ein ganz eigenes Gefühl erzeugt. Dann bilden sich Freundschaftsgruppen, die auch Bayreuth überdauern. Man hat eine gemeinsame Leidenschaft, gemeinsame Erinnerungen. Das sind Gründe, warum sich so viele Leute den Sommer um die Ohren schlagen und lange dabei bleiben. Wir feiern regelmäßig 30jährige Jubiläen. Viele sagen: Wenn man einmal in Bayreuth war, dann ist man süchtig danach.




Beethoven nach dem Bombenhagel – Sasha Waltz choreographiert das Grauen des Krieges

Ensemble-Szene aus der „Beethoven 7″-Choreographie von Sasha Waltz. (Foto: © Sebastian Bolesch/Radialsystem)

Nebelschwaden empfangen das Publikum. Es wabert und wölkt, zischt und dampft aus allen Rohren. Mühsam schälen sich menschliche Silhouetten aus dem grauen Nichts: fremdartige Wesen mit riesigen Masken, die vielleicht von einem andern Stern oder aus den Abgründen unserer Fantasie kommen. Aliens des Bösen, die wie ferngesteuerte Kampfmaschinen wirken.

Manche tragen Brustpanzer, die an die Westen von Selbstmord-Attentätern erinnern. Sie verklumpen sich zu grotesken Körperskulpturen. Mit dem anschwellenden Bocks-Gesang ihrer ritualisierten Ekstase werden auch die zirpenden und zischenden Klänge immer lauter. Bässe wummern, Trommeln wirbeln, steigern sich zu einem Kakophonie der Katastrophe. Manche können den ohrenzerfetzenden Lärm und den Bombenhagel der atonalen Misstöne nicht mehr ertragen und verlassen fluchtartig den von musikalischem Krieg und tänzerischer Entgrenzung künstlerisch verminten Saal. Was tödliche Wirklichkeit für die von russischem Dauerbeschuss drangsalierten Menschen in der Ukraine ist, wird in der Choreographie von Sasha Waltz und der Musik von Diego Noguera zum ästhetischen Erlebnis, zum perfiden Schein. Muss das sein?

„Freiheit/Extasis“ nennt der in Chile geborene und seit Jahren in Berlin lebende Musiker Diego Noguera sein elektronisches Klang-Experiment, zu dem Sasha Waltz mit ihrem 13-köpfigen Ensemble vergeblich nach einem tänzerischen Ausdruck sucht: Viel Lärm und schweißtreibende Gymnastik um ein geschmackloses Nichts, das ohne Ohrenstöpsel kaum auszuhalten ist. Jetzt kann nur noch Beethoven helfen und uns aus dem Jammertal der musikalisch-tänzerischen Tränen befreien.

Für den Kultursender Arte hat Sasha Waltz 2021 in der antiken Tempelstätte von Delphi für zwei Sätze aus Beethovens 7. Sinfonie eine Choreographie entworfen, die den klanglichen Reichtum und die romantische Freiheits-Perspektive der mit rhythmischen Leitmotiven und mit hüpfenden, suggestiv-tänzelnden Elementen auftrumpfenden Komposition überzeugend einfing. Jetzt erweitert sie ihre szenische Beethoven-Weihe zu einem sinfonisch-tänzerischen Gottesdienst; zu einer Ton-Aufnahme unter Leitung von Teodor Currentzis schwebt und schreitet ihre Compagnie fröhlich und freiheitstrunken durch den vom Nebel des Krieges befreiten Raum im Berliner Radialsystem: „Beethoven 7“ feiert die Schönheit des Körpers und die Synchronität der Bewegungen. Arme werden gen Himmel gereckt, heiße Blicke ausgetauscht, Paare finden sich, Passenten schlendern vorbei, wagen ein ausgelassenes Tänzchen. Doch die zwischen französischer Revolution und europäischer Restauration eingeklemmte Welt, die den fast ertaubten Beethoven beim Komponieren 1811/12 umgab, ist fragil, der Frieden ein frommer Wunsch, die Freiheit ein schöner Schein.

In der Stille zwischen dem dritten und vierten Satz zerbricht die Idylle, verkantet sich ein einsamer Tänzer, reißt alle anderen mit sich in die Tiefe der Ungewissheit. Die harmonisch fließenden Bewegungen zerfasern, die Einigkeit der Liebenden löst sich auf. Nur schwer können die vereisten Körper ihre Erstarrung überwinden und der Fahne der Freiheit folgen, die von einer Tänzerin enthusiastisch geschwungen wird und den Weg in die Zukunft weist. Nach dem verkorksten Auftakt mit Noguera ist Beethoven die Rettung.

Sasha Waltz & Guests: „Beethoven 7“ und „Freiheit/Extasis“. Berlin, Radialsystem. Aufführungen wieder am 31. August sowie am 1., 2. und 3. September.

www.radialsystem.de




„Sprache lässt sich nicht mit Normen lenken“ – Zum Tod von Martin Walser: Erinnerung an zwei Gespräche mit dem Schriftsteller

Martin Walser am 10. Oktober 2013, Frankfurter Buchmesse. (Foto: Wikimedia Commons / Lesekreis, Heike Huslage-Koch). Lizenz: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en

Schon seit seinem Roman „Ehen in Philippsburg“ (1957), der die gesellschaftlichen Verhältnisse der 1950er Jahre auf den Begriff brachte wie kein anderer, war der Schriftsteller Martin Walser einer der wichtigsten Protagonisten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Jetzt ist er ist mit 96 Jahren in seinem Haus am Bodensee gestorben. Aus diesem traurigen Anlass hier noch einmal der Wortlaut zweier Gespräche, die ich 1996 und 1998 mit ihm führen durfte. Zunächst der Text von 1996:

_____________________________________

Dortmund. Mit seinem Roman „Finks Krieg“ hat Martin Walser (69) tiefen Einblick ins Innenleben eines Ministerialbeamten gegeben, der im Zuge eines Regierungswechsels auf einen minderen Posten abgeschoben wird. Dieser Fink, einer wirklichen Person nachgebildet, aber literarisch zur Kenntlichkeit gebracht, wird zum angstgepeinigten Kämpfer für sein Recht. Walser stellte das bei Suhrkamp erschienene Buch jetzt mit einer Lesung im Dortmunder Harenberg City-Center vor. Dort traf ihn die Westfälische Rundschau zum Gespräch.

Sie haben die vor wenigen Tagen publizierte „Frankfurter Erklärung“ mitunterzeichnet, einen entschiedenen Protest vieler Autoren gegen die Rechtschreibreform. Kommt das nicht zu spät?

Martin Walser: Ich hatte immer mein Leid mit dem Duden und mußte mich immer gegen Lektoren durchsetzen, die unter Duden-Diktat meine Manuskripte korrigiert haben. Mit nachlassender Energie habe ich immer auf meinen Schreibungen beharrt.

Nennen Sie uns ein Beispiel?

Walser: Mein Paradebeispiel ist „eine Zeitlang“. Ich hab‘ stets „eine Zeit lang“ in zwei Wörtern geschrieben. Der Duden verlangt es in einem Wort, was ja völlig unsinnig ist. Es stimmt weder historisch noch rational. Nach der neuen Rechtschreibung dürfte ich’s auseinander schreiben. Das ist für mich ein Fortschritt. Nur: Es ist eine autoritär ausgestattete Reform. Sie behebt einige Idiotien und installiert dafür andere. „Rau“ ohne „h“, da möcht‘ ich mal wissen, wer sich das ausgedacht hat…

Und wieso erheben Sie erst jetzt Einspruch?

Walser: Nun, weil Friedrich Denk (Deutschlehrer und Literatur-Veranstalter in Weilheim, d. Red.), der die Sache angeregt hat, mich jetzt befragt hat. Ich selbst hätte gedacht: Na, schön. Das ist gut, das ist blödsinnig – und hätte es dabei belassen. Weil ich sowieso nicht praktiziere, was im Duden steht. Schauen Sie: In meinem Roman „Brandung“ steht die Wortfolge „zusammenstürzender Kristallpalast“. Das müßte ich in Zukunft auseinander schreiben: „zusammen stürzender“.

Eine Sinnverfälschung?

Walser: So ist es. Hoffentlich sehen die Leute nun, daß solche Sprachnormen relativ sind. Vielleicht bildet sich gerade dann ein bißchen mehr Freiheit gegenüber den Regeln. Denn Sprache ist doch Natur – und sie ist Geschichte. Beides läßt sich nicht mit Normen lenken. Ich schreibe ja mit der Hand, folge einem rein akustischen Diktat in meinem Kopf. Wenn ich das nachher lese: Das ist so unorthographisch, so grotesk. Wenn ich Ihnen das zeigen würde, würden Sie sagen: „Das ist ein Analphabet.“ V und F geht da durcheinander wie „Fogel und Visch“. Schreibend ist man eben nicht auf Duden-Niveau.

Mal abgesehen von der Rechtschreib-Debatte: Ansonsten hat sich – Stichwort: Deutsche Einheit, die Sie früh und vehement befürwortet haben – die Aufregung um Sie ein wenig gelegt.

Walser: Zum Glück. Aber ich krieg‘ immer noch genug ab. Ein Rezensent hat geschrieben, er höre in „Finks Krieg“, in der politischen Tendenz „Marschmusik“. Seit der Diskussion um die Einheit haben die mich in diese Richtung geschickt, diese Arschlöcher! Der Peter Glotz empfindet in meinem Roman „dumpf-deutsche Fieberphantasien“. Ein anderer hat sinngemäß geschrieben: „Der Walser hat sich vom linken Kämpfer zum CSU-Festredner der deutschen Einheit entwickelt.“ Und das in einer Buchbesprechung.

Worte, die sich in Sie hineinfressen?

Walser: Ja, ja, ja. Ich wandere geistig aus d i e s e r Art von Gesellschaft aus. Ich will damit nichts zu tun haben, mit diesen Einteilungen – links, rechts. Mein Hausspruch lautet: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ In mir hat mehr als eine Meinung Platz. Ich hab‘ in den 70er Jahren erfahren, wie die Konservativen mit mir umgegangen sind. Damals hieß es: „Du bist ein Kommunist.“ Jetzt weiß ich, wie die Linken mit Andersdenkenden umgehen. Es ist noch verletzender. Und ich meine nach wie vor: Das größte politische Glück, das die Deutschen in diesem Jahrhundert hatten, ist diese Einheit. Die Misere steht auf einem anderen Blatt, aber sie hat Aussicht auf Behebung. Die Misere vorher war aussichtslos.

Und „Finks Krieg“, ist das der Roman über unsere politische Klasse?

Walser: Für mich ist es der Roman über einen leidenden Menschen. Übrigens war die Vorarbeit sehr quälend. Ich habe zwei volle Jahre Material studiert. Furchtbar. Immer nur notieren ist entsetzlich. Ein unguter Zwang. Ich bin auch nicht ganz gesund geblieben dabei. Ich habe manchmal gedacht: Vielleicht hört es überhaupt nicht mehr auf, vielleicht wirst du nie Herr des Verfahrens, vielleicht bist du nie imstande, frei zu schreiben. Mein neues Projekt hat deswegen gar nichts mehr mit Quellen und Recherchen zu tun. Es wird ein Buch über meine Kindheit – so, wie sie mir heute vorkommen möchte.

______________________________________________

…und hier der Text vom Oktober 1998:

Dortmund. Mit seinem Roman „Ein springender Brunnen“ hat Martin Walser (71) einen grandiosen Erfolg erzielt. Lesepublikum und Presse waren beeindruckt von dieser stark autobiographisch geprägten Geschichte einer Dorf-Kindheit in der NS-Zeit.

In die politische Diskussion geriet Walser durch seine am 11. Oktober gehaltene Frankfurter Rede zur Friedenspreisverleihung des Deutschen Buchhandels, in der er sich gegen allzu eingefahrene Wege der „Vergangenheitsbewältigung“ und gegen die „Instrumentalisierung von Auschwitz für gegenwärtige Zwecke“ wandte. Daraufhin warf ihm Ignatz Bubis (Zentralrat der Juden in Deutschland) „geistige Brandstiftung“ vor. Jetzt las Walser im Dortmunder Harenberg City-Center (Mitveranstalter: Westfälische Rundschau und Buchhandlung Krüger) aus seinem Roman. Bei dieser Gelegenheit sprach die WR mit ihm.

Haben Sie mit derart barschen Reaktionen auf Ihre Frankfurter Friedenspreis-Rede gerechnet?

Martin Walser: Natürlich nicht. Mit so etwas kann man nicht rechnen. Solche Wörter können einem ja vorher nicht einfallen, mit denen man da beworfen wird. Wenn mich jemand als „geistiger Brandstifter“ bezeichnet, dann ist das seine Sache. Ich kann das gar nicht kommentieren, weil ich es auch nicht verstehen kann. Und mich mit Rechtsradikalen wie Frey und Schönhuber zu vergleichen, weil die angeblich „auch nichts anderes sagen“… Da habe ich ein anderes Sprachverständnis.

Sind Sie verbittert?

Walser: Verbittert nicht, aber entsetzt. Ich bin doch kein Dauerobjekt für Beleidigungen! Zum Glück gab es ja auch unendlich viele andere Reaktionen, so wie noch nie. Das Thema hat sich noch lange nicht erledigt. Die Affäre wird in der Entwicklung dieses Themas in diesem Land eine Wirkung haben – welche, das bleibt abzuwarten.

Ihr Roman ist fast durchweg begeistert aufgenommen worden. Waren Sie erstaunt?

Walser: Mh. Das darf mich nicht erstaunen. Es hat mich unheimlich gefreut. Ich habe noch nie so rasch so viele briefliche Leser-Reaktionen bekommen. Ich war mir ja beim Schreiben des Romans eines gewissen Risikos bewußt. Es hat mich gerührt, daß die meisten meine Auffassung teilen, daß man auf diese Art über „damals“ schreiben kann.

Ein paar wenige Rezensenten haben moniert, Sie hätten die Schrecken des NS-Regimes nicht erwähnt.

Walser: Ja. Das ist absurd. Dieses NS-Regime kann auch auf andere Weise vorkommen, ohne daß das Stichwort „Auschwitz“ fallen muß. Wer das zu einem Pensum macht, zu einer Pflichtaufgabe, der muß damit rechnen, daß er nur Lippenbekenntnisse bekommt. Die meisten haben aber begriffen, daß in meinem Text die NS-Zeit präsent ist, so wie sie aus der Perspektive des Kindes Johann präsent sein konnte.

Was bedeuten Lesereisen für Sie? Eher eine Last oder eine Chance, vom Publikum etwas zu bekommen?

Walser: Ich mache solche Reisen vielleicht zu oft. Ich werd s sicher nicht mehr sehr lange machen, aber diesmal schon noch. Ich probiere den Text eben gerne in Sälen. Man weiß ja nie so genau, wie die Leute reagieren. Ich hatte es mir diesmal sehr schwer vorgestellt. Meine bisherigen, oft neurotischen Romanhelden habe ich pointiert dargeboten. Das hat den Leuten eingeleuchtet, da haben sie sich wiedererkannt. Jetzt hab ich diesen fünfjährigen Johann im Jahr 1932. Da war ich nicht so sicher, ob das überhaupt vorzulesen ist. Doch es geht, sehr gut sogar. Ich muß sagen: Die Leute in diesem Land sind einfach fabelhaft. Da redet man immer vom Fernsehen – und dann kommen Abend für Abend viele hundert Menschen zu den Lesungen und hören zu und reagieren unheimlich lebendig. Toll! Es gibt noch eine literarische Gesellschaft. Das hat kein bißchen abgenommen. Wer das Gegenteil behauptet, hat keinen Kontakt mit der Wirklichkeit.

Vielleicht sind Sie eine rühmliche Ausnahme?

Walser: Nein, nein. Drei meiner vier Töchter schreiben ja auch. Sehr verschieden voneinander – und keine wie ich. Eine von ihnen schreibt sogar viel schöner, poetischer und schwieriger als ich. Und doch macht sie bei Lesungen ähnlich gute Erfahrungen.

Eine erstaunliche Familie. Haben Sie Ihre Töchter Johanna, Alissa und Theresia als Kinder zum Schreiben angehalten?

Walser: Um Gottes Willen, nein. Nicht einmal zum Lesen. Es ist halt so gekommen. Außerdem ist die Sache nicht so heiter, wie sie klingt: Ich kenne den Preis des Schreibens. Man schreibt nicht, weil es einem gut geht. Im Gegenteil.

Eigentlich wollten Sie ja keine Interviews mehr geben.

Walser: Nun ja, diese Kommentierungs-Funktion wird einem „über“ – daß man immer seine eigenen Sachen auslegen soll. Im Gegensatz zum Interview kommt beim Roman keine bestimmte Meinung heraus. Ein Roman bewegt sich schwebend und landungsscheu…