Lebensgefährliche Liebe zum Tier – Monika Marons Erzählung „Die Katze“

Ein Leben ohne ein Tier scheint Monika Maron zwar möglich, aber völlig sinnlos. Bei Spaziergängen mit dem Hund durch ihr schick saniertes Berliner Altbauviertel oder über versteppte Brandenburger Felder sinniert sie über den Wahnsinn der Welt und die Absurditäten des Zeitgeistes.

Aus dem aufgeregten „Krähengekrächz“ hört sie die uralten Mythen und Märchen heraus, mit denen sich die Menschen die unlösbaren Geheimnisse des Daseins erklären. „Die stumme Verständigung zwischen Menschen und Tieren macht mich immer glücklich“, schreibt sie in ihrer neuen Erzählung. Sie heißt „Die Katze“ und handelt vom genauen Gegenteil: Denn fast hätte die Fürsorge für eine fast verhungerte Katze sie das Leben oder doch wenigsten die linke Hand gekostet.

Auszeit in der Landkommune

Zuletzt hatte Monika Maron (in „Das Haus“) geschildert, wie ausgerechnet sie, die notorische Einzelgängerin und überzeugte Großstadt-Pflanze, hinaus aufs Land und in eine Alten-WG zieht, wo sie mit anderen Weltflüchtlingen eine Auszeit in einer altengerechten Landkommune nimmt.

Bei einem ihre Gänge durch den Ort, berichtet sie nun in einer schlanken, die eigene Naivität mit Selbst-Ironie einkreisenden Erzählung, findet sie eine zottelige Katze, die dem Tod näher scheint als dem Leben. Sie erbarmt sich des hilfsbedürftigen Wesens, füttert es und will der Katze im Garten der Landkommune eine provisorische Unterkunft bauen. Doch sie hat nicht mit dem Zorn und der Wut ihres Hundes gerechnet, der sein Revier bedroht, sich zurückgesetzt fühlt und der Katze den Kampf ansagt.

Keine Ahnung, was ein Biss bedeuten kann

Als Monika Maron sich heldenhaft zwischen die Streithammel wirft und schlichten will, wird sie von der Katze gekratzt und gebissen. Weil sie die Gefahr unterschätzt und ihre Gedanken schon bei ihrer Reise nach Budapest sind (in der ungarischen Hauptstadt, einst Sehnsuchtsort aller DDR-Bürger, die dem grauen Einerlei ihres sozialistischen Miefs für ein paar Tage entfliehen wollten, soll sie an einer Diskussion über „Das Postheroische“ teilnehmen und aus ihren Büchern lesen), nimmt das Unglück seinen Lauf: „Ich hatte einfach keine Ahnung, was so ein Katzenbiss bedeuten kann.“

Kaum in Budapest angekommen, ist ihre linke Hand nur noch ein aufgequollener Fladen, voller Eiter und tödlicher Bakterien. Mit einer bizarren  Mischung aus „preußischem Pflichtbewusstsein“ und pervertiertem „Komsomolzenbewusstsein“ absolviert sie ihre Termine, schafft es grad noch im allerletzten Moment, wieder in Berlin einzutreffen, sich sofort in notärztliche Behandlung und unters Messer zu begeben, um eine Amputation zu verhindern und ihr Leben zu retten.

Eine aristokratische Lebensregel

Erst nach Wochen findet die von Schmerzen und Medikamenten betäubte Autorin wieder in ihren normalen Alltag. Gegen die Katze hegt sie keinen Groll, ihren Biss interpretiert sie „als eine Mahnung und eine Vorbereitung auf meine mögliche Zukunft.“ Einer Freundin, die meint, die Krankheit habe sie „friedlicher“ gemacht, davor sei sie „streitlustiger“ gewesen, sagt sie, sie irre sich, „ich streite mich schon länger nicht mehr. Über die üblichen Streitthemen Migration, Corona, Gender, die ganze Links-und-rechts-Front eben, ist alles gesagt.“ Sie halte sich jetzt lieber an eine alte „aristokratische Lebensregel“, die besagt: „Nur wenige sind es wert, dass man ihnen widerspricht.“ Mag sein, klingt aber doch ein wenig überheblich und verbittert.

Monika Maron: „Die Katze“. Erzählung. Hoffmann und Campe, Hamburg 2024, 56 Seiten, 16 Euro.




Erkundungen im real existierenden Kapitalismus: Der Schriftsteller Ingo Schulze streift durchs Ruhrgebiet

An diesem imposanten Ort beginnen die Ruhrgebiets-Erkundungen von Ingo Schulze: die kruppsche Villa Hügel in Essen. (Foto von Januar 2006: Bernd Berke)

Ein halbes Jahr lang war Ingo Schulze so etwas wie der Stadtschreiber des Ruhrgebiets, Oktober 2022 bis März 2023, Wohnsitz in Mülheim, eingeladen von der Brost-Stiftung. Zwei Dinge hatte er sich für diese Zeit vorgenommen, nämlich erstens an streng durchstrukturierten Arbeitstagen halbtags an seinem neuen Roman zu arbeiten und zweitens jede Einladung anzunehmen, die er in seiner Ruhrgebietszeit erhielt. „Ich weiß nicht, warum ich immer wieder auf mich selbst reinfalle“, schreibt er in der Rückschau, „keine Zeile habe ich an meinem Roman geschrieben.“

Das Ruhrgebiet, so könnte man folgern, erregte des Dichters ganze Aufmerksamkeit. Aber interessante Menschen hat er getroffen, Lehrerinnen, Polizisten, Gewerkschafter, Techniker, Buchhändler und so fort, eine bunte Mischung. „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ heißt das Buch, das Schulzes Begegnungen und Recherchen nun in recht entspannter Form versammelt – keine Skandalliteratur, ganz sicher nicht, auch keine geographische Liebesprosa.

Das Thema wirkt zunächst einmal wie falsch gestellt. Denn gängig sind ja nach wie vor eher die Berichte über den Osten, besonders über die Unzufriedenheit der dortigen Abgehängten und Rechtsradikalen. Hier aber nun: sachliche Berichte aus dem Westen, von Ingo Schulze mit Ernst und Akribie aus kaum wahrnehmbarer „Ost-Optik“ heraus verfaßt.

Die Jahre nach der Wende

Mit seinem opulenten Nach-Wende-Roman „Neue Leben“, schrieb Schulze sich in bleibende, respektvolle Erinnerung. Das knapp 800 Seiten starke Buch, 2005 erschienen, gab einem eingefleischten Westler (wie dem Verfasser dieser Zeilen) etwas mehr als eine Ahnung davon, was der Untergang der DDR mit Menschen in verschiedenen Milieus machte. Es war eine Zeit, wie sie unterschiedlicher in Ost und West ja kaum sein konnte; was „drüben“ Existenzen von Grund auf umkrempelte, reduzierte sich im Westen auf Tagesschaunachrichten. Später hat Schulze auch in, wenn man so will, ostdeutschen „Langzeit-Befindlichkeiten“ gegründelt, hat etwa in „Die rechtschaffenen Mörder“ (2020) den langsamen, unerbittlichen und offenbar ungeheuer kränkenden Bedeutungsverlust eines einstmals schillernden, luziden Buchhändlers und seiner Bücher beschrieben. Ganz leicht war das Verletzende in dieser Geschichte für den Westler nicht zu greifen, doch blieb der Eindruck großer Redlichkeit, der Ingo Schulzes Texten Mal um Mal eigen zu sein scheint.

Bei Krupp in Essen

So. Und nun tut sich der Dichter, 1962 in Dresden geboren und wohnhaft in Berlin, im Ruhrgebiet um, und er fängt dort an, wo es vielleicht immer noch seinen Markenkern hat, bei Krupp in Essen, Villa Hügel. Schulze, dessen Weltbild einst vermutlich vom Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital geprägt wurde, entwickelt großes Interesse am real existierenden Kapitalismus im Westen der Republik; er arbeitet anerkennend heraus, wie die Montan-Mitbestimmung über Jahrzehnte hin funktioniert hat, stellt aber auch fest, daß sie Betriebsschließungen – wie die von Rheinhausen – nicht verhindern konnte. Schulze recherchiert recht journalistisch, doch mitunter kommt am Ende eher Literatur dabei heraus. So, wenn er ähnlich Bert Brechts lesendem Arbeiter fragt, was aus dem flammenden Streikredner nach seiner letzten Rede wurde. (Er machte sich im Recycling selbständig, ging später bankrott.)

Irritierender Namensgeber

Schulze irritiert, daß Alfried Krupp von Bohlen und Halbach immer noch Namensgeber von Essener Einrichtungen wie der Philharmonie ist, obwohl er nach dem Krieg als Kriegsverbrecher eingestuft und interniert wurde. Ebenso aber registriert er auch, daß Berthold Beitz, der legendäre Krupp-Generalbevollmächtigte, in der Nazi-Zeit viele jüdische Mitarbeiter vor der Deportation bewahrte, indem er sie als betrieblich unabkömmlich meldete. Beitz’ Liste war jener Schindlers ähnlich.

Schulzes Krupp-Geschichte hat, wie einige andere Beiträge im Buch auch, in etwa den Umfang und Rechercheaufwand einer profunden schulischen Hausarbeit. Schlußendliche Wertungen bleiben aus, eher fällt dem Autor auf, daß die Menschen einander doch recht ähnlich sind, im Osten und im Westen.

Emscher-Renaturierung in allen Details

Den Duisburger Hafen besichtigt er, er schreibt über schulische Konzepte in schwierigen, durch Migration geprägten Stadtteilen, läßt sich von einem pensionierten Polizeichef spezifische Probleme mit arabischer Clan-Kriminalität erklären, ist schwer beeindruckt von der Emscher-Renaturierung. Bei letzterer hat er aus Schriften der Emschergenossenschaft abgeschrieben (bzw. ausführlich zitiert), und das teilt er auch ausdrücklich mit. Da geht es um die komplexe Technik, die die Reinigung der Emscher möglich macht, und wer so viel Technisches nicht wissen will, mag diesen Abschnitt getrost überblättern. Der Dichter selbst rät dazu.

Leider tut er gleiches nicht, wenn es um unorthodoxe Grundschulpädagogik geht, die weitgehend ohne deutsche Sprache auskommen muß. Da wird der Text ausladend und detailverliebt. Seitenlang beschreibt er fast wie ein Manual das Procedere, ohne nach dem theoretischen Konzept zu fragen, das dem Ganzen doch sicherlich zugrundeliegt. Hier wäre Raffung ein Gewinn – oder à la Kläranlage der technische Hinweis an pädagogisch Desinteressierte, wieviele Seiten man überblättern kann.

Ein Fan von Borussia Dortmund

Der Schriftsteller sitzt im Orchestergraben und besichtigt einen Soldatenfriedhof; die naturgemäß abenteuerliche Geschichte eines DDR-Flüchtlings, der damals über Ungarn ins Revier kam, gelangt zum Vortrag, und dann ist da natürlich der Fußball. Schulze offenbart sich als Fan von Borussia Dortmund, und deshalb gibt es auch die entsprechenden Spielberichte. Die aber sind so anders nicht als jene, die man schon kennt, gelbe Wand und so weiter. Wiederum bleibt festzustellen, daß das tägliche Leben im tiefen Westen so anders nicht zu sein scheint als im Osten der Republik.

Die Liebe zu den Büchern

Ein nostalgischer Schlußakkord schließlich ist dann der Besuch in Helmut Loevens Duisburger „Weltbühne“, einer der letzten dezidiert linken Buchhandlungen. Kommunistische Literatur aus aller Welt, gut behütet und geordnet, unendlich wertvoll und kaum noch nachgefragt. Loeven und Schulze – mehrfach begegnen sich hier zwei Buch-Afficionados, und wenn sie sich ihre Vorlieben eingestehen, ist das fast schon ein intimer Moment, bei dem der Leser stört.

Der junge Dortmunder Bundestagsabgeordnete

Merkwürdig geriet, für Dortmunder zumal, der allerletzte Teil des Buches. Da besucht Ingo Schulze den langjährigen Dortmunder Ex-Bundestagsabgeordneten Marco Bülow und läßt sich von dem – widerstandslos, könnte man fast sagen – in den Block diktieren, wie das alles begann und sich eher unglücklich fortsetzte. Ohne in Details gehen zu wollen sei angemerkt, daß die Geschichte des SPD-Abgeordneten Bülow, der die letzten drei Jahre als Parteiloser (bzw. als Neumitglied von DIE PARTEI) in vielen Punkten auch anders erzählt werden könnte. So war seine Nominierung zumindest nicht nur Folge persönlicher Beliebtheit, sondern auch Resultat einer neuen Rekrutierungsstrategie der Partei, die unbedingt jünger und weiblicher werden wollte und alte Schlachtrösser wie Bülow-Vorgänger Hans Urbaniak dafür gerne in die Wüste schickte. Möglicherweise hat dieser recht senkrechte Start dem jungen Bülow nicht gutgetan, hat ihn überfordert, und möglicherweise wäre Schulze dieser alles in allem doch recht bizarren Politikerkarriere durch kluge Nachfragen näher gekommen als durch unkritisches Protokollieren. Nur so viel zu diesem Teil des Buches.

Wertvolle Fleißarbeit

Nun gut. Um „Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ ging es, und da ist der Dichter in seinen Entscheidungen frei, was er aufzeichnen möchte und was nicht. Natürlich hätte man sich auch Beiträge vorstellen können, etwa zum Straßenverkehr (Schulze ist notorischer ÖPNV-Nutzer oder Mitfahrer) oder zur Kleinkunst, beispielsweise. Trotzdem geriet Schulzes Buch alles in allem zu einer Fleißarbeit, wohltuend in seiner durchgängigen Sachlichkeit – eine wertvolle Ergänzung der Regalabteilung mit den regionalen Schriften.

  • Ingo Schulze: „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“, Wallstein Verlag, 344 Seiten, keine Bilder, 24 €.



Aufklärung, das unvollendete Projekt – opulente Ausstellung in Berlin

Erstdruck der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776, gedruckt von Steiner und Cist in deutscher Sprache, Philadelphia, 8. Juli 1776. (© Deutsches Historisches Museum)

In einem der wirkungsmächtigsten Dokumente der demokratischen Staatsphilosophie, formuliert im Jahr 1776, wird festgestellt, „daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket.“

Daniel Chodowiecki: Allegorisches Blatt zum Zeitalter der Aufklärung, Göttingen, 1791. (© Deutsches Historisches Museum)

Hauptautor der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die sofort vom in Philadelphia angesiedelten Druckhaus „Steiner und Cist“ ins Deutsche übersetzt wurde, war Thomas Jefferson, ein von der Aufklärung geprägter Staatstheoretiker, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen predigte (und der Französischen Revolution die passenden Stichwörter lieferte) und im Sinne von Immanuel Kant die Vernunft als oberste Maxime des menschlichen Denkens und Handels propagierte.

Jefferson war auch Sklavenhalter

Jefferson war aber auch, und das wird gern vergessen, ein reicher Großgrundbesitzer, der auf seinen Plantagen hunderte Sklaven für sich schuften und sich darüber keine grauen Haare wachsen ließ. Wer die richtigen Ideen formuliert und die Fortschrittsgeschichte der Demokratie beflügelt, muss also im konkreten Handeln und alltäglichen Leben nicht immer ein leuchtendes Vorbild und schon gar nicht unbedingt ein guter Mensch sein.

Deutlich wird das jetzt wieder in einer mit über 400 Exponaten opulent ausgestatteten Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM). Sie trägt den Titel: „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“ und kreist längst nicht nur um das Denken von Kant, der in einem berühmten Aufsatz von 1784 die Frage, was denn eigentlich Aufklärung sei, in der „Berlinischen Monatsschrift“ auf die Vernunft als kategorischen Imperativ verwies und schrieb: „Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

Friedrich Wilhelm Springer: Miniaturbildnis des Immanuel Kant, Königsberg, 1795 (© Deutsches Historisches Museum)

Der Aufsatz von Kant ist genauso als historisches Dokument ersten Ranges in der grandiosen Ausstellung dokumentiert, wie auch der Erstdruck der deutschen Übersetzung der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sowie das Original des handgeschrieben Verzeichnisses mit den Namen der von Thomas Jefferson ausgebeuteten Sklaven.

Zwiespältige Vernunft 

Die Aufklärung, lernen wir, ist ein von Widersprüchen gezeichnetes Unterfangen, eine Aufgabe, die bis heute nicht vollendet ist. Zum Ende der mit Bilder-Fluten und Text-Bergen, Video-Installationen und Hör-Stationen zur ambivalenten Geschichte der Aufklärung und der mit politischen Verweisen und wissenschaftlichen Exkursen fast überinszenierten Performance zur Kulturgeschichte eines widerborstigen Begriffs erinnern uns denn auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an die „Dialektik der Aufklärung“ und ihre Warnung, dass der aufklärerische, vernunftgeleitete Zweck der Selbstbefreiung zum bloßen Instrument  verkommen könne, um alle möglichen Zwecke zu erreichen.

„Große Scheiben-Elektrisiermaschine“ aus dem Besitz Johann Wolfgang von Goethes. (© Klassik Stiftung Weimar, Museen)

Von Kant bis Habermas

Das letzte Wort hat dann Jürgen Habermas, der wohl bedeutendste Soziologe und Philosoph der Gegenwart: Er  beschwört trotz aller Krisen, Kriege und Katastrophen der Moderne die „Einsicht der klassischen Aufklärung: Deren rationaler Kern besteht unverändert darin, an die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu appellieren, ihre Vernunft öffentlich zu gebrauchen, um politisch auf die Gestaltung der Grundlagen ihrer gesellschaftlichen Existenz Einfluss zu nehmen. Eine solche vernünftige politische Willensbildung ist freilich nur im Rahmen der Institutionen eines unversehrten demokratischen Rechtsstaates und auf der Basis einer wenigstens halbwegs gerechten Gesellschaft möglich.“

Um anschaulich zu machen, wie weit der Weg von Kant bis Habermas war, werden Fragen zu Wissenschaft und Geschichte gestellt, Bilder, Skulpturen und Dokumente gezeigt, die den Fortschritt des Menschenbildes und das Unbehagen an der Kultur belegen, Geschlechterrollen befragen, über Bedeutung von Religion und Pädagogik nachdenken und die Aufklärung als unvollendetes Projekt der Menschheitsgeschichte beschreibt.

Georg Melchior Kraus: „Zwischen Wissenschaft und Ehe“, Mainz, um 1770-1776. (© Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg)

 

 

 

„Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“, Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin, Pei-Bau, 1. und 2. OG. Bis 6. April 2025, geöffnet täglich 10-18 Uhr (geschlossen nur am 24.12.2024), Eintritt 7 Euro, ermäßigt 3,50 Euro, bis 18 Jahre frei. Infos unter www.dhm.de/aufklaerung, Katalog (Hirmer Verlag) im Museum 30 Euro, im Buchhandel 39,90 Euro. 




Förmlich oder nüchtern? Dankesbekundungen gestern und heute

Gängiges Emoji für Dankesbekundungen (© EmojiTerra.com /  „Emojis zum Kopieren und Einfügen“)

Vor geraumer Zeit war hier von gängigen Grußformeln die Rede, jetzt geht es mal eben kurz um Dankesformeln. Bitte hier entlang:

Wir vergewissern uns rasch: „Vielen Dank“, „Lieben Dank“ oder – leicht gesteigert – „Vielen lieben Dank“ lauten die vielleicht meistgebrauchten Dankesbekundungen dieser Tage. Manche lassen es auch beim Emoji mit den dankbar aneinander gepressten Händen bewenden. Das erscheint freilich wie ein arg flüchtiger Dank auf bloßen Klick.

Und sonst? Ein schlichtes „Danke“ ist beinahe schon verpönt, weil es nichts hermacht. Es sollte, nach allgemeinem Empfinden, schon wenigstens „Herzlichen Dank“ oder (etwas geschäftsmäßiger) „Besten Dank“ heißen. „Heißen Dank“ entbietet man wohl nur, wenn man es ironisch meint und gar nicht wirklich Dankbarkeit erweisen möchte. Ähnliches gilt für die geflissentlich zelebrierte Wiederholung: „Danke, danke, danke!“ oder fürs multiple „Tausend Dank!“ Vollends abgehoben erscheint das sentimental triefende Liedlein von 1961, dessen (an Gott adressierte) erste von sechs Strophen da lautet: „Danke für diesen guten Morgen / Danke für jeden neuen Tag / Danke, dass ich all meine Sorgen / Auf dich werfen mag.“ Auf dich werfen… Ja, wenn das s o ist.

In Zeiten, da das Wort „Demut“ inflationär gerade bei jenen grassiert, die gar nicht so recht wissen, wie sich Demut überhaupt anfühlt, sind auch schwer veraltete Formulierungen wie „Untertänigsten Dank“ längst nicht mehr „angesagt“. Apropos: Erinnert sich noch jemand an jene Jahre, als immerzu dankbare Buben einen „Diener“ (aka Bückling oder Kotau) machen sollten und dito Mädels einen „Knicks“? Bis ungefähr zur Mitte der 1960er Jahre waren solcherlei Zumutungen üblich.

Nebenformen wie das sarkastische „Danke auch“ (empörte Betonung auf „auch“) klingen unterdessen ebenso selbstgefällig wie das vor allem online weithin verwendete „Danke für nichts“ oder unfassbar scherzhafte Verballhornungen wie „Danke, Anke!“

Nicht allzu glaubhaft hört es sich an, wenn jemand behauptet, „unendlich dankbar“ zu sein oder wenn jemand sich präsidial hierzu versteigt: „Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet!“ Wer sich so äußert, wird vielleicht auch schwülstig von „Dankesschuld“ und „Dankesbezeugung“ reden. Dankenswerterweise sind solche Wallungen aus der Mode gekommen.

Gar zu förmlich darf es also nicht mehr sein, allzu nüchtern freilich auch nicht.

Da fällt mir gerade noch ein, was noch heute so oft zu Kindern gesagt wird, die einfach unumwunden etwas haben wollen: „Wie heißt das Zauberwort?“ Eigentlich sind es ja zwei: Bitte und Danke. Viel mehr braucht es doch auch nicht, oder?

 




Nur Kunst, Liebe und Tod – Horst Bieneks Tagebücher

Der 1930 im oberschlesischen Gleiwitz geborene Horst Bienek konnte sich nach dem Krieg in die „Sowjetische Besatzungszone“ absetzen, ein Volontariat in Potsdam ergattern und erste Prosa-Texte veröffentlichen.

Im September 1951 nimmt ihn Bertolt Brecht in seine Meisterklasse am Berliner Ensemble in Ost-Berlin auf und der junge Autor beginnt mit einem Tagebuch, in dem er fortan seine Gedanken und Erlebnisse akribisch festhalten will.

Bert Brecht erwiderte seine Bewunderung nicht

Er beobachtet Brecht bei den Proben („…er klatschte in die Hände, kicherte, schnaubte; es war köstlich.“) Seine Begeisterung und Bewunderung für Brecht, das epische Theater und die ketzerische Lyrik, wird Bienek zeitlebens bewahren. Leider wurde sie nicht erwidert. Denn weder Brecht noch Helene Weigel machten einen Finger für ihn krumm, als ihn die Stasi im November 1951 wegen angeblicher Spionage verhaftete und zur Zwangsarbeit in ein sowjetisches Gulag verfrachtete. Nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass Bienek im Rahmen politischer Abkommen 1955 entlassen und in die Bundesrepublik abgeschoben wurde.

Netzwerker in der Literaturszene

Es dauerte Jahre, bis Bienek künstlerisch wieder Fuß fasste, als Kultur-Redakteur beim Hessischen Rundfunk, Herausgeber verschiedener Zeitschriften und Verlagslektor bei dtv zu einem gefragten und einflussreichen Netzwerker in der Literaturszene wurde und schriftstellerisch die Traumata seines Lebens bearbeiten konnte.

Die Tagebücher, 1951 mit großen Hoffnungen begonnen, weisen denn auch eine große Leerstelle auf. Erst 1959 holt Bienek die Hefte wieder hervor, wird dann aber bis zu seinem Tod kein Blatt mehr vor den Mund nehmen und jedes noch so intime Detail seines ruhelosen und obsessiven Lebens aufschreiben.

Völlig ungeschütztes Schreiben

Die jetzt unter dem Titel „Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichts“ veröffentlichten Tagebücher sind eine editorische Großtat, die dem Leser viel abverlangt. Denn Bienek schreibt völlig ungeschützt und oft polemisch über seine Begegnungen mit Kritikern wie Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser, seine Freund- und Feindschaften mit Kollegen wie Wolfgang Koeppen und Hans Magnus Enzensberger; er diskutiert mit Ingeborg Bachmann und Max Frisch und gibt freizügige Einblicke in seine sexuellen Vorlieben, beschreibt seine Ausflüge in die Schwulen-Bars, seine wüsten Ausschweifungen, die ihn vom Schreiben abhalten und in schummrige Klappen und dunkle Parks führen. Erst als AIDS unter seinen schwulen Freunden wütet, schränkt er seine sexuellen Obsessionen etwas ein.

„Ein flackernder Blick ins Leere“

Michael Krüger, sein Lektor und Verleger, beschreibt ihn als rastloses und „verletztes Kind“, das nur unter großen Schmerzen vom Verlust der Heimat („Die erste Polka“), von Verhaftung und Tortur im Gulag („Die Zelle“) erzählen und in zeitlos gültige Romane verwandeln konnte. Am 7. Dezember 1990 ist Bienek in München nach langem Siechtum an AIDS gestorben. „Das letzte Bild, das ich von ihm habe“, schreibt Krüger im Nachwort, „ist sein abgemagerter, geschrumpfter Körper, ein flackernder Blick ins Leere, ein Würgen, als wollte er noch etwas Wichtiges sagen. Er hat es für sich behalten müssen.“

Horst Bienek: „Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichts.“ Die Tagebücher 1951-1990. Hrsg. von Daniel Pietrek u.a., mit einem Nachwort von Michael Krüger, Hanser Verlag, München. 1712 S., 58 Euro.




Heillose Heilanstalt: Heinz Strunks Roman „Zauberberg 2″

Welch ein tollkühnes Unterfangen, schon mit dem Romantitel und sodann mit der Handlung in einen Vergleich mit Thomas Mann einzutreten! Mit „Zauberberg 2″ nimmt Heinz Strunk wie selbstverständlich Bezug auf Manns großen, just vor 100 Jahren erschienenen Roman „Der Zauberberg“, der bekanntlich hauptsächlich in einem Sanatorium zu Davos spielte und wortmächtig aus einem gewaltigen Gedanken- und Bildervorrat schöpfte.

Strunks Protagonist namens  Jonas Heidbrink macht sich hingegen mit dem eigenen Fahrzeug in den abgelegenen und untervölkerten deutschen Nordosten auf. Der Aufenthalt in der Heilanstalt, in die er sich begibt, kostet pro Nacht exorbitante 823 Euro. Selbstzahler sind gern gesehen. Heidbrink, der sich ein Start-up mit Hightech-Idee hat abkaufen lassen, verfügt fraglos über das Geld, ist aber seelisch ein armer Tropf, schon längst zu Tode betrübt. So drastisch erinnert er sich bei Strunk an seine Jugendjahre: „Bei jeder Gelegenheit hatte Heidbrink seine Verzweiflung wegzuonanieren versucht – seine Wichsdichte war wirklich schwindelerregend hoch gewesen. Not in Wichse verwandeln.“ Das ist fürwahr ein anderer Sound als bei Thomas Mann, der in seinen Tagebüchern höchstens verdruckst eine „Niederlage“ eingestand, wenn es ihn über-mannt hatte.

„Böser Blick“ und Lachnummern

Heinz Strunk erweist sich erneut als Meister der wirksamen, zuweilen fuchsfrechen Zuspitzung, der seine Figuren mit „bösem Blick“ betrachtet und zu Karikaturen ihrer selbst gerinnen lässt. Ärzte, Psychiater, Psychologen und sonstige Therapie-Fachkräfte geraten so reihenweise zu Lachnummern, diverse Maßnahmen (Musiktherapie, Kunsttherapie, Fototherapie, Biblio-Therapie, Tanz und Bewegung et cetera pp.) erscheinen als ebenso sterbenslangweilige wie groteske Zusammenkünfte, unterfüttert mit schwer erträglichem Psycho-Kauderwelsch. Die „Kulturabende“ des nur äußerlich noblen, schlossartigen Hauses sind unterdessen gottserbärmlicher Schmock. Nicht nur bestens vorstellbar, sondern höchst wahrscheinlich, dass derlei Befunde in vielen Punkten der traurigen Wirklichkeit entsprechen.

Zu allem Überfluss teilt man Heidbrink auch noch – gleich nach der Aufnahme – Verdachtsmomente für ein Melanom (Hautkrebs) und einen Nierentumor mit. Eine Folge: Ständig werden uns fortan seine „Vitaldaten“ (Laborwerte) mitgeteilt. Wie sehr wir um ihn bangen, sei dahingestellt. Nicht, dass auch wir in der Lektüre noch dem bösen Blick verfallen sind… Oder verbirgt sich hinter all der Spottlust doch heimliche, sozusagen verschämte Empathie?

Quälende Schweiger und Schwätzer

Lauter desolate Existenzen fristen in der Klinik ihr Leben – bei langsamst dahinkriechender Zeit; Tag um Tag, Monat für Monat, ohne wesentliche Veränderungen. Wir begegnen gleichermaßen quälenden Schweigern und Schwätzern am abendlichen Esstisch. Da ist etwa ein heilloser, reichlich prolliger Säufer namens Klaus oder jener Pseudo-Philosoph Zeissner, der so manche Suada absondert. Dazu die zerbrechliche, durchaus vorgestrige Fabrikerbin Margot oder eine seltsam unzertrennliche Zweiheit: Eddy und Pia, denen gleichfalls auf Erden nicht zu helfen ist. Wer daran Vergnügen findet, mag die Bezüge zu Thomas Manns Figureninventar herstellen. Demnächst werden sich Doktorierende damit befassen.

Diese Beschreibung der Klinik mutet schließlich an wie die generelle Bestandsaufnahme einer miserablen Welt: „Übrig bleibt ein Haufen Irrer und Bedürftiger, Verbrauchter und Versehrter, Belämmerter und Benommener, Hinkender und Humpelnder.“

Welch ein Jahrhundert-Abstand zu Thomas Mann!

Heinz Strunk gelingen rasante und prägnante Charakterisierungen zwischen Gelächter und Depression. Unterhaltsamkeit kann man diesem Schriftsteller (einst Musiker und Comedian) gewiss nicht absprechen, sein Roman liest sich weg wie sonst was. Aber sind es nicht manchmal doch etwas herabgedimmte Thomas-Mann-Anklänge, die er uns auftischt? Andererseits: Soll er denn den ichzentrierten Großbürger Thomas Mann nachahmen oder paraphrasieren? Das geht ja nun auch nicht. Auf sprachlichen Höhen (und in Untiefen) bewegt sich Strunk mitunter gleichfalls, wenn auch nicht in Sphären des Altvorderen.

Der vierte und letzte Teil des Romans handelt vom Verfall der Klinik, deren Schließung so unvermeidlich ist wie das finale Schicksal von Jonas Heidkamp. Ins Kapitel „Kirgisenträume“ fließen etliche Originalzitate aus Thomas Manns „Zauberberg“-Roman ein, die man sogleich am hohen Ton erkennt und die im Anhang penibel aufgeführt werden. Welch ein Abstand zu jenen Zeiten und jener Sprache! Wahrlich ein ganzes Jahrhundert, in dem sich die Gattung jedoch gar nicht so sehr verändert hat.

Heinz Strunk: „Zauberberg 2″. Roman. Rowohlt Verlag. 288 Seiten, 25 Euro.

 

 




Joachim Meyerhoff: Literarisches Denkmal für die Mutter

Theatergänger lieben die genuschelten Spracheskapaden und schlaksigen Bewegungen von Joachim Meyerhoff, Literaturfans amüsieren sich köstlich über seine tragikomischen Erlebnisse und grotesken Selbstentblößungen. Dann aber wird der Wiener Burgschauspieler von einem Schlaganfall niedergestreckt, muss das Sprechen und Spielen neu lernen und wechselt ins Ensemble der Berliner Schaubühne. Doch alles kommt anders als gehofft.

„Ich haderte mit Berlin, der Stadt, in der ich seit fünf Jahren versuchte, heimisch zu werden, und ich haderte mit meinem Beruf, der Schauspielerei, die ich über drei Jahrzehnte mit Hingabe, gar mit Obsession betrieben hatte.“

Bühnen-Ekel und Schreib-Hemmung schlagen ihm aufs Gemüt. Fluchtartig verlässt er Berlin und zieht zu seiner Mutter aufs Land, redet sich ein, er, der 56jährige Griesgram, könne der 86jährigen Frau, die vor Lebenslust strotzt und ihren parkähnlichen Garten allein in Schuss hält, im Alltag eine Hilfe sein. Das Gegenteil ist der Fall. Die Mutter sorgt mit kräftigen Worten und zarter Fürsorge dafür, dass der selbstmitleidige Sohn aus dem Tal der Tränen finden und wieder das machen kann, was er am besten beherrscht: seine tatsächlichen und seine herbeifantasierten Erlebnisse in bizarre Literatur zu verwandeln, Geschichten aufzuschreiben, die aus den traurigen Niederlagen des Lebens komischen Honig saugen und selbst dem verkniffensten Leser ein Lachen ins Gesicht zaubern.

„Man kann auch in die Höhe fallen“ nennt Joachim Meyerhoff (eine Sentenz von Friedrich Hölderlin aufnehmend) den sechsten Teil seines Roman-Zyklus‘ „Alle Toten fliegen hoch“: eine Perlenkette von todtraurigen und berstend komischen Anekdoten aus dem Leben eines Schelms. Er hat davon erzählt, wie er als Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in einem Heim für körperlich und geistig Behinderte aufwächst und sich dort pudelwohl fühlt. Wie er als Legastheniker die Kunst für sich entdeckt, als Schauspieler mit Wörtern jongliert und als Schriftsteller den Wahnsinn der Welt veralbert.

Höchste Zeit, zur Ruhe zu kommen, sich in den Alltag der Mutter einzuklinken und mit Latzhose und Gummistiefeln zum Gärtner zu mutieren. Den Tag mit einem Bad im Meer, einem guten Whiskey und einer klugen Mutter beenden, die auf (fast) jede Frage eine gescheite Antwort weiß. Wochenlang werkeln und trödeln die beiden durch den zu Ende gehenden Sommer, holen Erinnerungen hervor und schmieden neue Pläne. Die Mutter verliebt sich noch einmal und beschließt, mit ihrem Geliebten die Welt zu bereisen, der Sohn findet wieder die passenden Worte für seine abstrusen Geschichten über die Abgründe des Künstlerlebens und collagiert seine hanebüchenen Schilderungen mit liebevollen Erzählungen über seine Mutter.

Eine Geschichte („Mutter ist weg“) will er in einer Lübecker Buchhandlung vorlesen. Doch ihm ist übel und er zittert, hat Angst vor einem neuen Schlaganfall. Da ergreift die Mutter die Initiative. Während ihr Sohn im Hinterzimmer auf einer Couch liegt, tritt sie – als hätte sie nie etwas anderes getan – vor die Zuhörer und liest die Geschichte vor, die sie zuvor gar nicht kannte und jetzt so selbstsicher und Funken sprühend intoniert, als wäre sie selbst die Autorin. Weil sie eine wahre Künstlerin ist, erfindet sie spontan noch ein paar Zeilen dazu und schenkt der unfertigen Story ein großartiges Finale. Hin und weg sind nicht nur die Besucher der Lesung, sondern auch der in seinem Kabuff liegende Joachim Meyerhoff, der seiner Mutter mit seinem Roman ein literarisches Denkmal setzt.

Joachim Meyerhoff: „Man kann auch in die Höhe fallen.“ – „Alle Toten fliegen hoch“, Teil 6. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 358 Seiten, 26 Euro.

 




Boualem Sansal muss aus der Haft entlassen werden

Gladbeck 2012: der französisch-algerische Schriftsteller Boualem Sansal im Gespräch. (Foto: Jörg Briese)

Der Nächste bitte! Mit der Gewöhnung an autoritäre Politik werden Angriffe auf die Meinungsfreiheit zur Regel.

Im Oktober 2012 hatte ich das Glück, Boualem Sansal in die Stadtbücherei Gladbeck einladen zu dürfen und mit ihm zu diskutieren. Das Gespräch dolmetschte Walter Weitz, in deutscher Sprache erschienene Texte Sansals las Schauspieler Martin Brambach. Inspirierende Abende wie dieser gehörten zu den Lichtblicken meiner Arbeit im Literaturbüro Ruhr.

In Algier verhaftet und angeklagt

Umso trauriger war ich lesen zu müssen, dass am 16. November dieses Jahres der bewunderte französisch-algerische Schriftsteller nach einer Rückreise aus Frankreich am Flughafen von Algier verhaftet worden ist. Einige Tage lag sein Verbleib ganz im Dunklen. Nicht nur das deutsche PEN-Zentrum forderte deshalb Auskunft und Freilassung. Im PEN-Aufruf vom 5. Dezember heißt es kurz darauf: „Gestern nun wurde Sansal in Algier einem Gericht vorgeführt. Noch ist nicht klar, ob er einen unabhängigen Rechtsbeistand hat. Belangt werden soll er wegen Äußerungen zur algerischen Geschichte, nach algerischen Paragrafen können ihm dafür drakonische Strafen drohen.“

Auf dem Podium v.r.n.l.:
Walter Weitz (Dolmetscher), Sansal, Martin Brambach, Gerd Herholz.
(Foto: Jörg Briese)

Schon lange gilt Sansal in Algerien, wo seine Bücher nicht erscheinen dürfen, als Nestbeschmutzer, weil er das Regime seines Heimatlandes ebenso kritisiert wie den Islamismus, weil er gegen Antizionismus und Homophobie anschreibt.

Die Lüge wohnt vor allem im Westen

In seinem Büchlein „Postlagernd: Algier. Zorniger und hoffnungsvoller Brief an meine Landsleute“ rief Sansal nicht nur seine Landsleute zu mehr Mut und unabhängigem Denken auf, er forderte dies auch explizit von den Bürgern, den Citoyen im Westen:

„Die Unabhängigkeit ist universell oder es gibt sie nicht. Wenn es irgendwo einen Sklaven, einen Kolonisierten, einen vergessenen Häftling gibt, dann, weil es überall Lüge und Verrat gibt und weil die Welt von Sklavenhaltern und Kolonisatoren und ihren unzähligen Handlangern regiert wird.
Die Unabhängigkeit ist das Ende der Lüge. Bis zum Beweis des Gegenteils ist es der Westen, wo die Lüge wohnt, dort ist das Herz der Macht, dort ist es, wo man die Lüge zerstören muss, wenn man den Planeten und seine Bewohner retten will.“

Jeder kann jederzeit zum Mörder werden

Boualem Sansal lesend kann man dem Thema „Gewalt“ nirgendwo ausweichen. Sansal lenkt beharrlich den Blick auf verdrängte Kriege und Bürgerkriege, auf ihre zerstörerische Kraft – nicht nur in Algerien.
Dass dies uns – ob wir wollen oder nicht – angeht, beweist er etwa mit seinem Roman Das Dorf des Deutschen. Hier spürt er – Familiengeschichte erzählend – auch den Geheimnissen von Opfern und Tätern nach, der Geschichte von Staaten und Gesellschaften.

Martin Brambach liest aus „Das Dorf des Deutschen“. (Foto: Jörg Briese)

In Das Dorf des Deutschen müssen zwei Söhne eines Mannes aus einem algerischen Dorf erkennen, dass ihr Vater ein deutscher Nazi war, einer, der den Holocaust mitorganisiert hat, einer, der sich nach Kriegsende in Algerien versteckt hielt, eine junge Algerierin heiratete, nur, um dann erneut als Ausbilder von Kämpfern, Söldnern tätig zu werden.
So wird Gewalt über Zeiten und Länder weitergegeben; erschreckend scheint die Möglichkeit auf, dass nicht nur wider Willen jeder mit jedem verwandt sein, sondern auch jeder jederzeit zum Mörder werden könnte.

Totalitarismus in immer neuer Maskerade

Totalitäre Maschinerien und Ideologien, Terrorismen aller Couleur kommen in immer neuen Masken daher, mal als Nationalismus, mal als Stalinismus oder Islamismus oder – wie im Westen – als Terror der Ökonomie, als Primat einer Ökonomie, die unversehens zur Ökonomie der Primaten wurde und auf niemanden und nichts mehr Rücksicht zu nehmen scheint.

Auch aus der Erfahrung mit dem Jahrzehnte währenden islamistischen Terror im Maghreb ließe sich für Deutschland etwas lernen. Boualem Sansal erhellt, wie religiöser Fanatismus über das Angstmachen, das Besetzen von Sprache und Denken, über den Aufbau realer Machtstrukturen langsam aber sicher eine Gesellschaft bis in die letzten Winkel der Häuser und Hirne vergiften kann. Zurecht fordert er für seine Heimat etwas, das auch wir hier erst zu verwirklichen hätten: eine strikten Laizismus, eine striktere Trennung von Staat und Kirche(n).

Boualem Sansal (Foto: Jörg Briese)

Sansal ist ein Humanist, der erzählend und essayistisch – oft sich selbst gefährdend – für Menschenrechte und Bürgerrechte eintritt, für die Utopie demokratischer Gesellschaften. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels beschrieb er 2011, wie der Preis ihn verändert hat. Eindrückliche Sätze, die auch angesichts der aktuellen Situation in Syrien hoffnungsvoller (und naiver?) nicht sein könnten:

„Die Menschen lehnen Diktatoren ab“

„Ich diente unbewusst dem Frieden, nun werde ich ihm bewusst dienen, und das wird neue Fähigkeiten in mir wecken.“ Er hoffe, dass all das, was Schriftsteller und andere Kulturschaffende getan hätten, wenigstens einen winzig kleinen Beitrag zum Aufkommen des Arabischen Frühlings geleistet hätte: „Was derzeit geschieht, ist meines Erachtens nicht nur eine Jagd auf alte bornierte und harthörige Diktatoren, und es beschränkt sich nicht auf die arabischen Länder, sondern es kommt eine weltweite Veränderung auf, eine kopernikanische Revolution: Die Menschen wollen eine echte universelle Demokratie, ohne Grenzen und ohne Tabus. Alles, was das Leben ramponiert, verarmen lässt, beschränkt und denaturiert, ist dem Gewissen der Welt unerträglich geworden und wird mit aller Macht abgelehnt. Die Menschen lehnen Diktatoren ab, sie lehnen Extremisten ab, sie lehnen das Diktat des Marktes ab, sie lehnen den erstickenden Zugriff der Religion ab, sie lehnen den anmaßenden und feigen Zynismus der Realpolitik ab, sie verweigern sich dem Schicksal, auch wenn jenes das letzte Wort haben mag, sie lehnen sich gegen alle Arten von Verschmutzern auf; überall empören sich die Leute und widersetzen sich dem, was dem Menschen und seinem Planeten schadet.“

Sansal und Dolmetscher Wirtz  (Foto: Jörg Briese)

Ja, wirklich großartig wäre das. Boualem Sansal selbst aber hat jetzt die Macht derer zu spüren bekommen, die sich eine universelle Demokratie keinesfalls wünschen, die Menschen wie ihm deshalb schaden, wo sie nur können und so lange sie es können – und wir es zulassen. Erste hilflose Gesten dagegen wären es, Aufrufe zur Freilassung Sansals zu verbreiten, ihn nicht zu schnell als Häftling wieder zu vergessen. Und ihn zu lesen. Frei nach Gotthold Ephraim Lessing also: „Wir wollen weniger erhoben // und fleißiger gelesen sein.“




Spinnenwelt, Kunstbetrieb, Getuschel – Buchtipps vor dem Fest

Es ist mal wieder an der Zeit, in vorweihnachtlichen Tagen ein paar gesammelte Hinweise auf neue Bücher zu geben.

Das große Krabbeln

Zunächst ein Sachbuch-Thema, das viele Leute weniger erquicklich finden dürften. Jan Mohnhaupt, übrigens gebürtiger „Ruhri“ vom Jahrgang 1983, legt sein Buch „Von Spinnen und Menschen. Eine verwobene Beziehung“ (Hanser, 255 Seiten, 24 Euro) vor. Schon beim bloßen Titel könnte manche(n) das Gruseln anfassen. Doch nach der Lektüre mögen sich vielleicht etliche Arachnophobiker ein wenig kuriert fühlen. Mohnhaupt hat nicht weniger als eine Kulturgeschichte der Spinnenwesen verfasst, wie sie sich auf vielfältige Weise in die Geschichte der Menschheit einbeschrieben hat, so u. a. auch ins Christentum und in verschiedene Epochen, beispielsweise die napoleonische Zeit. Unsere Spezies hatte und hat demnach – auch im positiven Sinne – viel mehr mit den Spinnen zu tun, als wir es uns haben träumen lassen. Der Autor, der zuvor u. a. mit „Tiere im Nationalsozialismus“ aufhorchen ließ, leuchtet so ziemlich alle Aspekte seines Themas gründlich aus – oder soll man sachgerecht und wohlmeinend sagen: er spinnt sie weiter und weiter fort? Schon die reichhaltigen Anmerkungen lassen ahnen, wie intensiv Mohnhaupt recherchiert hat.

Künstler unter Einfluss

 

 

 

 

 

 

 

Dies ist ein zeitgenössischer Roman von einigem Kaliber. Als die Handlung einsetzt, ist es November im Jahr 2022. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bestimmt fast alle Debatten. Christoph Peters bricht in seinem Buch „Innerstädtischer Tod“ (Luchterhand, 302 Seiten, 24 Euro) diese weltpolitische Lage höchst plausibel auf die Befindlichkeiten seiner Figuren herunter, besonders auf den Künstler Fabian Kalb, der just seine erste Einzelausstellung in Berlin bekommt und dessen Verwandtschaft dazu aus Krefeld anreist. Kurz vor der Vernissage wird der Onkel des Künstlers, ein Protagonist der „Neuen Rechten“, unangenehm aktiv. Der Vater sucht unterdessen nach Winkelzügen, um weiterhin seine Krawatten nach Russland exportieren zu können. Und der Galerist? Hat offenbar Frauen belästigt. All das überschattet die Karriere-Hoffnungen Fabian Kalbs. Alsbald geht es längst nicht mehr nur um die hehre Kunst, sondern um Untiefen (nicht nur) des Kunstbetriebs. Ein dicht und spannend, dringlich und durchdringend erzählter Roman. Übrigens: Christoph Peters bewegt sich ein- und ausdrücklich auf den literarischen Spuren von Wolfgang Koeppen (siehe weiter unten).

Bauen für die Zukunft

 

 

 

 

 

 

 

Für Architektur sollten wir uns mehr interessieren, um laufende Planungen kritisch bewerten zu können – erst recht im regionalen und lokalen Umfeld. Dabei könnte jetzt ein neuer Band aus dem Dortmunder Kettler Verlag helfen: Der Titel „Atlas Ruhrgebiet“ (Kettler Verlag, 264 Seiten, Katalogformat, 48 Euro) führt womöglich etwas in die Irre, handelt der Band doch nicht so sehr von der allgemeinen städtischen Topographie, sondern eben von beispielhaften Bauten. Der Untertitel klärt bereits ein wenig den Ansatz: „Von der Arbeitersiedlung bis zum experimentellen Wohnungsbau“. Es geht nicht um anheimelnde Nostalgie, sondern vorwiegend um (einstmals) zukunftsweisende Bauformen. Verantwortlich zeichnen Moritz Henk, Anna Jessen und Ingmar Vollenweider vom Lehrstuhl Städtebau an der TU Dortmund. Tatsächlich ist dies ein fachwissenschaftlich ausgearbeiteter Band, der sehr ins Detail geht – auch mit exakten Planzeichnungen, Grundrissen und Schnitten. Einige Projekte würde man spontan dem Beton-„Brutalismus“ zuordnen wollen, doch wird hier wohl eine Ehrenrettung oder zumindest sachlich-nüchterne Beurteilung solchen Bauens angestrebt, übrigens auch mit Beispielen aus kleineren Revierstädten wie Dorsten und Marl.

Den „anderen“ Koeppen entdecken


Legendär sind die Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller Wolfgang Koeppen (1906-1996 – „Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“, „Der Tod in Rom“) und dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld. Immer und immer wieder musste Koeppen den Verleger vertrösten und in andauernder Schreibkrise um Vorschüsse bitten. Doch den großen Roman, den sich die literarische Republik gerade von ihm erwartete, hat er nach den drei oben erwähnten Titeln gleichwohl nicht mehr hervorgebracht. Das heißt aber keineswegs, dass er gar nichts mehr geschrieben hätte.

Zwei weitere Bände der sehr verdienstvollen (von Hans-Ulrich Treichel herausgegebenen) 16bändigen Koeppen-Ausgabe bei Suhrkamp versammeln nun Romanfragmente und Feuilletons. Der Feuilleton-Band enthält Arbeiten von 1923 bis 1948, also nicht die späteren Zeitungsbeiträge, die Koeppen als bereits arrivierter Schriftsteller verfasst hat. Diese finden sich in anderen Bänden der Werkausgabe. Wie sich Koeppen zumal die 30er Jahre erschrieben hat, ist allerdings aufregend genug.

Bei den Romanfragmenten aus einer Zeitspanne von rund 60 Jahren (u. a. „Die Jawang-Gesellschaft“, „Ein Maskenball“, „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs“) handelt es sich um Projekte, die eine beabsichtigte Vollendung zumindest erahnen lassen, aber bislang weitgehend ungedruckt geblieben sind. Auch zahlreiche Notizen und Vorüberlegungen gehören hinzu. Mithin haben wir hier auch sorgsam rekonstruierte Werkstatt-Einblicke, wie es sich bei einem Autor von Koeppens Format gehört.

Die Texte beider Bände werden durch umfangreiche Anmerkungs-Apparate erschlossen. Es sind editorische Glücksfälle für eine fortgeschrittene Leserschaft.
Wolfgang Koeppen: Romanfragmente (Werke, Band 11, 695 Seiten, 58 Euro)
Wolfgang Koeppen: Feuilletons (Werke, Band 13, 721 Seiten, 58 Euro), beide im Suhrkamp Verlag.

Botho Strauß, Tag für Tag

 

 

 

 

 

 

 

„Wenn er es schon nicht mehr versteht, so sucht er es durch lückenlose Beschreibung zu bannen.“ Das ebenso hermetisch wie kostbar anmutende Zitat, eines unter vielen von ähnlicher Art, stammt von Botho Strauß, der vor wenigen Tagen (2. Dezember) 80 Jahre alt geworden ist. Im Vorfeld dieses Datums ist sein neues Buch „Das Schattengetuschel“ (Hanser, 230 Seiten, 26 Euro) erschienen. Die Texte des Bandes mäandern durch vielerlei Vorfälle und Zustände, Strauß beginnt mit einer Episode aus dem Leben August Strindbergs (Vater wartet schmerzlich vergebens auf seinen Sohn), blickt zurück aufs alte West-Berlin der 70er Jahre, kündet von Altern, Vergeblichkeit, Entkräftung.

Diese hochreflektierte, zuallermeist ungemein präzise Prosa, durchwirkt mit Partikeln des Theaters und der Mythologie, wird man vielleicht gar nicht in einem Zug durchlesen wollen, obwohl sie einen nicht so leicht loslässt. Denkbar wäre es, dass man das Buch nutzt wie ein Brevier, welches man regelmäßig Tag für Tag aufschlägt und in dosierter Form zu sich nimmt, um etwa die eine oder andere Losung (nicht: Lösung) zu finden. Es sind überwiegend kurze Passagen, ja Miniaturen, die sich zum Schluss aphoristisch verdichten, bis zur Grenze des Verstummens. In diesem Sinne noch ein bezeichnendes Zitat, das offenbar auf ungeahnte „Erleuchtung“ aus ist: „Es muß etwas geben jenseits von Irrationalismus und Intelligenz – ein drittes Geschlcht des Geistes, die Luziden. Aufklärung brachte nicht genug Licht“. Derlei Sätze werden wahrscheinlich wieder Ärger mit „woken“ Zeitgenossen hervorrufen; wenn die den konservativ gebliebenen, freilich hie und da geläutert erscheinenden Botho Strauß überhaupt noch zur Kenntnis nehmen wollen.

 

 




Kleine, große Lichtgestalt: Die Deutsche Oper am Rhein zeigt erstmals „Der Kreidekreis“ von Alexander Zemlinsky

Beide Frauen wollen das Kind: Lavinia Dames (l.) als Tschang-Haitang und Sarah Ferede als Yü-Pei, eifersüchtige Erstfrau des Herrn Ma. (Foto: Sandra Then)

Die Federn fallen, fallen wie von weit, als kämen sie aus einer fernen Sphäre. Sanft schweben sie von den Vogelkäfigen nieder, in denen die Frauen eingesperrt sind, die für den Teehausbesitzer Tong arbeiten: gefallene Engel, verkaufte Kreaturen. Weiß sind ihre Gewänder, weiß die Federn. Weiß leuchtet hier alles, was noch gut und recht sein kann in einer düsteren Welt.

Es waren finstere Zeiten, in denen der 62-jährige Alexander Zemlinksy 1933 seine letzte vollendete Oper „Der Kreidekreis“ schrieb. Im alten Textgewand eines chinesischen Märchens steckend, ist sie eine typische Zeitoper der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Nach der Machtübernahme der Nazis verfiel sie – wie auch ihr jüdischer Komponist – der Verfemung. Regisseur David Bösch hat sie nun für die Rheinoper Düsseldorf in Szene gesetzt, zum ersten Mal in der Geschichte des Hauses.

Für sein Düsseldorfer Debüt greift Bösch gewissermaßen selbst zur Kreide. Mit liebevollem Strich zeichnet er den Lebensweg des Mädchens Tschang-Haitang nach, auf einer dunklen Spielfläche vor schwarzem Hintergrund. Von der Mutter verkauft, vom Teehausbesitzer weiterverschachert, als Nebenfrau eines Mandarins von dessen Erstfrau bekämpft und schließlich des Mordes bezichtigt, wird diese Figur bei ihm zu einer Lichtgestalt der bescheidenen Art: keine große Heldin und schon gar keine Rebellin, eher eine chinesische Butterfly.

Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird verkauft und wie ein Vogel in einen Käfig gesperrt. (Foto: Sandra Then)

Wie sie sich den Verhältnissen beugt, wie sie trotz aller Demütigungen ihre Würde bewahrt, wie sie in einer Welt voller Unrecht und Lüge aufrecht und wahrhaftig bleibt, steht mächtig – und durchaus irritierend – quer zum Kampf für Frauenrechte. Mit empathischem Blick arbeitet Bösch heraus, dass Tschang-Haitang nicht einfach unterwürfig ist, sondern sich auf ihre Weise behauptet, im märchenhaften Happy End sogar in eine Position der Stärke gelangt. Dass sie Prinz Pao glatt eine Vergewaltigung verzeiht, ist nur die halbe Wahrheit: Sie nutzt sein Geständnis für einen Deal, der ihr und ihrem Kind Sicherheit gewährt. Dann legt sie sich stolz seinen Königsmantel um. Böschs Inszenierung ist von dem Credo geprägt, dass selbst der Kleinste den großen Weltenlauf zu ändern vermag.

Die Regie fordert für dieses Märchen unseren kindlichen Blick. Strichmännchen aus Kreide, auf die Vorhänge zwischen den Akten projiziert, raffen die folgende Handlung zusammen. Das Kind, um das Tschang-Haitang mit der Erstfrau des Mandarins streitet, ist ein übermenschlich großes Riesenbaby mit einem Pappmaché-Kopf, wie Bert Brechts Meisterschüler Achim Freyer ihn seinen Bühnenfiguren zu geben pflegte. Gleich zu Beginn nimmt es auf der Bühne Platz und zieht den Kreidekreis um sich, aus dem beide Frauen das Kind herauszuziehen versuchen. Der salomonische Richterspruch ist auch aus der Bibel und aus Brechts Drama bekannt.

Im Elend: Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird zu Unrecht als Mörderin verurteilt. (Foto: Sandra Then)

Bühne und Videos (Patrick Bannwart) tragen uns aus dem Alltag fort. „Eine bessere Welt ist möglich!“ raunt nahezu alles, was wir sehen. Der Flügelschlag der Möwen, die als heller Schattenriss über den Bühnenhintergrund schweben. Die zarten Lampions in Blütenform, die auf der dunklen Bühne blühen. Die Kreideskizzen an den Wänden, die Kindheitstage heraufbeschwören. Und während das durch und durch korrupte Gerichtspersonal Papierfahnen entrollt, die Kindsraub, Vergiftung und Terror propagieren, schweben chinesische Schriftzeichen von der Decke, die hohe Ideale formulieren: Freiheit, Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit. Die Kostüme (Falko Herold) fügen sich perfekt in diese poetische Bühnensprache ein.

Die Fabel vom Kreidekreis entstand im 13. Jahrhundert in China, sie wird dem Chinesen Li Xingdao zugeschrieben. Klabund griff sie 1925 auf, Zemlinsky 1933, Bertolt Brecht 1944.
(Foto: Sandra Then)

Das zwischen Schauspiel und Oper changierende Zwitterwerk zusammenzuhalten, ist keine leichte Aufgabe. Der Stilmix ist unerhört: Es gibt freie und rhythmisch gebundene Sprache, Gesang Brecht-Weill’scher Prägung, Jazzelemente, fernöstliches Kolorit, schwelgerisch romantische Orchesterfarben und Klänge einer neuen Sachlichkeit. Die Nahtstellen zwischen Text und Musik sind kritisch, das Timing ist für die Sängerinnen und Sänger folglich heikel. Aber die Quadratur des Kreises gelingt: Die Düsseldorfer Symphoniker und das Gesangsensemble der Deutschen Oper am Rhein ziehen die Linie bemerkenswert geschlossen durch.

Unter der kundigen Leitung des Dirigenten Hendrik Vestmann fügt sich die stilistische Vielfalt zu einem faszinierenden Abenteuer für die Ohren. Was fließt da nicht alles ineinander: Jazzelemente und fernöstliche Pentatonik, romantische Schwärmerei und lakonische Sachlichkeit, Drohendes und Intimes und Groteskes, Turandot-Wucht und Butterfly-Zartheit. Das differenzierte und expressive Spiel der Düsseldorfer Symphoniker gereicht Zemlinsky zur Ehre.

Durch Leitmotiv-Techniken wird das Orchester an diesem Abend zum Erzähler, zum unentbehrlichen Kommentator. Es gleicht einer tönenden Karikatur, wie es den korrupten Richter Tschu-Tschu ankündigt, der nach durchzechter Nacht die Szene betritt. So verkatert, wie das Fagott hier in höchster Lage wimmert, und so unstet, wie die Takte hier ins Taumeln geraten, ist bereits alles gesagt, bevor dieser höchst fragwürdige Amtsträger auch nur den Mund aufmacht.

Das Gericht ist weder hoch, noch spricht es Recht: Tschang-Haitang (Lavinia Dames, am Boden), Richter Tschu-Tschu (Werner Wölbern, im roter Robe) und die Statisterie der Deutschen Oper am Rhein. (Foto: Sandra Then)

Der Schauspieler Werner Wölbern verkörpert ihn nach allen Regeln der Kunst als anmaßenden, schlecht gelaunten Gierlappen, der keinen Funken Interesse am Schicksal derer hat, über die er zu Gericht sitzt. Der Prozess führt zu einer mächtigen Steigerung im Orchester, die sich drohend aufbäumt, und einem Verzweiflungsausbruch von Tschang-Haitang, die Lavinia Dames uns mit ihrem Sopran nahebringt. Wie die Sängerin eine stille Traurigkeit in ihre hellen Farben mischt, wie sie sich stimmlich biegsam zeigt, ohne in den dramatischen Höhepunkten zu brechen, gleicht einer vokalen Studie des Phänomens, das heute Resilienz genannt wird. Für diese anrührende Charakterstudie wird die Sängerin vom Publikum begeistert gefeiert.

Dames ist von einem Ensemble umgeben, das seine Figuren nicht weniger genau zeichnet. Die Frauenstimmen ergänzen ihre Farbpalette: Katarzyna Kuncio als Tschang-Haitangs Mutter mit entsprechender Wärme, Sarah Ferede als intrigante Erstfrau Yü-Pei mit hochfahrender Dramatik. Im Baritonfach glänzen Richard Šveda, der dem Bruder der Hauptfigur wütende und rebellische Töne gibt, und Joachim Goltz, der den Mandarin Ma auch stimmlich von starrer Autorität in einen weicheren, liebenderen Mann verwandelt. Hinzu kommen Matthias Koziorowski (als Prinz Pao mit teils heldischen Farben), Jorge Espino (als Gerichtssekretär Tschao mit abgerundet sonorem Volumen), sowie einige hübsch gestaltete Mini-Rollen.

„Es ist Zemlinksy-Zeit“, heißt es im Programmheft der Rheinoper: Eine Behauptung, die durch diese starke Premiere beglaubigt wird. „Der Kreidekreis“ verdient unsere Aufmerksamkeit. Es ist Zeit für dieses Klangabenteuer, für dieses Werk, in dem die Schwachen die Starken sind und die Menschlichkeit gegen Gewalt und Lüge gewinnt.

(Karten und Termine: www.operamrhein.de)




Goethe-Institut: Harte Jahre, schmale Mittel

Es sind harte Jahre – auch fürs weltweit aufgestellte Goethe-Institut, das deutsche Sprache und Kultur möglichst global vermitteln soll. Gesche Joost, erst seit 19. November neue Präsidentin des dem Außenministerium angegliederten Instituts, spricht von einer „Welt der neuen Rauheit“, in der man umso dringlicher für demokratische Werte einstehen wolle.

Gesche Joost, seit gerade mal zwei Wochen Präsidentin des Goethe-Instituts. (Foto: © Loredana La Rocca / Goethe-Institut)

In Zeiten des erstarkten Rechtspopulismus, so Joost auf der Jahrespressekonferenz weiter, müsse man sich auf die zweite Amtszeit von Donald Trump und auf den Fortgang kriegerischer Krisen (Ukraine, Nahost etc.) einstellen. In diesem Umfeld gelte es, dem Institut und seinen Anliegen mehr „Sichtbarkeit“ zu verschaffen und „Resilienz“ (Widerstandskraft) zu entwickeln. Gängige Schlagworte, die wohl nicht fehlen dürfen.

Etat erneut gekürzt

All das muss jedenfalls auch noch mit schmalen Finanzen bewirkt werden: Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, stellte klar, dass man nach dem Aus der „Ampel“-Koalition nur mit einem vorläufigen Haushalt wirtschaften könne. Der aktuelle Regierungsentwurf sehe abermals Kürzungen beim Goethe-Institut vor – um 4,1 Mio. Euro (rund 2,8 Prozentpunkte) auf 226,2 Mio. Euro; dies wiederum bei allseits steigenden Kosten, die sich besonders international bemerkbar machen. Inzwischen sei man durch ständige Einsparungen (etwa 10% seit der Corona-Pandemie) wieder auf dem Niveau von 2017 angelangt. Ob man bei einer neuen Regierung mehr Gehör finden wird, steht wahrlich dahin. Die Hoffnung stirbt auch hier zuletzt.

Rekordeinnahmen durch Sprachkurse

Unterdessen wird gezwungenermaßen eine „Transformation“ des Instituts vorangetrieben, worunter vor allem eine Verschlankung zu verstehen ist. Struktur- und Verwaltungskosten sollen im größeren Stil reduziert werden. Eine Reihe von Instituts-Schließungen (u. a. in Bordeaux, Genua, Turin, Rotterdam, Osaka, Washington) ist weitgehend über die Bühne gegangen, die Zentrale muss derweil mit 27 Stellen (7,5%) weniger auskommen. Dadurch frei werdende Mittel sollen verstärkt für Sprachvermittlung eingesetzt werden. In diesem Bereich hat man ohnehin schon einen neuen Rekord aufgestellt. Bereits im Oktober verzeichnete das Institut für 2024 weltweit über 1 Million abgenommene Deutsch-Prüfungen und Einnahmen von 152 Millionen Euro. Angesichts der seit Jahren sinkenden staatlichen Förderung bedeutet dies freilich nur eine Teilentlastung.

Moskauer Niederlassung radikal geschrumpft

Neben einigen schmerzlichen Schließungen gab es vereinzelt auch ein paar Neueinstiege mit anderen Schwerpunkten – in Jerewan (Armenien) und Bischkek (Kirgisistan), dazu kommen Präsenzen in Chisinau (Republik Moldau) und Houston (USA). Moskau, mit einst 180 Mitarbeitern weltweit größtes Goethe-Institut, ist jedoch unterm Druck der Verhältnisse vehement auf 12 Leute geschrumpft (plus 3 in St. Petersburg). Dennoch wird versucht, den Betrieb notdürftig aufrecht zu erhalten. Bloß nicht alle Fäden abreißen lassen, heißt die Devise.

Fachkräfte auf Deutschland vorbereiten

Eine seiner Hauptaufgaben sieht das Goethe-Institut darin, dringend benötigte Fachkräfte nach Deutschland zu holen und diese mit Spracherwerb und nachhaltigen Integrations-Angeboten auf die neue Umgebung vorzubereiten. Hierbei konkurriert man mit Ländern wie Japan, Kanada oder den USA. Immerhin: Erste Erfolge zeigen sich offenbar bei Anwerbungen in Indien oder Vietnam. Wie Goethe-Generalsekretär Ebert ausführte, gibt es seit den AfD-Wahlerfolgen allerdings viele bange Nachfragen, ob man denn in Deutschland auch willkommen sei.

Die beste Bratwurst von Hanoi

Goethe-Präsidentin Joost (ansonsten Professorin für Designforschung an der Berliner Hochschule der Künste – HdK) versicherte, sie werde in ihrer Amtszeit nicht nur auf hehre Hochkultur achten, sondern auch auf alltägliche Dinge des niedrigschwelligen Zugangs. Beispiel? Sie habe kürzlich das Goethe-Institut in Hanoi (Vietnam) besucht. Es habe sich herumgesprochen, dass es dort nicht nur gute Sprachkurse gebe, sondern auch „die beste Bratwurst“ weit und breit.

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P. S. Die Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts hat heute in Berlin stattgefunden. Ich war online via Zoom dabei.




Wege zu sich selbst: Frühwerke Puccinis zum 100. Todestag in der Philharmonie Essen

Giacomo Puccini ist vor 100 Jahren, am 29. November 1924, gestorben. Seine Heimatstadt Lucca hat ihm dieses Denkmal gesetzt. (Foto: Werner Häußner)

Die Suche nach dem Funken der Genialität berühmter Komponisten gehört zu den Standards einer glorifizierenden Geschichtsschreibung, die selbst im weit abgelegenen Jugendwerk noch die Ahnung des späteren Meisters erspüren will. Das funktioniert bei Wagner schon nicht und geht bei Giacomo Puccini vollends ins Leere.

Nichts deutet darauf hin, dass aus dem Kirchenmusikschüler aus Lucca und dem bequemen Mailänder Studenten Amilcare Ponchiellis einmal der Schöpfer einer „Tosca“, einer „Madama Butterfly“ oder einer „Turandot“ werden sollte.

Trotzdem ist es eine gute Idee, den 100. Todestag Puccinis (geboren am 22.12.1858 in Lucca, gestorben am 29.11.1924 in Brüssel) zum Anlass zu nehmen, einmal in seiner Jugend zu kramen. Zum einen, weil eine Größe wie Puccini kein Jubiläum braucht, um mit seinem reifen Œuvre im Musikleben der Gegenwart ausreichend präsent und gewürdigt zu sein. Zum anderen, weil gerade der Kontrast zwischen den eifrigen Jugendwerken und den so souverän wirkenden, tatsächlich aber unter unendlichen Mühen entstandenen Opern Aufschluss geben kann, wie der Komponist Puccini zu sich selbst gekommen ist. Es sind nicht die sicherlich unersetzlichen Bemühungen um Kontrapunkt, Harmonielehre oder historische Musik, die den Durchbruch anfeuern. Es ist der Funke, der aus dem Musikdrama springt, der die Fantasie des Autors entfacht und in höchste Höhen treibt.

Dieses zündende Moment ist vielleicht am ehesten in Puccinis „Messa di Gloria“ zu spüren – ein Werk, in dem eben schon Text zur Musik tritt und sich beide unzertrennlich verbinden. Puccini-Biograph Dieter Schickling nennt sie „zeitgenössische Konfektionsware“ und hat damit wohl recht. Hätte die am 12. Juli 1880 in Lucca mit einigem Erfolg uraufgeführte Messe irgendeiner der tüchtigen Zeitgenossen des jungen Puccini geschrieben, läge sie wohl immer noch unbeachtet in irgendeinem Archiv. Puccini selbst hatte kein Interesse mehr an dem Jugendwerk. Doch der Name des Autors bringt die Erlösung: 1952 wurde die Messe wieder ausgegraben.

Zweifelhafte Hymne für die Stadt Rom

Der Essener GMD Andrea Sanguineti. (Foto: Volker Wiciok)

GMD Andrea Sanguineti ist zu danken, dass die Essener Gedenkfeier zum Tod Puccinis vor 100 Jahren nicht in irgendeinem geistlosen Highlight-Potpourri besteht. Er hat die „Messa a quattro voci con orchestra“ – so der korrekte Titel – ins Zentrum seines Vierten Sinfoniekonzerts mit den Essener Philharmonikern gestellt und das Programm mit Orchester-Frühwerken Puccinis aus seinen Studienzeiten in Lucca und Mailand ergänzt.

Sanguineti war aber auch mutig genug, den „Inno a Roma“ von 1919 ins Programm aufzunehmen, ein Stück Propagandamusik, wie sie auch Beethoven, Rossini, Verdi, Wagner und manch andere geschaffen haben. Und wie Wagners Musik in Deutschland, so wurde Puccinis martialische Hymne von den Faschisten vereinnahmt, deren Aufstieg der Maestro unpolitisch unbekümmert verfolgte, ohne seine eher konservativ patriotische Einstellung in Nationalismus oder gar Sympathie umschlagen zu lassen. Sanguineti ließ den „Inno“ richtig krachen und von Pathos triefen – und hat so mehr als in seiner wortreich entschuldigenden Erklärung dazu beigetragen, das Doppelgesicht dieser Musik und ihrer Missbraucher zu entlarven.

Entrückte Stimmung, melodischer Geschmack

Was zeigen die Orchesterwerke des jungen Puccini? Das „Preludio a Orchestra“, das er mit Achtzehn schrieb, steht in den vibrierenden Violin-Piani wohl unter dem Eindruck einer „Aida“-Aufführung, die er 1876 im Teatro Nuovo in Pisa miterlebt hat. Auf den tiefen Saiten intonieren die Geigen ein schmeichelndes Thema, in dem man das Material für eine Opernarie entdecken könnte. Aber von den späteren eleganten Übergängen ist noch nichts zu hören. Auch „Scherzo e Trio“, wohl um 1883 in Mailand entstanden, offenbart Puccinis melodischen Geschmack. Das „Preludio sinfonico“ atmet die entrückte Stimmung eines „Lohengrin“ und zeigt in den Holzbläserharmonien, wie sich Puccini für die Koloristik in der Musik interessiert.

Das bekannteste Werk aus dieser Zeit, das „Capriccio sinfonico“, genießt eine gewisse Bekanntheit, weil Puccini das Vivace daraus in „La Bohème“ wieder verarbeitet hat. „Sinfonisch“ im Sinne einer deutschen Tradition ist da wenig, die Struktur dieser frühen Heldentaten erinnern eher an die Themenreihungen von Opernouvertüren oder an locker gefügte sinfonische Dichtungen. Die Essener Philharmoniker haben diesen anregenden Einblick in die frühe Werkstatt des späteren Operngenies mit Lust und Spiellaune eröffnet.

Dramatisch und unkonventionell

Gedenktafel für Giacomo Puccini in seinem langjährigen Wohnort Torre del Lago. (Foto: Werner Häußner)

In der Messe findet sich keine Spur der späteren Opernmusik zu religiösen Momenten, etwa des falschen Pathos‘ des „Te Deum“ in „Tosca“. Dafür lassen sich zwei Beobachtungen machen: Puccini zeigt seine Stärken als Dramatiker, denn die schildernden Teile etwa des Credo wirken inspirierter als die reflektierend theologischen Passagen. Und er lässt sich nicht nur von Ausdruckskonventionen bestimmen. Das zeigt sich bereits im kontemplativen „Kyrie eleison“: Der Opernchor des Aalto-Theaters gibt ihm gemeinsam mit dem Philharmonischen Chor Essen pastorale Leichtigkeit, hebt aber auch den Kontrast zum „Christe eleison“ mit seinen Marcato-Männerstimmen heraus.

Man darf sich durchaus fragen, welche Gedanken Puccini hegt, etwa wenn er im Gloria das „in terra pax hominibus“ – also der weihnachtliche Wunsch nach Frieden auf Erden – zurücknimmt, als melde er seine leisen Zweifel an. Oder wenn er den Solo-Tenor – Alejandro del Angel singt die Stelle mit markig strahlender Stimme – den Dank an den König des Himmels („gratias agimus tibi“) vielfach wiederholen lässt. Das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt, wird wieder in leuchtender „Aida“-Stimmung besungen.

Das Bekenntnis zum alleine Heiligen („Quoniam tu solus sanctus …“) erklingt dann ganz konventionell in hymnischem Ton, blechgewappnet und fanfarenbegleitet. Sanguineti dirigiert diese Stellen mit Verve und Energie, und die Essener Philharmoniker folgen ihm mit eindringlicher, aber nicht überzogener Wucht. Wobei einzelne Stellen, die wie Schönberg’sche Abweichungen klingen, darauf hindeuten, dass das mühsam überarbeitete Material keineswegs fehlerfrei ist. Und obwohl seine Lehrer den Arbeitseifer des Studenten Puccini bemängelten, zeigt die klassische „Cum sancto spiritu“-Fuge, dass er sich auch dieses Metier vertraut gemacht hat.

Der zweite Solist der Messe, Massimo Cavaletti, bestätigt im „Benedictus“ und im Duett mit dem Tenor im „Agnus Dei“ den Eindruck aus der neuen Aalto-Produktion von Verdis „La forza del destino“: Sein Bariton ist klangvoll, sicher positioniert und bei aller Wucht in der Lage, eine melodische Linie flexibel zu gestalten.

Mit den Chören haben Patrick Jaskolka und Wolfram-Maria Märtig ganze Arbeit geleistet: Ein paar schwummrige Stellen zu Beginn, ein paar Unebenheiten bei den Frauenstimmen in heikel zurückzunehmenden Momenten sind schnell vergessen, wenn der Chor im Credo konzentriert und klangstark agiert, beim Hinweis auf die Auferstehung der Toten die Apokalypse von Verdis „Requiem“ anklingen lässt, die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ in lichterfülltem Dolce besingt und das „Sanctus“ ohne triumphale Geste wie in verhaltenem Staunen ausdrückt. Es sind diese fast zärtlichen Augenblicke, in denen der Chor seine Stärke ausspielt.

Als die Messe ohne knallige Schlussakkorde zu Ende geht, zeigt das Publikum viel Sympathie in herzlichem Beifall, den Sanguineti, der Chor und Wolfgang Kläsener an der Orgel mit einer geistlichen Miniatur Puccinis, dem „Requiem alla memoria di Giuseppe Verdi“ von 1905 belohnen.




Was bringt das Netzwerk Bluesky?

Um es gleich vorwegzunehmen: So richtig zufrieden bin ich mit dem sozialen Netzwerk Bluesky noch nicht. Die unsägliche Dreckschleuder X (ehemals Twitter) von Elon Musk habe ich vor einiger Zeit leichten Herzens verlassen. Der Kerl wird den einen oder anderen Abgang sicherlich verschmerzen, aber wenn es in die Millionen ginge, wenn Deppen und Despoten der Dekade dort unter sich blieben…

Screenshot einer Bluesky-Einstiegsseite

Ach, wenn doch nur mehr globale Hochkaräter wie der britische „Guardian“ sich dort verabschiedeten! Doch man freut sich auch schon, dass Fußballclubs wie der FC St. Pauli, Werder Bremen oder der SC Freiburg jüngst X den Rücken gekehrt haben (Wann folgt endlich Borussia Dortmund – oder hat Rheinmetall Einwände dagegen vorgebracht?), oder wenn der Deutsche Journalistenverband (DJV) sich abwendet. Ein Effekt beim „X-odus“: Immerhin hat Bluesky mittlerweile die 20-Millionen-Marke deutlich überschritten, zeitweise sind täglich rund 1 Million Accounts hinzu gekommen. Da scheint ein Sog zu wirken.

Lassen wir X auch in diesem Text hinter uns. Bluesky (weitere Alternativen: Mastodon, Threads) scheint mir einstweilen recht unstrukturiert und dem Zufall unterworfen zu sein. Einen nennenswerten Überblick über das, was vorgeht, kann man sich zwar verschaffen, aber eigentlich nur, wenn man den Auftritten diverser klassischer Medien (vulgo Qualitätszeitungen) folgt. Das kann man aber auch auf anderen Wegen haben. Dazu bräuchte es kein weiteres Netzwerk.

Spaßeshalber habe ich gleich mal den Bluesky-Account des frischgebackenen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz aufgerufen. Zum nämlichen Zeitpunkt hatte er erbärmlich wenig Follower, gerade mal 190 an der Zahl, heute (28. November, 12.42 Uhr mittags MEZ) sind es 432. Ähnlich wie schon bei TikTok (das ich konsequent meide), ist Scholz bzw. sind seine Ghostwriter offenbar sehr spät beigetreten, es liegen bis jetzt lediglich vier läppische Beiträge vor. Verschnarchte SPD halt. Oder wie soll man das sonst deuten? Wobei ich die parteifrommen Äußerungen, die in Scholzens Namen gepostet werden, nicht allzu schmerzlich vermissen würde.

Vollends rätselhaft ist mir, wer meiner Wenigkeit zu folgen beliebt. Es sind überwiegend Leute aus fernen Weltgegenden, mit denen ich niemals auch nur im Geringsten zu tun hatte, auch nicht virtuell. Ausweislich ihrer bisherigen Beiträge sind sie mental auch vollkommen anders unterwegs. Wie kommen sie auf mich? Was suchen sie bei mir? Oder sind es Bots und Trolle? Seltsam genug auch die Tatsache, dass mir z. B. der saarländische Ableger der Piratenpartei folgt.

Kurz und weniger gut: Mich beschleicht das Gefühl, bei Bluesky ziemlich viel zu verpassen und irgendwie hinter der Musik herzulaufen. Die einstweilen ungleich zivilisierteren Umgangsformen bei Bluesky (im Vergleich zum pöbelhaften X) sind angenehm, machen aber das Informations-Defizit bei weitem nicht alleine wett. Es fehlen hier eben viele, viele Leute, die etwas zu sagen hätten oder qua Amt und Würden (hihi) wichtig wären. Und es fehlen einige nützliche Funktionen.

Das Ganze muss noch weiter wachsen, auch auf der Anbieterseite. Wie die Bluesky-Geschäftsführerin Rose Wang im FAZ-Interview verriet, hat das Netzwerk bislang nur 20 Mitarbeiter (Stand 26. November). Kaum zu glauben. Der prozentuale Anteil aktiver Accounts, die Beiträge publizieren, ist immerhin wohl deutlich höher als bei der Konkurrenz. Apropos Konkurrenz: Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, können Bluesky und Mastodon in beiden Richtungen miteinander verknüpft werden. Und noch’n Presse-Bezug: Laut „Spiegel“ hat sich Stephen King von X verabschiedet, hat sodann Bluesky ausprobiert, ist aber schließlich zu Threads gewechselt. Robert Habeck sei unterdessen sogar zu X zurückgekehrt… Alles fließt.

Wie auch immer: Spannende, gern auch kontroverse (aber faire) Debatten können bei Bluesky einstweilen nur sehr bedingt aufkommen. Somit fehlt auch die Motivation, sich selbst „einzubringen“. Oder habe ich nur noch nicht den richtigen Kniff gefunden und den „Discover-Feed“ noch nicht ausreichend bemüht?

Kann ja alles noch werden? Hoffen wir’s.




Berührende Tragödie: Cecilia Bartoli mit Glucks „Orfeo ed Euridice“ in der Essener Philharmonie

Cecilia Bartoli. (Foto: Fabrice Demessence)

Es sind keine Blumenkränze und Myrtengirlanden, die der Chor in ein Grab streut: In den abgedunkelten Saal der Philharmonie Essen zieht er mit Kerzen ein, während das Orchester die erhabenen Weisen der Ouvertüre Christoph Willibald Glucks zu „Orfeo ed Euridice“ intoniert. Weinen, Klagen, Seufzer beschwören die Sängerinnen und Sänger in abgedunkeltem Klang.

Am Rand der Szene sitzt Orfeo, der seine über alles geliebte Gefährtin an die Unterwelt verloren hat. Sein sehnsuchtsvoller Ruf „Euridice“ durchbricht die melodische Linie des Chores – und schon mit diesem Moment hat Cecilia Bartoli ihr Publikum gefangen.

Mit „Orfeo ed Euridice“, der wohl bekanntesten Oper des Ritters Gluck, hat die Römerin bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2023 einen Riesenerfolg eingeheimst. Nun tourt sie mit dem Ensemble durch Europa. Die Inszenierung Christof Loys bleibt dabei zu Hause in Salzburg, wo Cecilia Bartoli seit 2012 als Festspielchefin amtiert. Doch auch ohne Johannes Leiackers strenge, reduzierte Bühne vermitteln Bartoli und ihre Salzburger Bühnenpartnerin Mélissa Petit als Euridice (und in kurzem Auftritt auch als Amor) die bezwingende Präzision der Personengestaltung Loys.

Zu Beginn sitzt Bartoli ganz in Schwarz abseits auf einer Stufe des Podiums, ruft ihre Klage in den Raum, bewegt sich später auf den Treppen seitlich der Zuschauerreihen, trifft vor dem Podium auf Euridice, die Orpheus vergeblich aus dem Elysium zurück auf die Erde zu holen versucht. Die beiden Sängerinnen schaffen intime Momente seelischer Kommunikation: Cecilia Bartoli, jetzt ganz in Weiß, krümmt sich im ausweglosen Schmerz, weil sie der argwöhnischen Euridice das Verbot, sie anzublicken, nicht erklären darf.

Freudige Überraschung – fataler Trotz

Bei Mélissa Petit wandelt sich die freudige Überraschung, die Erwartung eines neuen Lebens in Liebe zu Orpheus, in Argwohn, Enttäuschung und fatalen Trotz: Lieber im Elysium friedliche Ruhe genießen als mit einem unberechenbaren Partner zur irdischen Liebe zurückkehren. Dann der aufwühlende Moment, der gegenseitige Blick in die Augen, der Euridice zurück in den Hades verbannt. Und am Ende namenlose Verzweiflung und Herzensleere bei Orfeo. Melissa Pétit findet dafür mit ihrem sanft leuchtenden, manchmal etwas kopfigen Sopran ergreifenden Ausdruck ratloser Seelenqual.

Christoph Willibald Gluck. Statue im Opernhaus Nürnberg. Gluck stammt aus Erasbach bei Berching, rund 50 Kilometer südöstlich von Nürnberg. (Foto: Werner Häußner)

Der Trost des „glücklichen Endes“ bleibt bei dieser Version versagt. Dieser „Orfeo“ folgt einer Fassung, die Gluck für die Hochzeit von Erzherzogin Anna Amalia von Österreich, einer Tochter Maria Theresias, mit Ferdinand, Herzog von Parma, im Jahr 1769 erstellt hat. Als einer von vier Einaktern war die Bearbeitung Teil eines luxuriösen apollinischen Festes beim Palast von Colorno. Bartolis Salzburger Fassung verzichtet auf das Finale, in dem Gott Amor die Liebenden endgültig zusammenführt. Die „azione teatrale“ – ergänzt durch populär gewordene Orchesterstücke wie den Furientanz und den „Reigen seliger Geister“ – endet in nachtschwarzer Pianissimo-Verzweiflung.

Glänzender Chor, feinsinniges Orchester

In solchen fragilen musikalischen Momenten glänzt der von Jacopo Facchini einstudierte Chor mit dem passenden Namen „Il Canto di Orfeo“, wenn er die Klage des Anfangs in subtilen dynamischen Nuancen wiederholt. Für Orfeo ist der Weg nun klar: „Erwarte mich, angebeteter Schatten!“, singt Cecilia Bartoli in resigniertem Schmerz. Der Chor breitet schon vorher die leisen Töne elegisch aus, trumpft aber auch auf mit markanter Artikulation und konzentrierter Energie in den Szenen in der Unterwelt. Bei allem Nachdruck pflegen die zwanzig Sängerinnen und Sänger einen geschmeidigen, gewaltlosen Klang mit leuchtender Transparenz, geschult an der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, die sonst ihren auf hochgeschätzten CD-Aufnahmen dokumentierten Schwerpunkt bildet.

Auch das Orchester „Les Musiciens du Prince – Monaco“, 2016 auf Initiative von Cecilia Bartoli in Monte Carlo gegründet und seither regelmäßig in Salzburg zu Gast, pflegt feinsinnige Tugenden wie ein locker-luftiges Klangbild, Respekt vor den Farben einzelner Solo-Instrumente, ausgewogene Balance der Instrumentengruppen, variable Tonbildung, ohne die Ästhetik des Klangs aufgeraut expressiv zu beeinträchtigen. Das führt weg von der Glätte, mit welcher der „Klassizist“ Gluck früher marmorn – und nicht selten langweilig – aufpoliert wurde. Wo der Komponist aus der Oberpfalz in harmonische Tiefen reicht, fächern die Musiker den Klang fast barock ziseliert auf; wo er die Einfachheit einer melodischen Linie lediglich akkordisch stützt, wird die viel zitierte „stille Größe“, die von Johann Joachim Winckelmann für die antike Skulptur reklamierte „große und gesetzte Seele“ in der Musik hörbar.

Gianluca Capuano leitet sein Ensemble mit ausgewogener Umsicht und Gespür für Farben und Schattierungen. Der Falle des Saals entkommt er nicht ganz: In dicht besetzten Momenten wird das Klangbild schwummrig; auch hätte der Bass, der Raumgröße Tribut zollend, eine Verstärkung verdient. Wundervoll aber die Holzbläser, namentlich Solo-Flöte und Oboe, und die düsteren Posaunen, die nicht dominieren, aber auch nicht als bloße Farbe im Tutti untergehen.

Die Seele des Unternehmens

Und dann natürlich die Seele des ganzen Unternehmens, Cecilia Bartoli. Ihr Theaterinstinkt blitzt ihr nach wie vor aus den Augen, ihre Lust am Singen teilt sich in jeder Phrase mit. Ihre vokale Gestik belebt den Text: Sie macht den sehrenden Eros des Orfeo, den verzweifelten Kampf gegen die Endgültigkeit des Todes, die Tränen der Sehnsucht, das Feuer des Flehens hörbar. Schon 2001 hat sie auf einem ihrer Alben in unnachahmlich individueller Art in Arien Glucks vertieft. Dieser Orfeo markiert einen Respekt heischenden Höhepunkt in der Befragung eines Komponisten, der im Opernbetrieb nicht so präsent ist, wie er es verdient. Bartoli zeigt, woran das liegen könnte: Glucks Musik braucht die innere Beseelung durch Sänger, die Wort und Musik zu einer existenziell berührenden Einheit verbinden. Nicht umsonst waren seine bedeutenden Partien stets eine Domäne großer Tragödinnen.

Zu bemerken ist aber auch, dass sich die oft benannten vokalen Schwächen der Bartoli trotz ihrer atemberaubenden Gestaltung deutlicher zeigen: Die enge tremolierende Tonbildung trübt homogene Legati und sublime Kantilenen; den dynamischen Steigerungen fehlt der freie Glanz. Aber dann gelingen berückend nuancierte leise Momente, singt ein gebrochener Mensch in fahlen Farben seine Verzweiflung aus. Und so gelingt es Cecilia Bartoli nach wie vor, die Zuhörer in den Sog ihrer Kunst zu ziehen und aus dem Alltag hinwegzutragen in das Elysium der Klänge Christoph Willibald Glucks und einer uralten antiken Tragödie, die uns auf diese Weise bis heute tief berührt.




Neuer Verlag in Dortmund: Romanische Literaturen im Blick

Verleger Lucas Franken (Foto: © Gideon Rothmann)

Wer hätte das gedacht? In Dortmund, das nicht nur keine Kinostadt mehr, sondern (seit dem Hinschwinden so grundverschiedener Häuser wie Harenberg oder Grafit) auch keine Verlagsstadt mehr ist, gründet sich tatsächlich ein neuer Buchverlag. Lasst Vorurteile sprechen: Der Neuling wird doch sicherlich ein halbgares Programm pflegen, vermutlich mit wohlfeiler Ruhri-Anmutung und Touri- oder Fußball-Schwerpunkt?

Nichts da! Weit gefehlt. Der Franken Verlag meint es literarisch richtig ernst und seriös. Am 15. Januar 2025 soll das erste Buch erscheinen: „Feinschnitt Barcelona“ (ca. 250 S., 24 €) von Adrià Pujol Cruells, eine Mischung aus Autobiographie und Essay, aus dem Katalanischen übersetzt von Matthias Friedrich. Wir werden an dieser Stelle beizeiten darauf zurückkommen.

Adrià Pujol Cruells, Autor des Buches „Feinschnitt Barcelona“. (Foto: © Víctor P. de Óbanos)

Generell will man sich bei Franken in den romanischen Literaturen umtun und möglichst hochkarätige Übertragungen publizieren. Deutlich sichtbares Zeichen dafür soll die „Nennung der Übersetzer*innen auf dem Cover“ sein – eine lobenswerte, bislang ziemlich seltene Praxis in der Buchbranche. Mehr noch: Auch die verantwortlichen Lektoratskräfte, samt und sonders Romanistik-Fachleute, sollen die jeweilige Fremdsprache beherrschen. Spontan habe ich mich an den sehr inspirierenden, leider nicht mehr selbstständig existierenden Bremer Manholt Verlag (ab 2004 als edition manholt bei dtv) erinnert gefühlt, der sich der frankophonen Literatur in deutschen Übersetzungen gewidmet hat.

Zitiert sei der Dortmunder Verlagsgründer Lucas Franken, der in Bochum und Paris Romanistik studiert hat und seit 2020 in Dortmund ein Sprach- und Übersetzungsbüro leitet: „Bei uns erscheinen Texte, die woanders vielleicht übersehen werden – etwa, weil literarische Texte aus ,kleineren‘ Sprachen den größeren Verlagshäusern zu nischig sind. Oder weil wir Texte (wieder)entdecken, die im Ausland längst den Status von Klassikern genießen, im deutschsprachigen Raum aber bisher noch nicht veröffentlicht wurden.“ Wie auch immer: Pro Jahr sollen künftig ein bis zwei Titel erscheinen, man beginnt also vernünftig und vorsichtig, gleichsam auf Sparflamme.

Es wird also gewiss kein Verlag für die Massen oder den Mainstream werden, vielleicht aber einer mit unterschwelliger Tiefenwirkung, die sich auch in überregionalen Medien abzeichnen könnte. Warten wir’s gespannt ab.

Franken Verlag, Reinoldistraße 2-4, 44135 Dortmund
https://frankenverlag.de




Sensation! Das Ruhrgebiet heißt wieder Ruhrgebiet

Ein Bildmotiv der neuen Ruhrgebiets-Kampagne: smarte junge Frau mit Laptop auf alter Industrie-Lok. (Foto: RVR)

Welch eine aufregende Mitteilung uns aus Essen bzw. Gelsenkirchen ereilt! Das Ruhrgebiet darf wieder schlichtweg Ruhrgebiet heißen, wenn es um die Werbung für die Region geht. Das Revier (früher auch schon mal von übereifrigen Kreisen „Ruhrstadt“ genannt) muss sich also nicht mehr zur „Metropole Ruhr“ aufplustern und sich als Weltstadt gerieren.

Garrelt Duin, noch relativ neuer Regionaldirektor beim Regionalverband Ruhr (RVR) und vormals NRW-Wirtschaftsminister aus den Reihen der SPD,  mochte das Metropolen-Gerede nicht mehr so gern hören. Diese Regung lässt sich gut nachvollziehen. Wie das selbsternannte Ruhrgebiets-Zentralorgan, die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ), gleichsam hochroten Kopfes berichtet, soll die Gegend künftig mit dem Slogan „Ruhrgebiet – Die grüne Industrieregion“ beworben und vermarktet werden. Tja. Ob das (auf Neudeutsch) ein „Game Changer“ sein wird?

Plakate und Schaukästen in maßgeblichen Städten wie Berlin, Frankfurt und München sollen es den – womöglich ahnungslosen – Bewohnerinnen und Bewohnern beibringen. Laut RVR finden die Auswärts-Auftritte in „Out-of-Home-Flächen“ statt. Man ist eben nicht nur heimatverbunden, sondern auch weltläufig. Und natürlich total digital: Die frohe Botschaft soll in allen wesentlichen sozialen Netzwerken verbreitet werden. Alles andere wäre ja auch fahrlässig. Ohne TikTok und Konsorten geht bekanntlich nicht mehr viel.

Das Kampagnen-Motto borgt man sich derweil bei Herbert Grönemeyer, dessen altes, leicht angegrautes Bochumer Revier-Image sie hierzulande einfach nicht ruhen lassen wollen, obwohl er längst nicht mehr im „Pott“ lebt. „Bleibt alles anders“ hieß 1998 eines seiner Studioalben, „Hier bleibt alles anders“ paradoxt der RVR nun geflissentlich hinterdrein. RVR-Chef Garrelt Duin vergaß bei der Kampagnen-Präsentation in Gelsenkirchen nicht zu erwähnen, dass Grönemeyer die Anleihe gebilligt habe; keine Selbstverständlichkeit, hat „Herbie“ doch jüngst dem grünen Vizekanzler und Kanzlerkandidaten Robert Habeck untersagt, seinen Song „Zeit, dass sich was dreht“ zitierend zu verwenden – und sei’s auch nur leise gesummt. Auch der CDU wurde keine Song-Erlaubnis zuteil.

Wie üblich, haben für die neue Kampagne wieder etliche Köpfe geraucht, gewiss nicht unentgeltlich. Wie ebenfalls üblich, wurde das Resultat nicht im Revier selbst ausgebrütet, sondern bei der Agentur Scholz & Friends in Hamburg. Jetzt aber bitte keine müden Querverweis-Scherze mit dem Namen Scholz! Oder mit friends und Hamburg. Am besten mal gar keine Scherze, woll?!

 




„Ausgeliefert“ – Klassenkampf mit Apps und GPS

Damn, clusterfuck, cringe as fuck, shiny. Nur eine kleine Auswahl zwischendurch hingeworfener Wörter aus dem Prolog zum eigentlich auf Deutsch verfassten Buch. Sollte das etwa besonders „cool“ klingen?

Orry Mittenmayers Buch „Ausgeliefert“ prangert jedenfalls die Methoden gewisser Essens-Lieferdienste an, enttäuscht allerdings am Anfang, wo es doch gerade in den Text locken sollte. Auch der einschläfernde Bandwurmsatz des Untertitels ist in diesem Sinne nicht hilfreich, er lautet: „Wie Lieferdienste ihre Fahrer ausbeuten, warum uns das alle ärmer macht – und was wir dagegen tun können.“  Erst der konkrete, recht späte Einstieg in die eigentliche Materie liest sich dann deutlich spannender.

Lückenlose Überwachung

Da erfährt man endlich einiges aus dem miesen Alltag der Auslieferungsfahrer („Rider“). Es geht – am Beispiel Köln – um die lückenlose Orts- und Zeit-Überwachung per GPS; um die fiesen Kontrollanrufe der oft gerade mal dem BWL-Studium entronnenen „Dispatcher“, die schon bei der kleinsten Verzögerung ihr armseliges Repertoire zwischen geheuchelter Jovialität, Herablassung und Drohung abspulen. Zynischer noch: Sie verkaufen den gehetzten Radfahrern den ausbeuterischen Knochenjob als sportlichen Startup-Lifestyle. Die sportive „challenge“ bestand u. a. darin, kaum Zeit für Toilettengänge oder sonstige Pausen zu haben. Der Algorithmus der Firmen-Apps gab den gnadenlosen Takt vor.

Wo ist nur das Trinkgeld geblieben?

Der aus einfachen Verhältnissen stammende Mittenmayer war dringend auf den (kargen) Lohn angewiesen, weil er die Zeit bis zum BAföG überbrücken, die Abendschule besuchen und anschließend studieren wollte. Für ein 2024 erscheinendes Buch ist das Geschehen schon recht lange her und eventuell nur bedingt aktuell: Ab 2016 nahm der Autor Jobs bei Foodora und Deliveroo an, zwischen 9 und 10 Euro gab’s damals pro Stunde. Der Umgang mit umso dringender benötigtem Trinkgeld war wohl alles andere als transparent. Sollte da vielleicht mancher per Karte oder Überweisung zugezahlte Euro in der Unternehmenskasse statt in den Taschen der Fahrer gelandet sein?

Schon zu Beginn mussten die Fahrer für die Lieferboxen offenbar je 50 Euro Pfand entrichten. Auch danach trugen sie alle Risiken, beispielsweise mussten sie etwaige Schäden am eigenen Fahrrad auf eigene Kosten beseitigen. Von Gefahren im hektischen Straßenverkehr mal ganz großzügig abgesehen.

Unaufhörliches Lob der Gewerkschaft

Als Mittenmayer und andere sich wehrten, versuchten die Firmen alles, um die Gründung von Betriebsräten zu verhindern. Doch mit der rasant anwachsenden Protest-Aktion „Liefern am Limit“ erlangten er und seine Mitstreiter bundesweite Aufmerksamkeit – nicht zuletzt durch die Hilfe der Gewerkschaft. Solidarität hat eben auch im Klassenkampf neuerer Machart keineswegs ausgedient.

Gegen Schluss plätschert das Buch leider etwas entkräftet aus. Mittenmayer betont noch und noch, was er bis dahin schon vielfach mitgeteilt hat: Wie wichtig Gewerkschaften (hier besonders: die NGG) seien, wie ihn der Kampf für Arbeitnehmerrechte „empowered“ habe, wie er als Schwarzer und (Hör)-Behinderter gegen alle Wahrscheinlichkeit und viele Widerstände doch noch höhere Bildungsabschlüsse erlangt habe. Alles gut und richtig. Respekt vor dieser Energie- und Lebensleistung. Aber irgendwann klingt es dann doch nach Gebetsmühle und Litanei.

Orry Mittenmayer (mit Harald Braun): „Ausgeliefert“. Kiepenheuer & Wisch, 224 Seiten, 18 Euro.




Auf dem K2 der Liedkunst: Konstantin Krimmel und Daniel Heide mit einem Schubert-Mahler-Programm in Hamm

Konstantin Krimmel (31), Bariton deutsch-rumänischer Abstammung, zählt zu den besten Liedsängern unserer Zeit (Foto: Daniela Reske)

Vor dieser Stimme möchte man kapitulieren. Die professionelle Kritiker-Distanz einfach mal aufgeben. Nicht länger leugnen, was sich hartnäckig in die Gedanken drängt, wohl wissend, dass Künstler so wenig miteinander verglichen werden sollten wie Äpfel mit Birnen. Konstantin Krimmel durchbricht unsere Gegenwehr. Der Bariton deutsch-rumänischer Abstammung singt so mühelos und klar, dass uns Fritz Wunderlich durch den Kopf spukt, obwohl der als Tenor eine andere Stimmlage hatte (und sowieso einzigartig war).

Mit einem Liederabend im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm zwingt Krimmel uns zum Offenbarungseid: Vor der Natürlichkeit, dem Fluss und Farbenreichtum dieser erlesenen Baritonstimme strecken wir die Waffen. In einem Atemzug mit ihm muss der nicht minder exquisite Liedpianist Daniel Heide genannt werden, unter dessen Fingern sublime Stimmungsbilder, aber auch Dramen und Schauergeschichten entstehen, sobald er die Tastatur nur anrührt.

Reichlich Weltschmerz tönt durch die Lieder von Franz Schubert und Gustav Mahler, die Krimmel und Heide für dieses Programm ausgewählt haben. Wanderschaft und Mondnächte und unglückliche Liebe, mithin tief romantische Leitmotive spiegeln sich in Versen von Goethe und Schiller, Hölty und Seidl und natürlich Schmidt von Lübeck. Letzterer wäre heute womöglich vergessen, hätte Schubert aus seinem Gedicht „Der Wanderer“ nicht ein Lied von ikonischer Bedeutung geformt.

Im Duo kaum zu übertreffen: Konstantin Krimmel und Liedpianist Daniel Heide (Foto: Guido Werner)

Mit den Worten „Ich komme vom Gebirge her“, setzt Krimmel ein, leise, nachdenklich, traumverloren, während der Klavierpart dunkle Täler eröffnet. Im Subtext schwingt ein halbes Dutzend unausgesprochener Fragen mit: „Wo bin ich? Was tue ich hier? Wie bin ich hierhergekommen?“ Man könnte sich ganze Romane dazu ausdenken, aber Krimmel singt mit größter Schlichtheit, mit nachgerade kindlichem Staunen und einer zart-tenoralen Farbe, die nach Unschuld klingt.

Damit ist der Ton gesetzt. Wir sind im Reich des Kunstlieds, wo jede Empfindung, jede noch so feine Regung des Herzens Widerhall findet. Wir sind bei Franz Schubert und Gustav Mahler, die Schmerz in ewige Schönheit transformierten. Und wir sind bei Konstantin Krimmel und Daniel Heide, die an diesem Abend höchste Erwartungen übertreffen, die uns mitnehmen auf die erhabenen Gipfel der Kunst, auf den K2 des Liedgesangs.

Unmöglich zu sagen, in welchem Register Krimmels lyrisch-bewegte, technisch phantastische Stimme am stärksten ist. Warm, sonor, beseelt klingt seine Mittellage, die Höhe ist klar und fragil, beinahe knabenhaft rein. Die Melancholie von „Wanderer an den Mond“ erhält einen trostvollen Schmelz, „Schäfers Klagelied“ schwelgt in den Farben von Sehnsucht und Resignation. Es gibt derzeit kaum ein anderes Lied-Duo, das aus der Reduktion solchen Reichtum gewinnt, das aus der Nussschale ein Universum steigen lässt. Wenige Noten genügen, um „Wanderers Nachtlied“ in die Weite des Himmels entschweben zu lassen.

Konstantin Krimmel ist Ensemblemitglied an der Bayerischen Staatsoper in München, wo er derzeit etliche Mozart-Partien singt (Foto: Florian Huber)

Schärfere Expressivität und einen größeren Tonumfang verlangen Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“. Aber Krimmel, Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper, hat damit keinerlei Schwierigkeiten. Mühelos füllt seine Stimme den Raum. Mit Ironie, ja einem Hauch von Sarkasmus unterläuft er den volksliedhaften Ton von „Ging heut morgen übers Feld“. Dieser Sänger und dieser Pianist sind zu klug, um den Schmerzensklang von „Ich hab‘ ein glühend Messer“ künstlich zu dramatisieren oder theatralisch aufzuladen. Das Lied bleibt authentischer Ausdruck tiefer Qual.

Nach der Pause gerät „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller zu einer rund 17minütigen Ballade mit schaurigen Zwischentönen. Daniel Heide und Konstantin Krimmel gönnen uns Sturm und Drang vom Feinsten. Bildstark, fast wie ein Film läuft Schillers Geschichte von freundschaftlicher Liebe und Treue vor uns ab. Trotz vieler Tempowechsel wirkt alles wie aus einem Guss. Krimmels Stimme reicht jetzt in Bassregionen hinab, erreicht spukhafte Schwärze und hinreißendes Volumen.

Zwei Tage vor dem Tag, an dem Donald Trump möglicherweise zum zweiten Mal zum Präsidenten der USA gewählt wird, klingt der Überdruss von „Totengräbers Heimweh“ leider allzu vertraut. „Oh Menschheit! Oh Leben! Was soll’s! Oh was soll’s!“ singt Konstantin Krimmel, wie von Ingrimm und Abscheu geschüttelt. Empörung gegen die Unbarmherzigkeit der Götter formuliert er in Goethes „Prometheus“: anklagend, rebellisch, mit der Bitterkeit des Enttäuschten. Da macht einer die Faust in der Tasche.

Doch auf solchem Schlusston soll die Sternstunde nicht enden. Krimmel und Heide gönnen ihrem Publikum zwei Zugaben: zunächst Schuberts Vertonung von Goethes „Willkommen und Abschied“, dann seine „Litanei auf das Fest Allerseelen“ (D 343), die uns zum Abschluss in eine warme Decke hüllt: schimmernd, trostvoll, in sanften langen Bögen.

(Informationen: www.konstantinkrimmel.com)




Mit Kaiser Theodoros durch Zeit und Raum irrlichtern

Der 1956 in Bukarest geborene Mircea Cartarescu hat unzählige Auszeichnungen erhalten und wird immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Sein neuer Roman segelt mit Äthiopiens Kaiser „Theodoros“ (der sich 1868 eine Kugel in den Kopf schoss, als britische Truppen seine Festung Magdala eroberten) durch Zeit und Raum: Sein „Theodoros“ ist eine Erfindung, Traum einer Person, in der sich Mythen und Legenden spiegeln, Vision eines Mannes, der in mehreren Welten sein Unwesen treibt.

Geboren wird die zwischen Fiktion und Realität irrlichternde Figur in der düsteren rumänischen Walachei. Der einfältige Vater nennt seinen Sohn Tudor. Seine Mutter hat es aus dem sonnigen Griechenland in die rumänische Ödnis verschlagen, sie unternimmt mit ihrem Sohn Fantasie-Reisen in die Welt von Homer und nennt ihren Sohn Theodoros. Unter diesem Namen wird er hinausziehen in die weite Welt und zum Anführer einer Piraten-Bande in der Ägäis. Auf der Flucht vor seinen Verfolgern lernt er in einem Kloster den aus einem äthiopischen Adelsgeschlecht stammenden Kassa Hailu kennen, der lieber Mönch als Kaiser werden will. Die beiden werden Freunde und tauschen ihre Identität.

Dringend gesucht: die Steintafeln mit den Zehn Geboten

Von Kassa Hailu unterwiesen in Sitten, Gebräuche, Sprache und Religion, schafft es der rumänische Bauernbengel, als Tewodoros II. den Thron zu besteigen, der auf dem Heiligen Buch Äthiopiens, Kebra Nagast, gründet und zurückreicht bis in die Tage von König Salomon. Grund genug für Theodors, sich ins mythische Judäa zu träumen, ist er doch besessen von der Sehnsucht, die alttestamentarische Bundeslade zu finden, in der die Steintafeln der Zehn Gebote aufgehoben sind: eine ziemlich verrückte Gemengelage.

Vier Jahrzehnte, meint Cartarescu in einer Nachbemerkung, trug er die Idee eines pseudohistorischen Romans mit sich herum, in der „das Unmögliche auf einer anderen Zeitschleife möglich wird, in einer anderen Welt, mit anderen Himmeln und anderen Göttern“. Erst jetzt, „in einer Zeit der Depressionen, Konfusionen, Pandemien und Kriege, als ginge es mit der Welt zu Ende, habe ich schließlich die zwei Jahre gefunden, in denen ich, um überleben zu können, „Theodoros“ geschrieben habe – ebenso wie mein Held letztlich seinen Traum verwirklicht hat, Kaiser zu werden.“

Hyperrealistisch geschildert, aber frei erfunden

Herausgekommen ist ein Roman, der Grenzen überschreitet und Welten miteinander verwirbelt. Ob Geografie und Geschichte, Kultur, Kunst und Krieg: alles was Theodoros bei seiner Reise durch die Fantasiewelten erlebt, wird bis ins letzte Detail so exakt beschrieben, dass es auf unheimliche Weise hyperrealistisch und zugleich völlig frei erfunden erscheint. Ob er am Hofe von König Salomon vorbeischaut, über holprige Wege der Walachei in die Freiheit stolpert, den trojanischen Krieg nachspielt oder als Seeräuber durch die Ägäis irrt, bevor er seiner Berufung folgt und sich zum Kaiser von Äthiopien aufschwingt: alles ist von einer fulminanten fiktiven Wahrheit und grandiosen Wahrhaftigkeit, hebt sämtliche Erfahrungen auf und schlägt sinnliche Pirouetten.

Sieben Erzengel schreiben am „Buch des Lebens“

Der Clou: Hinter dem allwissenden „Wir“ verbergen sich die Sieben Erzengel, die am „Buch des Lebens“ schreiben, am Tag des Jüngsten Gerichts dem auferstandenen Theodoros die Geschichte seiner Verkleidungen und Verwandlungen, Morde und Missetaten präsentieren und erkennen, dass der grummelnd im Lebensbuch blätternde Gott „nicht über den Menschen mit seinen Sünden und lichten Momenten befinden wird, sondern über das von uns mit großer Beharrlichkeit ein halbes Jahrhundert lang geschriebene Buch. Und wenn dieses in den Himmeln Aufnahme findet, wird es auch auf Erden angenommen werden“. So sei es.

Mircea Cartarescu: „Theodoros“. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2024., 672 Seiten, 38 Euro.




„Es musste etwas besser werden“ – Jürgen Habermas und die Pflicht zur Vernunft

„Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohende Regression aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv. Daher bin ich mit der Bezeichnung ,Philosoph und Soziologe‘ ganz zufrieden.“

So äußert sich Jürgen Habermas in einem neuen Buch, in dem er über die Motive seines Denkens, die Umstände, unter denen es sich entwickelte, und die Veränderungen, die es im Laufe der Jahrzehnte erfuhr, Auskunft gibt.

Debatten und Diskurse beispielhaft geprägt

Dass der inzwischen 95-jährige Intellektuelle, der mit seinen Beiträgen und Büchern wie kein anderer die politischen Debatten und wissenschaftlichen Diskurse in Deutschland geprägt hat, mit dieser Selbstbeschreibung tiefstapelt, weiß er natürlich auch. Denn Habermas war nie nur ein „Philosoph und Soziologe“, der sich im universitären Elfenbeinturm verschanzt und von oben herab seine neuesten Erkenntnisse zu gesellschaftlichen Transformationen, kulturellen Phänomenen und kommunikativen Strategien verkündet.

Ob als Hochschullehrer in Frankfurt und Heidelberg oder als Autor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Sich mit sozialwissenschaftlichen Argumenten und historischen Erkenntnissen in die aktuellen Debatten einzumischen, war stets sein größtes Bestreben, die Europäische Einigung sein größter Wunsch und die Abwehr rechtsnationaler Tendenzen der innerste Antrieb des enzyklopädisch gebildeten Großintellektuellen, der sich in jungen Jahren in einer von Alt-Nazis beherrschten Universitätslandschaft durchsetzen musste.

„Es musste etwas besser werden“, sagt Habermas (so auch der Titel des Buches), „und es lag an uns, ob sich die Welt zum Besseren verändern würde.“ Uns, das sind seine aus dem Exil heimgekehrten Kollegen von der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule: Adorno, Marcuse, Horkheimer, aber auch seine linksliberalen Mit-Studenten Karl-Otto Apel, Ernst Tugendhat und Michael Theunissen.

Wider die bleierne Zeit der Restauration

Im Gespräch mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos umkreist Habermas die Anfänge seiner wissenschaftlichen Biografie und die bleierne Zeit der bundesrepublikanischen Restauration, in der Habermas und sein Konzept einer auf die Demokratisierung der Gesellschaft und die Formulierung einer vernunftgeleiteten Kommunikation ausgerichteten Sozialwissenschaft wie ein Fremdkörper wirkte und als linksradikal diffamiert wurde.

Dabei hatte Habermas längst den ollen Marx neu interpretiert, auch Freuds Psychoanalyse und vor allem die US-amerikanischen Forschungen zur Linguistik und Sprechakt-Theorie in sein Werk einbezogen, Bücher verfasst, die heute legendär sind: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, „Erkenntnis und Interesse“, „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“, „Theorie des kommunikativen Handelns.“

Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Im kollegialen Diskurs schreitet Habermas die wichtigsten Stationen seines Lebens und zentrale Begriffe seines Denkens ab, plädiert eindringlich für das Projekt der Europäischen Einigung, fordert ein entschlosseneres Handeln zur Verhinderung der Klimakatastrophe, kommentiert den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine, mahnt Israel, bei seinem gerechtfertigten Krieg gegen den Terror der Hamas die zivilgesellschaftlichen Maßstäbe zu beachten, erinnert an die „Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft“. Habermas hat recht. Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Jürgen Habermas: „Es musste etwas besser werden.“ Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos. Suhrkamp, 254 Seiten, 28 Euro.




„Wut und Wertung“: Geschmacks-Debatten können so verletzend sein

Das Kulturwissenschaftliche Institut (KWI) in Essen hat sich für die nächsten Monate ein übergreifendes Thema erkoren, es nennt sich „guilty pleasures“, was etwas umständlich mit „schuldbesetzte Vergnügungen“ übersetzt werden könnte. Freuden also, die man mit einigermaßen schlechtem Gewissen genießt – Flugreisen etwa oder exzessiven Medienkonsum der seichteren Art. Oder auch kulturelle Vorlieben, die dem waltenden Zeitgeist zuwiderlaufen.

Zum Themenauftakt gab es dieser Tage eine (auch online zu verfolgende) Diskussionsrunde mit Johannes Franzen von der Universität Siegen. Der auch als Journalist (Zeit, Taz, FAZ) tätige Germanist und Anglist hat ein Buch über widerstreitende kulturelle „Geschmäcker“ geschrieben. Griffig zugespitzter Titel: „Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten“.

Üble Attacke auf der Party

Nun mögen sich manche souverän erhaben dünken, wenn es um ihre (allzeit gefestigten? bestens begründeten?) Geschmacksurteile geht. Franzen hingegen stellt eine fiktive, aber nicht ganz unwahrscheinliche Szene an den Anfang seines Buches, die ihm zufolge das Verletzungs-Potenzial von Geschmacksunterschieden offenbaren soll: Denken wir uns eine Party, auf der jemand einen Film über den grünen Klee preist, der auch emotional ungemein fesselnd sei. Da erhebt ein anderer Gast seine wortgewaltige Stimme und attackiert diese Auffassung als naiv und lächerlich. Welch eine Bloßstellung vor all den Leuten! Und welch ein Distinktions-Gewinn für den eloquenten Angreifer, der wohl fulminant „gepunktet“ hat. Ergo: Geschmacks-Konflikte können ziemlich verletzend sein.

Ironisch die Neigung zum „Kitsch“ gestehen

Wie wirkt sich das aus, wenn jemand mit seinen ästhetischen Vorlieben derart in Erklärungsnot und in eine womöglich peinliche Defensive gerät? Möchte er/sie nicht im Boden versinken? Oder zum Gegenangriff übergehen? Immerhin liegen, so Franzen, einige Techniken der Befriedung bereit, allen voran das alte, reichlich verschnarchte Diktum „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“. Auch könnte eine Reaktion darin bestehen, dass man ironisch seine gelegentlichen Vorlieben für „Kitsch“ eingesteht (womit wir bei den eingangs erwähnten „guilty pleasures“ angelangt wären) und dem Widersacher Wind aus den Segeln nimmt.  Überdies wirken der allgemeine Aufstieg der Populärkulturen sowie der Niedergang der „Hochkultur“ und des klassischen Kanons in solchen Fragen vermutlich entlastend. Die Zeiten der allmächtigen „Kulturpäpste“ sind eben vorüber.

Wenn sich jeder Mensch als Kritiker aufspielt

Dennoch: Zweifel am eigenen Geschmack sind wahrscheinlich allgegenwärtig. Selbst die Beschäftigung mit einem unstrittigen Genie wie Shakespeare sei nicht unbedingt davor gefeit. Franzen nennt mögliche Beispiele: „Kann ich überhaupt gut genug Englisch, um urteilen zu können? Habe ich vielleicht die weniger guten Inszenierungen gesehen?“ Und schon steckt man in der Falle…

Zu bedenken ist ferner der Unterschied zwischen professioneller und laienhafter Rezeption, der freilich im Internet, wo sich heute quasi jeder Mensch als Kritikus aufspielen kann, tendenziell zu schmelzen scheint. Ästhetischer Purismus scheint jedenfalls rasant auf dem Rückzug zu sein.

Was der „innere Deutschlehrer“ anrichtet

Im Verlauf der Diskussion wurde auch das Phänomen des „inneren Deutschlehrers“ gestreift, der einem seit Pennäler-Zeiten als kulturelles Über-Ich im Kopf sitzt und schulische „Zwangslektüren“ wie etwa Fontanes „Effi Briest“ nachhaltig vergällt. Mit dem herrschenden Kanon und solcher Pflicht-Rezeption werde ein lang andauernder „kultureller Gehorsam“ eingeleitet, hieß es. Dieser wirke oft auch im Streit über Geschmacksfragen nach. Wobei so manche Meinungsverschiedenheit ja nicht gleich zu Wutausbrüchen oder Verletzungen führen muss, sondern im gepflegten Gespräch (aka herrschaftsfreier Diskurs) einfühlsam erörtert werden mag. Längst nicht alle Leute sind Wutbürger, (hoffentlich) erst recht nicht die kultursinnigen.

Die Entgleisung des Clemens Meyer

Zu Beginn des Abends hatten Franzen und das Moderations-Duo (Stefan Hermes, Uni Duisburg-Essen, Roxane Phillips vom KWI) geradezu dankbar eine aktuelle Wut-Entgleisung im Literaturbetrieb aufgegriffen; auch dies wohl ein „guilty pleasure“, weil ziemlich boulevardesk. Anlässlich der Vergabe des Deutschen Buchpreises an Martina Hefter (für „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“) hatte der auf der Shortlist konkurrierende Clemens Meyer („Die Projektoren“, 1056 Seiten) die Jury-Entscheidung unflätig kommentiert und damit ein beinahe größeres Medienecho ausgelöst als die eigentliche Preisvergabe. Mal wieder einer dieser ach so skandalösen Fälle von Wut und Wertung, von denen die Literaturgeschichte und die Historie anderer Künste überquellen.

Johannes Franzen: „Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten“. S. Fischer Verlag. 432 Seiten, 26 Euro.

 




Stolz und Zuversicht: Gewichtiger Bildband „Ruhrgold“ feiert die Schätze des Reviers

Großer Auftritt im besprochenen Buch: Aral-Tankstelle an der Hauptverwaltung der Aral AG in Bochum, um 1958. (Foto: Aral AG)

Welch ein Trumm von einem Buch! Der wahrhaft aufwendig gestaltete Band „Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets“ feiert auf 700 farbig bebilderten Seiten im Kunstkatalog-Format nahezu alles, was das Revier zu bieten hat.

Dieser Wälzer liegt sehr gewichtig in den Händen – mit etwa 2708 Gram, also über 2,7 Kilo, wenn ich richtig gewogen habe. Entschieden zu schwer für ein schmuckes „Coffee Table Book“, das Tischlein könnte schier einknicken… Außerdem reicht die Ambition deutlich übers Dekorative hinaus. Dafür bürgt schon der Herausgeber, Prof. Ferdinand Ullrich, vormals langjähriger Direktor der Kunsthalle Recklinghausen, der auch als Fotograf einiges zu diesem Band beigesteuert hat.

Ein Standardwerk über die Region

„Ruhrgold“ ist jedenfalls ein repräsentatives, umfängliches Standardwerk geworden, das von nun an in jede vernünftige Revier-Bibliothek gehören sollte. Ferdinand Ullrich und der Wienand Verlag haben kundige Autoren für die Kapitel-Einleitungen gewonnen, darunter Johan Simons (Intendant des Bochumer Schauspielhauses), Norbert Lammert (kultursinniger CDU-Politiker), Neven Subotic (Ex-BVB-Abwehrspieler und Stiftungsgründer), Manuel Neukirchner (Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund), Prof. Theodor Grütter (Leiter des Ruhrmuseums, Essen) oder Hilmar Klute (Schriftsteller, Redakteur der Süddeutschen Zeitung). Zusätzlich hätte man sich wünschen können, dass auch noch der eine oder andere kritische Literat aus hiesigen Gefilden (Frauen inbegriffen) sich geäußert hätte. Aber das hätte vielleicht die feierliche Liturgie gestört. Schattenseiten des Reviers fristen hier lediglich ein – Schattendasein.

Landmarken und Entdeckungen

Wo soll man nur anfangen, wo aufhören? Das Motto könnte lauten: „Genug ist nie genug“. 350 Kunstwerke, Objekte und sonstige Phänomene aus nahezu allen Lebensbereichen des Reviers werden in 20 Kapiteln aufgeboten, mit rund 500 Illustrationen großzügig bebildert und in einem Anhang ausführlicher erläutert. Der (via RAG-Stiftung subventionierte) Preis von 60 Euro darf als vergleichsweise moderat gelten.

Natürlich werden markante Gebäude und Bauensembles wie etwa die Welterbe-Zeche Zollverein, die Villa Hügel (beide Essen), der Gasometer (Oberhausen) oder das Dortmunder U vorgezeigt. Die Museen, Theater, Konzertstätten und Unis der Gegend sind ebenso selbstverständlich vertreten, aber auch Verkehrsadern wie die B1 (streckenweise aka A 40 oder Ruhrschnellweg), Kanäle oder just die Flussläufe von Ruhr und Emscher. Auch als langjähriger Revierbewohner kann man hier noch Entdeckungen machen. Mir war beispielsweise die anheimelnde Siedlung Teutoburgia in Herne bislang kein Begriff. Asche auf mein Haupt. Auch der Hindu-Tempel in Hamm harrt noch einer näheren Erkundung. Und so weiter.

Objekte bis hin zur Aldi-Tüte

Dem Buchtitel entsprechend, gibt es hier auch veritable Goldschätze, namentlich die Goldene Madonna aus dem Essener Domschatz oder auch den „Cappenberger Kopf“. Nicht zuletzt werden prägende Persönlichkeiten der Region (z. B. Ostwall-Gründungsdirektorin Leonie Reygers, Jürgen von Manger, Tanja Schanzara, Uta Ranke-Heinemann, Hape Kerkeling, Christoph Schlingensief) gewürdigt. Und natürlich darf auch ein Exkurs zur ruhrdeutschen Mundart nicht fehlen. „Sprechende“ Objekte – vom Schrank im Stile des „Gelsenkirchener Barock“ über die prachtvolle Aral-Tankstelle von 1958 bis hin zur Aldi-Tüte – gehören gleichfalls zum Lieferumfang; ebenso einige wiederkehrende Ereignisse in der Spannweite zwischen Ruhrtriennale und Cranger Kirmes. Und natürlich hat auch die weltbekannte Dortmunder Südtribüne („gelbe Wand“) ihren gebührenden Auftritt – mit jener ebenfalls schon legendären Fotografie von Andreas Gursky.

Auch Großereignisse wie das „Stillleben“ (Vollsperrung des Ruhrschnellwegs über rund 60 Kilometer und Volksfest daselbst am 18. Juli 2010 – im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr) zieren den neuen Ruhrgold-Band. (Foto: picture alliance/ augenklick / firo Sportphoto)

Allenfalls zaghafte Kritik

Und wie fügt sich all das alles zueinander, welches Konzept steht dahinter? Nun, das allermeiste wirkt ziemlich „revierfromm“, es entspricht spürbar der fraglos positiven Sichtweise der RAG-Stiftung, die hinter dem monumentalen Buchprojekt steht. Und so ist immer wieder die Rede von Tradition, auf die man stolz sein könne und von zukunftsträchtiger Transformation zur „grünsten Industrieregion der Welt“, die bereits eingeleitet sei. Kritik ist nur sehr zaghaft vorhanden, eigentlich nur am kläglichen Zustand des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Diese Einsprüche dürften mehrheitsfähig sein.

Ansonsten ist es wie immer: Sobald man sich mit einer Materie (hier: Stadt) etwas besser auskennt, findet man auch Haare in der Suppe. Wohlan denn: Warum kommt eines der wohl wichtigsten Bauwerke der ganzen Region, die Dortmunder Westfalenhalle, überhaupt nicht vor? Und dann die etwas peinliche Sache mit dem Dortmunder Phoenixsee (Seite 357): Das Gewässer ist n i c h t, wie in der Bildzeile behauptet, auf dem Gelände eines früheren Bergwerks entstanden. Es war, wie wohl jedes Kind an den Gestaden der renaturierten Emscher weiß, ein Stahlwerk.

„Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets.“ (Das Ruhrgebiet in 500 Bildern aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). 700 Seiten mit lexikalischem Anhang sowie ausführlichem Orts- und Personenregister. Wienand Verlag, Köln. Gebundene Ausgabe 60 Euro, Luxus-Edition im Designschuber 180 Euro.

www.ruhrgold-das-buch.de

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P. S.: Schau’n wir spaßeshalber, wo die regionalpatriotische Publikation gefertigt worden ist: Verlag in Köln. Warum auch nicht? Dann aber: Gestaltung in Berlin. Graphik & Buchgestaltung in Freiburg. Druck in Italien (Vicenza). Waren diese Gewerke im Revier oder wenigstens in NRW nicht greifbar oder zu teuer?




Vibration des Ungehörten: Festival „NOW!“ in Essen

Babette Nierenz und Günter Steinke stellten das Programm des Festivals „NOW!“ bei einer Pressekonferenz vor. (Foto: TuP Essen)

Acht Uraufführungen, drei Deutsche Erstaufführungen, Werke der Essener Komponisten Nicolaus A. Huber und Günter Steinke, und dazu in 15 Konzerten jede Menge hörenswerter neuer Musik: Das Festival „NOW!“ verspricht in seiner 14. Ausgabe seit 2011 wieder ein Highlight für Musikfreunde weit über die Grenzen Essens und des Ruhrgebiets hinaus zu werden.

Längst ist man auch überregional auf das vom 26. Oktober bis 10. November dauernde Festival aufmerksam geworden, betont Mitorganisator Günter Steinke, Professor für Instrumentalkomposition an der Folkwang Universität der Künste: Namhafte Komponisten wie Enno Poppe oder Rebecca Saunders reisen an; Porträtkünstler der Philharmonie Márton Illés ist ebenso dabei wie der 1971 geborene Franzose Franck Bedrossian – von beiden werden Werke aufgeführt.

Der Komponist Márton Illés ist Porträtkünstler der Essener Philharmonie 2024/25. Seine Werke spielen auch beim Festival „NOW!“ eine wichtige Rolle. (Foto: Sven Lorenz)

Die stärkere Präsenz von Live-Elektronik, so Steinke, solle die jüngere Generation ansprechen; Kinder und Jugendliche kommen durch einen Workshop und das Kompositionsprojekt „Sound LAB“ mit zeitgenössischer Musik in Kontakt. „NOW!“ erreicht inzwischen über das Stammpublikum neuer Musik hinaus auch die Besucher der traditionellen Sinfonie- und Kammerkonzerte, vermerkte Babette Nierenz, Intendantin der Philharmonie, bei der Vorstellung des Programms.

Nicolaus A. Huber hat lange an der Folkwang Universität der Künste unterrichtet. Aus Anlass seines bevorstehenden 85. Geburtstags wird er beim Festival „NOW!“ gewürdigt. (Foto: Gisela Grönemeyer)

Bewusst setzt „NOW!“ auf Zweit- und Drittaufführungen: Für Komponisten wie Interessenten an zeitgenössischer Musikentwicklung ist es wichtig, einmal uraufgeführte Werke weiter zu verbreiten. Das diesjährige Festival ist außerdem eine kleine Hommage an Nicolaus A. Huber zum 85. Geburtstag, den der frühere Essener Folkwang-Kompositionsprofessor am 15. Dezember feiern kann. Von ihm spielt das WDR Sinfonieorchester am 8. November in der Essener Philharmonie die Werke „ … der arabischen 4“ und das Solo für 18 Röhrenglocken, dessen Titel der Veranstaltungsreihe 2024 das Motto gegeben hat: „Laissez vibrer“. Die Resonanzen und das Nachschwingen der Instrumente soll sinnbildlich dafür stehen, was das Festival erreichen möchte: Die neue Musik soll bei den Zuhörern, aber auch im Raum der Gesellschaft widerhallen und ihre Spuren hinterlassen.

Wandelkonzerte in der Innenstadt

Ein Überblick zu den Veranstaltungen: Schon am Samstag, 26. Oktober, geht das Festival in die Essener Innenstadt. Ab 15 Uhr stimmen am Sitz des neuen Kooperationspartners, der Gesellschaft für Neue Musik Ruhr, am Viehofer Platz 18 Wandelkonzerte auf das Kommende ein. Der Eintritt ist frei, um Anmeldung unter www.gnm.ruhr wird gebeten. Ab 20.30 Uhr wird dort in der Neue Musik Zentrale mit DJ-Set gefeiert.

Die Eröffnung am Donnerstag, 31. Oktober, 19 Uhr in der Philharmonie gestalten das Ensemble Ascolta, Dirigentin Catherine Larsen-Maguire und Sprecher Gerhard Mohr mit „Der Sandmann“ nach E.T.A. Hoffmann von Günter Steinke. Passend dazu spielt um 20.30 Uhr das Konzerthausorchester Berlin unter Johannes Kalitzke dessen Beethoven-Variationen zum Stummfilm „Hoffmanns Erzählungen“ von Max Neufeld aus dem Jahr 1923. Das Abschlusskonzert bestreitet am Sonntag, 10. November, das Gürzenich-Orchester Köln unter Gergely Madaras mit „Quicksilver“ von Milica Djordjevic, einem Klassiker der Neuen Musik, den Fünf Orchesterstücken Arnold Schönbergs und der Uraufführung der vollständigen Fassung von „Tér-Szín-Tér“ von Márton Illés.

Perkussion und Elektronik

Dazwischen locken Kammermusikalisches und Elektronik oder Ensembles nur mit Drums oder nur mit Trompeten. Beim Kooperationspartner Folkwang Museum präsentieren am 1. November (15 Uhr) Studierende des Folkwang-Masterstudiengangs Neue Musik Solowerke von Luciano Berio, der „Sequenze“ u. a. für Klavier, Viola, Harfe und Fagott geschrieben hat. Am Abend steht um 20 Uhr in der Philharmonie Moderne-Klassiker Karlheinz Stockhausen im Mittelpunkt eines Konzerts mit dem Pianisten Ciro Langobardi. Roberto Doati hat zu den „Klavierstücken“ elektronische Resonanzen komponiert, die unter dem Titel „Studio“ an die frühe elektronische Klangwelt Stockhausens anknüpfen.

Am 2. November begegnet „NOW!“ einem der maßgeblichen Protagonisten des Komponierens heute, Enno Poppe. In der Philharmonie spielt das Percussion Orchestra Köln ein Auftragswerk des Festivals, „Streik“ für 10 Drumsets. Der vielfach ausgezeichnete Komponist aus Hemer im Sauerland schrieb schon für die Salzburger Festspiele, das Klangforum Wien und das Ensemble Modern. Dass sein Drumset-Werk im Auftrag auch der Donaueschinger Musiktage, des Festivals November Music, des Huddersfield Contemporary Music Festivals und des Festivals Wien Modern entstanden ist, zeigt die internationale Vernetzung, die das Essener „NOW!“ inzwischen genießt.

Acht Trompeten

Eine deutsche Erstaufführung spielt das Trio Abstrakt am 3. November, 16 Uhr in der Philharmonie Essen: „puLsar“ von Giorgio Netti für Saxofon, Klavier und Schlagzeug. Im Sanaa-Gebäude auf Zollverein erklingen am gleichen Tag um 19 Uhr die acht Trompeten von „The Monochrome Project“: Thomas Neuhaus, Spezialist für Elektronische Komposition und Computermusik an der Folkwang Universität, hat für das Festival „there is a draught every time that crack opens“ geschrieben. Das neue Stück erklingt nach Márton Illés‘ „Rez-Tér“ für acht Trompeten und „Felsen – Unerklärlich“ von 2020, einem Werk der 1982 in Teheran geborenen Komponistin Elnaz Seyedi, die u.a. bei Günter Steinke an der Folkwang Universität studiert hat und als freie Komponistin derzeit in der Villa Waldberta München und am Deutschen Studienzentrum Venedig arbeitet.

Viel Neues von Gordon Kampe

Mit Christoph Sietzen als Solist bringt das WDR Sinfonieorchester am 8. November das Konzert für Schlagzeug und Orchester von Johannes Maria Staud („Whereas the reality trembles“) als Deutsche Erstaufführung in die Philharmonie Essen mit. Den Titel des Konzerts „mein Fleisch“ gibt das gleichnamige Werk von Gordon Kampe für zwei Stimmen und Orchester, ein Auftrag des Festivals „NOW!“ und des WDR. Kampe ist ein Schüler von Nicolaus A. Huber und hatte 2023 mit der Oper „Dogville“ nach dem Film von Lars von Trier einen überwältigenden Erfolg am Aalto-Theater Essen.

Gordon Kampe (Foto: Manuel Miete)

Derzeit probt das Theater in Münster seine neue Familienoper „Sasja und das Reich jenseits des Meeres“ nach dem Kinderbuch von Frida Nilsson, die am 10. November ihre Uraufführung erlebt. Schon eine Woche später, am 16. November, wird sein Musiktheater für Kinder „immmermeeehr“ an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt, gefolgt im Januar 2025 von „DESPOT“, einem Musiktheater für eine Stimme und Ensemble an der opera stabile in Hamburg. Und für den Terminkalender der Region ist der 1. Dezember interessant: Dann spielt das Ensemble Resonanz unter Riccardo Minasi Gordon Kampes „boxen!“ für Pauken und Kammerorchester im Konzerthaus Dortmund.

Weitere Uraufführungen vermeldet das Festival „NOW!“ für den 9. November in der Philharmonie mit neuen Werken des in London lehrenden Komponisten und Live-Elektronikers Richard Barrett und einem Werk für Kontrabassklarinette und Klavier der im Berlin lebenden japanischen Komponistin Chikako Morishita. Und wer es klassisch haben will, freut sich am 10. November, 16 Uhr, über ein Konzert im RWE-Pavillon der Philharmonie mit dem Trio Recherche und dem Streichtrio op.45 von Arnold Schönberg, dem Streichtrio von Brian Ferneyhough und den beiden Streichtrios Helmut Lachenmanns, der 2025 seinen 90. Geburtstag feiern kann.

Info: www.now-festival.de

 




Dortmunder Museum Ostwall: Künstlerinnen endlich aufwerten

Else Berg: Selbstporträt, 1917 (Sammlung Jüdisches Museum, Amsterdam)

Wie viele Kunstwerke im Bestand des Museums Ostwall im Dortmunder U stammen wohl von Frauen? Man ahnt es ja ungefähr – und doch verblüfft die Antwort: Es sind weniger als sieben Prozent. Seit einiger Zeit macht sich das weibliche Museumsteam daran, gezielt gegen die Dominanz weißer Männer anzugehen; neuerdings mit der Ausstellung „Tell these people who I am“, in der sämtliche Arbeiten von Frauen stammen.

Die gängige Zeitgeist-Formel für solche Identitäts-Suchen lautet, es müsse bislang Verborgenes endlich „sichtbar gemacht“ werden. Vor einiger Zeit verfolgten die Dortmunderinnen am Museum Ostwall (vielfach verwischte) Spuren schwarzer Geschichte im Expressionismus. Jetzt sind die Frauen an der Reihe. Die Prognose sei gewagt, dass demnächst die Kunst queerer Menschen in den Mittelpunkt rücken wird. Die Kunstsammlung NRW in Düsseldorf wird es ab September 2025 vormachen, indem sie die „Queere Moderne“ würdigt.

Zurück nach Dortmund. Warum nun eigentlich der anglophone Titel: „Tell these people who I am“? Es ist ein Zitat der heute nicht mehr allzu bekannten Keramik-Künstlerin Vally Wieselthier, die im US-Exil selbstbewusst mehr Beachtung für sich und ihre Mitstreiterinnen einforderte. Als Reaktion auf eine Zurechtweisung schrieb sie gegen Ende der 1930er Jahre die titelgebenden Worte in ein Telegramm an den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Er sollte den ignoranten Leuten sagen, wen sie da vor sich hatten!

Nur nackt ins Museum?

Zeitsprung über einige Jahrzehnte: 1989 fragte die Künstlerinnengruppe Guerilla Girls, (nicht nur) bezogen auf die US-Museumslandschaft: „Do Women have to get naked to get into the Museum?“ Mussten Frauen erst nackt sein, um (z. B. als von Männern gemalte  Aktmodelle) ins Museum zu gelangen?

Die jetzige Dortmunder Ausstellung basiert nicht zuletzt auf intensiver Forschung, um „Leerstellen“ in der Sammlung überhaupt erst einmal zu klären. In weiteren Schritten ging es auf die Suche nach passenden Kunstwerken, um solche Lücken schon mal ein wenig zu schließen. Mittel- und langfristig wird angestrebt, die künftige Sammlungspolitik danach auszurichten, also gezielt und dauerhaft mehr „Frauenkunst“ ins Haus zu holen.

An den Rand gedrängt

In Betracht kommen die beiden großen Sammel-Schwerpunkte des Museums Ostwall: der Expressionismus und sodann die Fluxus-Kunst der 1960er und 1970er Jahre. Es war wohl gar nicht so einfach, die weiblichen Perspektiven und Positionen aufzuspüren, sind doch viele Künstlerinnen – zumal aus der Zeit des Expressionismus – der Vergessenheit „anheimgefallen“ bzw. vom ehedem männlich beherrschten Kunstbetrieb willentlich beiseite gelassen oder an den Rand gedrängt worden. Andererseits muss ja auch vermieden werden, Qualitätsansprüche zu senken und womöglich „Quotenkunst“ zu zeigen. Die Ausstellung imponiert denn auch nicht so sehr durch überbordende Fülle, sondern hebt interessante Protagonistinnen hervor.

Bis 1919 nur in Privatschulen zugelassen

Bis 1919 durften Frauen in Deutschland keine staatlichen Kunstakademien besuchen und waren auf (von Kunstkritik und Kunstbetrieb geringgeschätzte) Privatschulen verwiesen. Die waren wiederum so teuer, dass der Weg eigentlich nur für Frauen „aus gutem Hause“ in Frage kam. Unter solchen Bedingungen war es kaum verwunderlich, dass es schien, als sei der Expressionismus eine Männer-Veranstaltung. Die Dortmunder Kuratorin Stefanie Weißhorn-Ponert will zeigen, dass dieser Eindruck nicht stimmt und präsentiert überschaubare Ausschnitte aus acht weiblichen Lebenswerken jener Kunstepoche.

Vally Wieselthier: Mädchenkopf mit Pagenschnitt, 1928 (Galerie bei der Albertina / Zetter, Wien)

Am bekanntesten ist noch die Bildhauerin Renée Sintenis, von der Tierdarstellungen, Sportler-Statuetten und Selbstporträts zu sehen sind. Von Sintenis stammt übrigens auch eine Urform des hernach so weit verbreiteten Berliner Bären, wie er auch als Ehrung bei der Berlinale in Gold und Silber vergeben wird. Manchen Cineasten ist auch noch die Filmemacherin Lotte Reiniger ein Begriff, die vor allem mit Scherenschnitten arbeitete, welche sie beispielsweise zum frühesten abendfüllenden Animationsfilm zusammenfügte, der noch erhalten ist: „Die Abenteuer des Prinzen Ahmed“ (1923-26) heißt das Opus, das aus rund 100.000 Einzelfotos der jeweils sukzessive verschobenen Scherenschnitte besteht. In Dortmund kann man das staunenswerte Ergebnis in Augenschein nehmen.

Erschütternd die Vita der gebürtigen Schlesierin Else Berg, die sich 1910 in Amsterdam niederließ und ab 1914 zu einer Künstlerkolonie in Schoorl bei Bergen aan Zee zählte. Mit ihrer expressionistischen Malerei gehörte sie in die erste Reihe der niederländischen Moderne, doch nachdem sie 1942 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, geriet sie derart in Vergessenheit, dass sie 1951 in einem Dortmunder Überblick zur neueren niederländischen Kunst gar nicht vertreten war. Der ihr gewidmete Raum ist gewiss ein Highlight der neuen Dortmunder Ausstellung.

Typisch „weibliche Genres“?

Madame d’Ora: Anita Berber und Sebastian Droste, Fotografie aus der Tanzproduktion „Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“, 1922 (Österreichische Nationalbibliothek, Wien © Madame d’Ora)

Sehenswert sodann die Tanzfotografien von Dora Kallmus („Madame d’Ora“), die die ausdrucksvollen Auftritte von Anita Berber und Sebastian Droste mit zeittypischem Gestus gültig festhielt. Schon der Titel ihres Kunstbuchs „Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ (1923) klingt expressiv.

Als Wiederentdeckungen dürfen die Grafikerin Emma Schlangenhausen (sakrale Motive, Tierszenen) oder auch die Keramikerin Kitty Rix mit ihrer Lehrerin Vally Wieselthier gelten. Ob Keramik oder auch Seidenstickereien (von Martha Worringer) als eher „weibliche Genres“ wahrgenommen werden, sei dahingestellt. Es wird wohl so gewesen sein, dass männliche Zeitgenossen derlei Kunst belächelt haben.

Unter Einsatz des Körpers

Ein ganz anderes gesellschaftliches Klima äußert sich in den Kunstwerken der Fluxus-Zeit (Kuratorin dieses zweiten Teils: Anna-Lena Friebe). Freilich waren auch damals die Benachteiligungen noch längst nicht vorüber, doch die Gegenwehr nahm – im Umkreis des erstarkten Feminismus‘ – andere Formen an. Mit allen Mitteln bis hin zur Performance und zum Happening zogen Künstlerinnen nun zunehmend Geschlechterrollen (Stichworte: liebende Frau und Mutter, aufopferungsvolle Sorgearbeit) in Zweifel; mitunter geschah dies auf so drastische Weise, dass nun vor einer Nische der Ausstellung eine jener heute weithin üblichen „Trigger-Warnungen“ vor Darstellungen von (sexualisierter) Gewalt zu lesen ist.

Keineswegs nur „dienende“, sondern eigenständige Protagonistin der Fluxus-Szene: „Charlotte Moorman performing Nam June Paik’s Opera Sextronique“, 9. Februar 1976 at Film Makers Cinematheque, NYC / Museum Ostwall im Dortmunder U. (© Dick Preston)

Selbsternannter Fluxus-Guru

Auch im Fluxus und artverwandten Kunstrichtungen ließ man(n) die Frauen nur ungern „mitspielen“. Als großer Guru gerierte sich George Maciunas, der auch Deutungs- und Auswahlhoheit beanspruchte. Da in den 1960ern der herkömmliche Werkbegriff geradezu zerbröselte, lassen sich einzelne Arbeiten eigentlich nur im Kontext der Zeitgeschichte und des Zeitgeistes angemessen beschreiben. Generell kennzeichnend sind die starken Alltagsbezüge und der entschiedene Einsatz des eigenen Körpers. Spontane Handlungen zählen mehr als Dauerhaftigkeit. Mit derlei Instrumentarium ließen sich (unterm Leitsatz „Das Private ist politisch“) persönliche Leidens- und Widerstands-Geschichten ganz anders erzählen, als etwa mit Gemälden oder Skulpturen.

Drastischer Körpereinsatz: Shigeko Kubota „Vagina Painting“, 1964 (Fondazione Bonotto, Colceresa, Italien / Foto Peter Moore © Northwestern University)

Yoko Ono, John Lennon und andere Paare der Kunst

Bemerkenswert zudem, wie sich in den 60ern und 70ern am Horizont ein neues Verständnis von Partnerschaft in Kunst und Leben abzeichnet. Nicht zuletzt sind hier John Lennon und Yoko Ono (in der Ausstellung von ihr zu sehen: die gefilmte Aktion „Cut Piece“, 1964) zu nennen, die einander beispielhaft inspirierten. Das berühmte Foto von ihrem „Bed-In“ aus dem Amsterdamer Hotel darf nicht fehlen, um auf die Erinnerungs-Sprünge zu helfen.

Weitere, eher fachweltlich erörterte Kunst- und Liebesbeziehungen führten Dorothy Iannone und Dieter Roth sowie Alison Knowles und Dick Higgins. Kunst- und Gesellschaftsgeschichte sind an diesen Punkten eng miteinander verwoben. Man versenke sich nur in die oft kleinteiligen, nicht selten hintersinnig-ironischen Handlungsanweisungen einiger Arbeiten. Die Einlässlichkeit kann auf lohnende Zeitreisen führen und dabei allerlei Denk- und Seinsblockaden lockern.

„Tell these people who I am“. Künstlerinnen in Expressionismus und Fluxus. 25. Oktober 2024 bis 23. März 2025. Museum Ostwall im Dortmunder U (6. Ebene). Geöffnet Di, Mi, Sa, So und feiertags 11-18 Uhr, Do und Fr 11-20 Uhr. Eintritt 9 Euro, ermäßigt 5 Euro.

Zur Ausstellung ist ein 222 Seiten starkes „MO-Magazin“ erschienen.

www.dortmunder-u.de
www.dortmunder-u.de/kuenstlerinnen

 

 




Momente großen Gesangs: Elīna Garança wird in der Philharmonie Essen gefeiert

Elīna Garança (Foto: Christoph Köstlin)

Perfekt, schlichtweg perfekt: Wie Elīna Garança die Arie „Mon cœur s’ouvre à ta voix“ aus Camille Saint-Saëns‘ „Samson et Dalia“ fließen lässt, erinnert an die größten Mezzosoprane der Gesangsgeschichte. Der Liederabend der Wiener Kammersängerin in der Philharmonie Essen wurde zum Ereignis.

Begonnen hat die lettische Sängerin im ersten Teil ihres Konzerts mit einem Liedprogramm. Von erinnerter, verschwiegener, verlorener Liebe sprechen die fünf Lieder von Johannes Brahms, denen sie Robert Schumanns Zyklus „Frauenliebe und Leben“ folgen lässt. Garança verbindet den dunkel leuchtenden Klang ihrer Stimme mit einer nie übertriebenen, aber auch nie dem schönen Ton opfernden Artikulation. Der diskret hoch über das Podium projizierte Liedtext ist in den meisten Fällen nicht nötig, hilft aber dem Verständnis und bewahrt vor dem Herumblättern im Programm. Ein Gewinn.

Garança gestaltet als Liedsängerin eher mit den Nuancen ihres abgerundeten Timbres als mit überdeutlicher Wortformung. So könnte der eine oder andere Konsonant prägnanter ausgesprochen sein. Aber wie sie in „Liebestreu“ eine fein nuancierte Dynamik einsetzt, um die Schlüsselworte „Lieb“ und „Treu“ zu akzentuieren, zeugt von eloquenter Gesangskunst. So färbt sie den Schlusssatz „Meine Treue, die hält ihn aus“ mit heroischem Ton zu einem trotzig-verzweifelten Bekenntnis.

Nächtlich duftende Stimmung

Kritik en detail trifft auf höchstes Niveau: „O wüsst ich doch den Weg zurück“ wird bei Elīna Garança zum poetisch sehnenden Zurückträumen in eine selige Kindheit. Dafür findet sie den zärtlich verhaltenen Ton. Aber wenn in der vierten Strophe zum zweiten Mal der Weg ins Kinderland beschworen wird, könnte die Vision eine Spur verhaltener, träumerischer erklingen. Dafür lässt sie die nächtlich duftende Stimmung der „Sapphischen Ode“ in verschattetem Timbre durch die Klänge wehen, ist sich am Schluss der erhabenen Größe des Moments bewusst. Und wenn in „Geheimnis“ die Blütenbäume flüstern, leuchtet die „Liebe süß“ am Ende schwärmerisch auf.

In solchen Momenten hat auch Garanças Klavierpartner Matthias Schulz innige Momente der Poesie und des Bei-Sich-Seins. Es kommt nicht oft vor, dass ein Intendant und Theatermanager – der Intendant der Berliner Staatsoper übernimmt 2026 das Opernhaus Zürich – eine Sängerin dieses Ranges begleitet. Aber Schulz hat am Mozarteum Salzburg Klavier studiert und offenbar seine pianistischen Fertigkeiten weiter gepflegt. Dass er Grenzen hat, wird in Schumanns „Arabeske“ op. 18 aber auch klar: Alle Sorgfalt der Artikulation und des Tempos verhindern nicht, dass die melodische Anmut oder die Frische der Bewegung in den „Kinderszenen“ op. 15/1 ein wenig matt bleiben.

Schumanns „Frauenliebe und Leben“ ist der Sängerin besonders ans Herz gewachsen, erzählt sie. Ihre Mutter, ebenfalls ein Mezzosopran, habe den Zyklus öfter gesungen. Elīna Garança kann „Seit ich ihn gesehen“ so zärtlich weltenthoben singen, dass der atemraubende Wirrwarr der Gefühle des frisch verliebten Mädchens im Klang der Stimme offen liegt. Die optimistisch verklärende Betrachtung des „Herrlichsten von allen“ strahlt in schimmerndem Mezzo-Gold auf. Ihr enthusiastischer Ton, die drängende Bewegung in der Stimme stellen den inneren Aufruhr unmittelbar dar, ohne dass Garança die Noblesse ihres Tons an künstliche Färbungen oder deklamatorische Schärfen verraten müsste. Berührend das tonlose Piano am Ende des letzten Liedes: Da hat sich ein Mensch wirklich in sein Innerstes zurückgezogen und ist „nicht lebend mehr“.

Oper in Feuerrot

Nach der Pause – wie es in Italien bei Gesangsrezitals stets erwartet wird – der Block mit den großen Arien, jetzt in feuerroter Robe. Zunächst heiße Liebesflammen aus Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“, gesungen mit saftiger Tiefe, einem phänomenalen Sprung über den Registerwechsel nach oben, einer blühenden Expansion, aber auch angestrengter Höhe. Dann die Arie der Dalila mit ihrer schmeichelnd-sinnlichen Glut in einem goldflüssigen Ton, der nicht freier, gerundeter, erfüllter erklingen könnte. Schließlich „Voi lo sapete“ aus „Cavalleria rusticana“, leidenschaftlich und wortsensibel, aber so edel geformt, dass der wilde Verismo Pietro Mascagnis – zu hören etwa bei seiner sich verausgabenden Uraufführungs-Santuzza Lina Bruna Rasa – nobel geglättet erklingt.

Das Finale sollte fröhlicher sein: Ruperto Chapí, Meister der spanischen Zarzuela, scheint seine charmanten Liebesgesänge der Garança auf die Stimme geschrieben zu haben, so edel, temperamentvoll und lebensfroh erklingen die beiden Stücke. Als Zugabe darf die Habanera der „Carmen“ nicht fehlen – wie bei der großen Teresa Berganza ohne Vulgarität, aber nicht so kühl dargeboten. Als sympathischer Gruß an ihre lettische Heimat eines der rund 600 Lieder und Liedbearbeitungen von Jāzeps Vītols, Gründer der lettischen Musikakademie, dem Institut, an dem Elīna Garança studiert hatte, bevor sie ihr erstes Opern-Engagement im thüringischen Meiningen unter der Intendanz der späteren Dortmunder Opernchefin Christine Mielitz angetreten hat. Herzlicher, langer Beifall.




„Try Praying“ – Endzeit-Gedichte von Sibylle Berg

Gedichte von Sibylle Berg? Na, das wird was sein. Bestimmt verdammt cool, hinreichend schnoddrig und von der Lebenswelt rundweg angewidert, oder? Mh. 

„Try Praying“ – ungefähr „Versucht`s mit Beten“ – heißt der schmale Band, der vermeintlich „Gedichte gegen den Weltuntergang“ versammelt. Doch sind es nicht eher Texte, die dem Weltuntergang und artverwandten Phänomenen folgen wie einem Sog, mithin Gedichte v o r dem oder z u m Weltuntergang, Endzeit-Gedichte, Singsang zum Tode?

„Es beinhaltet Trauer“

Zu den Gedichttiteln wird meist in Klammern eine lässig hingesetzte Angabe über Ingredienzen geliefert (z. B. „Es beinhaltet Nager und irgendwie auch einen Sonntag“, „Es enthält Fleischfresser“, „Es beinhaltet Trauer“, „Es geht irgendwie ums Geworfensein“ – na, und so weiter). Es sind bestimmt keine Klarstellungen.

„…er brachte noch den Müll hinaus“

Poesie wird hier offenbar nicht mit heiligem Ernst betrieben. Wohl aber mit einem gewissen Furor und manchmal sogar hitzig. Es geht ja durchaus entschieden zur Sache – zwischen völliger Lebensverfehlung aller Art, abgründigen Einsamkeiten und vorzugsweise Freitod. Da ist zum Beispiel jener bestürzend einsame Mann namens Frank (Frau gestorben, heilloses Alleinleben, selbst das Haustier verlässt ihn schließlich – für einen Hahn), dessen Ableben so lakonisch registriert wird: „Herr Frank zog seinen Mantel aus / er brachte noch den Müll hinaus / Dann machte er das Fenster auf / und warf sich in den Himmel raus.“ Das hört sich beinahe an wie pechschwarze „Struwwelpeter“-Verse. Soll man diesen Klang als Ausdruck von Mitleidlosigkeit verstehen? Oder als Ausfluss tiefster Enttäuschung und Betrübnis?

„Ihr habt genug herumgehampelt“

Ein andermal ergreift der Tod selbst das Wort und herrscht die Sterbenden an, sich nun hurtig ins Ende zu fügen:

Es kann doch nur noch besser werden.
Was war das für ein Stress auf Erden.
Habt gelitten und gestrampelt,
Und Ruhe jetzt, das sage ich –
Ihr habt genug herumgehampelt.

Wer will, mag sich hier vage an barocke Vergänglichkeits-Dichtung erinnert fühlen. Andererseits ist vielleicht auch eine Spur Comedy darin. Wahlweise Monty Python oder Otto Waalkes, um es mal mittelweit herzuholen.

Vom Unsinn zur Sinnlosigkeit

In dieser katastrophalen Welt ist der Mensch an und für sich prinzipiell allein, jede noch so sehr ersehnte dauerhafte Zweisamkeit erweist sich als lächerliche Illusion. Jenseits des Begehrens, überhaupt jenseits von Glaube, Liebe und Hoffnung schnurren oder klappern die (zuweilen auch schon mal etwas holprig) gereimten Gedichte gnadenlos ab. Auch der Geschlechtsverkehr erscheint als gar trüber Vorgang: „Die Frauen liegen danach nackt / Und ohne Frage sind sie munter / Sie müssen dann ins Bad noch gehn / Und holn sich traurig einen runter.“ Man vergleiche diesen Befund mit Robert Gernhardt, der einst exakt denselben Reim in ganz anderem Sinn bzw. Unsinn verwendet hat: „Der Kragenbär, der holt sich munter / einen nach dem andern runter“. Wo Gernhardt den Nonsens zelebriert, beschwört Berg die finale Sinnlosigkeit. Um präventiv abermals Gernhardt zu zitieren: „Nicht vergleichbar? Na, dann nicht!“

Doch noch ergreifende Momente

Hinter fast jedem dieser Gedichte erhebt sich die Frage, ob die ganze Quälerei (sei’s im Zwischenmenschlichen oder in der Arbeit) schon das Leben gewesen sein soll. Restliche Zuversicht, falls sie den Namen verdient, kommt allenfalls augenblickshaft vor. Demgemäß zeigt das Cover einen hellen Stern und Kometenschweif, als könne das Wünschen und Beten sekundenweise doch noch helfen. Eigentlich dementiert fast jede Zeile derlei Sehnsucht – und doch ahnt man, in berührenden Momenten, einen Drang zur Erlösung. Aus solchem Widerstreit entstehen denn doch einige ergreifende Gedichte, u. a. „Ein Trennungsgedicht“, „Ein Männer-Paar-Gedicht“ oder „Ein Meta-Mitarbeiter-Gedicht (Kann auch auf Alphabet, Spotify, alles mit Cloudkapital angewendet werden).“

Nach dem Ende der Menschheit, das hier selbstverständlich mehrfach in Betracht kommt, könnte wohl nur noch Künstliche Intelligenz (KI oder AI) Gedichte verfassen, doch Sibylle Berg versichert immerhin knapp, sie käme niemals auf die Idee, sich solcher Hilfsmittel zu bedienen (was angesichts des Endes der Gattung allerdings ziemlich wurscht ist).

Und der Schlussakkord? Kommt einigermaßen rüde daher. Um in diesen Zeiten zu überleben, gelte es hart zu werden und sich zu stählen, heißt es da sinngemäß. Schließlich die allerletzte Zeile: „…fickt euch ins Knie und gute Nacht!“ – Herzliche Grüße retour.

Sibylle Berg: „Try Praying. Gedichte gegen den Weltuntergang“. Kiepenheuer & Witsch. 112 Seiten, 16 Euro.

 




„Reality Check“ im Kunstmuseum Ahlen: Wirklichkeit auf dem Prüfstand

Theresa Möllers waldähnliche „Verwicklungen“: „Entanglements“ (2023), Acryl auf Leinwand, 140 × 170 cm (© Courtesy: She BAM! Galerie Laetitia Gorsy, Leipzig + VG Bild-Kunst, Bonn 2024)

Seit etlichen Jahren kursieren medial und zumal im Internet zahllose Fake News oder andere Lügen. Mit einer entfesselten KI-Revolution dürfte sich all das noch ungemein beschleunigen. Hohe Zeit also auch für die Kunst, die Realität und deren Gegenkräfte zu überprüfen. Obwohl: Bewegen sich die Künste nicht seit jeher irgendwo zwischen Wirklichkeit und Vorstellung? Ist nicht gerade das ihre eigentliche Domäne?

Nach fast jeder mittelprächtigen TV-Talkshow gibt es mittlerweile einen „Faktencheck“. Nun will das Kunstmuseum Ahlen die so genannte Wirklichkeit und deren divergierende Wahrnehmung ausloten. „Reality Check“ heißt die neue, von Museumsleiterin Martina Padberg kuratierte Ausstellung, die 16 aktuelle künstlerische Positionen mit rund 75 Arbeiten verschiedener Sparten (Malerei, Skulptur, Fotografie, Installation, Digitalität) versammelt. Der Untertitel lautet: „Wenn Dinge nicht sind, wie sie scheinen“.

Katalog in vierfacher Ausfertigung

Die Irritation beginnt schon mit dem Cover des Katalogs (20 Euro), das gleich in vierfacher Ausfertigung vorliegt und einem die Wahlmöglichkeit lässt: „Welche Version hast d u denn?“ Nun, das ist noch harmlos. Im Verlauf des Rundgangs kann man jedoch so manches Mal über Ausgeburten zwischen Realität und Irrealität oder über die spezielle Ästhetik allfälliger Katastrophen erschrecken. Die meisten Exponate, durchweg von achtbarem bis beachtlichem Niveau, lassen einen nicht unberührt.

Nun können wir hier nicht alle Künstlerinnen (11 an der Zahl, dazu 5 männliche Mitstreiter – in früheren Zeiten war’s meist umgekehrt) einzeln würdigen, sondern nur ein paar Schlaglichter werfen. Generell scheint es, als werde die Wirklichkeit gerade dann auf hintersinnige Weise fraglich, wenn sie in der Kunst überdeutlich, sozusagen fotorealistisch dargestellt wird. Frappierend beispielsweise die malerische (!) Arbeit von Jochen Mühlenbrink, der eine beschlagene Spiegelscheibe mit vermeintlich flüchtig hingeworfenem Strichmännchen-Gesicht als raffinierte Augentäuschung (Trompe l’loeil) vor uns hinstellt. Was mit einem echten Spiegel und flinker Fingerübung vielleicht zwei Sekunden dauern würde, erfordert größte Sorgfalt bei der malerischen Umsetzung.

Blick in einen Raum der Ahlener Ausstellung: vorne eine Skulptur von Ulrike Buhl („Implosion“), im Hintergrund Gemälde von Stephanie Pech. (Foto: Bernd Berke)

Sich vor lauter Linien den Wald vorstellen

In Theresa Möllers waldartigen Farblandschaften glauben wir nur deshalb lauter Bäume zu erkennen, weil uns echte Wälder so vertraut sind. In Wahrheit zeigt sich hier eine ganz andere Realität, jenseits unserer Erfahrungen. Die Konstruktion von Wirklichkeit hat überhaupt sehr viel mit nicht gerade objektiver Wahrnehmung zu tun. Letztlich nur folgerichtig, dass der Ausstellungskatalog auch einen Beitrag von Prof. Andreas Heinz enthält, seines Zeichens Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, der Wahrnehmungs-Verzerrungen in psychotischen Zuständen erläutert. Künstlerische Imaginationen und Halluzinationen sind beileibe nicht dasselbe, haben aber wohl subkutan damit zu tun und können bis zum mehr oder weniger kontrollierten Wahn eskalieren. Unterdessen führt uns diese Ausstellung sicherlich nicht zu finalen Wahrheiten, sie stellt aber mancherlei Gewissheiten in Frage. Was schon eine Menge ist.

Schmelzender Gletscher, „sprechende“ Pflanzen

Bemerkenswert Felix Contzens zunächst eher meditativ erscheinende, doch eigentlich beunruhigende Arbeit „Bradinnis“, in der sich das Abbild eines isländischen Gletschers mit dem gespenstisch überlagernden Prozess des Abschmelzens verbindet. Durch die Projektion wird eine unterschwellige, aber sehr wirkmächtige Realität sichtbar, die sonst womöglich übersehen werden könnte. Es ist in dieser Schau übrigens nicht das einzige Werk mit ökologischem Ansatz.

Katja Davar: „Still dreaming, she knew it was time to set sail“ (2023), Schwarzer Buntstift, schwarzes und silbernes Grafitpulver und Firnis auf 250-Gramm-Papier collé, 145 × 230 cm (Foto: Mareike Tocha, Köln, © Courtesy: Bernhard Knaus Fine Art, Frankfurt am Main und VG Bild-Kunst, Bonn 2024)

Sodann mag man sich in den subtil rätselvollen Zeichnungen von Katja Davar verlieren, die Formationen aus diversen Zusammenhängen und Jahrhunderten (darunter gar ein Fliesenornament aus dem Ahlener Museum) zu silbriggraublau unterlegten Traumszenen fügt – auf tatsächlich geradezu traumwandlerische Weise. Auch führt sie aus dem Reich des (für uns) Unsichtbaren vor, wie Pflanzen insgeheim miteinander kommunizieren. Das wollten wir doch immer schon mal gewusst haben. Und sei’s halt in der Imagination.

Bilder im chemischen Wandel

Silke Albrecht collagiert Schicht für Schicht Farbereignisse, die u. a. gesprayte, fotografierte und genähte Elemente enthalten. Auch experimentiert sie mit chemischen Reaktionen, die bestimmte Lacke auf Kupferplatten einleiten können. Wahrscheinlich werden solche Bilder eines Tages anders aussehen als jetzt, sie sind prinzipiell unfertig, so dass ihre Wirklichkeit eben dem Wandel und buchstäblich dem Wirken unterworfen ist. Während der begrenzten Ausstellungsdauer sind freilich noch keine grundlegenden Mutationen zu erwarten.

Das Thema wird immer wieder neu und anders umkreist: Caroline Hake hat sich von den glatten Oberflächen der Fernseh-Kulissenarchitekturen (Sendungen wie „Glücksrad“ und „Wahre Wunder“) zu großformatigen Bildern inspirieren lassen. Die Illusions-Welten werden bis zur Abstraktion ausgereizt und auf den bildlichen Begriff gebracht.

Achim Mohné: „Der Wolf vom Königsforst und das Mädchen“ (2020/24), multimediale Installation, 3-D-Rendering, 4K-Video, VR, AR, 3-D-Druck, Vintage-Figurinen und UV-Druck auf Tapete, Rauminstallation im Kunstmuseum Ahlen (© VG Bild-Kunst, Bonn 2024)

Virtuelle Welt mit Wölfen und Populisten

Beherzter Sprung ins oberste Stockwerk, wo Achim Mohné eine vielfältige, ständig anwachsende virtuelle Welt erschaffen hat, die mit eigenem Handy oder geliehener VR-Brille „belebt“ werden kann. Hier herrscht zwischen Wirklichkeit und Trug vollends Verwirrung, zumal der Künstler auch KI-generierte Szenen einbaut. Es geht zudem um politische Fakes, sieht man doch zwischendurch Björn Höcke und Donald Trump ihre wüsten Reden schwingen, wobei Höcke mit der abgehackten Kunstsprache von Chaplins „Der große Diktator“ unterlegt wird. Überdies geht es um das Auftauchen von Wölfen und ferner um eine Urfassung des „Rotkäppchen“-Stoffs, die gar nicht gut ausgeht. Dass das ganze Amalgam die Betrachtenden gründlich überfordert, gehört innig zum Konzept. Geht es uns denn heute nicht just so: dass wir oft kaum noch zu unterscheiden vermögen, ob etwas Substanz hat, ob es „stimmt“ oder nicht?

P. S.: Quasi als Katalog-Schlusswort wird Bundesliga-Schiedsrichter Sascha Stegemann zitiert, der geradezu philosophisch sinniert: „Die Menschen neigen dazu zu glauben, dass das, was sie sehen, Realität ist. Aber wie wirklich ist unsere Wirklichkeit wirklich?“ Bei der nächsten irrwitzigen VAR-Entscheidung * werden wir dran denken.

„Reality Check. Wenn Dinge nicht sind, wie sie scheinen“. Kunstmuseum Ahlen, Museumsplatz 1, 59227 Ahlen. Vom 13. Oktober 2024 bis zum 26. Januar 2025. Geöffnet Mi-Sa 15-18 Uhr, So und feiertags 11-18 Uhr.

www.kunstmuseum-ahlen.de

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* Für Fußball-Laien: VAR = Video Assistant Referee, immer wieder umstrittenes Kontrollorgan für Schiedsrichter-Entscheidungen




Klangsammler mit feiner Feder: Das Konzerthaus Dortmund würdigte Beat Furrer zum 70. Geburtstag mit einer „Zeitinsel“

Der Komponist Beat Furrer deutet auf die schroffen Kalkgipfel im Gesäuse, einer Gebirgsgruppe in der Steiermark, die größtenteils zum Nationalpark erklärt wurde. (Foto: Konzerthaus Dortmund)

Er wehrt sich gegen das Bild des versponnenen Elfenbeinturm-Bewohners. Obwohl der Komponist Beat Furrer, gebürtiger Schweizer, in einem abgeschiedenen Forsthaus in den österreichischen Bergen arbeitet, beteuert er im Podiumsgespräch mit dem Konzerthaus-Intendanten Raphael von Hoensbroech: „Ich möchte mich nicht zurückziehen. Ich lebe in dieser Welt und nehme Anteil an ihr.“ Das Konzerthaus Dortmund würdigte Beat Furrer aus Anlass seines 70. Geburtstags mit einem fünftägigen „Zeitinsel“-Festival.

Nachdem die „Zeitinseln“ der vergangenen Jahre Sofia Gubaidulina und Arvo Pärt porträtierten, entwickelte das Konzerthaus-Team die aktuelle Ausgabe in enger, persönlicher Zusammenarbeit mit dem Komponisten. Wie hoch die Musikwelt Furrers Werke schätzt, lässt sich an seiner Vita ablesen: Er ist Träger des Ernst von Siemens Musikpreises, des großen österreichischen Staatspreises für Musik und des goldenen Löwen der Biennale von Venedig, zudem Gründer des Klangforum Wien. In diesem Sommer war er Residenzkünstler beim Lucerne Festival.

Beat Furrer wurde am 6. Dezember 1954 in Schaffhausen geboren. (Foto: Manu Theobald)

Furrer ist ein Künstler, der seine Worte abwägt. Der gründlich nachdenkt, bevor er sich über sein Werk äußert. Statt ihm ungeduldig ins Wort zu fallen, gesteht der Konzerthaus-Intendant ihm im Podiumsgespräch die Zeit zu, seine Gedanken zu sortieren. So erfahren die Besucher Interessantes über diesen Klangsammler, der im steirischen Nationalpark, dem so genannten Gesäuse, oft den leisen Stimmen der Natur nachlauscht: dem Glucksen von Wasser, dem Flüstern des Windes, den nachts aus dem Wald tretenden Tieren. Er bezeichnet das nicht als Idylle, sondern als Ort der Konzentration.

Als „Komponist des Leisen“ ist er schon bezeichnet worden, aber in derlei Schubladen mag er nicht gesteckt werden. Furrer mag keine Verkürzungen, keine Klischees. Tatsächlich spielt das Laute, der Schrei, in seiner Musik eine nicht minder wichtige Rolle. Wenn er in Wien sei, verschließe der Lärm der Stadt ihm aber die Ohren: „Das sind Geräusche ohne Raum.“ Auch die Sprache spielt in Furrers Schaffen eine wesentliche Rolle, weil die Musik sich immer nah an der Stimme entwickelt hat.

Vergleiche sind heikel, aber womöglich sind Salvatore Sciarrino und Helmut Lachenmann zumindest Geistesverwandte dieses Komponisten, weil auch sie stille, oft geräuschhafte „Hörmusiken“ schaffen, die die Wahrnehmung schärfen. Luigi Nono hat ihn in jungen Jahren stark beeinflusst. Das Hören, sagt Furrer, sei „ein Weg zum anderen“. Er findet es bedenklich, wie sehr es in unserer Zeit abhandenzukommen droht.

Dirigent Zoltán Pad und das Chorwerk Ruhr gestalteten den ersten Abend der Furrer-„Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Oliver Hitzegrad)

Blickt man auf die feine Notenschrift in Furrers Partituren, bekommt man eine Ahnung davon, wie dieser Klangsammler sein Material sortiert und strukturiert. Qualität und Schlüssigkeit sind ihm wichtig, kein Ton darf zu viel sein. Das zeigt sich deutlich in seinem siebenteiligen „Enigma“-Zyklus. Es handelt sich dabei um A-cappella-Chorwerke auf Texte von Leonardo da Vinci, die das Chorwerk Ruhr zum Auftakt der Zeitinsel mit Gesängen aus der Renaissance verschränkt.

Furrers tönende Rätsel nehmen das Ohr sofort gefangen. In „Enigma I“ säuseln und sirren die Frauenstimmen, wogen hin und her wie ein fortwährendes Echo. Die Männerstimmen treten geheimnisvoll und leise hinzu, bis sich die Musik zum Aufschrei steigert. Viel Mysteriöses ist auch im weiteren Verlauf zu hören: Von Atemgeräuschen erfüllte Pianissimogefilde, isolierte Vokale, raunender Sprechgesang. Zu den Worten „Aus dunklen Höhlen wird etwas hervorkommen“ pirscht sich in „Enigma VI“ ein düster-diffuser Klang heran, leise und bedrohlich.

Das Chorwerk Ruhr versteht sich glänzend auf Furrers klangliche Aggregatzustände, auf seinen komplexen Reichtum von Klanglichkeiten. Unter der Leitung von Dirigent Zoltán Pad kontrastieren sie seinen Zyklus mit liturgischen Gesängen von Orlando di Lasso, Giovanni Gabrieli und Antonio Lotti. Da tritt dem Dunklen und Geheimnisvollen strahlende Glaubensgewissheit gegenüber.

(www.konzerthaus-dortmund.de)




Abgründe der Liebe – „Das Buch der Schwestern“ von Amélie Nothomb

Die Liebe zwischen Nora und Florent ist ausschließlich und selbstsüchtig. Jeder andere ist ein Störfaktor, wenn sie sich mit Blicken verschlingen und vor Begehren kaum an sich halten können.

Was sollen sie mit einem Baby anfangen? Doch plötzlich haben sie eine Tochter, taufen sie auf den Namen Tristane, überlassen das traurige Wesen ganz sich selbst und seiner kindlichen Fantasie. Schnell merkt die einsame Tristane, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen muss.

Die schiere Lust an neuen Worten

Tristane bringt sich das Sprechen und Lesen bei, fängt Wörter mit einem imaginären Lasso ein: „Wenn sie hinreißende Wörter wie Tamburin oder Schaukelpferd aufschnappte, verfiel sie in helle Aufregung“, sie erschauerte vor Lust, „als sie zum ersten Mal so tollkühn war, das Wort Marienkäfer in den Mund zu nehmen; und als sie sich das Wort Gartenschlauch einverleibte, verging sie fast vor Entzücken.“

Amélie Nothomb, 1967 als Tochter eines belgischen Diplomaten im Japanischen Kobe geboren, ist in Frankreich und Belgien ein Literatur-Star, überrascht mit jedem Buch aufs Neue. Sie liebt feinsinnige Anspielungen und abgründige Irrfahrten durch die Welt der Worte, die mehr verbergen als aussagen. Ihren Geschichten haftet immer etwas Geheimnisvolles und Bizarres, Märchenhaftes und Absurdes an. In Leerstellen und im Unausgesprochenen stochern irritierte und zugleich entzückte Leser nach Bedeutung und Sinn der rätselhaften Romane.

Was die von ihren Eltern, die nur einander, aber sonst niemand anderen lieben können, vernachlässigte Tristane ertragen muss, um nicht im Meer der Einsamkeit unterzugehen, hat etwas Aussichtsloses und Traumatisches. Erlösung findet Tristane allein in der Liebe zu ihrer kleinen Schwester, Laetitia, ein fröhliches und unbeschwertes Wesen, das schon mit acht Jahren weiß, was sie einmal werden will: Gitarristin auf den Spuren von Jimi Hendrix und Jimmy Page und Sängerin in einer Hard-Rock-Band.

Die Eltern endlich verbannen

Ohne Laetitia, die sich selbstbewusst durchs Leben boxt und durch jeden Rückschlag nur noch stärker wird, würde Tristane, die von allen wegen ihrer Intelligenz geachtet, aber als „graue Maus“ von niemandem wirklich wahrgenommen wird, keinen Tag überleben und nicht alt genug werden, um im reifen Alter vielleicht doch noch ein spätes Glück zu finden und ihre selbstverliebten Eltern dahin zu verbannen, wohin sie gehören: in den Hades des Hasses und in den Orkus des Vergessens.

Überraschende Wendungen

„Das Buch der Schwestern“ ist eine raffiniert gebaute und sparsam erzählte Geschichte über die Abgründe der Liebe. Vieles von dem, was sich erst nur im Kopf der kleinen Tristane und später in ihrem von literarischen und erotischen Leidenschaften zerfressenen Leben ereignet, muss sich der Leser selbst zusammenreinem. An jeder Ecke wartet eine überraschende Wendung und ein stolpernder Neuanfang. Abenteuerreisen in die Literatur-Geschichte werden collagiert mit kernigen Rock-Songs; einfühlsame Liebesbriefe der Schwestern vermischen sich mit schmerzlichen Beleidigungen der Eltern.

Auch in gebildeten, gut bürgerlichen Familien lauert der Wahnsinn der Welt und die Verrücktheit der emotionalen Verlotterung. Die Vielschreiberin Amélie Nothomb, die fast jedes Jahr einen Roman herausbringt, hat ein schmales, aber ungemein reiches Buch geschrieben.

Amélie Nothomb: „Das Buch der Schwestern“. Roman. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes, Zürich 2024, 159 S., 23 Euro.




Vom Mysterium des Dirigierens: Klaus Mäkelä stellt sich als Porträtkünstler in Essen vor

Klaus Mäkelä (Foto: Marco Borggreve)

Da ist der Intendantin der Essener Philharmonie ein Coup gelungen. Noch bevor die Vermarktungsmaschinerie den 28jährigen Klaus Mäkelä richtig zwischen die Zahnräder bekam, hatte Babette Nierenz den kommenden Star für ein Künstlerporträt verpflichtet. Drei Mal kommt der gefragte junge Finne also nach Essen.

Das erste Konzert mit dem Concertgebouw Orkest, das er ab 2027 als Chefdirigent leitet, liegt bereits hinter ihm. Das zweite mit den Wiener Philharmonikern und der 1906 in Essen uraufgeführten Sechsten von Mahler findet am 19. Dezember statt. Und das dritte am 1. März 2025 bestreitet Mäkelä mit dem Orchestre de Paris, als dessen Musikdirektor er seit 2021 fungiert.

Es hat in den letzten Jahren keinen jungen Dirigenten gegeben, der so rasch und strahlend aufgestiegen ist wie dieses Wunder am Pult. Was ist sein Geheimnis? Wie fasziniert er die großen Orchester, die er in den letzten fünf Jahren quasi aus dem Stand heraus für sich gewonnen hat?

Mit 21 leitete er das Schwedische Radio-Sinfonieorchester, mit 22 ernannten ihn die Osloer Philharmoniker zu ihrem Chefdirigenten. Seither scheint es, als sammle er Orchester wie Trophäen: Münchner Philharmoniker, Bamberger Symphoniker, London Philharmonic Orchestra, Luzerner Festival Orchestra, Berliner Philharmoniker. In dieser Saison debütiert er mit den Wiener Philharmonikern und ist „Focus Artist“ im Wiener Musikverein. Ab 2027 folgt ein Chefposten bei gleich zweien der besten Orchester der Welt, dem Concertgebouw Amsterdam und dem Cleveland Orchestra. Wie geht das?

Schwindelerregender Terminplan

Ein Blick auf den Terminkalender seiner Webseite macht ebenfalls staunen und schwindlig: Anfang Oktober Mahlers Neunte in Paris, Mitte Oktober Mahlers Dritte in Cleveland. Dann eine Serie von Konzerten mit seinem Osloer Orchester in Brüssel, Stuttgart, Wien, Hamburg und am 3. November mit Strawinskys Violinkonzert und Tschaikowskys Vierter in Dortmund.

Drei Tage später das Orchestre de Paris mit Strauss‘ „Tod und Verklärung“, Messiaens „L’Ascension“, Faurés „Requiem“ und der Uraufführung von „Lux Aeterna“ von Thierry Escaich. Dann Zwischenspiel beim London Symphony Orchestra, bevor es mit dem Concertgebouw auf USA-Tour geht. In New York erklingt dasselbe Programm wie vor kurzem in der Essener Philharmonie: Schönbergs „Verklärte Nacht“ und Mahlers Erste Sinfonie. Man darf davon ausgehen, dass die Carnegie Hall ausverkauft sein wird – im Gegensatz zu Essen, wo erstaunlich viele Plätze frei geblieben sind. Es braucht offenbar mehr als eine Exklusivvertrag bei Decca und hochgerühmte Sibelius- und Schostakowitsch-Aufnahmen, um den Instinkt der Essener Kulturwelt zu animieren.

Jetzt sind wir im Fahrplan wohlgemerkt erst Mitte November. Bis Mäkelä vor Weihnachten nach Essen zurückkehrt, hat er noch seine Orchester in Oslo und Paris mit anspruchsvollen Programmen (Brahms, Berlioz) zu leiten, bevor er sich am 13. Dezember mit Mahlers Sechster im Wiener Musikverein vorstellt. Die Essener Konzerte sind komischerweise in seinem „schedule“ nicht aufgeführt – was man auch immer daraus schließen mag…

Schlichtweg eine Jahrhundert-Begabung 

Ja, wie geht das? Dass in Mäkelä eine Jahrhundert-Begabung schlummerte, die sich nun vehement Bahn bricht, dürfte unbestreitbar sein. Denn er ist ja kein tourender Kapellmeister, der sich überall präsent setzen will. Dazu sind – bei allen Vorbehalten – die künstlerischen Ergebnisse zu bemerkenswert. Liegt das Geheimnis vielleicht in seinem Umgang mit den Orchestern? Pflegt er einen empathischen, partnerschaftlichen Stil, der bei den Musikern Höchstleistungen hervorruft, ohne Druck, ohne Zwang, ohne Beklemmung? Er ermuntere, statt zu fordern, heißt es. Er sehe die Musiker als Individuen, schaffe eine familiäre Atmosphäre, gehe auf die Einzelnen ein. Das klingt ein wenig nach Orchester-Wellness, doch Mäkelä kann nicht bloß der gute Kumpel am Pult sein; er begnügt sich nicht mit beflissener Spiel-Perfektion.

Und sein Alter? Kein Argument: Arturo Toscanini war 31, als er an der Scala debütierte, Hermann Scherchen im gleichen Alter, als er Nachfolger Furtwänglers in Frankfurt wurde. Claudio Abbado dirigierte mit 28 an der Scala. Daniel Barenboim begann seine Dirigentenkarriere mit 25 und war mit 32 Chefdirigent des Orchestre de Paris. Bruno Walter war 25, als er unter Mahler Kapellmeister an der Wiener Hofoper wurde.

Das Charisma der Großen

Vielleicht stimmt es doch, dass Dirigieren ein „Mysterium“ ist. Dass es jenes unbestimmbare, aber deutlich zu spürende Charisma ist, das einen versierten oder sogar perfekten Dirigenten von einem der Großen unterscheidet. Meine bisherigen Live-Erfahrungen mit Klaus Mäkelä waren zwiespältig: Bei Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ in Essen stimmte die Dramaturgie zwischen Idylle und Exaltation. Vor zwei Jahren lieferte er mit dem Concertgebouw Orkest in Köln eine Sechste, deren Scharfschnitt und Präzision geradezu unheimlich waren, weckte aber nicht den Eindruck, sich auf die wirklichen Abgründe Mahlers eingelassen zu haben. Die Chance, es mit Hilfe der Mahler-Erfahrung der Wiener Philharmoniker nun überzeugender zu machen, hat Mäkelä im Dezember.

Klaus Mäkelä und das Concertgebouw Orkest in der Essener Philharmonie. (Foto: Volker Wiciok/TuP)

Jetzt in Essen hinterlässt die Erste Symphonie einen gereifteren Eindruck. Brillanz und Streben nach Perfektion wirken nicht so glatt und geheimnislos wie der Kölner Mahler. Und das liegt nicht am Stück, denn Mahler war als 28-Jähriger bereits „fertig“, schrieb eine Musik jenseits des Suchens und Tastens nach dem persönlichen Ausdruck. Emotionale Extreme, das Aufeinanderprallen von Banalität und Transzendenz, musikalische Idiome zwischen Choral und Volksmusik – all das ist in der Ersten schon ausgereift.

Keine Ironie, keine Groteske?

Mäkelä scheint sich dennoch mehr für rein musikalische Vorgänge als für Stimmungen, Rhetorik oder gar Programmatisches zu interessieren (das Mahler, wie den hartnäckig weiterbenutzten Titel „Titan“, ja aus guten Gründen getilgt hat). Darin ist sein Blick klar und unbestechlich: Die Entwicklung von der gestaltlosen Klangfläche des Beginns über fragil gespielte motivische Ansätze bis zum liedhaften Thema ist unter seinen Händen ein wunderbar ausbalancierter Vorgang. Mäkelä achtet darauf, dass strukturell wichtige Momente wie das für die Durchführung bedeutende Motiv der Celli entsprechend hervorgehoben werden. Steigerungen hält er im Zaum, um das Fortissimo-Pulver nicht gleich zu verschießen. Die finale Trompetenfanfare und das Aufzischen der Becken ist minutiös vorbereitet. Der Effekt sitzt nicht als solcher, sondern als Kulminationspunkt einer logischen Entwicklung.

Neue Mahler-Lesart jenseits jeglicher Ironie

So ließe sich von der stampfenden Rhythmik des zweiten Satzes und seinen lockeren Kontrast im Trio über die düster lauernde Atmosphäre des „feierlich und gemessen“ betitelten Trauermarschs mit seiner makabren Ironie bis zur souveränen Strukturierung des Finalsatzes Punkt für Punkt Rechenschaft ablegen über Mäkeläs Scharfsicht. Und man fragt sich so langsam, ob dieser junge Kopf nicht auf blitzgescheite Weise eine Mahler-Lesart einführen will, die sich jeglicher Ironie, jeglicher Uneigentlichkeit, jeglicher Groteske oder Parodie „in Callot’s Manier“ (so Mahlers ursprüngliche Beschreibung des dritten Satzes mit Bezug auf E.T.A. Hoffmann) entziehen will – konzentriert auf die reine Musik, bedeutungslos wie ein Gemälde Gerhard Richters, bei dem man sich nicht fragen darf, was der Rausch der Farben bedeutet und worin die Transzendenz der Form liegen könnte. Die Antwort wird die Zukunft geben, live zu verfolgen im Dezember in der Philharmonie Essen.

Klaus Mäkelä kommt wieder mit dem Oslo Philharmonic Orchestra am Sonntag, 3. November ins Konzerthaus Dortmund und am Donnerstag, 19. Dezember mit den Wiener Philharmonikern in die Philharmonie Essen. Am Samstag, 1. März 2025 ist er hier auch mit dem Orchestre de Paris zu Gast. Info: www.theater-essen.de




Seelenfenster geöffnet: Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in Krefeld-Mönchengladbach

Sofia Poulopoulou als Tatjana in der Inszenierung von Helen Malkowsky am Theater Mönchengladbach. (Foto: Matthias Stute)

„Eugen Onegin“ hat in diesem Jahr Konjunktur in Nordrhein-Westfalen. Bonn, Düsseldorf und Krefeld-Mönchengladbach zeigten Peter Tschaikowskys Meisterwerk. In Mönchengladbach wird die Inszenierung nun wieder aufgenommen.

Am 25. Februar dieses Jahres näherte sich Michael Thalheimer in Düsseldorf den „Lyrischen Szenen“ in einem harten hölzernen Verschlag von Henrik Ahr mit strengem, unbestechlich beobachtendem Minimalismus, gestützt von der leidenschaftlichen Lesart des neuen GMD der Rheinoper, Vitali Alekseenok (Wiederaufnahme war am 28. September). Nur eine Woche später präsentierte Regie-Shootingstar Vasily Barkhatov eine detailverliebte, psychologisch präzise Version der tragisch verfehlten Liebesgeschichte in opulenten Bildern von Zinovy Margolin an der Oper Bonn, begeisternd flexibel und transparent dirigiert vom neuen GMD des Theaters Hagen, Hermes Helfricht.

Einleuchtend erzählte Geschichten

Die Neuinszenierung in Mönchengladbach, die jetzt wieder aufgenommen und ab 16. November in Krefeld gezeigt wird, stammt von Helen Malkowsky, Wieder einmal stellt sie unter Beweis, wie einleuchtend sie eine Geschichte zu erzählen, wie unverkünstelt sie Figuren führen und Konstellationen entwickeln kann. Originelle, aber nie aufgesetzte Konzepte entwickelte die Professorin für Musiktheaterregie und Szenische Interpretation an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien schon vor 20 Jahren, als sie in Nürnberg „Der fliegende Holländer“ oder Aribert Reimanns „Melusine“ mit Sensibilität für metaphorische Bühnenlösungen in szenische Psychogramme verwandelte. In ihre Zeit als Operndirektorin in Bielefeld (2010 bis 2013) fielen die faszinierend doppelbödigen „Contes d’Hoffmann“; an den Vereinigten Bühnen Krefeld-Mönchengladbach entdeckte sie bereits in Tschaikowskys „Mazeppa“ ebenso wie in Verdis „Stiffelio“ und Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ die heute relevanten Aspekte der Stoffe.

Nun also „Eugen Onegin“: Der junge, schlanke Dandy bricht absichtslos in die bleigraue Welt auf Larinas Gut ein, sein goldener Rock (Kostüme: Anna-Sophie Lienbacher) spiegelt die zögerliche Faszination der Frauen wieder, stellt aber auch seine in diesen stumpfen Räumen schillernde Exotik aus. Malkowksy erfindet keine Charakterzüge über die im Stück angelegten hinaus, aber sie schärft das Profil der Menschen, indem sie – ähnlich wie Dietrich Hilsdorf in seiner sensationellen Kölner Inszenierung vor zehn Jahren – genau beobachtet. Sie arbeitet mit sprechenden Gesten und offenbarenden Konstellationen: Larina (Katarzyna Kuncio) ist eine pragmatisch gewordene Frau in mittlerem Alter, Filipjewna (Satik Tumyan) ein sympathisch mütterliches Wesen, gezeichnet mit feinem Humor.

„Das Glück, es war so nah“: Tatjana (Sofia Poulopoulou) und Onegin (Rafael Bruck) verfehlen sich auf tragische Weise. (Foto: Matthias Stutte)

Vor den vermauerten oder zugeklebten stilisierten Fenstern der Bühne Tatjana Ivschinas fehlt der verträumten Tatjana mit ihren langen dunklen Haaren ebenso die Wärme wie dem Licht, das eine Trauergesellschaft in fahle Helle kleidet. Offenbar ist der Gutsherr verstorben; Damen und Herren mit Mantel und Hut in Schwarz kondolieren. Der Vorsänger (Irakli Silagadze) singt tonschön und entspannt, wie es selten in dieser kleinen Partie zu erleben ist.

Nuancen von bösem Gelb

Die Briefszene gestaltet die vorzüglich dunkelglühend singende Sofia Poulopoulou – in weißem Kleid und barfuß ganz bei sich selbst – als einen verzweifelt-feurigen Ausbruchs- und Erweckungsmoment. Das Chaos ihrer Gefühls- und Gedankensplitter kritzelt sie auf Papier, das sie von den halb blinden, halb von Regentränen benetzten Fenstern kratzt, und bindet die Blätter zuletzt zu einem Konvolut. Das Öffnen eines der Fenster mag eine konventionelle Metapher sein: Malkowsky inszeniert es als ein ergreifendes Befreiungserlebnis. Die Zurückweisung Tatjanas wiederum wird zur Charakterstudie Onegins. Gelangweiltes Wohlwollen, unterschätzende Belehrung: Rafael Bruck gestaltet diesen Moment wort- und klangsensibel.

Beim Namensfest Tatjanas tragen die Protagonisten wie die geschwätzigen Gäste Kostüme in den Nuancen von bösem Gelb. Die Inszenierung schildert, wie sich Lenski, vom Alkohol benebelt, in seine Eifersucht hineinsteigert. Wie sorgfältig auch Nebenfiguren gezeichnet werden, ist am Triquet von Arthur Meunier abzulesen: Endlich einmal kein übergriffiger Fummler oder kasperlhafter Trottel, sondern ein sanft frustrierter, still mitwissender Charmeur mit leichtem Hang zur Selbstübersteigerung. Eine Studie, die Meunier auch durch solides gesangliches Gestalten aufwertet.

Nur die Olga der leuchtend leicht singenden Kejti Karaj aus dem Opernstudio Niederrhein bleibt etwas zu sehr am Rande. Das ist aber angemessen, denn das „Kind“ ist nichts weiter als eine Projektionsfigur der romantisch übersteigerten Wünsche des Dichters Lenski, die beim verhängnisvollen Tanz mit Onegin nichts, aber auch gar nichts provoziert. Lenski ist bei Woongyi Lee, ausgestattet mit einem fast überpräsent in der Maske gebildeten, in der Höhe gezwungenen und daher nicht immer intonationsreinen Tenor, ein verstiegener junger Mann, der sich im Duell todesbereit präsentiert. Seine Arie singt Lee mit gestalterischem Feinsinn. Nicht der widerstrebende Onegin erschießt ihn, sondern die Pistole entlädt sich, während jener mit dem Sekundanten ringt. Gereon Grundmann ist der düstere Hüter der Duellregeln und wirkt damit wie ein metaphorischer Repräsentant einer obstruktiven Ordnung, die es wieder herzustellen gilt. Matthias Wippich als balsamfrei singender Fürst Gremin ist im letzten Bild dann der Katalysator für die finale Lebenskatastrophe Onegins.

Die Niederrheinischen Sinfoniker und der Opernchor Krefeld-Mönchengladbach, einstudiert von Michael Preiser, haben in GMD Mihkel Kütson einen erfahrenen Kenner der russischen Romantik am Pult. Kütson hat auch „Mazeppa“ dirigiert und sich mit CD-Aufnahmen entlegenen russischen Repertoires etwa von Alexander Glazunov und Mili Balakirev hervorgetan. Das Orchester überzeugt mit einem dunkel-weichen Klang und ist auch in dramatischen Momenten nie unkontrolliert massiv. Kütson sorgt für sorgfältig gestaltete Tempi und Übergänge, einen überlegten Aufbau emotionaler Spannungen, lyrische Finesse und wehmütige Pastellfarben. Die Konkurrenz mit Düsseldorf und Bonn müssen die Niederrheiner nicht scheuen.

Eine weitere Vorstellung am 10. Oktober in Mönchengladbach-Rheydt. Premiere in Krefeld ist am 16. November, weitere Termine am 20.11., am 5., 14., 29.12 sowie 10.01., 4. und 14.02.2025. Info: https://theater-kr-mg.de/spielplan/eugen-onegin/




Ruin der menschlichen Beziehungen – Johan Simons inszeniert O`Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ in Bochum

Szene mit (v.l.) Alexander Wertmann, Pierre Bokma und Guy Clemens. (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Am Eingang wird das Publikum gewarnt. Laut werde es, aber nur am Anfang, kostenlose Ohrenstöpsel gibt’s am Stand mit den Programmen. Auf der Bühne dann, der eiserne Vorhang hat sich gehoben, ein weißes Haus mit Fenstern, Tür und Inneneinrichtung. Das steht da einfach so, minutenlang, während aus dem Off ein betörend schönes, langsames Blechbläsersolo ertönt.

Kommt gleich Till Brönner um die Ecke? Nein, aber völlig unvermittelt kracht das Häuslein ohrenbetäubend zusammen, und die Stöpsel, die man für die schöne Musik aus den Ohren gezogen hatte, haben einem überhaupt nichts genutzt.

Ein Haus stürzt ein

Der stimmige Simonsche Knalleffekt nimmt vorweg, was in den folgenden drei Stunden intensiv herausgespielt wird: Das Haus als zentraler Ort familiärer Geborgenheit, Sicherheit und Struktur ist ein Trümmerhaufen schon, bevor das Spiel beginnt. Intendant Johan Simons inszeniert im Schauspielhaus Bochum Eugene O’Neills Stück „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ als bedrückendes Tableau menschlicher Unzulänglichkeiten. Und warum es nicht hier schon sagen: Ein großartiger Theaterabend ist es geworden, getragen von Akteuren, denen die Berufsbezeichnung Schauspielkünstler (ein bedeutender Vertreter der Kritikerzunft verwendete sie besonders gerne) angemessen ist.

Elsie de Brauw als Mutter Mary (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Eine Künstlerin

Allen voran ist die Künstlerin zu nennen, Elsie de Brauw, die sich als morphiumsüchtige Mutter Mary in mitunter atemberaubende schauspielerische Intensität steigert, eins wird mit ihrer Rolle, wie man es in Inszenierungen der letzten Jahre kaum noch gesehen hat. Ein bißchen holländische Grundierung hört man bei ihr noch heraus, doch hat sie ihr Deutsch – so jedenfalls schein es dem Verfasser dieser Zeilen – in den letzten Jahren perfektioniert. Die holländische Sprachfärbung wirkt, so könnte man vielleicht sagen, wie ein leichter V-Effekt und tut der Erzählung gut. Außerdem agiert die zierliche Schauspielerin (Jahrgang 1960) mit einer Körperlichkeit, die man eher von einer Zwanzigjährigen erwarten würde. Man kann es nicht anders sagen: dieser Theaterabend ist ihr Abend, ein Erlebnis.

Szene mit (v.l.) Alexander Wertmann, Pierre Bokma und Konstantin Bühler. (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Der Patriarch

Ein weiterer hoch zu preisender Akteur ist Pierre Bokma als ihr Mann, ein gleichermaßen brummeliger, düsterer, geiziger wie auch wichtigtuerischer und protziger Patriarch, ein Vater, auf den man sich nicht verlassen, auf den man nicht hoffen kann. Bokma ist eine kongeniale Besetzung für die Rolle des alten Schauspielers James Tyrone.

Die Familie hat Probleme

Ein bißchen Inhalt will noch erzählt werden, denn Inhalt gibt es schon, Handlung eher nicht. Die Familie des einstigen Bühnenstars James Tyrone – er, sein Frau Mary sowie die Söhne Jamie und Edmund – verbringen ihren Sommer im nebelumwaberten Ferienhaus am Ozean. Quasi sachliche Probleme sind die Morphiumsucht der Mutter, die nach der schweren Geburt des jüngeren Sohnes entstand, der Alkoholismus der drei Herren, die Schwindsucht Edmunds, die lieblose Entscheidung des Alten, ihn für mindestens ein halbes Jahr in eine öffentliche (statt private) Therapieeinrichtung zu stecken, um Geld zu sparen. Doch das alles wäre ja, wenn nicht lösbar, so doch besprechbar oder therapierbar.

Nicht mehr zu reparieren

Nicht zu reparieren aber ist der Totalruin der zwischenmenschlichen Beziehungen. Das vergiftete, lustvoll-zwanghaft betriebene Spiel mit Nähe und Distanz, Liebe und Destruktion, Verzeihen und Entwertung (und so weiter und so weiter) prägt den langen Tag. Die Eltern spielen es, und natürlich hat es die Kinder kaputtgemacht, und etwas Besonderes ist es gleich gar nicht. Jeder im Zuschauerraum kennt solche Familienverhältnisse, bei sich selbst, bei anderen. Und die Bühne kennt sie natürlich auch. Auch von vielen anderen Autoren.

Szene mit (v.l.) Guy Clemens und Pierre Bokma (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Die anderen

Bleibt die weiteren Mitwirkenden zu preisen, die sämtlich stark in ihren Rollen auftreten. Guy Clemens ist der ältere Bruder Jamie, dem das Stück eine in ihrer Ambivalenz geradezu bedrohliche Haß-/Liebeserklärung für seinen jüngeren Bruder Edmund (Alexander Wertmann) zugeteilt hat, furios und alkoholisch enthemmt gespielt. Der junge Edmund wiederum steigert sich beeindruckend im Streit mit seinem Vater, der ihn in die Billigklinik abschieben will. Konstantin Bühler als Diener (im Original ist übrigens ein Hausmädchen vorgesehen) und Django Gantz als von Mutter Mary im Morphiumrausch fast verführter Handwerker komplettieren die Besetzung.

Ein Sittenbild

Zum Ende des Stücks hin werden Selbsterklärungen verbindlicher, Zwiegespräche länger und intensiver, entsteht Raum für eine tragische Verständnisebene.  Johan Simon, der einen respektvollen Umgang mit der Vorlage pflegt, zeigt uns diese Entwicklung, legt aber gleichzeitig viel Gewicht auf die Anmutung eines eher stillstehenden Sittenbildes. Die Verhältnisse sind, wie sie sind. Und auch wenn alle unter ihnen leiden, werden sie nicht besser werden. Doch lange sah man diese Unzulänglichkeit nicht mehr so grandios auf die Bühne gestellt wie in dieser Inszenierung.

Einige Jahre, ist zu lesen, wird uns Altmeister Johan Simon (er ist jetzt 78) noch in Bochum erhalten bleiben, bis sein Nachfolger Nicolas Stemann 2027 antritt. Man darf gespannt sein, was er in dieser Zeit realisieren wird, mit seiner wunderbaren Art, „richtige“ Stücke mit viel Text und Spieldauer zu realisieren.

Großer Applaus.

  • Weitere Aufführungen
  • 11.Oktober
  • 30. Oktober

www.schauspielhausbochum.de




Reizendes Kaleidoskop: Anna Vinnitskaya ist Porträtkünstlerin der Essener Philharmonie

Die Pianistin Anna Vinnitskaya. (Foto: Marco Borggreve)

Sergej Rachmaninow ist einer der Komponisten, zu denen Anna Vinnitskaya immer wieder zurückkehrt – und das dürfte nicht alleine daran liegen, dass sie einst am Rachmaninow-Konservatorium in Rostow am Don unterrichtet wurde. Mit dem eher selten gespielten Ersten Klavierkonzert in fis-Moll stellte sich die aus Russland stammende Pianistin als Porträtkünstlerin der Essener Philharmonie dieser Saison im Alfried-Krupp-Saal vor, begleitet von den Philharmonikern unter ihrem GMD Andrea Sanguineti.

Anna Vinnitskaya hat sich für die laufende Saison einen gewichtigen Rachmaninow-Schwerpunkt gesetzt und wird in Essen und der Region viel Präsenz zeigen. Bevor sie am 4., 5. und 9. Februar 2025 mit Rachmaninows Dritten, dem d-Moll-Konzert, nach Münster kommt, spielt sie im November die vier Konzerte plus die Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43 in zwei Konzerten mit der Dresdner Philharmonie unter Krzysztof Urbanski im Kulturpalast Dresden. Danach, am 6., 7. und 8. März 2025 tritt sie unter Joana Mallwitz mit den Berliner Philharmonikern mit dem Dritten Klavierkonzert auf. Prominente Engagements also für die Preisträgerin des renommierten Concours Reine Elisabeth in Brüssel, den sie 2007 als zweite Frau in der Geschichte des Wettbewerbs gewann und in dessen Jury sie im Mai 2025 sitzen wird.

Herbert Grönemeyer als Dirigent

In Essen ist Anna Vinnitskaya noch mehrfach in unterschiedlichen Formaten zu erleben. Die beiden Herbstkonzerte für Menschen mit besonderen Bedürfnissen im RWE Pavillon liegen bereits hinter ihr, aber am 3. Oktober präsentiert sie in der Philharmonie mit Dmitri Schostakowitsch einen ihrer dezidierten Lieblingskomponisten: Mit dem Brahms Ensemble Berlin spielt sie das Klavierquintett op. 57, solistisch lässt sie sich mit den „Puppentänzen“ hören, die sie auch 2024 auf ihrem jüngsten Album „Piano Dances“ eingespielt hat.

Das Zweite Klavierkonzert Schostakowitschs erklingt dann mit dem Mahler Chamber Orchestra zum 50. Todesjahr des Komponisten 2025 – am 14. Februar in Dortmund, am 15. in Essen und am 16. in Köln. Noch einmal ist Anna Vinnitskaya am 22. März in der Philharmonie Essen Solistin eines Orchesterkonzerts, diesmal mit dem Tonhalle Orchester Zürich unter Paavo Järvi und dem a-Moll-Konzert Robert Schumanns, bevor sie am 14. Juni mit Rachmaninows populärem c-Moll-Konzert op. 18 und den Bochumer Symphonikern nach Essen zurückkehrt. Als Dirigent des Konzerts, das am 13. und 15. Juni auch in Bochum auf dem Programm steht, ist Herbert Grönemeyer angekündigt.

Leuchtende Frische für Rachmaninow

Mit dem Ersten Klavierkonzert, das Sergej Rachmaninow als Moskauer Konservatoriumsstudent 1891 schrieb und 1917 überarbeitete, bestätigte Anna Vinnitskaya ihren viel gerühmten Rang als Solistin: Mit dem oft unterschätzten Werk ließ sie ein reizendes Kaleidoskop der Stimmungen aufleuchten. Nach dem kraftvollen Statement des Beginns nimmt sie den Ton des weiträumig in den Streichern exponierten Themas auf, der sich bald in lockerer Spielfreude verliert. Kein Wunder, dass dieses Konzert so wenig beachtet wird: Man muss wie Anna Vinnitskaya Freude daran haben, die eher rhapsodisch gereihten Momente brillanter Leichtigkeit, sentimentalen Verträumens und melodischer Melancholie elegant, frei und natürlich darzustellen.

Die Pianistin versucht nicht, die Wechsel illustrativ einzufangen. Sie bewahrt einen stetigen, freundlich leuchtenden, eher frischen als elegisch verschatteten Ton – den gönnt sie sich, gewürzt mit feinsinnigen Rubati, nur im lyrischen Teil des letzten Satzes. Ihr kurzes Duett mit dem Fagott im zweiten Satz wird zum poetischen Zwiegespräch, die Energie des Finales wird zupackend, aber kontrolliert freigesetzt. Die Philharmoniker unter Andrea Sanguineti sind mal näher, mal weiter von der Pianistin entfernt, wollen sich aber nicht vordrängen, sondern begleiten mit Noblesse, feinen Abstufungen und stellenweise zu diskreten Holzbläsern. Ein bezaubernder Einstand, der gespannt macht auf die weiteren musikalischen Facetten dieses Porträts.

Weitere Infos:

https://annavinnitskaya.com/de/home

https://www.theater-essen.de/philharmonie/

 




Franz Schubert als Fixstern: Das Alinde Quartett verbindet kristalline Transparenz mit unbändiger Spielfreude

Beinahe eine italienische Familienangelegenheit: die vier aktuellen Mitglieder des Alinde Quartetts (v.l. Eugenia Ottaviano, Guglielmo Dandolo Marchesi, Gregor Hrabar, Bartolomeo Dandolo Marchesi. (Foto: Davide Cerati)

Die Sehnsucht nach dem großen Glück nimmt im Gedicht „Alinde“ von Friedrich Rochlitz die Gestalt einer jungen Frau an. Der lyrische Ich-Erzähler, der lang und bang auf seine Liebste wartet, ruft ungeduldig ihren Namen: „Alinde, Alinde!“ Franz Schubert, der die Verse 1827 als Strophenlied vertonte, lässt die Ersehnte wie ein Echo antworten: „Du suchtest so treu: nun finde!“

Das ist, in aphoristischer Kürze, ein Versprechen auf Erfüllung. Und nicht weniger als ein Omen für die vier Streicher, die sich 2011 als Alinde Quartett zusammenschlossen. Die Namenswahl gleicht einem Statement. Franz Schubert ist der Fixstern ihres Repertoires, das von der Renaissancemusik bis zu zeitgenössischen Werken reicht. Die geben sie auch gerne mal in Auftrag: als „treue Sucher“, die Schuberts Musik gerne in den Kontext anderer Epochen stellen, um sie auf diese Weise neu zu erkunden. Auf historischen Instrumenten spielen sie nicht weniger kompetent als auf modernen.

Was sie in den Partituren entdecken, versuchen sie für das Publikum möglichst transparent zu machen. „Es ist unmöglich, vier Stimmen mit der gleichen Aufmerksamkeit zu folgen. Wir müssen die Hörer führen, Klarheit schaffen, im Probenprozess immer wieder entscheiden, was wann wichtig ist“, sagt die aus dem italienischen Terni stammende Geigerin Eugenia Ottaviano, Gründungsmitglied und einst Schülerin des legendären Violinvirtuosen Salvatore Accardo.

Nicht nur die Musiker, sondern auch die Instrumente müssen im Streichquartett zueinander passen. (Foto: Davide Cerati)

Das in Köln ansässige Quartett ist beinahe eine italienische Familienangelegenheit. Eugenia Ottaviano ist die Ehefrau des zweiten Geigers Guglielmo Dandolo Marchesi, dessen Bruder Bartolomeo die Cellostimme spielt. Nach mehreren Wechseln kam 2017 der slowenische Bratschist Gregor Hrabar zu der Formation: „Er rutschte eher zufällig hinein, passte aber sofort perfekt zu uns. Das ist nicht selbstverständlich, das Quatuor Ebène zum Beispiel hat ewig nach einem neuen Cellisten gesucht“, erzählt Eugenia Ottaviano.

Lebhaft und offen erzählt die Geigerin, dass sie lange damit haderte, keinen großen Wettbewerb mit dem Quartett gewonnen zu haben. Aber auch ohne „Türöffner“ dieser Art weist die Karrierekurve für die Vier nach oben. Auftritte in der Hamburger Elbphilharmonie, im Konzerthaus Berlin, beim Verbier Festival und beim Schleswig-Holstein Musik Festival sind nur einige Wegmarken auf den zunehmend internationalen Pfaden. Prominente Mentoren gaben ihnen Schub: zum Beispiel Günther Pichler vom Alban Berg Quartett, Rainer Schmidt vom Hagen Quartett sowie der „Streichquartett-Guru“ Eberhard Feltz in Berlin.

Dem ehrgeizigen Projekt einer Gesamtaufnahme der Schubert-Streichquartette widmen sie sich seit 2019 in Koproduktion mit dem Label Hänssler Classic und dem Deutschlandfunk. Sie soll im Jahr 2028 zum Abschluss kommen, wenn sich der Todestag des Komponisten zum 200. Mal jährt. Jede CD wird durch eine Auftragskomposition ergänzt, die von Schuberts Tonsprache und seinem musikalischen Erbe inspiriert ist.

Unterstützung erfährt das Alinde Quartett durch die Althafen Foundation, aktuell aber auch stark durch die Kölner Philharmonie. Intendant Louwrens Langevoort widmet den vier Streichern einen Porträt-Zyklus von insgesamt sechs Konzerten, in denen sie ihre Kreativität auf sehr unterschiedliche Weise ausleben dürfen: mit dem Barockensemble „Verità Baroque“, im Klavierquintett (mit dem Pianisten Dmitry Ablogin), im Kinderkonzert (mit dem Schauspieler Alexander Wanat), mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter der Leitung von Duncan Ward und mit der berühmten Organistin Iveta Apkalna.

Auch zeitgenössische Kompositionen gibt das Alinde Quartett für seine Schubert-Gesamtaufnahme in Auftrag. (Foto: Davide Cerati)

Pur, also ohne Gäste oder Partner, war das Quartett im zweiten Konzert dieser Reihe zu erleben. Es nutzt die Gelegenheit für ein Programm mit Signatur-Charakter. Mit voller Absicht schalten sie dem berühmten „Rosamunde“-Quartett von Franz Schubert (D 804) einen kurzen Renaissance-Gesang von Josquin des Prez voran. Ohne Unterbrechung spielen sie die ätherisch reinen Harmonien des etwa zweiminütigen Stücks in Schuberts wehmütig gefärbtes Anfangsthema hinein. Der Übergang funktioniert nahtlos und wirkt stimmig, weil der kristalline Klang des Alinde Quartetts beide Stücke verbindet.

Nicht romantisch voluminös spielt dieses Quartett, sondern mit beseelter Präzision, einer Klarheit ohne Kälte. Die Tongebung vereint Schönheit mit Zerbrechlichkeit, mit feinem Sinn für das sublime Wechselspiel von Licht und Schatten. Das Quartett versteht sich präzise auf das, was sich hinter Schuberts melancholischen Stimmungen verbirgt. Wenn Eugenia Ottaviano das Hauptthema klingen lässt wie einen langen, schweren Seufzer, beginnen die Stimmen unterhalb der Melodie zu beben, dass es zum Schaudern ist.

Beim Konzert in der Kölner Philharmonie: das Alinde Quartett. (Foto: Thomas Brill)

Statt in einer kuscheligen Komfortzone zu verharren, wird der Kopfsatz zu einer Wanderung am Abgrund. Zuweilen reißen die Melodien abrupt ab, laufen gewissermaßen vor eine Wand aus Akkorden. Das klingt beim Alinde Quartett angemessen radikal, obwohl es im Trio des dritten Satzes und im Finalsatz zeigt, dass es sich auch auf fröhlichere, silberne Akzente versteht und punktierte Rhythmen ins Schweben bringen kann.

Kühn spielt der katalanische Komponist Marc Migó in seinem Streichquartett Nr. 2 („Sardana – Quodlibet“) mit Schubert-Zitaten. Das Alinde Quartett macht aus dem Auftragswerk einen musikalischen Spaß vom Feinsten. Es umspielt Zitate aus „Der Tod und das Mädchen“ mit fiependen Flageolett-Tönen, setzt durch Fußstampfen Akzente, turnt mit Lust am Schabernack und erheblicher Artistik durch die Partitur. Dass dann auch noch der zweite Satz aus Beethovens 7. Sinfonie anklingt, ist eine absurd-amüsante Pointe. Komponist und Interpreten erhielten danach Riesenbeifall.

Nach der Pause verlangt Beethovens 2. Rasumowsky-Quartett (e-Moll op. 59/2) eine andere, vehementere Energie. Das Alinde Quartett findet auch dafür den rechten Tonfall: energisch klopfende Achtel im eröffnenden Allegro und eine ruhevoll-abgeklärte Stimmung für das Molto Adagio, dessen Puls schließlich zu stocken scheint. Danach herrscht im Publikum absolute Stille. Das „russische Thema“ im dritten Satz steigert das Quartett vom Rustikalen ins Grandiose. Aus dem Presto-Finale tönt jauchzender Übermut. Beinahe verschwörerisch stecken die Musiker kurz vor Schluss die Köpfe zusammen. Dann preschen sie über die Ziellinie, mit ungezügeltem Temperament. Bravorufe, Ovationen.

(Informationen: www.alindequartett.com)




Pfuschi, Fritten, Drogen-Dackel – der Sound des Reviers

Gezz ma‘ wacker gucken, wat „inne Fritten“ is‘. Oder sollte es sich nur um so eine Redensart handeln? (Foto: Bernd Berke)

Kurz zu berichten ist von einem ehrbaren Handwerker in Dortmund, der auf seine unverwechselbare Weise etwas von den älteren Revierzeiten lebt und verkörpert. Sein genaues Metier sei nicht genannt, sonst erfährt er am Ende noch, dass er gemeint ist. Muss ja nicht sein.

Ich höre von drei Äußerungen, die er während eines einzigen Kundengesprächs binnen weniger Minuten hervorgebracht habe. Leider lassen sich seine Ruhr(hoch)deutsch klingenden Redensarten nur sehr unzureichend schriftlich wiedergeben. Eigentlich muss man den Mann dabei hören und sehen. Über Wohl und Wehe von Borussia Dortmund kann der glühende BVB-Fan übrigens stundenlang schwadronieren. Könntet ihr das hören, würdet ihr euch gewiss mächtig beömmeln.

Nun aber zu den besagten drei Äußerungen: Treuherzig versichert er, bei ihm gebe es kein „Pfuschi wie bei Uschi“. Das stimmt. Er arbeitet sehr gewissenhaft und nimmt für Reparaturen, die ihm selbst nicht hundertprozentig gelungen zu sein scheinen, freiwillig kein Geld; nicht einmal dann, wenn man ihn beschwört, es anzunehmen, wenn man es ihm geradezu aufdrängt. Ob wir bei „Pfuschi“ an eine bestimmte Uschi denken sollen (doch nicht etwa an Frau Von der Leyen??), ist nicht überliefert. Wahrscheinlich ist es ja nur so ein Schnack.

Den kläglichen Zustand eines zu reparierenden Gegenstandes bezeichnet der brave Handwerksmann so: „Der is‘ inne Fritten.“ Und beim Gespräch über Vorfälle in der Nachbarschaft nennt er einen bedauernswerten Rauschgift-Konsumenten „Drogen-Dackel“. Im Grunde gar nicht lustig. Doch selbst die ernstesten Zustände wirken in dieser sprachlichen Aufbereitung entlastend komisch. Irgendwie.

Man ist versucht, längere Unterhaltungen mit ihm zu führen und selbige exemplarisch für Mit- und Nachwelt aufzuzeichnen. Doch ein solches Arrangement würde die Originalität und den bestens geerdeten Sound des Ruhrgebiets wohl verfälschen. Lassen wir also in diesem Falle alles so, wie es ist. Denn es ist gut so.




Wenn Monteverdi auf persische Mystik trifft: Musikschule Bochum feiert die kulturelle Vielfalt

Drei Mitglieder vom Ensemble Barbad: die Sängerin Maryam Akhondy (links), Sara Hasti (persische Kniegeige) und Ali Salami (persische Langhalslaute). (Foto: Bernd G. Schmitz)

Es gehört zum Leitbild der Musikschule Bochum, allen Altersgruppen und allen Einwohnern mit internationalen Wurzeln offen zu stehen. Zu ihnen zählt der 1937 in Karatschi (Pakistan) geborene Pervez Mirza, der mehr als 30 Jahre lang Klavier und Musiktheorie an der Musikschule unterrichtet hat. Er organisierte jetzt ein Konzert im Museum Bochum, das so unverbindlich bunt ausfiel, dass es gut zu einer Kasseler „documenta“ gepasst hätte.

Experimentelle Klänge und Videotheater tragen zu diesem Eindruck bei, denn Mirzas eigene Kompositionen, die das Programm wie ein roter Faden durchziehen, spielen häufig mit solchen Elementen. Exemplarisch dafür steht seine Komposition „Der Fremde bin ich selbst“, geschrieben für Sprecher, Video und elektronische Klänge. Während Schauspieler Dirk Pattberg einen Monolog über Nähe und Entfremdung hält, taucht auf einer Leinwand neben ihm ein Video-Doppelgänger auf, der seinen Text allmählich übernimmt und den lebenden Menschen schließlich komplett überblendet. Akustisch verfremdet, wird der Text zu einer Klangcollage, so unverständlich und seltsam, als sei es eine Botschaft von einem anderen Planeten.

Als „typisches Beispiel Mirza’schen Schaffens“ kündigt Rainer Maria Klaas dieses Werk an. Der vielseitige Pianist, der das Konzert mit einigen „Kinderszenen“ von Robert Schumann eröffnet und diesen jeweils ein zeitgenössisches Gegenstück von Pervez Mirza gegenüberstellt, führt als kundiger Moderator durch den Abend. Das ist ein Glücksfall, weil das Programm leicht zu einer etwas ungeordneten Rumpelkammer der Stile und Epochen hätte werden können, gewissermaßen zu einem Sammelsurium zwischen Monteverdi und Mirza.

Die Kölner Vokalsolisten, hier in der Trinitatis Kirche Köln. (Foto: Christoph Papsch)

Für Renaissance-Gesänge von Claudio Monteverdi machen sich die Kölner Vokalsolisten stark. Die sechs Sängerinnen und Sänger müssen in „Anima mia perdona“ aus dem Jahr 1603 erst einige Intonationsprobleme überwinden, zeigen in „Anrede“ von Pervez Mirza aber eindrucksvoll, warum sie mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurden. Mit Stimmgabeln ausgerüstet, halten sie lange Töne trotz disharmonischer Reibungen mühelos durch. Auf diese Weise laden sie den Text des gleichnamigen Gedichts von Ernst Stadler mit großer Suggestivität auf. In Monteverdis „Volgea l’anima mia“ findet das Sextett dann zu einem dichten, reinen Gesamtklang.

Deutlich in Mauricio Kagels Tradition, Musikaufführungen möglichst theatralisch zu gestalten, steht das Stück „Le corps à corps“ (frei übersetzt: Nahkampf) von Georges Aperghis. Dieses Solo für einen Schlagzeuger, das der Grieche 1978 schrieb, verlangt Michael Pattmann höchste Konzentration ab. Es ist, als würde er ein Wettrennen mit sich selbst veranstalten: In einem irren Schnell-Französisch, manchmal auch im lautmalerischen Scat, versucht er rasende Trommel-Rhythmen mittels der Sprache zu überholen. Pattmann meistert das virtuos, durchaus auch mit einem Sinn für Komik, der das Publikum zum Kichern bringt. Aperghis Stück wirkt indes auch anstrengend, weil der Komponist sich schwer damit tut, einen Schlusspunkt zu setzen.

Auszug aus der Partitur des Klavierstücks „Reminesque“ von Pervez Mirza (Foto: Pervez Mirza)

Weltläufigkeit und Farbe gewinnt der Konzertabend durch das iranische Ensemble Barbad, benannt nach einem persischen Musiker aus dem 7. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung. Das 1989 von der Sängerin Maryam Akhondy in Köln gegründete Orchester tritt in unterschiedlichen Besetzungen bei Konzerten und Festivals in vielen Ländern Europas auf. Exotisch klingen die persischen Instrumente für Ohren, die an europäische Klassik gewohnt sind: das Näseln der Kniegeige (Kamanche), das schillernde Sirren der Langhalslaute (Tar), die vielen dumpfen und scharfen Rhythmen, die auf der Becher- und Rahmentrommel produziert werden.

Indessen steht diese Musik der europäischen Klassik nicht an feierlichem Ernst und Bedeutungstiefe nach. Das Ensemble Barbad macht diese mystische Ebene sofort spürbar. Selbstvergessen singt Maryam Akhondy Lieder zu Texten persischer Dichter. Sie verziert melodische Linien mit Ornamenten, bis sie hypnotische Kraft entwickeln. Zuweilen bewegt sie sich an der Grenze zu einem expressiven Stimmumschlag, der an das Jodeln erinnert. Sara Hasti lässt die Kniegeige dazu sehnsuchtsvoll näseln, greift manche melodische Wendung wie ein Echo auf. Ali Salami streut auf der Langhalslaute das eine oder andere fingerfertige Solo ein.

Alle ernten großen Applaus. Der steigert sich zu Jubel, als Syavash Rastani zum großen Solo auf der Rahmentrommel (Daf) ansetzt. Was der Künstler mit flinken Fingern aus diesem scheinbar einfachen Instrument holt, ist so vielfältig, dass es auch für drei oder vier verschiedene Schlaginstrumente reichen dürfte. Von einem sanften Scharren ausgehend, mit den Fingernägeln auf der Membran des Instruments erzeugt, steigert er sich in eine Rhythmik hinein, die so lange an Tempo zunimmt, bis die Trommel zwischen seinen Händen zu fliegen beginnt. Ein rasantes, mitreißendes Erlebnis.

(Weitere Veranstaltungen: www.musikschule-bochum.de/termine)




Die Welt als Todesacker – „Mein drittes Leben“

Sie hatte alles: eine riesige Wohnung, einen spannenden Beruf und eine tolle Familie. Doch dann zerbricht Lindas Leben in einem einzigem Moment. Sonja, die geliebte Tochter, passionierte Rennradfahrerin und lebensfroher Freigeist, wird auf dem Weg zu einem Arzttermin von einem Lastwagen überrollt und zermalmt.

Alles, was für Linda eine Bedeutung hatte, löst sich mit einem Schlag auf. Sämtliche Gewissheit, alle Kraft und jeder Lebenssinn verlässt die Frau, die eben noch eine gefragte Kunstkuratorin war und ein schillerndes Dasein führte. Sie ist untröstlich, taumelt ziellos durch die Tage, kann keine Kunstschönheiten und keine fröhlichen Menschen mehr ertragen. Sie verlässt Richard, ihren Mann, einen nur mäßig erfolgreichen Maler, der lustlos dem Brotberuf eines Lehrers nachgeht.

Wenn die Zukunft versinkt

Statt sich in teurem Outfit hübsch herausgeputzt in der Leipziger Kunst-Szene zu sonnen, hockt Linda jetzt allein auf einem alten Bauernhof, füttert die Hühner, mistet den Stall aus, kämpft gegen den Impuls, sich mit einer Überdosis Schlaf-Tabletten aus dem sinnlos geworden Dasein zu verabschieden. Sie spricht mit der toten Tochter, lässt immer wieder die letzten Momente Revue passieren, bevor Sonja die Wohnungstür hinter sich zuzog, auf ihr Rad stieg und in den Tod raste: „Daraus leitet sich seither alles ab“, murmelt die in selbstgewählter Einsamkeit vor sich hin fantasierende Linda. „Wie ein schwarzes Loch steht es im Zentrum meines Seins und schluckt jede Zukunft, bevor sie beginnen kann.“

Linda, Hauptfigur und Erzählerin von „Mein drittes Leben“, berichtet in schonungslosen und schmerzlichen Gedanken-Splittern und Erinnerungs-Sequenzen, wie sie in ein schwarzes Loch der Trauer versinkt. Jede Bewegung ist eine Last, schon das Aufstehen eine Qual, und nur schwer gelingt es ihr, wieder ins Leben und in so etwas wie eine Normalität zu finden.

Dieses fragile Leben

Daniela Krien, die in Leipzig lebende Autorin, die in ihrem Debütroman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ die emotionalen Verwirrungen und politischen Verwerfungen der Wendezeit beschrieb und mit „Die Liebe im Ernstfall“ aus der Sicht fünf verschiedener Frauen einen fulminanten Besteller über die Verwicklungen der Liebe in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche landete, hat den Lesern immer schon einiges zugemutet. Ihre Figuren hatten stets einen Hang zu Selbstzerstörung und Melancholie. Krankheit und Tod lauerten im Hintergrund: das Leben ist ein fragiles Gebilde, das Glück nur ein Zufall, der Abgrund nur einen Schritt entfernt.

Jetzt legt die Autorin noch einmal kräftig zu und dreht an der Schraube seelischer Pein, körperlicher Beeinträchtigung und tödlicher Gewissheit. Mit scharfem literarischen Seziermesser zerschneidet sie sämtliche Fäden, mit denen die trauernde Linda, die sich immer tiefer in ihren Schmerz fallen lässt, noch am Leben hängt. Wenn sie sich nicht gerade mit Tabletten betäubt, grübelt sie sich durch ihr verkorkstes Leben, verstößt alle Menschen, die es gut mit ihr meinen, suhlt sich in ihrem Leid.

Überall wird gelitten

Dass die Medizin es schafft, den Krebs, der in ihr wuchert, zu besiegen, ist Linda eigentlich gar nicht recht. Gern würde sie sterben. So wie die alte Bäuerin, deren Haus sie nun bewohnt. Oder wie ihr treuer Gefährte, ein altersschwacher Hund, der sich irgendwann zum Sterben in den Hühnerstall legt. Ob ihr Mann, dem sie sich langsam wieder annähert und der seine Verzweiflung in seine Bilder hinein malt, dem Tod entgehen kann, bleibt offen. Kaum hat er die Chance, in einer bekannten Galerie auszustellen, sucht auch ihn der Krebs heim.

Wohin Linda auch schaut, überall wird gelitten und gestorben. Eine Nachbarin hat, trotz Chemotherapie, nur noch wenige Monate zu leben. Lindas beste Freundin Natascha spielt, weil sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen kann, mit dem Gedanken, zusammen mit ihrer schwerbehinderten, aber musikalisch hochbegabten und mit einem absoluten Gehör ausgezeichneten Tochter Nine aus dem Leben zu scheiden. Hinter der penibel geschminkten Fassade von Lindas Mutter, die nach der Wende in den Westen und in die Arme eines reichen Mannes floh, liegt der Schutt der Selbstverleugnung.

Ein unheimlicher Sog

Wenn man glaubt, es reicht, packt Krien noch ein Elend dazu, sieht mit Lindas Augen das Leben als apokalyptischen Reigen und die Welt als staubigen Todesacker. Nebenbei werden Kuschel-Pädagogik, sprach-politisch korrekte Bevormundung und küchenpsychologische Ratgeber im Orkus der zeitgeistigen Oberflächlichkeit versenkt.

Der Roman, der von Trauer-Ritualen und Identitäts-Suche, von Ort- und Heimatlosigkeit in einer unübersichtlichen Welt handelt, entwickelt einen seltsamen, unheimlichen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Vorangestellt ist dem Buch eine Zeile aus einem alten Song von DDR-Liedermacher Gerhard „Gundi“ Gundermann: „Wir wissen, dass alles, was kommt, auch wieder geht, warum tut es dann immer wieder und immer mehr weh?“

Daniela Krien: „Mein drittes Leben“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2024, 304 Seiten, 26 Euro.

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Info

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, einem Dorf bei Schwerin. In Hof an der Saale arbeitete sie zunächst als Zahnarzthelferin, studierte dann Kultur-, Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Ihre Karriere als Schriftstellerin begann sie mit „Später werden wir uns alles erzählen“ (2011), es folgten der Erzählband „Muldental“ (2014) sowie die Bestseller-Romane „Die Liebe im Ernstfall“ (2019) und „Der Brand“ (2021). Wie die meisten ihrer Figuren lebt sie in Leipzig. Sie hat eine schwerbehinderte, musikalisch hochbegabte und mit dem absoluten Gehör ausgezeichnete Tochter, deren Schicksal sich in „Mein drittes Leben“ spiegelt. (FD)




„Die Geschichten in uns“ – Leben und Schreiben des Benedict Wells

Immer wieder er hat seine Coming-of-Age-Story vom schüchternen Jungen in einem amerikanischen Provinzkaff der 1980er Jahre verändert und umgeschrieben, das ausufernde Manuskript radikal eingekürzt, an der Alltagssprache des Erzählers geschraubt.

Nächtelang hat er gegrübelt, warum er die Geschichte so wichtig findet und sie anderen mitteilen will, was sie mit seinem eigenen Leben zu tun haben könnte und ob die darin verwickelten Figuren vielleicht Gedanken und Wünsche von ihm selbst, dem Autor Benedict Wells, transportieren. Auch am Einstieg, mit dem er seine Leserschaft sofort neugierig machen, fesseln und nicht mehr vom Haken lassen will, hat er unzählige Male gefeilt.

Plötzlich ist alles ganz klar

Manchmal hatte er Angst, er kriege den Roman einfach nicht in den Griff und müsse ihn erst einmal für ein paar Jahre in die Schublade versenken. Dann plötzlich ist ihm alles ganz klar, er weiß, dass alles gut werden wird und tippt ohne zu wissen, wie ihm gerade geschieht, den ersten Satz in seinen Computer, der alles auf den Punkt bringt und den Kern des Buches enthält, das ein paar Monate später unter dem Titel „Hard Land“ herauskommt, ein Riesenerfolg werden und ihm einige Preise einbringen wird: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“

Den vorbelasteten Namen abgelegt

Der 1984 in München geborene Benedict Wells gehört zu den herausragenden Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sein vierter Roman („Vom Ende der Einsamkeit“) stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste und wurde in 38 Sprachen übersetzt. Für „Hard Land“ bekam er den Deutschen Jugendliteraturpreis. Dass es einmal so kommen würde, hatte der Autor, der sich aufgrund der Nazi-Verstrickungen seiner Familie von seinem eigentlichen Nachnamen (von Schirach) verabschiedete, sich eine neue Identität zulegte und sich – zunächst ohne jede Aussicht auf Anerkennung – ganz dem Schreiben hingab, nicht erwartet.

Noch dazu genau der richtige Verlag

Mehrfach kappte er Freundschaften und Verbindungen, vagabundierte durch die Welt, lebte in Berlin und Barcelona, hielt sich mit Jobs über Wasser, arbeitete beharrlich weiter an seinen Texten, die damals niemanden interessierten. Dann waren die Jahre der selbstquälerischen Einsamkeit urplötzlich vorbei: Ein Literaturagent nahm sich seiner an und vermittelte ihn ausgerechnet an jenen Verlag, zu dem er immer wollte, weil dort all die Autoren erschienen, die er insgeheim anhimmelte.

Auch davon berichtet Benedict Wells jetzt in seinem autobiografischen Buch, in dem er über sein Werden und Wollen, seine Familien-Abgründe, literarischen Vorlieben und schriftstellerischen Ambitionen Auskunft gibt: „Die Geschichten in uns“ ist eine Expedition in die literarische Werkstatt des Autors. Wells öffnet Türen in sein Innerstes, zeigt seine Verletzlichkeit, nimmt uns mit auf die Suche nach neuen literarischen Möglichkeiten.

Wie Texte wirksam gekürzt werden

Manches liest sich wie ein Handbuch für Autoren, die lernen möchten, wie man verquasselte Texte auf das Wichtigste kürzt, Gedanken verdichtet und die Erzählperspektive wechselt, Figuren entwickelt und Themen variiert. Er fuhrwerkt in seinen eigenen Romanen und zitiert seine Lieblingsautoren. Joey Goebel gibt dem unsicheren Autor den Rat: „Eine wirklich starke Figur wird innerhalb des Buches geboren.“ Philip Roth rät ihm zur unbedingten Ausdauer: „Amateure warten auf Inspiration. Profis setzen sich hin und arbeiten.“

Wells verrät uns, warum er schreibt und warum wir lesen sollten: „Wir brauchen die Geschichten in uns, aber auch die von anderen, weil wir in ihnen unser Menschsein erkennen. Denn wieso fühlen wir uns auch von Texten verstanden, die nichts mit unserer Lebensrealität zu tun haben, deren Figuren aus anderen Ländern kommen und mit anderen Problemen kämpfen? Weil wir an Wahrheit interessiert sind und wissen wollen, wer wir sind.“

Benedict Wells: „Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben“. Diogenes, Zürich 2024., 401 S., 26 Euro.




Der doppelte Herbert: Fritsch und Grönemeyer mit dem schrillen Spaß „Pferd frisst Hut“ bei der Ruhrtriennale

Eine glückliche Braut sieht anders aus: Cécilia Roumi (als Hélène) und Christopher Nell (als Fadinard) im Slapstick-Operetten-Musical „Pferd frisst Hut“ (Foto: Thomas Aurin)

Da weiß einer nicht, was er will. Der Strohhut aus Florenz, dem Fadinard am Tag seiner Hochzeit wie verrückt hinterherjagt – das Original wurde nämlich von seinem Droschkenpferd gefressen – ist lediglich ein Symbol dafür, dass der Mann am liebsten Reißaus nehmen möchte: vor der Braut, der Verwandtschaft, der Hochzeitsgesellschaft, womöglich sogar vor sich selbst. Denn er scheint noch nicht einmal sicher zu sein, zu welchem Geschlecht er sich hingezogen fühlt.

In der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks zeigt die Ruhrtriennale jetzt eine neue Version von „Der Florentiner Hut“, einer Verwechslungskomödie von Eugène Labiche aus dem Jahr 1851. Das Stück hat diverse Spuren in den Künsten hinterlassen: Es gibt eine gleichnamige Oper von Nino Rota (der die Filmmusik zu „Der Pate“ schrieb), einen deutschen Film mit Heinz Rühmann (Regie: Wolfgang Liebeneiner), dazu noch zwei französische Filme.

Als Slapstick-Operetten-Musical präsentiert die Ruhrtriennale die deutsche Erstaufführung von „Pferd frisst Hut“, eine Produktion des Theaters Basel in Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin. Federführend sind zwei Männer, deren unverwechselbar Stil hier eigenwillig aufeinander prallt.

Herbert Fritsch, Propagandist des choreographischen Rauschs. (Foto: Christian Knörr)

Das ist zum einen der Regisseur Herbert Fritsch, dafür bekannt, seine Figuren auf der Bühne in einen hyperaktiven Irrsinn zu treiben: in ein kindliches, zugleich bis in die kleinste Geste hinein choreographiertes Herumtoben. Manche mögen sich erinnern, welchen Kultstatus seine Produktion „Murmel, Murmel“ an der Berliner Volksbühne erreichte, bevor er 2018 am Bochumer Schauspielhaus mit der „Philosophie im Boudoir“ von Marquis de Sade ein Skandälchen lostrat.

Für Zugkraft beim Publikum sorgt die Musik von Herbert Grönemeyer, der in seinen Jugendjahren musikalischer Leiter am Bochumer Schauspielhaus war, bevor er 1981 durch „Das Boot“ bekannt wurde und 1984 mit seinem Studioalbum „Bochum“ die Hitparaden stürmte. Aus seinen Melodien, Rhythmen und Texten hat Thomas Meadowcroft eine Partitur für Chor und Sinfonieorchester gemacht: geschickt instrumentiert, fröhlich zwischen Broadway-Musical, Rossini-Oper und Disney-Soundtrack irrlichternd. Die Bochumer Symphoniker und der Chor des Theaters Basel, die unter der Leitung des amerikanischen Dirigenten Thomas Wise Stimmung machen, streuen Glamour über diese unterhaltsame Mischung.

Herbert Grönemeyer war bei der Premiere in Duisburg persönlich anwesend. (Foto: Victor Pattyn)

Was aus der Zusammenarbeit der beiden Herberts entstand, ist so schräg und bunt, wie es die Bühne von Herbert Fritsch (unter Mitarbeit von Oscar Mateo Grunert) gleich zu Beginn erahnen lässt. Das temporeiche Tür-auf-Tür-zu-Spektakel kommt durch acht Zugänge in den Seitenwänden und ein Drehportal vor Kopf in Schwung. Selten war eine Handlung so sehr Nebensache: Hier geht es um eine Typenparade, um die große Orientierungslosigkeit, in der die Figuren haltlos herumstolpern.

So grell und banal das auf den ersten Blick scheint, so hintergründig ist es auf den zweiten, denn nichts und niemand ist in diesem Absurdistan ernst zu nehmen. Wir erleben leere Witzfiguren, die Sprechblasen absondern wie in einem Comic: „S’isch alles aus!“, jault der Schwiegervater bei jedem Auftritt in weinerlichem Dialekt, während der Bürgermeister bei jeder Gelegenheit stöhnt, wie heiß ihm doch sei. Das Gestotter und Gestammel der Hauptfigur Fadinard steckt voll absichtsvoller Versprecher. Wenn er mit Glottisschlag von den Baron*innen spricht, schiebt er stets das Wort „drinnen“ hinterher, wie um den Genderwahnsinn auf die Spitze zu treiben.

Die gesamte Hochzeitsgesellschaft gerät durch einen Strohhut in Turbulenzen. (Foto: Thomas Aurin)

Dazu zeigen die Schauspielerinnen und Schauspieler ein akrobatisches Bewegungstalent, als wollten sie sich für den Zirkus bewerben. Sie rutschen ganz beiläufig in den Spagat, hechten die von der Drehtür herabführenden Treppenstufen herunter, landen auf dem Bauch, überschlagen sich in der Luft. Es ist rasant, es ist sagenhaft. Fritsch hat jede Verrenkung durchgeformt, bis ins Detail, ja sogar bis in den Schlussapplaus hinein.

Der Grönemeyer-Sound ist der Musik bei allen Musical-Anleihen deutlich anzuhören: Vieles klingt in Duisburg irgendwie nach „Bochum“. Die Emotionalität der Songs steht oft seltsam quer zu der alles und alle umfassenden Ironie, die Fritschs rasantes Anarcho-Theater so vergnüglich macht. Aber es gibt Chornummern, die gut zünden, sogar zum Mitklatschen anregen. Der Chor des Theaters Basel zieht in den farbenfrohen Kostümen von Geraldine Arnold eine echte Show ab.

In Erinnerung bleibt ein schriller Spaß, der bei weitem nicht so flach ist, wie er zu sein vorgibt. Um es mit den Worten von Herbert Fritsch zu sagen: „Wir sind alle irre, wir kriegen nix gebacken, und wir kriegen gar nix hin.“ Wer wollte ihm in diesen Zeiten widersprechen?

(www.ruhrtriennale.de)




Erzählstoff überall – Judith Kuckarts „Die Welt zwischen den Nachrichten“

Jede(r) möge es für sich bedenken: Welche – mehr oder weniger vagen – Berührungspunkte hatte mein Leben mit der Sphäre der Nachrichten? Und was folgt womöglich daraus? Judith Kuckart schneidet derlei Fragen in ihrem neuen, autobiographisch grundierten Roman „Die Welt zwischen den Nachrichten“ keineswegs umweglos an, sondern vielschichtig, hintergründig, zuweilen auch irrlichternd.

Staunenswert, welche Zeitlinien bis in die westfälische Provinzstadt Schwelm reichten, in der Judith Kuckart am (west)deutschen Einheits-Feiertag (17. Juni 1959) geboren wurde. Da war etwa die Schwelmer Apothekertochter Ina, die öfter auf die kleine Judith aufgepasst hat und sich Jahre später in Berlin (im Gefolge des Attentats auf den Studentenführer Rudi Dutschke) links radikalisiert hat. Noch etwas später war sie auf Plakaten der RAF-Terrorfahndung zu sehen und dürfte sich danach in der noch real existierenden DDR versteckt haben. Womit ihre Geschichte noch nicht zu Ende war. Der „Deutsche Herbst“ ist überhaupt prägend gewesen: Als Judith Kuckart in Köln studiert, wird ganz in der Nähe der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt und bald darauf ermordet. Aber was ändern solche Koinzidenzen am täglichen Sein?

„Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“

Etliche Befunde und Annahmen über die Lebenswelt „zwischen den Nachrichten“ müssen in einem Roman erzählend überprüft und geformt werden. „Schreibe ich“, so lautet mehrfach das lakonisch innehaltende Zwischenfazit nach gewissen Erzählpassagen. Also kein blankes „So (und nicht anders) war es“, sondern „So ist es aus meiner Sicht gewesen“ oder noch skeptischer: „So könnte es gewesen sein“. Eigentlich, darauf läuft ein Hauptstrang des Buches hinaus, sind sowohl öffentliche als auch vermeintlich private Geschehnisse just Erzählstoff, der aus Buchstaben, Worten, Sätzen usw. besteht und sich hier wieder einmal zum Roman weitet. „Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“, heißt es schon auf Seite 57. Und kurz vor Schluss, auf Seite 186: „Am Ende gilt doch nur das Erzählen. Wer erzählt, kann Engel über Toronto fliegen lassen oder Möwen über den Bahnhof Zoo.“

Jegliches Menschenleben enthält exemplarische, aber auch scheinbedeutsame Vorfälle in Hülle und Fülle. Bei Lebensneugierigen wie Judith Kuckart steigern und verdichten sich die Kreuz- und Querbezüge wahrscheinlich. Jedenfalls werden sie ungleich schlüssiger erzählend verknüpft. Allerdings gilt erzählerische Distanz, denn: „(…) man weiß immer erst im Nachhinein, dass das, was man gerade erlebt, ein Stoff zum Erzählen ist. Denn wer sagt schon, Achtung, jetzt erlebe ich gerade eine Geschichte…“ Außerdem heißt es auf Seite 161, wie in Gedichtzeilen gesetzt:

„Das Seltsame an der Wirklichkeit ist
sage ich wieder und wieder –
dass jedes Ereignis auch ganz anders hätte stattfinden können.“

Eindrücke von Pina Bausch bis Pierre Brice

Nur mal ganz kursorisch aufgegriffen: Mit 15 Jahren taucht die tanzbegeisterte und dito begabte Judith ein einziges Mal inkognito beim nahe Schwelm gelegenen Wuppertaler Tanztheater der legendären Pina Bausch auf. Als Regisseurin und Tänzerin frönt die Schwelmerin später weiterhin der Tanzleidenschaft. Ihr Roman gliedert sich denn auch in eine Reihe von Theater-Kantinengesprächen. Nach dem Abi arbeitet sie vorübergehend in einer Lokalredaktion der Schwelmer Nachbarschaft und interviewt sogleich den Kino-Winnetou Pierre Brice. (Das erinnert mich, mit Verlaub, an meine Volontärzeit, die ein paar Jahre früher zeitweise in dieselbe Gegend – nach Gevelsberg – führte).

Die Eltern und sonstigen Vorfahren der Autorin kommen im Verlauf des Romans ebenso in Betracht wie eine Cousine, die mit zehn Jahren stirbt, die besonderen Frauen Ellen R. und Eva K., die Freundin „Bee“, die spiegelbildlich von ihren Vätern so benannten Judith Martina (also die Erzählerin) und Martina Judith, wodurch weitere biographische Vexierbilder entstehen. Liebhaber scheinen hingegen eher Randerscheinungen zu bleiben, zumindest treten sie nicht ins literarische Rampenlicht. Hier geht es vor allem ums Frauenleben – bis hinab zu den schauderhaften Abgründen einer erlittenen Vergewaltigung.

Heidegger und Genazino, nahezu geisterhaft

Judiths Vater Leo brachte es realiter vom Waschmaschinen-Vertreter bis zum CDU-Landtagsabgeordneten. In diesem Zusammenhang ist die kleine Judith einmal mit Franz Josef Strauß fotografiert worden. Als Kind mit ihren Eltern im Schwarzwald-Urlaub, sieht sie aus der Ferne schemen- und geisterhaft den steinalten Martin Heidegger, natürlich ohne Näheres über ihn zu wissen. Später haben u. a. der Schriftsteller Wilhelm Genazino und der Polyhistor Alexander Kluge ihre kurzen Auftritte, wobei Genazinos Part seltsam gespenstisch anmutet.

Und die große Historie, die Welt der Nachrichten? Seitdem die Autorin in Berlin lebt (wo sie anfangs Filmkritikerin beim „Tagesspiegel“ war), ergeben sich Geschichts-Ablagerungen wie von selbst, nicht zuletzt durch Erlebnisse des Zeitenwandels beim Transit in die DDR anno 1976, 1983, 1986 und dann nach der „Wende“. Damit können Schwelm oder Dortmund (wo die Autorin so manchen Kindheitssommer verbracht hat) denn doch nicht mithalten.

Schließlich finden sich solche Zitate, die man sich einfach zum Nachsinnen notieren sollte, um bald einmal darauf zurückzukommen: „Sie ist darauf gefasst, dass das Unglück so selbstverständlich ist wie der Tod und keine Sprache hat.“ – „Wir sitzen zu dritt in unserer Kindheit herum…“ – Oder jene (wiederum im lyrischen Zeilenfall aufscheinenden) aphoristischen Schlussworte:

Nicht wichtig
ist
was man aus uns gemacht hat
wichtig ist
was wir aus dem machen
was man
aus uns gemacht hat.

Judith Kuckart: „Die Welt zwischen den Nachrichten“. Roman. DuMont- Verlag, Köln. 190 Seiten, mit ca. 25 Schwarzweiß-Fotos. 24 Euro.