„Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin“: 100 Jahre Rundfunk als Massenmedium

Aus frühen Radiozeiten: historische Rundfunkempfänger im Radiomuseum Hans Necker zu Bad Laasphe. (Aufnahme von 2007: Bernd Berke)

Am 29. Oktober 1923 beginnt die Geschichte des Rundfunks als Massenmedium in Deutschland. Auf „Welle 400 Meter“ ist der Sprecher Friedrich Georg Knöpfke zu hören, wie er mit getragenem Pathos „Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin, im Vox Haus“ ansagt. In Nordrhein-Westfalen und dem besetzten Ruhrgebiet startet die Radiogeschichte jedoch erst ein Jahr später.

An jenem Oktobertag, Punkt acht Uhr abends, teilt der Direktor der „Funkstunde Berlin“ den 253 Personen, die bereits eine Hör-Lizenz besaßen, mit, „dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt. Die Benutzung ist genehmigungspflichtig. Als erste Nummer bringen wir: Cellosolo mit Klavierbegleitung, Andantino von Kreisler, gespielt von Herrn Kapellmeister Otto Urack, am Flügel Herr Fritz Goldschmidt.“

An diese erste Sendung erinnert sich Otto Urack in einem dreißig Jahre später entstandenen Interview: „… am Tag vorher hatten wir schon ein Programm zusammengestellt von einer Stunde und dieses Programm wurde am 29. Oktober vormittags nach dem Abgeordnetenhaus probeweise übertragen. Nach Ende des Konzert habe Hans Bredow, damals Staatssekretär für das Telegraphen-, Fernsprech- und Funkwesen im Reichspostministerium, angerufen: „Kinder, das hat gut geklungen, wir fangen an.“ Urack erinnert sich: „Als wir uns erkundigten, wann wir anfangen sollten, sagte er: Heute Abend.“

Anregung für ein „freudloses Volk“

Bredow erkennt weitsichtig, dass sich der „Rund-Funk“ für jedermann als neues Massenmedium eignet. Vorher hatte es nach ersten militärischen Experimenten ab 1920 die Ausstrahlung von Wirtschaftsnachrichten für Banken und von aktuellen Mitteilungen für Journalisten und Presseorgane gegeben. Bredow umreißt die Aufgabe der neuen technischen Möglichkeit, Worte und Musik zu übertragen: Der Rundfunk solle einem „freudlosen Volk“ Anregung und Freude bringen, es durch künstlerisch und geistig hochstehende Vorträge aller Art unterhalten. Er sollte mit seinen Sendungen der geistigen Verarmung der Bevölkerung entgegenwirken, für Erholung und Zerstreuung sorgen und die Arbeitsfreude steigern.

Der erste Käufer einer Lizenz ist der Berliner Zigarettenhändler Wilhelm Kollhoff. Nur mit der Hörgenehmigung kann er sich einen Radioapparat bei Telefunken bestellen. Aber schon ein halbes Jahr nach dem Start des Rundfunks überschreitet die Zuhörerzahl der Funk-Stunde die Marke von 100.000. Schnell gründen sich weitere Rundfunkanstalten: Noch 1923 der Südwestdeutsche Rundfunkdienst in Frankfurt (SWR), 1924 der Mitteldeutsche Rundfunk in Leipzig, die Deutsche Stunde in Bayern in München, die Nordische Rundfunk AG (Norag) in Hamburg und in Bremen. Da im besetzten Ruhrgebiet kein Sender eingerichtet werden darf, sendet die Westdeutsche Funkstunde AG (WEFAG) ab 10. Oktober 1924 aus Münster. Erst 1925 werden die „Nebensender“ Dortmund und Elberfeld eingerichtet; der Münsteraner Sender ein gutes Jahr später nach Köln verlegt. Die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft in Berlin fasst 1925 die regionalen Sender unter einem Dach zusammen. Da war die Zahl der Rundfunkteilnehmer schon auf über eine Million angestiegen.

Fußball live im Radio

Das Interesse an der technischen Neuentwicklung ist gewaltig. Noch 1924 findet in Hamburg die erste Funkausstellung statt. 1925 strahlt der Nordische Rundfunk mir Richard Hughes‘ „Gefahr“ das erste Hörspiel in Europa aus. Am 1. November kommentiert Bernhard Ernst erstmals live ein Fußballspiel im Radio – eine Begegnung von Preußen Münster und Arminia Bielefeld; im folgenden Jahr schon gibt es die erste Live-Übertragung eines Länderspiels (Deutschland – Niederlande) aus Düsseldorf. 1927 ordnet die Internationale Weltfunkkonferenz in Washington Frequenzen und Wellenbereiche weltweit.

Eine Sendung aus den Pioniertagen des Rundfunks hat bis heute überlebt: Mehr als 3.500 Mal war seit 9. Juni 1929 das Hamburger Hafenkonzert zu hören, das am Sonntagmorgen ausgestrahlt wird. In dieser Zeit werden Sendeanlagen in ganz Deutschland ausgebaut, auch die Radiogeräte entwickeln sich stürmisch weiter. Der Röhrenempfänger mit Lautsprecher erobert den Markt. Die Nationalsozialisten erkennen den Nutzen des Rundfunks für propagandistische Zwecke. Die selbständigen Rundfunkgesellschaften werden aufgelöst.

Joseph Goebbels sieht in dem Medium „das aller modernste und … aller wichtigste Massenbeeinflussungsinstrument, das es überhaupt gibt“. Der „Volksempfänger“ sollte den Rundfunk weiter popularisieren. Führerreden werden übertragen, Kriegsberichtserstattung nimmt breiten Raum ein. Die pathetische Hymne aus Franz Liszts „Les Préludes“ ist bis heute vergiftet durch den Missbrauch als Ankündigung für Sondermeldungen von der Front.

„Radio Hamburg“ und der WDR

Nach dem Krieg bauen die Alliierten den Rundfunk schnell wieder auf. Schon am Tag der Besetzung Hamburgs, am 4. Mai 1945, beginnt „Radio Hamburg“ mit dem Sendebetrieb im unzerstörten Funkhaus unter der Aufsicht britischer Offiziere. Im Herbst 1945 wird in allen Zonen ein Vollprogramm ausgestrahlt. In der Sowjetzone entstand aus dem „Berliner Rundfunk“ der künftige, staatlich gelenkte Rundfunk der DDR mit fünf Programmen. Im Westen entwickeln die Briten mit dem am 1.  Mai 1948 lizenzierten Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) die spätere Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit einem Verwaltungsrat, bestehend aus Vertretern aller gesellschaftlichen Gruppen, als Kontrollgremium.

Die neu entstandenen Landesrundfunkanstalten schließen sich 1950 zur ARD zusammen. Am 25. Dezember 1952 fällt nach zwei Versuchsjahren der Startschuss für ein reguläres Fernsehprogramm. Die erste „Tagesschau“ einen Tag später können nur 1000 Haushalte empfangen. Am 1. Januar 1956 entstehen aus dem NWDR die beiden selbständigen Rundfunkanstalten NDR und WDR mit seinem Hauptsitz in Köln.

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Die „Geburtstagssendung“ des WDR: https://www1.wdr.de/radio/wdr3/thementag-hundert-jahre-radio-102.html?wt_mc=mail.wdr.newsletter.Happy+Birthday%2C+liebes+Radio.link

Im Technoseum Mannheim ist noch bis 12. November 2023 die Sonderausstellung „Auf Empfang! Die Geschichte von Radio und Fernsehen“ zu sehen: https://www.technoseum.de

In Königs Wusterhausen bei Berlin erinnert das Museum Funkerberg u.a. an die Sendestelle, von der 1920 das erste Rundfunkkonzert ausgestrahlt wurde: https://museum.funkerberg.de/

Historische Rundfunksendungen sind u.a. hörbar auf https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/

 




Arbeitsschweiß und Maschinenrhythmus: „Stahlkocher“ als Thema eines Konzerts in Dortmund

Die Torte trägt einen Smoking, ist eingehüllt in Noten und fußt auf einer Klaviertastatur. Damit es endlich weitergeht, betätigt sich Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz ausnahmsweise destruktiv. Messer her, energische Schnitte, und schon landen die ersten saftigen Schokoladenkuchenstücke auf den Tellern.

Dortmunds GMD Gabriel Feltz schneidet seine Torte an. (Foto: Werner Häußner)

Das Produkt der Konditorenkunst gilt der Hommage an eine ansonsten durch und durch aufbauende Persönlichkeit: Gabriel Feltz feiert nach dem Zweiten Philharmonischen Konzert der Dortmunder Philharmoniker sein zehnjähriges Dienstjubiläum in der Stadt.

Da wird viel Harmonie bekundet: Oberbürgermeister Thomas Westphal, Theaterdirektor Tobias Ehinger und Orchestervorstand Hauke Hack singen Hymnen auf den rührigen GMD, heben Ideenreichtum, Innovationskraft, Energie und Fleiß hervor, lassen mit launigen Bonmots auch mal schmunzeln. Feltz dankt, bekundet seine Verbundenheit mit Dortmund und verteilt dann entschlossen das süße Präsent.

Künstlerisch hat das Philharmonische Konzert das Lob mit einem so originellen wie hochkarätig dargebotenen Programm unterfüttert. Einer der glückhaften Abende mit Feltz, von dem – der Kritiker hat die undankbare Aufgabe solcher Hinweise – es auch schon andere zu erleben gab. Ein Abend unter dem Motto „Stahlkocher“, denn diese Saison widmet das Orchester seiner Heimatregion, dem Ruhrgebiet. Die programmatischen Linien ziehen sich von unter Tage über Fußball, Flora und Fauna bis zum Tanz und mit der Taubenzucht auch hinauf in den früher gar nicht so blauen Himmel über der Ruhr.

Ein T-Shirt zum Jubiläum. (Foto: Sophia Hegewald)

Mit unbekannten Werken lassen die Philharmoniker also noch einmal die vergangene Landschaft der Schwerindustrie künstlerisch greifbar werden. Dass die Welt der Industriearbeit im Sozialismus zumindest dem Anspruch nach einen zentralen Schwerpunkt bildete, hat sich auch im musikalischen Schaffen niedergeschlagen. „In der Eisengießerei“ ist ein dreiminütiges Stück des in großen Musiklexika nicht auffindbaren Alexander Mossolow (1900-1973), das diesen Blickwinkel beispielhaft repräsentiert.

Mossolow, vor seiner Verurteilung als „Konterrevolutionär“ ein musikalischer Avantgardist, lässt das Orchester unter Missachtung herkömmlicher Regeln den Geräuschpegel einer Fabrik erzeugen: Lärmcluster, rhythmisches Stampfen, das regelmäßige Quietschen irgendeines mechanischen Teils, dumpfe und grelle Schläge – und dazwischen dürfen vier Hörner mit vollem Schalldruck Signale gellen lassen, bevor mit Gong und Knall die Maschinerie zum Stillstand kommt. Naturalistischer geht’s nimmer, und man fragt sich, was wohl geworden wäre, hätten Bert Brecht und Kurt Weill ihre von konservativen Kreisen in Essen hintertriebene „Ruhr-Oper“ tatsächlich geschrieben – oder Mossolow sein Ballett „Stahl“, das bis auf diesen Satz über die Fabrik unausgeführt blieb.

Mossolow hat noch andere solcher Werke wie „Die Traktorenbrigade fährt in die Kolchose ein“ hinterlassen; viele sind verschollen, fast alle wissenschaftlich unbearbeitet, aber die drei Minuten wecken Lust, zum Beispiel einmal eine seiner Sinfonien zu hören, die wohl einen wunderlichen Kontrast zu seinem Zeitgenossen Dmitri Schostakowitsch bilden würden. Denn Mossolow unterwarf sich später dem Diktat der sowjetischen Kunstdoktrin, um unauffällig sein Leben zu führen.

Das andere in den thematischen Rahmen passende Werk ist Sergej Prokofjews „Der stählerne Schritt“ op. 41, ein unverkennbares Propagandawerk, das nach Folklore-Fetzen, schrägem Pathos und verfremdetem Mussorgsky in eine hochvirtuos stilisierte Stahlfabrik führt, wo der neue „heroische“ Sowjetmensch in Richtung Kommunismus unterwegs ist. Dass die Entfremdung nicht aufgehoben ist, macht Prokofjews Musik – bewusst oder nicht – aber auch deutlich. Unter dem brutalen Stampfen des Rhythmus, dem Takt von Maschinen dem schrillen Kreischen unerkannt bleibender technischer Vorgänge droht das Individuum unterzugehen.

Vielleicht ist diese Lesart zu spekulativ: Aber Prokofjew sträubt sich dagegen. Er lässt immer wieder Soli durch die Kulisse des Lärmens brechen; zwei Fagotte haben viel zu tun, die anderen Holzbläser treten auf einmal mit einer Kantilene hervor und der Klang verschiebt sich immer wieder in neuen Instrumentenkombinationen. Die Dortmunder lassen keinen Arbeitsschweiß auf ihre Stirnen treten. Sie sind in jedem Moment souverän und reaktionsschnell bei der Sache, und Feltz plustert die dissonanten Blechbläser nicht auf, sondern strukturiert den Maschinenlärm, der weit stilisierter und „abstrakter“ gefasst ist als bei Mossolow.

Das ist eine der deutschen „Pacifics“ der Baureihe 01, wie sie Arthur Honegger musikalisch porträtiert hat. Solche Lokomotiven waren bis in die sechziger Jahre auch in Dortmund in großer Zahl anzutreffen. (Foto: Archiv Häußner)

Ein dritter Aspekt der Industrialisierung beschließt das Konzert. Arthur Honegger, wie übrigens auch Antonín Dvořák ein bekennender Eisenbahnfan, lässt in seinem Klanggemälde „Pacific 2.3.1.“ die Arbeitsgeräusche einer Schnellzug-Dampflokomotive zu einem raffinierten Musikerlebnis werden. Auch für dieses Stück kann man einen Dortmund-Bezug reklamieren: „231“ sagt in angelsächsischen Ländern etwas über Anzahl und Anordnung der Achsen einer Lokomotive. In Deutschland waren etwa die ab 1925 gebauten Dampfloks der Baureihe 01 solche „Pacifics“, und in Dortmund war bis zum Ende der Dampfzeit in den sechziger Jahren eine erhebliche Anzahl dieser Maschinen stationiert.

Das Orchester  bringt Honeggers beschreibende Musik mit Glanz und Verve zum Klingen, aber Feltz lässt sie nicht klangmalerisch schnaufen und pulsieren wie etwa Rossini in seinem köstlich-ironischen „Vergnügungszug“. Vielmehr stellt er heraus, dass Honegger eine gewitzte analytische Studie über Bewegung, Metrum und Rhythmus geschaffen hat.

Den Kontrast zu all diesen Reminiszenzen an das Industriezeitalter bildet Sergej Rachmaninows beliebtes c-Moll-Klavierkonzert op. 18, das Herz des Abends. Nikolai Lugansky hat am Anfang nicht die Entschiedenheit, den Flügel aus der Deckung des Orchesters treten zu lassen, aber die Balance findet sich rasch. Die dunkel timbrierten Streicher des Beginns münden in eine wirkungsvolle Steigerung, und dann findet der Pianist zu schwebenden Klängen, aparten Rückungen und Varianten im Tempo.

Der dritte Satz, ein „allegro scherzando“, gelingt konturenscharf, kraftvoll zupackend, aber nicht dröhnend. Brillanten Schritts geht es in Richtung Finale, es herrscht die Lust am saftigen Musizieren, das auch vor Pathos nicht zurückscheut. Rachmaninow als Gegenwelt – lassen da nicht die grünen Eilande des Ruhrgebiets grüßen, in die Denkmäler der Industrie als neue Orte einer Romantik ragen, die unseren schaffenden Vorfahren unwirklich vorgekommen wäre?

Das nächste Philharmonische Konzert, diesmal mit Christoph Altstaedt als Dirigent, trägt den Titel „Taubenzüchter“ und präsentiert Antonín Dvořáks „Die Waldtaube“, seine 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ und das farbig-sinnliche Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds mit Anna Tifu als Solistin. Termin: 14./15. November, jeweils 19.30 Uhr im Konzerthaus Dortmund. Tickets: www.theaterdo.de, Tel.: (0231) 50 27 222.




Wie es im Revier gewesen ist – Fotografien von Helmut Orwat

Taubenzüchter im Sonntagsanzug, Castrop-Rauxel, 1967. (Foto: Helmut Orwat)

Helmut Orwat war stets nah dran. Nah am Alltag und den Menschen im Ruhrgebiet, speziell in und um Castrop-Rauxel. Seit 1960 arbeitete er als freier Fotograf für diverse Zeitungen und Zeitschriften, von 1984 bis 2000 war er bei den Ruhrnachrichten festangestellt. Rund 150 ausgewählte Fotografien sind im LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg zu sehen.

Der Ausstellungstitel „Täglich Bilder fürs Revier“ lässt etwas von der Eile ahnen, mit der Orwat meist zu Werke ging. Aktuelle Geschehnisse mussten eben sofort festgehalten werden, und zwar unter härteren Bedingungen als heute, wo digitale Kamera- und Nachbearbeitungs-Technik die Sache doch deutlich erleichtert. Dennoch (oder gerade deshalb, weil eben noch viel mehr echte Handarbeit darin steckt) haben seine Bilder die Jahrzehnte überdauert und legen nun gültiges Zeugnis ab vom Ruhrgebiet, wie es einmal gewesen ist. Manche Besucher werden sich wehmütig erinnern.

Kernkraftwerk in Hamm-Uentrop, 1980. (Foto: Helmut Orwat)

Die besten Fotos haben gleichsam eine „Seele“, man merkt ihnen die Freude des Herstellens an. Ganz klar: Solche kontraststarken Ansichten müssen schwarzweiß sein, jede Kolorierung täte ihnen Gewalt an. Vorbilder Orwats waren Fotografie-Größen wie Chargesheimer und Otto Steinert, die sich gleichfalls im Revier umgetan hatten.

Die Auswahl ist in Kapitel gegliedert, zum Beispiel: Industrie und Landschaft, Kanal und Schifffahrt, Beruf und Arbeit, Stadt und Verkehr, Familie und Freizeit. Die Aufnahmen vergegenwärtigen inzwischen verblasste, typische Merkmale des Ruhrgebiets und seiner Menschen, zunächst vor allem im Umkreis des Bergbaus – nicht nur in den Zechen selbst, sondern etwa auch am Straßenrand, wenn haufenweise Kohle geliefert wurde und nun in den Keller geschaufelt werden sollte. Auch sieht man prominente Besucher der Castroper Zeche Erin mit kohleschwarzen Gesichtern als kalkuliertes Signal für „Volksnähe“: den früheren Bundespräsidenten Walter Scheel (1975) oder den damaligen CSU-Chef Franz Josef Strauß (1980).

Feuerlöschübung mit Ordensschwestern des St. Rochus-Hospitals, Castrop-Rauxel, 1972. (Foto: Orwat)

Vor allem aber hat Orwat die „ganz normalen“ Bewohner des Reviers in den Blick genommen. Die Camper am Dortmund-Ems-Kanal, den Taubenzüchter, die Frau von der Trinkhalle, den Klüngelskerl, Frauen in der Bochumer Opel-Montage, die Jury des Kleingartenwettbewerbs – und immer wieder spielende Kinder, ein Motiv-Genre, für das Helmut Orwat einen besonderen Blick hatte. Bemerkenswert auch die Fotos von einer Modenschau bei Hertie in Castrop oder vom Castroper Pferderennen und seinem Publikum. Da zeigt sich überdeutlich: Das einstige Revier war beileibe weder Paris noch Ascot, doch auch hier konnte man die karge Freizeit genießen, wenngleich längst nicht so edel stilisiert. Dafür aber ohne Dünkel.

Montagestraße Opel Kadett, Opel Werk I, Bochum, 1963. (Foto: Helmut Orwat)

Orwat, 1938 als Bergmannssohn in Castrop-Rauxel geboren, erfasste imposante, zuweilen auch beängstigende Industrielandschaften, zeichnete dann aber auch den Niedergang der alten Industrien nach. Die Folgen werden fassbar, wenn Arbeiter gegen Schließungen demonstrieren und Orwat ihre letztlich vergebliche Entschlossenheit zu zeigen vermag. Als schon etliche Zechen dicht waren, bekam er Götz George vor die Linse: 1981 als „Schimanski“ beim Dreh zum Duisburger „Tatort“. Es war ein bedeutsamer zeitlicher Schnittpunkt: Die Industrie war im Schwinden begriffen, eine Figur wie Schimanski trug jetzt zur Legendenbildung bei.

Das nahende Ende des früheren Reviers zeigt sich bereits in Aufnahmen wie jener des sterilen City-Centers Herne (1975) mit seiner ganz und gar nicht mehr regionaltypischen Anmutung. Das war keine wirkliche Alternative zum schmutzigen Hinterhof der alten Zeiten. Überhaupt dokumentierte Orwat einige brutale „Bausünden“ im Ruhrgebiet. Noch betrüblicher: Sein Beruf brachte es mit sich, auch Unglücke ablichten zu müssen. Das Auto, das aus dem Kanal geborgen werden musste, den explodierten Tanklaster, den Trauerzug nach einem Grubenunglück.

Helmut Ornat: Selbstporträt mit Leica-Kamera im Jahr 1965.

Leute wie Helmut Orwat gibt es nicht mehr. Tageszeitungen leisten sich kaum noch ambitionierte Fotografie. Statt dessen zücken häufig die Texter ihre Handys. Mit entsprechend dürftigen Ergebnissen.

„Täglich Bilder fürs Revier“. Pressefotografien von Helmut Orwat 1960-1992. Waltrop, LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg (Hafengebäude). Noch bis 4. Februar 2024. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Begleitender Bildband mit 150 Aufnahmen im Tecklenborg Verlag, 200 Seiten, 19,80 Euro.

Das LWL-Medienzentrum für Westfalen hat das fotografische Lebenswerk von Helmut Ornat übernommen. Eine Auswahl von über 3000 Motiven wurde digitalisiert und kann online recherchiert werden unter:

www.orwat-fotosammlung.lwl.org

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel erschienen: 

www.westfalenspiegel.de




Lecken, schmecken, lispeln, lallen: Fast alles über die Zunge

Florian Werner knöpft sich die kulturgeschichtlichen Themen vor, wie sie ihm beikommen. Zuletzt hatte er sich mit allerlei Fährnissen rund um die Raststätte befasst, es wurde an dieser Stelle gewürdigt. Nun ist ein ganz spezieller Körperteil an der Reihe: die Zunge, also das eigenwillig schlüpfrige Ding in der Mundhöhle, das manchmal so keck hervorkommt.

Schnell wird klar, wie fleißig der Autor Materialien gesammelt hat. Nahezu jede denkbare (zumindest deutschsprachige) Redensart mit Zungenbezug wird zitiert und aufs pralle Leben bezogen. Da kommt einiges zusammen. Derlei Bücher tendieren überhaupt dazu, die ganze Welt auf ihr Thema zu fokussieren. Dem Zungen-Autor ist irgendwann alles Zunge. Und so heißt es auch hier: bloß nichts vergessen, bloß nichts auslassen, keinen Gag verschenken. So wird die Phänomenologie der Zunge um und um gewendet. Beim Ameisenbär ist sie übrigens rund 60 Zentimeter lang, die Giraffe bringt’s auf 50 Zentimeter. Nur mal fürs Protokoll.

Provokation und Sexualität

Was kann die Zunge nicht alles sein und vollführen – von frühauf: gemeinsam mit den Lippen an der Mutterbrust saugen. Aber sie ist auch körperpolitisch aktiv. Vor allem seit den 1960er Jahren gerät sie zum immer offensiveren Zeichen der Provokation, sofern frech rausgestreckt (man denke ans berühmte Stones-Cover und dergleichen Ikonen); ein höchst bewegliches Organ, schleimig und zuweilen etwas eklig. Sodann die sexuelle Konnotation beim Lecken und Gelecktwerden. Mit den Geschlechtsteilen hört die Leckerei ja noch lange nicht auf, das weite Feld wird von A bis Z (Klartext: Arschlecken bis Zungenkuss) durchbuchstabiert. Feinsinnige Unterscheidung: Kommt die Zunge aus dem Mund und wölbt sich nach oben, so darf die Mimik als lasziv gelten (das walte Mick Jagger), richtet sie sich nach unten, so wird es schnell beleidigend. Bäh!

Beileibe nicht jedes Lecken ist erotisch, es kommt auch in biederen Bereichen vor. Vordem wurden zumeist auch Briefmarken rückseitig geleckt, heute gibt’s überwiegend selbstklebende Postwertzeichen. Da deutet sich wohl ein Wandel zu mehr Sterilität und Hygiene an. Auch so eine Zeitsignatur.

Belege quer durch die Kulturgeschichte

Sodann die Feinheiten der Geschmackswahrnehmung (Nebenaspekt: Abwertung des Süßen, nicht erst seit Özdemir und Lauterbach) und der Sprachlichkeit, deren Artikulation wesentlich von der Zunge erzeugt wird – bis hin zum Lispeln und Lallen. Linguistik kommt vom romanischen Wortstamm für Zunge. Schließlich der verzückt-religiöse und esoterische Aspekt („In Zungen reden“), Teufel und Schlange mit ihren gespaltenen Zungen. Kurzum: Man denke sich irgend etwas Zungenhaftes aus, es wird mit ziemlicher Sicherheit in diesem Buch auftauchen.

Von biblischen und antiken Mythen über die Philosophie (Kant etc.) bis zu Kunst, Kino und Pop-Videos reicht das Spektrum der Beleg- und Beleck-Stücke. Haha, auf diesen halbgaren Gag mochte ich jetzt auch nicht verzichten. Die jeweilige Deutung bewerkstelligt Florian Werner vielfach inspiriert, zumindest aber mit Geschick und Routine. Er hat den nötigen Horizont. Dennoch erschöpft sich das Repertoire irgendwann. Das Buch hätte nicht viel umfangreicher werden sollen.

Als Agassi Boris Beckers Gedanken las

Der Verfasser bringt unterwegs einige hübsche Anekdoten unter, so auch jene, nach der der US-Tennisstar (und nachmalige Ehemann von Steffi Graf) Andre Agassi häufig gegen Boris Becker gewinnen konnte, weil er geahnt hat, wohin Boris schlagen würde. Warum? Weil er Beckers Zunge beobachtete. Sie zeigte die Richtung des Balles vorab an. Agassi konnte sich das Grinsen kaum verkneifen, als er belauschte, wie Becker nebenan der Weltpresse sagte, dieser amerikanische Gegner könne wohl seine Gedanken lesen…

Gegen Ende die multiple Horrorvorstellung: Variationen auf abgeschnittene Zungen. Abgründe brutaler Herrschaftsausübung, vor allem in kolonialistischen Zusammenhängen oder im schwerkriminellen Milieu. Da geht’s beispielsweise um die „Kolumbianische Krawatte“ (die ich hier nicht näher erläutern mag) sowie einschlägige Fundstellen von Ovid über Shakespeare und Houellebecq bis hin zur Netflix-Serie „Breaking Bad“. Am Ende glimmt, trotz viehischer Gewalttaten, so etwas wie vage Hoffnung auf. Werden auch einzelne Zungen verletzt und zerfetzt, so werden sie niemals alle zum Schweigen gebracht.

Florian Werner: „Die Zunge. Ein Portrait“. Hanser Berlin, 216 Seiten, 24 Euro.




Entwaffnend: Platons „Apologie des Sokrates“, neu übersetzt

Sonderlich geschickt war es eigentlich nicht, was Sokrates da angerichtet hat. Er hat allerlei Fachleuten in Athen, die sich für ungemein wissend hielten, glasklar vorgeführt, dass sie im Grunde nichts wussten – und damit natürlich mancherlei Eitelkeiten verletzt.

Eigentlich kein Wunder, dass sich viele dieser Kleingeister gegen den umtriebig umher ziehenden und disputierenden Philosophen verbündet haben, Anklage gegen den angeblichen Verderber der Jugend erhoben und schließlich gegen ihn die Todesstrafe durch den berühmt-berüchtigten Schierlingsbecher erwirkten. Dabei war es keine hochfahrende Arroganz, die Sokrates antrieb; auch er selbst wusste von sich, dass er (nahezu) nichts wusste. Nur vielleicht ein klein wenig mehr als seine Gegner.

Vor dem erwähnten Todesurteil durfte Sokrates eine öffentliche Verteidigungsrede halten, seine Apologie. Platon hat sie bekanntlich aufgezeichnet und für alle kommenden Zeiten festgehalten. Und Kurt Steinmann hat sie für die vorliegende Ausgabe neu übersetzt. Flüssig, aber doch nicht gar zu eingängig. Da sagt schon mal jemand schlichtweg „Ja, klar.“ Warum auch nicht? Es mag salopp klingen, ist aber passend, bezeichnen die zwei Wörtchen doch den hilflosen Duktus des größten Sokrates-Feindes, der halt nicht wortmächtig, sondern einfältig und beschränkt ist. Überdies dürften auch die schlaueren alten Griechen nicht ständig auf sprachlich hohem Kothurn einher gestakst sein.

Gar manches andere kommt entwaffnend einfach daher. So entwaffnend wie Sokrates‘ Logik, mit der er in der Apologie den Unsinn seiner Widersacher vorführt. Doch so klug und fintenreich er auch argumentiert, die Mehrheit der 500 ausgelosten Laienrichter ist nun einmal gegen ihn und lässt sich nicht umstimmen. Immerhin konnte er einige auf seine Seite ziehen: 280 „Männer Athens“ (wie Sokrates sie anspricht) plädierten für schuldig, 220 dagegen.

Es ist sonderbar bewegend, durch einen (letztlich auch subjektiv zugerichteten) Text Kunde zu erhalten von einem Prozess, der vor rund 2400 Jahren stattgefunden hat. Da fühlen wir uns dem Geschehen ganz nah, ja, wir sehen es womöglich geradezu filmisch vor uns ablaufen wie eines der großen Gerichtsdramen des Kinos.

Übrigens sind es – genau genommen – drei Reden, die Sokrates gehalten hat; eine Hauptansprache vor dem Urteil, eine nach dem Schuldspruch und schließlich letzte Worte nach Bestimmung des maximalen Strafmaßes. Sokrates ist, Platon zufolge, wahrhaft aufrecht in den Tod gegangen. Das Sterben erschien ihm nicht als finales Übel, sondern als Sphäre des Durchgangs. Und das unbeirrte Einstehen für die Wahrheit war ihm wichtiger als das bloße Überleben.

Dass und wie sehr Platons „Apologie des Sokrates“ zu den ewigen Klassikern und sozusagen zu den Gründungstexten Europas gehört, wird spätestens durch den Anhang des Bandes deutlich. Hier werden erlauchte Geister der letzten Jahrhunderte zitiert, die sich auf die sokratische Denk- und Redeweise bezogen haben – von Cicero bis Dante, von Montaigne bis Lessing und Goethe, von Hegel, Schopenhauer und Nietzsche bis Walter Benjamin und Elias Canetti. Lauter Denkanstöße und Lese-Anregungen erster Güte.

Platon: „Apologie des Sokrates“. Manesse. 192 Seiten, 24 Euro (Aus dem Griechischen übersetzt und kommentiert von Kurt Steinmann. Anhang mit zahlreichen Zitaten aus der Geistesgeschichte. Nachwort von Otto Schily).




Abschied ohne Nostalgie: Waltraud Meier hat die Opernbühne verlassen

Waltraud Meier auf der Bühne der Berliner Lindenoper. Die große Künstlerin hat ihre Karriere beendet. (Foto: Jakob Tillmann)

Eine der prägenden Künstlerinnen der Opernbühne der letzten Jahrzehnte hat Abschied genommen: In Berlin sang Waltraud Meier zum letzten Mal die Klytämnestra in Richard Strauss‘ „Elektra“. Werner Häußner kennt die Sängerin seit ihrem Debüt in Würzburg 1976 und lässt Stationen einer Karriere Revue passieren, die von 1980 bis 1983 auch nach Dortmund führte. Dort sang Meier erstmals die Kundry in Wagners „Parsifal“. Eine Rolle, die ihr 1983 den Durchbruch in Bayreuth bescherte.

Was soll man zum Bühnenabschied einer Sängerin schreiben, über die in den 47 Jahren ihrer Karriere wohl alles schon in Zeilen gefasst wurde, was öffentlich zu sagen ist? Wozu den Lebenslauf rekapitulieren, der überall nachzulesen ist; wozu das umfangreiche Repertoire aufzählen, das nun eh der Vergangenheit angehört?

Oder sollte man die Stimme von Waltraud Meier preisen, die am Freitag, 20. Oktober 2023, in der Berliner Staatsoper unter den Linden zum letzten Mal in einem Theater erklungen ist? Sollte noch einmal das „Bühnentier“ in den Vordergrund treten, das um 20.44 Uhr, nach langem herzlichem Beifall raschen Schrittes von der offenen Szene eilt, die Richard Peduzzi einst für Patrice Chéreaus „Elektra“ gebaut hat und die nun abgespielt ist?

„Tschüss“ für ein wunderbares Publikum

Waltraud Meier hat beklagt, dass heutzutage keine Blumen mehr geworfen werden. Bei ihrem Abschied in Berlin war das anders. (Foto: Jakob Tillmann)

Berlin erlebte den Bühnenabschied einer Sängerin, die mehr ist als eine verkörperte Stimme, die als „Jahrhundertsängerin“ bewundert, als „Callas der Jetzt-Zeit“ gerühmt wurde. Alle Rekapitulationen oder Lobeshymnen klingen in einer solchen Situation wie ein Nachruf, und den hätte Waltraud Meier noch lange nicht verdient und hoffentlich noch viel länger nicht nötig. Von ihrem „wunderbaren treuen Publikum“ verabschiedet sich mit einem fast schüchtern klingendem „Tschüss“ eine entschlossene Frau, bereit, das Leben nach dem Bühnendasein anzupacken und zu genießen. Wehmut? Wenn, ist er tapfer verborgen. Nostalgie oder gar Tränen? Das sind Waltraud Meiers Sachen nicht.

In Interviews hat sie deutlich gemacht: Es wird keine Rückkehr mehr geben, Altersrollen sind ausgeschlossen, und das Leben geht auch ohne Klytämnestra, Kundry, Waltraute oder Isolde weiter. Waltraud Meier hat musikalisch gesagt, was sie zu sagen hatte, jetzt ist Schluss. So kontrolliert, so entschieden und klar kennt man die Fränkin, die 1976 am Stadttheater Würzburg als Lola in Mascagnis „Cavalleria rusticana“ ihre Bühnenkarriere begann. Da hatte sie die Szene noch nicht betreten und war schon nach Mannheim wegengagiert.

Zum letzten Mal Klytämnestra in „Elektra“ von Richard Strauss, u. a. mit Ricarda Merbeth (Elektra) und Vida Miknevičiūtė (Chrysothemis). Dirigiert hat den Abschiedsabend Markus Poschner anstelle des ursprünglich vorgesehenen Daniel Barenboim, der leider nicht anwesend sein konnte. Waltraud Meier bedankte sich mit warmen Worten bei ihrem „Lebensdirigenten“: „Ich habe den ganzen Abend an ihn gedacht und er bleibt in meinem Herzen“. (Foto: Jakob Tillmann)

Was bleibt also noch übrig? Vielleicht ein paar persönliche Erinnerungen an die Anfänge von Waltraud Meiers Laufbahn, ein paar Eindrücke von Stationen dieses beinahe halben Jahrhunderts, in dem sich auch die Welt der Oper neuen Zeiten angepasst hat. Welcher Intendant würde heute eine zwanzigjährige Romanistikstudentin verpflichten, die keine „ordentliche“ Hochschulausbildung absolviert hat, beim Chordirektor des Hauses (damals war das Anton Theisen) Unterricht bekam und ansonsten „nur“ von unbändiger Lust am Singen angetrieben war? Wo fände sich noch ein Ensemble wie die Bühnenfamilie in Würzburg, die dieses Küken aufnimmt und mitträgt? Welcher Regisseur hätte noch die Geduld, mit einer unerfahrenen, aber selbstbewussten jungen Frau kleine Rollen sorgfältig einzustudieren? Aus Würzburg kann Waltraud Meier köstliche Anekdoten erzählen – sympathische Reminiszenzen an ein Theater, das es heute so wohl kaum mehr gibt.

Angeschwipst die Treppe runter

Die Lola habe ich von ihr gesehen und gehört, kann mich aber eher an die fulminante Gertraud Halasz-Kiefel erinnern, die Santuzza des Abends. Genauer steht mir die Rolle der Berta vor Augen, deren hübsche melodische Arie Waltraud Meier im Würzburger „Barbier von Sevilla“ singen durfte. Regisseur Wolfram Dehmel wollte sie als angeschwipstes, gar nicht so ältliches Fräulein eine Treppe hinuntertänzeln lassen, und in solchen Szenen zeigte sich ihre rasche Auffassungsgabe und ihre Bewegungsfreude. „Ich bin eigentlich ein Bewegungsmensch. Mein Ausdruck kommt nicht nur über die Stimme, sondern auch über den Körper, die Bewegung“, sagt sie in einem Interview.

Das war in Würzburg schon zu erkennen: Ihre Muse in „Hoffmanns Erzählungen“ und die Concepcion in Ravels „Die spanische Stunde“ profitierten nicht nur vom jugendlich frischen, warmen, dunkel-sinnlichen Klang ihres Mezzosoprans, sondern auch von diesem Geschick, eine Person mit dem Körper zu formen. Waltraud Meier stand auch in diesen Jahren nie einfach herum; sie hatte selbst dem provinziellsten Stückeeinrichter etwas anzubieten.

„Lebensfreude, Lebensenergie, Lebenslust will sich manifestieren durch Stimme. Wo das Wort nicht ausreicht, da geht die Emotion in Gesang über.“
(Waltraud Meier)

Die Stimme: Erinnerungen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, drohen zu verblassen oder verklärter zu schimmern, als sie in der Routine-Wirklichkeit der Zeiten tatsächlich waren. Waltraud Meier sang 1976 in einer bemerkenswert atmosphärischen Inszenierung von Manfred W. von Wildemann die Alisa in „Lucia di Lammermoor“. Einer der beteiligten Sänger hatte sich einen Mitschnitt angefertigt, auf dem auch der noch nicht erstrahlte künftige Star zu hören ist.

Waltraud Meier. (Foto: Nomi Baumgartl)

Das Dokument bestätigt: Bei aller Entwicklung, die Waltraud Meier vor allem in ihren „Galeerenjahren“ in Mannheim und Dortmund durchmachte und für die sie immer wieder den Dirigenten Hans Wallat erwähnte: Die Stimme von damals ist in ihrer Klarheit und in ihrem sinnlich-individuellen Timbre unzweifelhaft identifizierbar. Der Keim des Erfolgs spross damals schon ins schummrige Licht eines stilisierten schottischen Friedhofs, mit dem Wildemann in der „Provinz“ die Oper Donizettis ernst genommen und aus der Rolle des „Primadonnenvehikels“ erlöst hat, als die sie in den siebziger Jahren an den Staatstheatern noch zelebriert wurde.

Wort und Klang durchdringen sich

Für den Belcanto hat sich Waltraud Meier in den kommenden Jahren nicht besonders interessiert. Die artifizielle Kunst des Singens, so sehr sie auch Seelenströme offenbaren kann, blieb ihr fremd. Klar, die großen Verdi-Partien, die Azucena, die Amneris, die Eboli waren von ihr zu hören – und manchmal bedauerte sie, auf Wagner festgelegt und für Verdi nicht gefragt zu werden. Aber ihre Domäne lag woanders. Nicht umsonst bestimmte Richard Wagner einen großen Teil ihres Bühnenlebens. Das „Gesamtkunstwerk“ hatte sie gepackt.

Mit Regisseuren wie dem von ihr unendlich geschätzten Patrice Chéreau, mit Dirigenten wie dem seit Jahrzehnten mit ihr verbundenen Daniel Barenboim („mein Lebensmensch“) konnte sie Musik, Wort und Szene mit der Intensität durchdringen, die für sie Voraussetzung einer gelingenden, glaubwürdigen, fundierten Interpretation ist. Das war in ihrer letzten Rolle in Berlin noch einmal deutlich zu spüren: Der Moment, in dem Klytämnestra auf extra ausgelegtem rotem Teppich aus dem Palast eilt und Ricarda Merbeth als Elektra fixiert, reißt in den wenigen Sekunden einer stummen Konfrontation dieses verdorbene Mutter-Tochter-Verhältnis auf. Und das Erschlaffen der anfangs so beherrschten Königin – „Götter … warum verwüstet ihr mich so“ – ist das erste Signal, dass diese Frau nur mit „furchtbarer Anstrengung“ Haltung bewahren kann.

„Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus“ singt Waltraud Meier mit der ihr eigenen Gabe, Wort und Klang zu Ausdruck zu verschmelzen. Hier ist sie, die Größe einer Sängerin, die über die schönen Töne hinaus in die Tiefe des Gesungenen dringt. Joachim Kaisers Wort von der „Callas“ wirkt in solchen Momenten zutreffend: Waltraud Meier ist nicht zum Scherzen aufgelegt, wenn es darum geht, eine glaubwürdige Figur zu erschaffen. Da arbeitete sie so hart und beharrlich wie Maria Callas. Der Scherz kommt später, in den Anekdoten, in den witzig absurden Momenten, die sich ereignen, weil auf der Bühne eben auch „nur“ Menschen arbeiten. Aber: Was die Wahrheit einer Rolle ist, das herauszubringen, war ihr Ziel.

Mit Loriot ins komische Genre

In einem der hoffentlich nächsten Gespräche werde ich ihr die Frage stellen, welches Verhältnis sie eigentlich zur „lustigen Person“ auf der Bühne hat. Komische Rollen? Ihr Repertoireverzeichnis auf ihrer Webseite verzeichnet keine einzige. Wie gut hätte man sich vorstellen können, in Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ oder als Lady Billows in Brittens „Albert Herring“ ganz andere Seiten als die Wagner’sche Schwere an Waltraud Meier zu entdecken. Aber das hat sie ihrem Publikum – soweit ich mich erinnere – nur einmal wirklich von Herzen gegönnt: als Vicco von Bülow, der im November 100 Jahre alt werden würde, in Stuttgart Friedrich von Flotows „Martha“ als feine erotisch-ironische Petitesse inszeniert hat. Da war sie, Loriot zuliebe, mit allem Spielwitz dabei.

„Das hier ist das Ende einer Ära“, sagte ein Besucher der Lindenoper beim Rausgehen im Foyer. Das stimmt, weil mit Waltraud Meier eine prägende Bühnenkünstlerin der letzten 40 Jahre ihre Karriere beendet hat. Aber es stimmt auch nicht: Das Pathos, das im Begriff der „Ära“ steckt, wollte sich nicht einstellen, weil der Abschied die unverkennbar frischen Züge eines Aufbruchs trägt. Ein Aufbruch in einen neuen Abschnitt des Lebens. „Io me ne vado“, singt Lola leichtherzig bei ihrem Abgang in „Cavalleria rusticana“.

Auch Waltraud Meier hat nun die Bühne verlassen – und wie sie immer wieder beteuerte, nicht mit Herzensschwere. So wünschen wir der wunderbaren, einzigartigen Künstlerin dankbar auch für die kommenden Jahre die Leichtigkeit des Herzens und die Lebensfreude und Lebenslust, aus der heraus sie ihr Publikum 47 Jahre lang mit ihrer Stimme, ihrer Kunst und ihrem Wesen beschenkt hat.




Im Bann der bunten Farben – Ausstellung zum 100. Geburtstag des Malers Heinz Kreutz in der Duisburger Küppersmühle

Heinz Kreutz: Ohne Titel, 1959 Öl auf Leinwand 65,5 x 81 cm (Bild: Henning Krause, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, MKM Stiftung, Sammlung Ströher, Duisburg © Nachlass Heinz Kreutz)

Rot quillt aus blaugrünem Nebel hervor, unheilverkündendes Schwarz links davon, etwas schüchternes Gelb im Hintergrund. Gräulich-weiß das Drumherum, was die Bedrohlichkeit etwas abmildert. Irgendwie allegorisch, vielleicht; doch würde man angesichts des Bildes „Aus dem Leben der Eisblumen“, das Heinz Kreutz 1955 schuf, vor allem auf eine große Lust an Farben und ihren Kompositionen schließen, läge man wohl auch nicht falsch.

Nach der Nazizeit

Kreutz ist einer von den vielen Malern, die nach der Nazizeit mit ihren unsäglichen Kunstvorstellungen einen geradezu unstillbaren Drang nach Buntheit, Fläche, Bewegung verspürten, dem kein gegenständliches Postulat entgegenzustehen hatte. Gleichwohl ist er  eher einer aus der zweiten Reihe. Wenn seine großformatigen Gemälde in der Vergangenheit gehandelt wurden, lagen die Preise vorwiegend im vierstelligen Bereich, was ja auch nicht wenig Geld ist, aber doch wenig im Vergleich zu Hervorbringungen der Prominenz.

Kunst der Sieger

Er hatte aber auch zeitlebens viele Mitbewerber (die zudem, teilweise jedenfalls, erstaunlich alt wurden). Abstrakter Expressionismus erlebte in den Jahren nach dem Krieg in Deutschland West eine gewaltige Blüte, was zum einen wohl daran lag, daß er aus dem bewunderten Westen, nämlich den USA, zu uns kam, und zum anderen, daß er formal dem „sozialistischen Realismus“ der DDR geradezu diametral gegenüberstand. Kunst der Siegermächte mithin? Vielleicht auch, jedenfalls ein bißchen. Alles lange vorbei.

Quadriga

Bemerkenswert ist an Heinz Kreutz, der 2016 im gesegneten Alter von 93 Jahren starb, daß er zusammen mit drei Kollegen, die alle deutlich berühmter wurden als er, 1952 die Künstlergruppe Quadriga gründete. Die anderen drei waren Bernard Schultze (2015 – 2005), K.O. Götz (2014 – 2017) und Otto Greis (2013 – 2001), und jedem von ihnen widmet mein Brockhaus (der letzte!) einen Absatz nebst Abbildung, nicht aber Heinz Kreutz. Einen Grund dafür in der künstlerischen Qualität zu suchen, wirkt wenig zielführend. Eher schon könnte von Bedeutung sein, daß Kreutz, Jahrgang 1923, acht Jahre jünger war als der nächstjüngste im Bunde, Schultze, 1915. War er zu spät dran im unerbittlichen Kunstbetrieb? Natürlich ist das eine rein spekulative Frage.

Heinz Kreutz: Weiß und schwarz, 1967, Acryl auf Leinwand 130,5 x 130 cm (Bild: Henning Krause, KMKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, MKM Stiftung, Duisburg © Nachlass Heinz Kreutz)

Anfang der 50er bis 2006

Jedenfalls schickt sich jetzt das Museum Küppersmühle (MKM) an, den Maler Heinz Kreutz anläßlich seines 100. Geburtstags mit einer feinen und keineswegs kleinen Ausstellung im so wohlgestalteten Neubau dem Vergessen zu entreißen. Die Werkschau beginnt Anfang der 50er Jahre – unter anderem, eben, mit dem beschriebenen „Eisblumen“-Bild, die letzte Arbeit datiert von 2006 und hat den Titel „Farbenleben Triptychon“. Mit seinen letzten Arbeiten, die nach der Jahrtausendwende entstanden, kehrt der Maler mit geradezu erstaunlicher Konsequenz zu seinen Anfängen zurück, kombiniert bei hoch emotionaler Grundierung Farben, Rhythmen, Strukturen, im Alter vielleicht etwas entspannter, flächiger, aber die enge Verbindung von früher und später Kunst ist ganz unübersehbar.

Die neue Strenge

Dabei gab es in Kreutz’ Schaffen durchaus Phasen, wo man ihn nicht wiedererkannt hätte. In den 1960er Jahren kombiniert er streng Farbflächen, die mit ihrem entindividualisierten Erscheinungsbild bunten Strichcodes auf Warenverpackungen ähneln. Um Farbe geht es nach wie vor, „Weiss, gelb und grau“ oder „Um Rot herum“ heißen Arbeiten aus dieser Zeit (1967), und denkt man beispielsweise an die quadratischen Farbkompositionen Josef Albers’, dann spürt man Verwandtschaft.

Heinz Kreutz: Mittag in der Nähe des RE, 1990 Acryl auf Leinwand 90 x 109,5 cm (Bild: Henning Krause, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher © Nachlass Heinz Kreutz)

Pop Art

Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger hat Kreutz wohl auch mit der Pop Art geliebäugelt. Eine Arbeit mit dem denkwürdigen Titel „Denkmal für Philipp Otto Runge“ (1967) – vier typographisch gestaltete Quadrate („IIII“, wenn man so will) formen zusammen ein großes Quadrat, das Robert Indianas berühmtem ikonischem Pop-Schriftzug „LOVE“ (1964) formal stark ähnelt. Starkfarbige Flächenkompositionen wirken wie maschinell auf das Papier gebracht. „36 Quadrate über Blau / 36 Quadrate über Gelb“ ist ein Diptychon von 1973-1974 betitelt, sehr streng das alles, wie aus Legosteinen zusammengesetzt (wenn sie denn quadratisch wären), und eigentlich auch reichlich blutleer für einen abstrakten Expressionisten. In den späten Achtzigern scheint diese stocknüchterne Befassung mit klarer Form und steril aufgetragener Farbe überwunden zu sein, die Bilder haben, wenn man einmal so sagen darf, wieder Seele, Impuls, ursprüngliche Kraft, und man ahnt zumindest häufig auch wieder, mit welcher Methode der Farbauftrag erfolgte. Das vielleicht in Kürze zu dem was nun in Duisburg zu sehen ist.

Kombinierte Malgründe

Eine Besonderheit im Werk von Heinz Kreutz, dies sei noch vermerkt, ist die Zusammenfassung mehrerer Bilder zu waagerecht und senkrecht kombinierten Diptychen und zu Triptychen. Die wunderschön bunte, mit viel Blau und Gelb und zeichnerischer Struktur leuchtende „Hommage à Gustav Mahler“ (1989) gar besteht aus vier verschieden großen Gemälden und läßt an ein Kreuz (ohne „t“) denken. Und dem Betrachter geht durch den Kopf, daß vier komponierte Malgründe für diesen Komponisten wohl eine durchaus angemessene Größenordnung sind.

  • Heinz Kreutz: Schwarz-weiss und in Farbe zum 100. Geburtstag
  • Bis 28. Januar 2024
  • Museum Küppersmühle, Duisburg
  • www.museum-kueppersmuehle.de

 




Im Zaubernebel des Klangs: Essener Philharmoniker und Cellistin Raphaela Gromes spielen Konzert einer vergessenen Komponistin

Die Cellistin Raphaela Gromes. Foto: wildundleise

Seit Mitte August schon sind die Essener Philharmoniker wieder auf ihrem Posten. Sie haben die Spielzeit unter einer Dirigentin eröffnet und setzten sie jetzt mit dem Werk einer vergessenen Komponistin fort.

Anna Skryleva, noch bis 2025 Generalmusikdirektorin in Magdeburg, gab im August dem Saisonstart mit Gershwin und Bernstein angemessenen Schwung. Der neue Essener GMD Andrea Sanguineti präsentierte sich im Zweiten Sinfoniekonzert mit einer Rarität aus seiner italienischen Heimat, „Feste Romane“ von Ottorino Respighi, und einem sehr massiven, sehr lauten „Don Juan“ von Richard Strauss. Über ausufernde Lautstärke konnte man sich nun im Dritten Sinfoniekonzert unter Leitung des Geigers und Dirigenten Julian Rachlin nicht beschweren. Die Essener Philharmoniker spielten sich mit Diskretion und Finesse in die Herzen der Zuhörer in der Philharmonie, deren Großer Saal durchaus noch eine Hundertschaft Besucher vertragen hätte.

Schade, denn wer nicht da war, hat etwas verpasst. Das Programm ließ eine geschickt gestaltende Hand spüren: Den ersten Teil eröffnete das a-Moll-Cellokonzert op. 33 von Camille Saint-Saëns, eines der bedeutendsten Solokonzerte für dieses Instrument, gefolgt von einer Wiederentdeckung: Solistin Raphaela Gromes hatte ein Konzert der Saint-Saëns-Schülerin Marie Jaëll mitgebracht, das sich neben dem etablierten Stück mühelos behaupten kann und zum Höhepunkt des Abends avancierte. Nach der Pause zeigten die Philharmoniker, wie spannend und beredt Felix Mendelssohn Bartholdys „Schottische“ Sinfonie klingen kann, auch wenn sie nicht als Schaustück inszeniert wird.

Schottland als Inspiration

Mendelssohns Dritte Sinfonie hat nicht nur die Tonart a-Moll mit dem Cellokonzert von Saint-Saëns gemeinsam, sondern auch den Ausgangspunkt in einer klassischen Orientierung an der Form. Schottland war für den reisefreudigen Mendelssohn Quelle der Inspiration, nicht jedoch eine Ressource von Musik. Die Sinfonie hat keine folkloristischen Züge, das thematische Material stammt nicht etwa aus „schottischer“ Folklore, die der gebildete Berliner als „vulgären, verstimmten Müll“ schmähte. Es gibt wundervolle, lyrisch ausgekostete Stimmungen, es gibt erhabenes Pathos und lebhaft tänzerische Passagen. Alles ist jedoch in eine Form gebracht, die eher an die Wiener Klassik als an ein schroff-schottisches Landschaftsgemälde erinnert. Der Vergleich mag gewagt sein – aber die edle Einfalt und stille Größe erinnert ein wenig an die Zeichnungen, in denen der Komponist selbst die wilden Landschaften einfing.

Mit Blick auf die leisen Töne: Dirigent Julian Rachlin. (Foto: Janine Gulpener)

Rachlin hat in seinem Dirigat diese Züge bestätigt und nicht durch angespannte Expressivität zu verdrängen versucht. Das klingt im ersten Satz manchmal marmorfriesartig poliert, leidenschaftslos und mit Spuren von Langeweile. Das Allegro entwickelt keinen „agitato“-Biss, wird aber plastisch ausgeleuchtet. Wenn die Akkorde stampfen und der chromatische Wind heult, sind Heinrich Marschners Opern und Wagners „Fliegender Holländer“ nicht weit, aber sie treten nicht auf, sondern grüßen um die Ecke. Nicht ganz so gewollt ausgewogen der letzte Satz: Da wirft Mendelssohn Franz Liszts Schatten an die Wand, aber das Orchester wird nicht lauter oder schneller, sondern straffer.

Auch Saint-Saëns‘ Cellokonzert opfert die Form nicht der Emotion, was dem Franzosen ästhetische Vorwürfe eingebracht hat. Aber das aparte Spiel mit Triolen in variantenreicher Artikulation, die verspielten Verzierungen, die kostbar gestalteten Übergänge zwischen den Teilen der drei pausenlos aufeinander folgenden Sätze und die Verwendung des thematischen Materials lassen weder Zweifel noch Ermüdung aufkommen. Zumal mit Raphaela Gromes eine Cellistin am Werk ist, die formale Strenge und gelöst-lyrischen Ausdruck zu verbinden weiß.

Sind die Triolen des ersten Themas noch etwas verschwommen artikuliert, findet die Solistin im Wechselspiel mit den Orchesterstreichern einen intimen, leuchtenden Ton, der dramatische Zuspitzung erlaubt, ohne aufgedreht zu wirken. Die punktierten Achtel und Triolenfigürchen sind bei den Essener Philharmonikern bestens aufgehoben, die sich unter Rachlins Leitung in der Transparenz der Piano- und Pianissimo-Stellen selbst übertroffen haben. Gromes spielt verhalten, ohne sonor-blühenden Ton, aber mit luftiger Diskretion, und baut im ersten Satz eine entspannte Kadenz ohne Virtuosenhuberei auf. Dass sich die Dynamik nach 400 Takten zum Fortissimo steigert, macht das Orchester strahlend deutlich – aber knalliger Lärm bleibt tabu.

Lust auf mehr von Marie Jaëll

Die Überraschung des Abends war das F-Dur-Cellokonzert von Marie Jaëll, einer der vergessenen komponierenden Frauen des 19. Jahrhunderts. 1846 im Elsass geboren, wurde sie als Kind von dem legendären Pianisten Henri Herz unterrichtet, gab zusammen mit ihrem Mann Alfred Jaëll ab 1866 Konzerte in ganz Europa, wurde von Camille Saint-Saëns unterrichtet und vom eng befreundeten Franz Liszt beeinflusst. Bis zu ihrem Tod 1925 trat sie als Pädagogin hervor, die mit der „Méthode Jaëll“ eine von der Physiologie der Hand ausgehende Spieltechnik entwickelte. Ihr kompositorisches Erbe ist vielfältig und reicht über Solowerke zu Kammermusik für verschiedene Instrumente bis hin zu zwei Klavierkonzerten und dem in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstandenen Cellokonzert.

Dieses beginnt verschattet mit aufsteigenden Linien in den Celli und Kontrabässen, bevor das Solo-Cello die melodischen Motive aufgreift, mit zarter Violinbegleitung weiterentwickelt und quasi improvisando fortspinnt. Gromes entfaltet das Spiel mit dem thematischen Material, das durch sinnlich-spannende Harmonien getragen wird, und führt es durch den Zaubernebel des Klangs zum Satzfinale. Die hohen Ansprüche an die Solistin setzen sich im Andantino-Mittelsatz fort, der wie ein Notturno gedämpft anhebt, bevor lichte Bläserakkorde einen zärtlichen Abschluss herbeiführen. Im dritten Satz kann Raphaela Gromes dann Verve und Zugriff demonstrieren.

Das Konzert weckt Lust, mehr von Marie Jaëll kennenzulernen: Vielleicht ist ihr 100. Todestag 2025 ein Anlass, das Augenmerk auf diese außergewöhnliche Frau zu richten, die als eine der ersten in die Pariser Société des compositeurs aufgenommen wurde.




Männliche Familienbande – Johan Simons inszeniert Dostojewskijs „Brüder Karamasow“ mit viel Gelassenheit

Elsie de Brauw als Stariza Sossima in ihrer Klause. Der brave Hund taucht in der Besetzungsliste namentlich leider nicht auf. (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Dies könnte eine Kirche sein, ein lichter Raum mit hohen Fenstern und vielen Kerzen, sparsam möbliert; es könnte aber auch ein Labor sein, steriler Ort für emotionslose Untersuchungen und Experimente. Beide Deutungen haben etwas für sich. Auf der Bühne des Großen Hauses inszeniert Bochums Schauspielchef Johan Simons den ersten Teil seiner „Brüder Karamasow“-Produktion.

Später wird das Publikum ins Kleine Haus umziehen, noch später im Foyer des Großen Hauses ein „Gemeinsames Dinner“ zu sich nehmen. Dies ist nicht eben ein unaufwendiges Projekt, schon das erste überaus beeindruckende Bühnenbild (Wolfgang Menardi) läßt daran keinen Zweifel.

Dostojewskijs Qualen

Tief tauchen wir ein in den Kosmos der Dostojewskijschen Qualen, in dem Himmel und Hölle, Wiederauferstehung, ewiges Leben, Schuld, Strafe, Vergebung, Lebensüberdruß zentrale Begriffe sind. Klug sind sie auch in diesem Spätwerk in Kontrast zu den quasi niederen Motiven der Menschen montiert, der Gier, dem skrupellosen sexuellen Verlangen, dem Schuldenmachen. Die Figuren des Romans finden in jenen auf der Bühne kongeniale Entsprechungen, allen voran im alten Pierre Bokma als Fjodor Pawlowitsch Karamasow, Vater, Lebemann und Dummschwätzer, dem seine Söhne in ehrlicher Abneigung zugetan sind. Voneinander lassen kann man nicht, auch deshalb nicht, weil eine üppige Erbschaft lockt. Und irgendwann, sehr viel später an diesem Abend, ist der Alte tot.

Karamasows in Teilansicht: Bruder Iwan (Steven Scharf, links), Vater Fjodor Pawlowitsch (Pierre Bokma, Mitte) und Halbbruder Smerdjakow (Oliver Möller, rechts). (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Vorkenntnisse

Manches erklärt die Inszenierung dem Publikum, vieles aber auch nicht. Ohne recht genaue Kenntnis des Stoffs, der Charaktere und ihrer philosophisch-religiösen Verortungen ist es nicht leicht zu folgen. Johan Simons’ Inszenierung zeigt wenig Interesse daran, die dem Drama innewohnende Mechanik offenzulegen, sondern verströmt sich in der oft detailverliebten Illustration des als bekannt Vorausgesetzten. So stehen hier hübsche Spielszenen großer Intensität neben schwergewichtigen Sätzen, die, einmal in den großen Bühnenraum hineindeklamiert, beziehungslos hängenbleiben und dann langsam verblassen. Entschleunigung ist die Devise, doch führt sie nicht zwingend zu Erkenntnisgewinnen.

Gute Leute

Gleichwohl ist das Schauspielhaus Bochum in der Intendanz von Johan Simons nach wie vor und mehr als viele andere Häuser immer noch ein Theater der Schauspielkunst. Und deshalb muß man jetzt noch einige Namen nennen: Steven Scharf bringt es als Iwan zu beachtlicher Intensität, Jele Brückner zeigt als desillusionierte Katerina Ossipowna Chochlakowa im Gespräch mit dem Schuldner Smerdjakow (Oliver Möller) unerwartete Abgründigkeit; die Rolle des weisen Starec Zosima wurde zur Stariza Sossima und wird nun in Bochum von Elsie de Brauw verkörpert, die sie souverän füllt und der man höchstens vorwerfen könnte, daß sie für eine Sterbenskranke etwas zu kraftvoll agiert. Als Hexe – später – ist sie noch besser. Die Frauenriege wird vervollständigt durch Anne Rietmeijer als von Vater und Sohn Dimitrij (Victor Ijdens) begehrte Schönheit Gruschenka. Danai Chatzipetrou schließlich ist Katerinas behinderte Tochter Lise im elektrischen Rollstuhl. Konstantin Bühler als zottelbärtiger Nachbar Nikolaj Iljitsch Snegirjow sowie die Kinder Davin Cakmak und Mina Skrövset vervollständigen die Riege.

Abgeranzte Küche

Erste Pause um Viertel vor fünf, Wanderung durch die Kulissen zum Kleinen Haus, Zwischenstop im Foyer. Weitergeht es um halb sechs, mit einem völlig anderen Bühnenbild. Im Kleinen Haus wird deutlich, warum im Großen Haus so viele Sitze frei bleiben mußten. Hier ist nun alles besetzt. Auf der Bühne steht als raumgreifende, naturalistisch durchgestaltete Kulisse eine recht professionelle, aber auch reichlich abgeranzte Küche, Lüftungsrohre unter der Decke, Kellerlage mit Treppenaufgang. Ein sinnfälliger Ort natürlich, hier unten werden Sachen angerichtet, der Kohl (für den Borschtsch) ebenso wie die eine oder andere Mordidee. Hier fliegt das Gemüse, hier fliegen die Töpfe; Konflikte werden zelebriert und auch gelöst mit den Methoden des Tür-auf-Tür-zu-Theaters, wenngleich es nur eine einzige Tür links im Bild – und eben die Treppe – gibt. Fast hatte man es bei der ganzen Statuarik im ersten Teil schon vergessen: Johan Simons ist ja auch ein ganz vorzüglicher Possenreißer mit Wurzeln im Straßentheater, der mit burlesken Späßen souverän dramatische Fallhöhe zu erzeugen weiß. Das wissen wir in Deutschland spätestens seit „Sentimenti“.

Die Küche ist das Bühnenbild des zweiten Teils. Im Vordergrund liegt Smerdjakow (Oliver Möller). (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Fallhöhe

Dramatische Fallhöhe – das Drama strebt dem Höhepunkt zu – gibt es in Teil 3, nach dem Gemeinsamen Essen, nun wieder im Großen Haus. Der Alte ist mittlerweile tot, liegt in der Ecke. Wie kein anderer Dostojewskij-Stoff gelten „Die Brüder Karamasow“ ja auch als „Kriminalstory“, doch explizite Elemente einer solchen fehlen in dieser Inszenierung. Spannung oder ein bißchen „Whodunnit“ ebenso.

Fast kommt die nun geradezu unerträglich entschleunigte Inszenierung zum Stillstand, doch dann wird die Verlangsamung dankenswerterweise gebrochen durch den wunderbaren Dialog, in dem Iwan (Steven Scharf) Smerdjakow (Oliver Möller) gleichsam zu der Einsicht verführt, den Mord begangen zu haben. Mit einem frommen Epilog des jüngsten Bruders Aljoscha (Dominik Dos-Reis) geht die Inszenierung sieben Stunden nach dem Start dann endlich zu Ende. Diese Zeit abzusitzen war schon ein Angang; um so größer allerdings Respekt und Anerkennung für die nicht eben große Schauspielerriege, die in dieser Zeit eine unglaubliche Textmenge zu bewältigen hatte und dies mit Bravour meisterte.

Borschtsch und Gemüsequiche

Zu essen gab es übrigens den nämlichen Borschtsch (vegetarisch), ein Stück Gemüsequiche und ein Pöttchen Panna Cotta, alles qualitativ nicht zu beanstanden, von einem Catering schnell und freundlich auf die Tische gebracht. Zu essen soll es auch an den weiteren Terminen geben; bei sieben Stunden, sollte es denn dabei bleiben, braucht man schon was Kleines zwischendurch.

Materieller Aufwand

Und nun sitzt man zu Hause, massiert sich die immer noch schmerzenden Knie (vom langen Sitzen), wühlt sich durch die Unterlagen und fragt sich, was man eigentlich erlebt hat, im Kern, in der Essenz. Großes Theater war es sicherlich, schon hinsichtlich des materiellen Aufwandes (beide Häuser, Publikumswanderung durch Kulissen und Garderoben, Heerscharen von Mitarbeitern, die den Weg weisen mußten, usw.). Das Ensemble gut bis großartig, eine doch sehr homogene Truppe, deren holländische Mitglieder mittlerweile ein untadeliges Deutsch sprechen. Und schließlich: Eine gelassene Sicht auf Stück und Autor, die sich nur ein Regisseur mit uneingeschränkter Souveränität leisten kann, einer wie eben Johan Simons mit seinen 77 Jahren.

Nicht alles geht in 90 Minuten

Bochum bietet großes, anspruchsvolles Theater, wie es nicht (mehr) oft zu sehen ist im Ruhrgebiet. Es läßt sich nicht alles in „90 Minuten, keine Pause“ (heutzutage ein beliebtes Inszenierungsformat) erzählen, und das muß man auch nicht, und das tut man hier eben auch nicht, jedenfalls nicht immer. Das Publikum, wie könnte es auch anders sein, zeigte begeistertes Verständnis für das anspruchsvolle theatralische Großformat und spendete reichen, anhaltenden Beifall.




Das „Opernhaus des Jahres“ Frankfurt zeigt „Le Nozze di Figaro“ als schwerelose Komödie

Danylo Matviienko (Graf Almaviva) und Elena Villalón (Susanna) in der Frankfurter Neuinszenierung von Mozarts „Hochzeit des Figaro“. Foto: Barbara Aumüller

Im Frankfurter Opernhaus atmet alles Leichtigkeit. Thomas Guggeis, neuer GMD als Nachfolger von Sebastian Weigle dirigiert zum Einstand Wolfgang Amadeus Mozarts so leichtfüßiges wie gewichtiges Meisterwerk „Le Nozze di Figaro“.

Sein blonder Schopf hebt sich über die Brüstung des Grabens. Rötlich schimmern die Haare, rucken im Rhythmus eines Körpers, der dem Orchester Signale setzt. Eine Hand erscheint, dreht sich, winkt, zeigt, kommandiert, schlängelt sich um ein scheinbar ohne Widerstand bewegliches Gelenk. Das diskret alle Nuancen ausspielende Orchester zieht so federnd und flexibel mit, als würde Rossini den Musikern Bögen, Tasten, Klappen, Ventile und Schlägel führen.

Und Tilmann Köhlers Regie kleidet Beaumarchais‘ und da Pontes untergründig aufgeladene Komödie entsprechend in gewichtslose Beweglichkeit, bei der die jungen Darsteller mit Freude und Witz dabei sind. Bedeutung wird nicht vorgezeigt, nicht aufgesetzt, sondern ergibt sich wie von selbst aus der Bewegung eines Augenblicks, einem betonten Gang, einer kräftiger nuancierten Geste. Nichts wirkt schwer, wir blicken auf keine Atlanten, die das Gewölbe einer Deutung zu tragen hätten. Sogar das Finale lässt einen „glücklichen“ Ausgang offen: Der fast schon genetische Pessimismus heutigen Post-Regietheaters ist lustvoll mit leichter Hand gebannt. Das tut, gerade bei Mozarts quirliger, nervöser, manchmal hyperaktiver Musik richtig gut!

Schmerz in luftigem Gewand

Die sich beißenden Farben der Kostüme zeigen: keine Harmonie zwischen Graf und Gräfin (Adriana González). Foto: Barbara Aumüller

Das heißt nun nicht, dass Köhler die verschattete Seite der Medaille gnadenlos trivial wegleuchtet. Die kindlich-feine Verzweiflung der – reizend gesungenen – Barbarina Karolina Bengtssons lässt ahnen, wie sich Schmerz in luftiges Gewand hüllen kann. Und wenn die Gräfin in sattem Rot ihrer Robe auftritt, weht Melancholie durch den Saal. Thomas Guggeis wandelt dann die musikalischen Haltung hin zu einem träumerischen Impressionismus, den Adriana González auch vokal verströmt, wenn sie ihre Piano-Phrasen korrekt auf den Atem legt und sich nicht, wie manches Mal im Ensemble, auf zweifelhaft gelagerte Töne verlässt.

Aber auch dieser Hauch der anderen, der seelenmörderischen Welt strömt schwerelos: Die Qual enttäuschter Liebe trägt ja für die Außenwelt oft komische Züge; das Weh der bitteren Erkenntnis einer verdorbenen Lebenschance muss nicht zwangsläufig Betroffenheit oder Empathie auslösen. Das ordnet die Figur der Gräfin Rosina in die Komödie ein, macht aber ganz behutsam auch ihre endlose Einsamkeit spürbar. Wenn sich solche feinsten Charakter-Schattierungen vermitteln, ist Regie – auch ohne spektakulären Zugriff – gelungen.

Auch Thomas Guggeis kann im Graben getrost auf Spektakel verzichten. Er versteht die endlosen Achtelketten Mozarts als den dynamischen Triebimpuls der Musik, die vorwärts strebt, keine Pause einlegen will. Das passt zum Tempo der Musik, die ja „presto“ drängt und drängt und selbst im Innehalten den nächsten Impuls zum Lospreschen kaum zurückhalten kann. Guggeis macht aber auch deutlich, wo dieser hurtige Fluss auf Klippen stößt und scharfe Kanten umspülen muss: Die Bläser grätschen scharf dazwischen, wenn sich Figaro und Susanna in die Wolle kriegen, und die Dissonanzen im Umgang der Personen hallen nicht nur in Kostümen von Susanne Uhl, sondern auch im Orchester deutlich wider.

Ungeduldige Energie hat ihren Preis

Bei all der luftigen Präzision, dem ziselierten Tempo, das die Streicher des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters vorlegen, den lichtvollen Bläserakkorden und den sanft, aber mit Kontur getupften Staccati ist es kein Wunder, dass Guggeis nach dreieinhalb Stunden herzlich gefeiert wird. Aber man hört auch, dass der jugendliche Überschwang und die ungeduldige Energie einen Preis haben: Die Ouvertüre gerät überraschend flach, das Wechselspiel von Flöten und Klarinetten auf der einen aufsteigenden, Oboe und Horn auf der anderen absteigenden Seite bleibt beiläufig, die Doppelachtel der Bläser in Takt 16 und 17 sind nicht deutlich artikuliert, so wie zuvor die Violinen ihre Mini-Verzierungen nicht ausformen können.

„Presto“ ist, das ist den Mozart-Tempolimitgegnern á la Currentzis immer wieder vorzuhalten, eben eine Musizierhaltung, und keine Anweisung, sich das „Blaue Band“ der Orchesterrennen zu holen. Ein organischer Atem lässt selbst bei raschestem Puls Zeit, Melodie zu formen und Details zu modellieren. Schnappatmung verbreitet nur Hektik. Und das ist keine Frage der Virtuosität des Orchesters, dessen Mitglieder wohl in allen Taktschnellen den Kopf über Wasser halten können. Guggeis vergibt sich so manche Chance, den Klang plastisch zu gestalten, die Haltung zu wechseln, mit der Varietät des Tempos Ausdruck zu gestalten. Aber so, wie er dirigiert, wie er dann wieder den Sinn von Ensembles, von ariosen Momenten, von Rhythmus-Coups Mozarts erfasst, mag man getrost sagen: Kommt noch!

Was Guggeis als glückliche Wahl für die Oper Frankfurt qualifiziert, ist seine Expertise im Umgang mit den Sängern. Es ist ein Vergnügen zu beobachten, wie klar er durch komplexe Ensembles führt, wie er den Menschen auf der Bühne hilft, wie er dadurch Präzision und souveräne Leichtigkeit erreicht, auch, wie er selbst am Flügel die Rezitative mit witzigen Erinnerungsmotiven verziert. So kann Kihwan Sim seinen klangvollen Bassbariton frei entfalten und seinem Konkurrenten, dem Grafen von Danylo Matviienko Paroli bieten. „Non piu andrai“, von ausnehmend aparten Bläsern veredelt, vertrüge deutlicher ironische Farben in der Stimme. Matviienko hebt dagegen mit seiner stimmlichen Eleganz hervor, dass er das Spiel der Geschlechter durchaus als solches verstehen will, manchmal vordergründig gefasst, aber nie harmlos.

Vollendete Studie eines Zwischenwesens

Ganz zeitgenössisch, auch im Kostüm: Kelsey Lauritano (links) mit der Gräfin (Adriana González) als Cherubino – ein Wesen ohne festgelegte Geschlechtssignale. Foto: Barbara Aumüller

Kelsey Lauritanos Cherubino ist eine vollendete Studie eines Zwischenwesens, das sich im Labyrinth der Geschlechter erst orientieren muss. Die Sängerin gestaltet eher hell und brillant als mit sanften Mezzorundungen; ihr „Non so piu cosa son …“ huscht wie ein Irrwisch vorbei, ein rastloser Spuk ohne die Chance, auf differenzierte Artikulation. Auch „Voi che sapete“ könnte Lauritano sicher bewusster ausformen, würde ihr der Dirigent eine Spur mehr Zeit geben. Elena Villalón brilliert als Susanna in den Ensembles mit einer fabelhaften Sprach-Musik-Sensibilität. Zwischendurch will es ihr nicht gelingen, die Stimme im Körper zu halten – die Töne werden spitz und kopfig. Aber ihre Arie im vierten Akt ist ein Musterbeispiel bewussten, makellosen Singens.

Dass Frankfurt nicht umsonst zum wiederholten Mal den Titel „Opernhaus des Jahres“ eingeheimst hat, ist nicht nur der exquisiten Spielplanpolitik von Intendant Bernd Loebe zu verdanken, sondern auch seiner Ensemblepflege. Die zeigt sich in diesem „Figaro“ von ihrer besten Seite: Die kleineren, dennoch wichtigen Rollen sind mit der leuchtenden Cecilia Hall als Marcellina, dem wunderbar diskret polternden Donato di Stefano als Bartolo, dem fast zu schönstimmigen jungen Tenor Magnus Dietrich als Basilio und dem bewährten Franz Mayer als Antonio durchweg vorzüglich besetzt. Sie alle nutzen die Chance des neutralen Bühnenkastens von Karoly Risz, der sich mit raumhohen Drehlamellen durchlässig oder verschlossen geben kann: Hier triumphieren nicht die Szenerie, nicht die Atmosphäre, sondern die Darsteller.

Weitere Vorstellungen: 12., 14., 21. Oktober; 28., 30. Dezember 2023; 5., 7., 18., 21. Januar 2024. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/le-nozze-di-figaro_3/




„Schönes“ vor 20 Jahren – Erinnerung an eine Bochumer Erstaufführung des jetzigen Nobelpreisträgers Jon Fosse

Der Norweger Jon Fosse erhält den Literaturnobelpreis 2023. Wenn man schon ein paar Jährchen schreibt, findet sich irgend etwas Einschlägiges im Archiv, so z. B. diese – nun nahezu 20 Jahre alte – Bochumer Theaterbesprechung vom 3. Dezember 2003:

Bochum. Verglichen mit den Bühnen-Gestalten des Norwegers Jon Fosse, wirken selbst die gelangweilten Figuren eines Anton Tschechow wie Action-Helden. Hier geschieht nahezu nichts, die Dialoge sind extrem karg. So auch in Fosses neuem Stück „Schönes“. Abermals klingt jede Zwiesprache derart lakonisch, als sei’s bereits eingeübte Tiefsinns-„Masche“.

Doch es ist eine geradezu schwatzsüchtige Lakonie, die redundant in sich kreist und unversehens schräge Komik (irgendwo zwischen Loriot und Kaurismäki) freisetzt. Die Figuren haben Angst vor dem Verstummen, vor der großen Leere.

Fosse (Jahrgang 1959), in den letzten Jahren wohl meistgespielter Dramatiker des Kontinents, lässt weite Deutungs-Spielräume klaffen. Bei der deutschen Erstaufführung in Bochum nutzt Regisseur Dieter Giesing diese schmerzliche Freiheit beharrlich und behutsam.

Das Bühnenbild (Karl-Ernst Herrmann) atmet raumgreifend Ewigkeit: Einander kreuzende (Boots)-Stege verlieren sich nach hinten in die melancholische Unendlichkeit eines einsamen Fjords, vorn ragt eine Planke bis zum Publikum. Die schwarze Silhouette eines Bootshauses wandert geisterhaft langsam über die schimmernde Szenerie. Die Zeit schleicht dahin und verrinnt. Worte kommen aus dem Nichts und versickern im Nichts.

Vor dem Horizont des Stillstands

Vor diesem Horizont des Stillstands verbringt ein Ehepaar mit fast erwachsener Tochter die Sommerferien. Die Frau (Catrin Striebeck) fühlt sich angeödet. Mal geht sie links den Strand entlang, mal rechts. Ein Buch lesen? Ach was! Antriebe und Interessen sind erloschen. Es schwillt in ihr lediglich eine zickige, ziellose Gier an, die sich eher zufällig auf Leif (Ernst Stötzner) richtet, den grandios maulfaulen Freund ihres Mannes aus Kindertagen. Dieser allzeit im Dorf gebliebene Sonderling („Hat sich so ergeben“) lässt sich wohl nur aus höflichem Mitleid auf eine Begegnung im alten Bootshaus ein.

Was dort wirklich geschieht, bleibt freilich ebenso ungewiss wie alles andere: Ahnt der Ehetrottel Geir (Burghart Klaußner) etwas? Warum erschöpft sich dann sein Aufbegehren darin, dass er seine Gitarre immerzu mit hackenden Griffen (verdruckster Frust-Gipfel: „Bang, Bang – I’ll shoot you down“) traktiert?

Anders als bei Ibsen wird hier nichts enthüllt

Warum hat Leif in der Pubertät alle Neugier auf die Welt verloren, warum haben er und Geir damals ihre Rockband aufgelöst? Wird die einstweilen halbwegs vitale, mitunter patzige Tochter (Julie Bräuning), die im Dorf einen farblos strotzenden jungen Mann (Manuel Bürgin) kennen gelernt hat, so heil- und haltlos enden wie ihre Mutter? Und warum preisen sie alle so kleinlaut die Natur? Ist sie ein unnennbar „Schönes“, vor dem der Mensch nur versagen kann? Ganz anders als bei Ibsen, mit dem man Fosse häufig vergleicht, wird hier nichts enthüllt. Die Eltern reisen vorzeitig ab – zurück von der ländlichen in die städtische Seelen-Ödnis. Das ist alles.

Das wattierte Unglück in Hier und Jetzt

Irgend etwas ist vorgefallen und schief gelaufen, doch nun ist es, wie es ist. Existenziell und gnadenlos scharf umrissen stehen die Gestalten in reinster Gegenwart da, im allerdings gedämpften, wattierten Unglück des Hier und Jetzt. Und nun? Was soll noch werden? Dieses folgenlose Weh ergreift einen mehr, als wenn (wie in Gegenwartsdramen oft üblich) aller Schmutz und Ekel im Blut- und Spermastrom verrührt wird.

Dieter Giesings Inszenierung lässt beklemmende Atmosphäre ganz unaufdringlich quellen. Die Darsteller gewinnen diesem stockenden Text staunenswert viele Akzente, Rhythmen und Nuancen ab. Äußerst gespannt folgt man ihrer Expedition in die Leere.




Der Veranstaltungsort als Ausstellungsstück: Bonner Bundeskunsthalle widmet sich der Postmoderne

Alessando Mendini: „Interno di un interno (Sofa)“, 1990 (Foto: Collection Groninger Museum, Bundeskunsthalle Bonn)

Sind wir zu früh? Über die „Postmoderne“ – um die geht es hier – ließe sich eigentlich doch erst streiten, wenn man sie gut und ganz im Blick hätte. Dafür müßte man sie aber verlassen haben, sich in einer Art Post-Postmoderne befinden mit sachlich-distanziertem Blick auf das, was bisher geschah.

Wenn die Bonner Bundeskunsthalle nun in einer großen Ausstellung eben jene Postmoderne zum Thema macht: „Alles auf einmal: die Postmoderne. 1967 – 1992“, mag der Grund auch eher schlichter Natur sein. Sie sind nicht eher fertiggeworden. Eigentlich war diese oder eine doch recht ähnliche Veranstaltung geplant für das Jahr 2022, in dem nämliche Bundeskunsthalle 30 Jahre alt wurde. 1992 fing das an in Bonn, man erinnert sich, wenn man älter ist.

Sehr postmodern: Die spitzen blauen Türmchen auf dem Dach der Bundskunsthalle (Foto: Bundeskunsthalle Bonn)

Blaue Türmchen

In Sonderheit erinnert man sich aber auch an die damals wiederholt geäußerte Kritik an der Architektur dieser Bundesinstitution, die den bombastischen, triumphal-verspielten, quasi „unsachlichen“ Stil des Gebäudes geißelte. Die blaubunten Spitztürmchen auf dem Dach wurden heftig kritisiert, ebenso die Säulen auf Seiten der Helmut-Kohl-Allee, von denen jede für ein Bundesland stehen sollte, alte wie neue. Manchen Kritikern zeigte das Bauwerk gar Anklänge an nationalsozialistische Überwältigungsarchitektur, und das in etwa zeitgleich entstehende Museum des Bonner Kunstvereins mit seinem pompösen Entree gleich gegenüber tat das Seine (wenn man so will), um dieses Architekturensemble verwerflich erscheinen zu lassen.

Zeiträume

Tja. Das alles, und noch viel mehr, hätte man 2022 mit einer gewissen Schlüssigkeit wieder erzählen können. Doch dann wurde die Schau nicht fertig, Corona vermutlich, und das runde Datum schwand dahin. Um der jetzigen Ausstellung wenigstens ein bißchen Aktualität mitzugeben, hat man neben 1992 auch noch die Jahreszahl 1967 in den Titel geschrieben. So ergeben sich zwei annähernd gleich große Betrachtungszeiträume von 25 und 31 Jahren, 1967 bis 1992 und 1992 bis 2023, und bei allen Vorbehalten gegenüber allzu zeitnaher historischer Betrachtung weisen diese beiden Zeiträume fraglos unterschiedliche Prägungen auf. Eine „Erfindung“ der Bonner Ausstellung sind die beiden Jahreszahlen als Zäsuren der Postmoderne übrigens nicht, man findet sie, geäußert meistens unter Vorbehalt, auch andernorts.

Ettore Sottsass‘ Regal „Carlton“ der italienischen Postmoderne, beschichtet & bedruckt (Foto: Bundeskunsthalle Bonn)

Alles mögliche

Großen Wert legt Kolja Reichert, der die Ausstellung neben seiner Chefin Eva Kraus maßgeblich gestaltete, darauf, daß in Bonn nicht nur Architektur und Design zum Zuge kommen, sondern alle Künste, die Philosophie, der technische Fortschritt, die politischen Bewegungen. Nun gut; doch der Begriff der Postmoderne bezog sich in der ersten Hälfte der 90er Jahre – und da führte man ihn durchaus im Munde – ganz wesentlich auf Architektur und Design.

Gewiß, damals war der Kalte Krieg zu Ende, und Francis Fukuyamas Buchtitel „Das Ende der Geschichte“ machte die Menschen glücklich, weil sie es mit einem Ende von Krieg und Gewalt gleichsetzten. Aber sichtbar wurde Postmoderne vor allem – eben – in Dingen, Architekturen, Veranstaltungen. Nicht das Motto der Moderne „Form Follows Function“ galt fürderhin, sondern, in den Worten Eva Kraus’, „Form Follows Fun“. Man war weitgehend frei in der Gestaltung, bewundernd sprachen die Betrachter von einer Revision der Moderne oder, je nach dem, von Methodenpluralismus.

Ruiniert und verspielt

Ein bißchen Unsicherheit war aber wohl auch mit im Spiel, was die Ausstellung in ihrer Struktur sinnfällig spiegelt. Nach einer ersten, etwas anmaßend mit „Das Erwachen der Medien“ überschriebenen und mit vielen flachen Bildern bestückten Abteilung wird in der zweiten „die Moderne buchstäblich in die Luft gejagt“ (O-Ton Katalog) – in Zeichnungen, Film-Stills und Videos, aber auch (scheinbar) in der (fotografierten) Trümmer-Architektur James Wines‘ für die Supermarktkette „Best“. Doch die Postmoderne bot auch viel Platz für Verspieltheiten wie die pompös-barocken, knallbunt bezogenen Sessel und Sofas  Alessandro Mendinis, die weitgehend funktionsfreien, als Raumteiler titulierten vielfarbigen Holzgebilde von Ettore Sottsass, die frei fantasierte und nur scheinbar maßstäblich verkleinerte Ideallandschaft „Piazza d’Italia“ von Charles Moore. Auch eine Arbeit David Hockneys hat man hier einsortiert, „Kerby (After Hogarth), Useful Knowledge“, entstanden 1975, unerwartet allegorisch.

David Hockeys Bild „Kerby (After Hogarth), Useful Knowledge“ (1975), Oil on Canvas (Foto: David Hockey Collection, Museum of Modern Art (MOMA), New York, Pru Cuming Associates Ltd., Bundeskunsthalle Bonn)

Aerobic

Körperkult – Jane Fonda und Aerobic – und bei aller Skepsis auch ein gewisser Machbarkeitswahn sind weitere Stichworte der Schau, dargeboten ganz überwiegend mit flachem Bildmaterial. „Richtige“ Objekte aber sind bei Mode und Design zu bestaunen. Wir begegnen Alessis weltberühmten Salzstreuern und Pfeffermühlen, den putzigen PCs der Siebziger, den wattierten Schultern, den ehrfurchtgebietenden Schnurtelefonen mit Tasten, silbernen Teegeschirren, utopistischen Auto-Karosserien und manchem mehr. Über die Sinnhaftigkeit der Zusammenstellung möge das Publikum befinden. Denn wie gesagt: Wir sind ja viel zu nahe dran, als daß abschließende Urteile möglich wären, und je nach Perspektive mag die Gewichtung unterschiedlich erlebt und gutgeheißen werden.

Dröhnende Thesen

Allerdings irritiert mitunter die dröhnende Thesenhaftigkeit der Schau. Exemplarisches Zitat: „Kultur für alle!, heißt es ab Ende der 1970er-Jahre. Während der Sozialstaat rückgebaut wird, schießen Museen und Bibliotheken aus dem Boden. Die Idee ökonomischer Gerechtigkeit wird ersetzt durch kulturelle Teilhabe. Kultur wird zur Währung, die man haben muß.“ Ein bißchen revolutionär, ein bißchen anklagend, aber nicht zu sehr – vielleicht Kennzeichen des Kritisierens in der Post-Postmoderne, über die uns Nachfolgende in zwanzig, dreißig, vierzig Jahren schreiben werden.

Tea & Coffee von Aldi Rossi (1983) (Foto: Collection Groninger Museum, John Stiel, Bundeskunsthalle Bonn)

Schlechtes Beispiel

Als ein architektonisches Exempel der Kulturbauten in den Siebzigerjahren wird übrigens das 1977 eröffnete Centre Pompidou in Paris genannt; nur ganz leise sei vermerkt, daß dieses Haus in seiner Modernität (von Postmoderne sollte man sicherlich nicht reden, eher folgt ja hier ganz im Sinne der Moderne die Form der Funktion) in der Pariser Museumslandschaft nach wie vor ein Solitär ist. Das meiste, der Louvre vorneweg, ist gravitätisch und, wenn wir in diesem Begrifflichkeiten bleiben wollen, eher „vormodern“.

Blicken wir einmal noch in die Ausstellung. Medienpräsenz und Mediennutzung veränderten sich in den genannten Zeiträumen dramatisch, erzählt sie uns, die Clubszene expandierte, „Women of Colour“ erfanden die Identitätspolitik. Außerdem gab es Helmut Kohl und, nicht zu leugnen, das Erstarken einer neuen Rechten. Alles richtig.

Die Grünen

Es gab aber auch, und dazu findet sich wenig bis nichts in Katalog und Ausstellung, das Erstarken der Atomkraftgegner, der ökologischen Bewegung zunächst („Tunix“), der grünen Parteien späterhin in Deutschland und anderswo. Das geschah nicht nach dem Ende der Moderne, sondern wesentlich nach der Ernüchterung und der Selbstauflösung maoistischer Parteien wie KBW und KPD-AO. Auch die RAF hätte ungefähr hier ins Bild gehört, doch die Ausstellung bleibt da eigentümlich unpolitisch. Wie gesagt, bei der kurzen Betrachtungsdistanz noch erlaubt, aber nicht völlig zufriedenstellend. Doch vielleicht lohnt gerade dies den Besuch: Eigenes Erleben, eigene Erinnerung neben das zu stellen, was Ausstellungsmachern wichtig war.

Übrigens: „Anything Goes“, eine der vielen Zwischenzeilen dieser Schau, war 1934 schon Titel eines Musicals von Cole Porter. Was die Botschaft allerdings nicht schmälert.

  • „Alles auf einmal. Die Postmoderne, 1967 – 1992″
  • Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Bundeskunsthalle), Bonn
  • Bis 28. Januar 2024
  • www.bundeskunsthalle.de

 




Wer hat die Nase vorn? „Parsifal“ in Düsseldorf und Hannover

Szene aus dem dritten Aufzug des „Parsifal“ in Düsseldorf mit Daniel Frank (Parsifal) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Sandra Then)

In Düsseldorf steht er mit leeren Händen im gleißenden Licht, der neue Gralskönig Parsifal. In Hannover bleibt von den Wirrnissen der Ritter- und der Klingsor-Welt ein Kind übrig. Erlösung wird der Welt in beiden Inszenierungen nicht zuteil. Die Sicht auf Richard Wagners „Bühnenweihfestspiel“ ist pessimistisch, bei allen Unterschieden. Und die sind markant, in der szenischen wie in der musikalischen Gestaltung.

Die Premiere in Düsseldorf bringt den viel gelobten „Parsifal“ aus Genf an den Rhein, in einer minimalistischen Regie von Michael Thalheimer, der in der letzten Spielzeit einen faszinierenden Verdi-„Macbeth“ an der Deutschen Oper herausgebracht hat. Auf der Drehbühne (Henrik Ahr) ein Podest, abgeschlossen nach hinten durch eine mittig vertikal geteilte, schmutzigweiße Wand, horizontal gegliedert durch einen Querbalken. So ergibt sich ein Kreuz, einziger Hinweis auf die christlichen Konnotationen von Wagners Weltabschiedswerk.

Der künftige Erlöser schreitet strahlend weiß aus diesem Spalt auf eine Fläche, auf der Gurnemanz, ein stattlicher, gebrochener Mann, allzu hörbar schlurfend seine Runden dreht. Bis zu den Hüften muss er einmal im Blut gestanden haben – so wirkt jedenfalls sein schwerer Mantel. Das Blut holt alle ein: Die Gewänder von Michaela Barth, in denen die Gralsritter geistern, sind rot verschmiert; Kundry malt im dritten Aufzug unentwegt den Kernsatz des Werks wie eine Beschwörungsformel an die Wand: „Durch Mitleid wissend der reine Tor. Parsifal“. Die Sphäre Klingsors ist schwarz und vertikal gebrochen – die Rückseite der Welt der Gralsgesellschaft.

Woher das Blut, woher die Schuld? Thalheimer verweigert die Antwort, so wie er seinen „Parsifal“ überhaupt strikt von Deutung frei hält und damit bisweilen Bedeutung gefährdet. Mit den Mitteln minutiöser Personenführung und der peniblen Planung von Gesten und Gängen schafft Thalheimer ein zugespitztes Kammerspiel, das die Gefahr öder Langeweile bannt, weil die Figuren auch durch die szenische Konzentration der Darsteller selbst in langen Passagen gesungener Texte spannend und lebendig bleiben. Dieser „Parsifal“ hat viel mit der Magie des Spielens zu tun und ist deshalb auch ein Stück faszinierendes Schauspieler-Theater.

Vollgepackte Bühne in Hannover

Der Kontrast zu Hannover könnte nicht größer sein: Dort inszeniert einer der neuen Mode-Regisseure, der Isländer Thorleifur Örn Arnarsson, designiert für „Tristan und Isolde“ in Bayreuth 2024. Er schafft es, auf der vollgepackten Bühne von Wolfgang Menardi trotz ausgiebigen Einsatzes von Licht, Nebel und Personal langatmige Ödnis zu verbreiten. Auch bei Arnarsson gibt es verlangsamte Bewegung, wankende Choraufmärsche wie weiland bei Wolfgang Wagner, aber auch Schreiten und Stolpern, Holpern und Rennen, dazu einen nervigen Umbau bei offener Bühne, ein auf- und abfahrendes Gerüstpaneel mit Neonröhren über einem rätselhaften Becken, und verkohlte Baumstämme, die uns die wie auch immer geartete Katastrophe signalisieren und am Ende des ersten Aufzugs erwartungsgemäß nach oben entschweben.

Irgendwie Katastrophe: Die Bühne von Wolfgang Menardi für den „Parsifal“ in Hannover, hier mit Marco Jentzsch (Parsifal) und Shavleg Armasi (Gurnemanz). (Foto: Sandra Then)

Im Klingsor-Akt umschließt ein weißer Kasten eine steril-museale Landschaft, bevölkert von lethargischen Frauen mit aufgemalten primären Geschlechtsmerkmalen auf halbtransparenten Verschleierungen (Kostüme: Karen Briem). Das Gespräch zwischen Parsifal und der unruhig auf und ab tigernden Kundry wird zum finalen Durchhänger eines mit geschäftigen Leerläufen gesegneten Abends. Der im Interview im Programm zitierte C.G. Jung mag erklären, warum Arnarsson Amfortas und Klingsor vom selben Sänger – dem energisch, rotzig und gewalttätig, aber auch erbarmenswert schmerzvoll singenden Michael Kupfer-Radecky – verkörpern lässt. Aber die zentrale Idee der Regie wirkt trotz Psychologie als bloße Bedeutungs-Behauptung: Parsifal erscheint als Kind, junger Erwachsener und reifer Mann, um seine Entwicklung erfahrbar zu machen. Doch die Doppelungen und Mehrfachauftritte von Sänger Marco Jentzsch mit den Kindern Maximilian Blossfeld und Leandro Klyszcz vermitteln keine konzentrierte Erzähllinie.

Steril und ohne Blumenzauber: Klingsors Welt in Hannover. Im Zentrum Michael Kupfer-Radecky. (Foto: Sandra Then)

Was am Ende des Assoziationstrubels bleibt, als die blendende Weißlichtfläche, die wohl den „Gral“ symbolisieren soll, endgültig zur Hölle gefahren ist und die Gralsritter ihre Hörnerhüte – eine Assoziation an Hägar-der-Schreckliche-Helme und Frickas Widder – abgelegt haben, bleibt unklar. Die Sinnlosigkeit jeder Entwicklung? Das Kind – der Anfang der immergleichen Geschichte? Das Panorama vergeblicher menschlicher Versuche, der Akzeptanz des immerwährenden Leids der Welt zu entkommen? Das Gefühl der Erlösung jedenfalls wird nur in der erleichterten Erkenntnis spürbar, dass der Abend endlich zu Ende geht.

Spannungsreiches Klangbild

Musikalisch allerdings hätte er noch länger dauern dürfen, denn der Hannoveraner GMD Stephan Zilias spornt das vorzüglich auf Wagner eingestellte Niedersächsische Staatsorchester zu einem lebendigen und spannungsreichen Klangbild an. Man mag über das eine oder andere langsame Tempo an der Grenze zum Zähen streiten, man mag manche Steigerung für zu überbordend halten – am fabelhaften Eindruck des Abends ändert das nichts.

Zilias zeigt, dass „Parsifal“ sich nicht im Rausch der Linien erschöpft, dass die psychedelische Verführungsabsicht Wagners keineswegs das bestimmende Element der Musik sein muss, wie offenbar ein hartnäckiger, Protest im Publikum hervorrufender Buh-Rufer annimmt. Deutlich wird vielmehr, dass die Musik aus Konturen lebt, dass der Klang ausdifferenziert werden will, dass Einsätze, Farb- und Haltungswechsel nicht nur unmerklich ineinander übergehen, sondern akzentuierenden Zugriff brauchen. Auch der Chor von Lorenzo da Rio verliert sich nicht im Säuseln, lässt im marcato auch die aggressive Note dieser Gesellschaft erkennen. In den Fernchören gibt es schmerzhafte Wackler, das ist aber auch in Düsseldorf nicht anders, wo Gerhard Michalski seine Herren auf satte Sonorität und entschieden drängenden Gleichklang getrimmt hat.

Axel Kober in Düsseldorf, mit der Erfahrung des Bayreuther „Abgrunds“ im Sinn, liest die „Parsifal“-Partitur mischklangverliebter, aber auch mit Lust an langsamem, im ersten Aufzug zerfließend lahmendem Zeitmaß. Die Düsseldorfer Symphoniker zeigen in den Violinen wenig Kontur, bleiben im Finale zu sehr im Hintergrund und ohne Magie. Für die sensualistischen Provokationen der Klingsor-Welt produziert das Orchester nur gedeckte Farben und schalen erotischen Kitzel.

Sänger-Triumphe an beiden Häusern

Düsseldorf: Hans-Peter König (Gurnemanz) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Andreas Etter)

Gesungen wird an beiden Häusern sehr achtbar, teilweise auf einem Niveau, das man sich für Bayreuth wünschen würde. Der Trumpf in Düsseldorf heißt Hans-Peter König: ein beispielhafter Wagner-Sänger, klangvoll im Timbre, ausgeglichen in der Tonproduktion, wortverständlich und mit musikalischen Nuancen gestaltend. Ein großartig erzählender Gurnemanz. Aber auch Luke Stoker als präsenter Titurel überzeugt auf ganzer Linie. Michael Nagy erscheint im Zentrum der sich kreuzenden Linien der Bühne als blutige Christus-Assoziation und singt entspannt und expressiv – ein markanter Kontrast zum Klingsor von Joachim Goltz, der mit bewusst gehärteten, schneidenden Tönen und konzentriert fokussierend aus dem verstoßenen einstigen Gralsritter die grimmige Enttäuschung und den Willen zur Vergeltung herausstößt.

Daniel Frank, der Düsseldorfer Parsifal, wirkt zunächst recht dünnstimmig und grell, fängt sich im zweiten Aufzug und kann im dritten beweisen, dass er mit Kern und gesichertem Klang aussingen kann. Sarah Ferede wird in die Partie der Kundry noch hineinwachsen: Ihr Auftritt im Reiche Klingsors beginnt imposant, ihren Schmeicheltönen fehlt es nicht an Schmelz. Die letzte Rundung, die Souveränität über die Momente des Extremen, das Vermeiden von Schärfe in der Kraft fordernden Höhe sind noch nicht ausgereift. Auch Irene Roberts, die Kundry in Hannover, ist noch nicht so weit: Lautstärke ist keine Garantie für die Intensität des Ausdrucks, eine Stimme am Limit wirkt eher gefährdet als gefährlich und das Vibrato darf kontrollierter sein.

Der Star in Hannover heißt Michael Kupfer-Radecky – in Bayreuth war er Wotan in der „Walküre“ und Gunther in der „Götterdämmerung“. In der Doppelrolle Amfortas/Klingsor versteht er es, das Gemeinsame der ähnlichen existenziellen Verletzung, aber auch die Spannung zwischen den beiden so unterschiedlichen Charakteren herauszuarbeiten. Sein Bariton ist kraftvoll, aber nicht übermächtig, der Klang konzentriert, ohne verfestigt zu wirken. Kupfer-Radecky legt die Seele der Worte frei, und allenfalls in der einen oder anderen Verzerrung eines Vokals macht sich bemerkbar, wie viel Einsatz und Mühe hinter einer solchen Gesangsleistung steckt.

Daniel Eggert rückt als Titurel nicht in den Vordergrund; er singt klangschön zurückhaltend, Shavleg Armasi ist ein beredter Gurnemanz, der dieser Figur eine sympathische menschliche Note mitgibt – kein Grund, Missfallen zu äußern, wie es am Ende vom Rang herabschallte. Marco Jentzsch entkleidet den Parsifal in Hannover jeder heldischen Attitüde, hat aber nicht die Reserven, um die plötzliche Einsicht nach dem Kuss Kundrys und die daraus folgende Entschlossenheit zu beglaubigen. Zumal der Tenor auch im Lyrischen dünn wirkt, Piani nicht gestützt sind und die ausgemergelte Schärfe des Tons in dramatischen Momenten nur lautes und explosives Stemmen erlaubt. Dennoch bleibt es dabei: Musikalisch hat Hannover wegen der Klasse des Orchesters und einem spannungsvolleren Dirigat die Nase vorn, szenisch muss sich Düsseldorf vor dem Aufwand auf der niedersächsischen Bühne in keinem Augenblick verstecken.

Vorstellungen in Düsseldorf: 1., 15., 21.10.2023; 29.03., 07.04.2024. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/kalender/parsifal/1285/?a=termine

Vorstellungen in Hannover: 3., 8., 15., 22., 31.10. Info: https://staatstheater-hannover.de/de_DE/programm-staatsoper/parsifal.1343152

 




Der Wetterpilz – ein deutsches Phänomen?

Dieser Tage fotografiertes Prachtexemplar der Gattung: der in den 1950er Jahren errichtete Wetterpilz auf dem Dortmunder Hauptfriedhof – Geo-Koordinaten laut Homepage www. wetterpilze.de: 51.515964, 7.546124. (Foto: Bernd Berke)

Wie nennen wir sie eigentlich, diese schützenden „Pilze“, die meist in Wäldern oder Parks aufragen und bei Wind und Wetter als Unterstand dienen? Nun, je nach Region wohl ganz unterschiedlich. Am häufigsten heißen sie Wetterpilze oder eben Schutzpilze, andernorts auch Rastpilz, Schirmdach, Parasol oder (im Süden der Republik) Schwammerl.

Als ich neulich mal wieder ein Gewächs aus der naturnahen Gattung sah, dachte ich, dass man darüber auch mal ein paar Zeilen schreiben sollte, denn es schien mir, als seien Wetterpilze ein typisch deutsches Phänomen. Wie es sich vergleichsweise mit der Schweiz und Österreich et cetera verhält, das müsste noch näher beleuchtet werden. Zusatzfrage: Darf man sich bei Blitz und Donner unter einen solchen Pilz begeben? Reichlich Stoff für Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten! Aber in welcher Fakultät? Vielleicht doch Architektur, schon wegen der vielfältigen Pilz-Dachformen.

Als Laie habe ich zunächst eine Suchmaschine angeworfen – zum Thema, das ich nahezu für mich allein zu haben glaubte. Doch weit gefehlt! Sehr schnell bin ich auf den Namen Klaus-Heinz Herda gestoßen. Der Kölner ist offenbar geradezu besessen von Wetterpilzen. Er betreibt dazu eine einschlägige Homepage, sammelt allüberall Fotografien und mehr oder weniger detaillierte Beschreibungen dieser Zufluchten. Mit Hilfe einer überschaubaren Community und mit Online-Diensten versucht er, im Waldesgrün verborgene Pilz-Plätze zu orten. Überdies ist er dankbar für jeden konkreten Hinweis. Ob demnächst auch KI zum Einsatz kommen wird? Man weiß es nicht.

Rund 1000 Exemplare in der ganzen Republik?

Aus all diesen Nachforschungen sind mit der Zeit veritable „Wetterpilz-Karten“ entstanden, die die Schutzschirme geographisch exakt zuordnen. Rund 300 Stück hatte Herda – einem Bericht der „Leipziger Zeitung“ zufolge – bereits im Jahre 2013 beisammen. Damals schätzte er den mutmaßlichen Gesamtbestand auf rund 1000 Exemplare in ganz Deutschland. 2013 war es auch, als die Wochenzeitung „Die Zeit“ über Herda und seine erstaunliche Wetterpilz-Expertise schrieb (Ausgabe No. 30 vom 18. Juli 2013 – auch im eingangs verknüpften Wikipedia-Artikel verlinkt). Am 31. Juli 2020 kam dann die Tageszeitung (TAZ) ausführlich auf Herda und seine Leidenschaft zurück.

Je mehr Wetterpilze gelistet wurden, desto deutlicher haben sich auch Ansätze zu einer Typologie ergeben: In und um Köln, so hat Herda festgestellt, bestehen die Pilze größtenteils aus Beton, im Ruhrgebiet (wen wundert’s?) haben sie häufig ein stählernes Gerüst, in anderen Landstrichen herrscht Holz vor. Lauter unscheinbare Sonderfälle der Architekturgeschichte. Apropos Historie: Die ersten Wetterpilze wurden in unseren Breiten gegen Ende des 18. Jahrhunderts errichtet, anfangs noch als Bestandteil der Gartenkunst und zum Vergnügen des Adels. Ferne Vorbilder waren Standschirme in der Südsee, wie sie z. B. Captain James Cook bei seinen Expeditionen gesehen hatte. Im 19. Jahrhundert wurden die Pilze in Preußen „Tahitisches Schirmdach“ genannt. Damit wäre Jauchs Millionenfrage beantwortet.

Stählerne „Gewächse“ im Ruhrgebiet

Längst hat Klaus Herda, mit Unterstützung weiterer Pilzfreunde, auch in anderen Ländern (meist eher vereinzelte) Standorte gefunden. Doch tatsächlich sind sie wohl in Deutschland in besonderer Dichte aufzuspüren, nicht zuletzt im Ruhrgebiet und hier wiederum speziell in Dortmund, beispielsweise im Westpark, im Fredenbaumpark, auf dem Hauptfriedhof, im Hoeschpark und im Rombergpark. Wenn ich es richtig gesehen habe, hat Klaus Herda in seinen Verzeichnissen bis heute (mindestens) eine Dortmunder Stelle noch nicht erfasst, nämlich jene im Niederhofener Wald. Was die Fülle anbelangt: Okay, in Berlin gibt es noch ein paar mehr. Kunststück – bei der Fläche. Auch der angeblich weltgrößte Wetterpilz soll in der Hauptstadt stehen, genauer: in Berlin-Frohnau. Wie denn überhaupt laut TAZ Berlin ein Hotspot der „Pilzkultur“ ist.

Ein Platz für hart gekochte Eier

Wetterpilze haben etwas anheimelnd Gestriges, ja Konservatives an sich. Oder sollte ihnen auch etwas Muffiges anhaften? Man denkt vielleicht an die 1950er oder frühen 1960er Jahre, an Wanderausflüge und Jugendherbergen traditionell bescheidenen Zuschnitts, an Picknick-Rast mit selbst geschmierten Butterbroten, Schnitzeln und gekochten Eiern, womöglich auch an heimatliche Zusammenschlüsse wie den SGV (Sauerländischer Gebirgsverein). Sonderlich „Cool“ klingt das alles nicht. Freilich dürften heute im Schatten der Pilze auch schon mal ganz andere Dinge als harte Eier konsumiert werden.

Schließlich noch ein Vorschlag zur Güte: Statt dass „woke“ Leute abschätzig über „Biodeutsche“ oder gar „Kartoffeln“ spotten, könnten sie meinethalben „Ihr Wetterpilze!“ sagen. Hört sich doch irgendwie netter an, oder?

Klaus Herdas Homepage: www.wetterpilze.de




Podcasts überall – Tipps aus Politik, Kultur und Fußball

Links die derzeit liebsten Radiosender, rechts dito Podcasts und Mediatheken-Inhalte: Meine (teilweise temporären) Favoriten-Listen auf der geschätzten Seite radio.de (Screenshot: BB)

Zugegeben: Ich bin reichlich spät an der Reihe, habe ich mich doch erst in jüngster Zeit darauf verlegt, gelegentlich Podcasts zu hören. Jetzt aber!

Diese Form der akustischen Versorgung scheint die herkömmlichen Angebote der Radio-Stationen seit einiger Zeit geradewegs zu überwuchern. Unschätzbarer Vorteil: hören, wann immer es genehm ist; nach Gusto unterbrechen und den Faden später neu aufnehmen. Nicht nur das „lineare“ Fernsehen hat weithin abgedankt, auch das Radio nach festem Programmschema hat wohl seine besten Zeiten hinter sich. Doch Radioleute, vor allem aus dem öffentlich-rechtlichen Sektor, und überregionale Zeitungen mischen bei den Podcasts kräftig mit. Bei den großen Blättern hat praktisch jedes Ressort wenigstens einen eigenen Podcast. Mit entsprechendem Know-how kann inzwischen praktisch jede(r) einen Podcast aufsetzen, so wie theoretisch auch alle Leute Bücher im Selbstverlag herausbringen können.

Längere Strecken ohne lästiges Gedudel 

Zuallermeist können Podcasts kostenlos gehört werden. Kurze Werbeunterbrechungen scheinen allerdings hie und da zuzunehmen. Tatsache ist: Es gibt inzwischen Abertausende von Podcasts aller denkbaren Genres, allein schon in deutscher Sprache. Wenn man dann noch die anglophonen Angebote hinzunimmt, wird’s schon etwas unübersichtlich. Jedenfalls ist eine spezialisierte Suche unabdingbar (dazu zwei Hinweise am Schluss dieses Beitrags).

Einige Podcasts weisen erstaunliche Zugriffszahlen auf. Das lässt buchstäblich aufhorchen, deutet es doch darauf hin, dass viele Menschen sich auf ausgedehnte Mono- und Dialoge ohne ständiges Gedudel einlassen. Sie sind offenbar weitaus schlauer und geduldiger, als manche Radio- und Fernsehmacher glauben. Eine Stunde oder gar 90 Minuten unterbrechungsfreies Sprechen – wie wohltuend kann das im Glücksfalle sein; wie tief- und hintergründig, wie bereichernd.

Eine beliebte Herangehensweise ist jene, zwei möglichst intelligente und/oder gewitzte (zudem gern wenigstens halbwegs prominente) Leute miteinander plaudern zu lassen – entweder über „Gott und die Welt“ oder über allerlei Besonderheiten. Bei solchen, oft recht munteren Diskursen kommen durchaus originelle Kombinationen mit Reibungspotenzial zusammen. Oder es treffen Leute aufeinander, die herrlich miteinander harmonieren.

Wohltuende Distanz zur täglichen Aufregung 

Doch reden wir nicht noch weiter um den heißen Brei herum. Es folgen ein paar Tipps aus verschiedenen Sparten:

Sehr angenehm überrascht bin ich z. B. vom Format „Gysi gegen Guttenberg“ (erscheint wöchentlich – auch via YouTube), das den altbekannten Politiker der Linkspartei, Gregor Gysi, und die einstige, vermeintlich kanzlertaugliche, hernach ziemlich unsanft abgestürzte CSU-Hoffnung Karl-Theodor zu Guttenberg zusammenspannt. Beide sind außerordentlich eloquent, beide haben reichlich Erfahrungen im Politik-Betrieb gesammelt und können auch anekdotisch aus dem Vollen schöpfen. Wichtiger noch: Beide haben eine wohltuend entspannte Distanz zu den (partei)politischen Aufregungen des Tages gewonnen, sie betrachten das Ganze gleichsam von höherer Warte, ohne arrogant herabzublicken. Bislang habe ich drei (jeweils fast einstündige) Folgen der empfehlenswerten Reihe gehört. Eine handelte vom Wesen der Wahlkämpfe, eine andere vom Mit- und Gegeneinander der Politik und der Medien, eine dritte vom Aushalten harscher Meinungskämpfe in Zeiten grassierenden Wutbürgertums.

Verbale Doppelpässe sondergleichen

Mindestens ebenso angetan bin ich vom Fußball-Podcast „Zeigler & Köster“ (wöchentlich). Arnd Zeigler ist bekannt durch seine hellwache TV-Sendung „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“, Philip Köster firmiert als Chefredakteur des gleichfalls fröhlich aufgeweckten Fußball-Magazins „11 Freunde“. Beide als Kenner des Metiers zu bezeichnen, wäre untertrieben. Sie verfügen über stupendes Fußball-Wissen bis in abstruse Details hinein. Oft werfen sie einander fast schon vergessene Kicker-Namen und Jahrzehnte zurückliegende Vorfälle auf und neben dem grünen Rasen derart um die Ohren, dass es nur so seine Art hat. Sie spielen sich die verbalen Bälle zu, als vollführten sie atemberaubende Doppelpässe, Fallrück- oder Seitfallzieher und dergleichen. Wenn’s drauf ankommt, argumentieren sie ernsthaft und meinungsstark, doch kosten sie auch gut und gerne die humoristischen Valeurs der Fußball-Betrachtung aus. Großer Sport!

Innenansichten aus dem Literatur-Betrieb

In ein anderes Regal gehört der vom Hanser-Verlag lancierte Podcast „Hanser Rauschen“ (vierzehntägig), der von der Lektorin Emily Modick und dem Lektor Florian Kessler bestritten wird. Hier geht es keineswegs nur um Hanser, sondern generell um Ansichten aus dem Literatur-Betrieb. Die vollmundige Eigenwerbung setzt noch etwas drauf: „Es geht um Skandale und Strukturen, Stoffe und Ekstasen – um alles, was in Bücher passt und außenrum passiert.“ Die recht muntere Plauderei wird ein klein wenig getrübt durchs allzu routiniert abgespulte „Gendern“. Doch lohnt es sich, ins Rauschen ab und zu mal reinzulauschen. Solche Insider-Perspektiven zur Bücherwelt bekommt man sonst nicht alle Tage serviert. Zuletzt ging es um „Gossip“ (also Klatsch und Tratsch) im Literatur-Betrieb. Anspielungsweise war etwa von #MeToo in der Buchbranche die Rede. Wer allerdings gehofft haben sollte, hierbei konkrete Namen zu hören, musste freilich enttäuscht werden. Modick und Kessler wollen ja auch ihre spannenden Jobs behalten.

Vergleichsweise nüchtern mutet der NDR-Podcast mit dem schlichten Titel „Die Idee“ (in loser Folge) an. Hier führt der Redakteur Norbert Grundei ausgiebige Gespräche mit wechselnden Gästen. Ich bin zunächst auf eine Ausgabe gestoßen, in der sich Oliver Kalkofe zur Entwicklung des Fernsehens äußert, und zwar durchaus erhellend und plausibel. Eine seiner Grundthesen: Nahezu jedes Medienformat habe eine anfänglich wilde und ungemein kreative Phase – bis jene oberschlauen „Optimierer“ hereinschneien, die den Machern erzählen wollen, wie das alles noch besser und lukrativer geht. In aller Regel handelt es sich dabei um Verschlimmbesserungen bis hin zum völligen Niedergang. Ob von dieser Entwicklung auch der eine oder andere Podcast betroffen ist?

Es geht auch ohne Lanz, Precht und Beisenherz

Schließlich noch ein Blitzlicht auf „Megahertz“ (wöchentlich), einen Podcast aus dem Hause Neue Zürcher Zeitung (NZZ), die politisch teilweise in trüben Gewässern fischt, hier aber offenbar unterhaltsame Plauderstückchen anrichtet. Versuchs- und versuchungsweise reingehört habe ich in ein Gespräch mit der Berliner Porno-Produzentin Paulita Pappel, die freilich mittlerweile allüberall als Gast oder – wie die erklärte Feministin wohl sagen würde:  „Gästin“ (natürlich auch bei Böhmermann) – „herumgereicht“ worden ist, weil sie so zeitgeistig über Sex zu reden versteht. Seltsam genug: Es inspiriert und nervt gleichermaßen. Man müsste halt noch ein paar anderweitige Hörproben nehmen, um das „Megahertz“-Angebot fundierter zu beurteilen.

Wer nun Hinweise auf Blockbuster der Szene vermisst, beispielsweise auf „Lanz & Precht“ oder auf „Apokalypse & Filterkaffee“ (täglich) mit dem umtriebigen Micky Beisenherz (und Gästen wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder Markus Feldenkirchen), der/die möge sich das halt anhören. Mir ging es hier um Entdeckungen, wenn nicht um „Geheimtipps“. Lanz kommt oft genug im TV, die Dauer-Kombi mit Precht mag ich persönlich gar nicht ***. Wie aufgekratzt und kreischig der hyperdynamische, womöglich doch etwas überschätzte Beisenherz die Schlagzeilen der Stunde durchhechelt, geht mir auf den Wecker. Eine Folge habe ich tapfer durchgestanden. Weiterer Bedarf besteht kaum. Was darf man denn auch von einem Gehetzten erwarten, der tagtäglich ran muss (bzw. zu müssen glaubt)?

Und wie finden sich passende Podcasts? Nun, beispielsweise über die Suchfunktion von Websites wie radio.de oder podcast.de Es möge fruchten.

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Nachtrag:

*** Erst recht nicht nach Prechts abgründigen Äußerungen zu Israel und zu dem, was er unter Judentum „versteht“.




Abschluss einer Ära: Hermann Max nimmt Abschied vom Festival Alte Musik in Knechtsteden

Hermann Max und seine Ensembles beim Eröffnungskonzert des Festivals Alte Musik Knechtsteden. (Foto: Michael Ratsmann)

Das mit den Kränzen, die den Mimen von der Nachwelt nicht geflochten werden, galt lange auch für ausübende Musiker. Erst Platten, Bänder und Speicher halten fest, was sonst ein flüchtiges Opfer der unaufhaltsam verrinnenden Zeit gewesen ist.

Hermann Max, der mittlerweile 82jährige Doyen der historischen Aufführungspraxis, hat mit vielen Rundfunk- und über 60 CD-Aufnahmen die Entwicklung seiner Klangästhetik dokumentiert, noch vor den ersten Anfängen des 1992 von ihm gegründeten Festivals Alte Musik Knechtsteden  bis in die Gegenwart – mit einem Passionsoratorium von Gottfried Heinrich Stölzel im Jahr 2021. Die Nachwelt hat also die Chance, die von Friedrich Schiller bedauerten fehlenden Kränze zu flechten.

Nun nimmt Hermann Max Abschied von „seinem“ Festival und lässt in acht Konzerten noch einmal die Musikerdynastie der Bachs feiern. Neben den berühmtesten aus allen „Bächen“, Johann Sebastian, treten Vorfahren, Verwandte und Nachkommen aus dem 16. bis in 19. Jahrhundert. Natürlich mit von der Partie sind die von Max gegründete „Rheinische Kantorei“ und „Das kleine Konzert“. Eröffnet hat der Bach-Medaillenträger des Jahres 2008 seine letzte Konzertreihe mit einem „Familientreffen“ der Bachs: Johann Christoph, Johann Ludwig, Carl Philipp Emanuel, Johann Christian, Johann Christoph Friedrich, Wilhelm Friedrich und natürlich Johann Sebastian fanden sich zusammen zu einem festlichen Pasticcio großartiger Musik. Ein Programm, das für eine der Leitlinien im Musikerleben Max‘ steht: Verschollenes entdecken, auf Rares aufmerksam machen, Unterschätztes ins rechte Licht rücken.

Aus der Verwandtschaft Bachs

Schauplatz der meisten Festivalkonzerte ist die romanische Basilika von Knechtsteden. (Foto: Werner Häußner)

In diese Linie gehört auch das Konzert in der Wochenmitte, bei dem in der romanischen Basilika der ehemaligen Prämonstratenserabtei Knechtsteden (auf dem Gebiet der Gemeinde Dormagen) Motetten von Bach-Familienmitgliedern erklangen. Rund 150 Lebensjahre durchmessen die sechs aufgeführten Motetten, die bei Begräbnissen bedeutender Persönlichkeiten gesungen wurden und entsprechend Themen von Trauer, Trost, Trübsal und Hoffnung behandeln. In allen Werken ist spürbar, wie hoch entwickelt die Komponisten das Wort-Ton-Verhältnis gestalten, wie sehr ihnen die Aussage der Texte am Herzen liegt, und wie bestrebt sie sind, in kunstvoller Anlage der Musik zu ihrem Recht zu verhelfen.

Der älteste der aufgeführten Meister ist Johann Christoph Bach, den Johann Sebastian als einen „profonden Componisten“ schätzte. 1642 in Arnstadt als Sohn von Heinrich Bach geboren und 1703 in Eisenach verstorben, hinterließ er rund ein Dutzend Motetten. „Der Gerechte, ob er gleich zu zeitlich stirbt“ ist im sogenannten Altbachischen Archiv überliefert. Die Ruhe des „Gerechten“ wird in der getragenen Einleitung versinnbildlicht, wenn er gleichsam unter einem großen musikalischen Bogen gelegt ist. „Er gefällt Gott wohl und ist ihm lieb“ schildert dann in aufsteigender Bewegung auch die Freude, endlich aus dem „bösen Leben“ zu enteilen.

Ob die Motette „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn“ von Christoph oder von Johann Sebastian Bach stammt, ist nicht klar, denn in Leipzig wurden unter Bach auch Werke von Johann Christoph aufgeführt. Die an den Vatergott gerichteten Worte aus dem Buch Genesis des Alten Testaments werden theologisch neu interpretiert, wenn sie mit dem Einwurf „mein Jesu“ auf den Erlöser der Christen hin bezogen werden. Die herbe Harmonik dieses Werks fällt auf: Der Ernst der Bitte drückt sich in der Musik aus.

Ausgeprägte Persönlichkeiten

Edzard Burchards leitet das Motettenkonzert in Knechtsteden. (Foto: Michael Ratsmann)

Bestens dokumentiert und eindeutig Johann Sebastians Feder entsprungen ist „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“. Die Musik hat wenig vom getragenen Trauerpathos des 19. Jahrhunderts, sondern ist leicht und lebhaft: Der „Geist“ ist eben nichts Statisches, sondern bewegte Energie und inspirierender Beweger. Der Inspirator am Pult, Edzard Burchards, verdeutlicht das durch straffe Tempi; die reiche Polyphonie mündet am Ende in ein leuchtend harmonisches Halleluja.

Wie unterschiedlich sich trotz der Konventionen der geistlichen Musik der persönliche Stil des jeweiligen Komponisten ausformt, macht die Motette „Wir wissen, so unser irdisches Haus dieser Hütten zerbrochen wird“ von Johann Ludwig Bach deutlich. Der entfernte Verwandte des Leipziger Thomaskantors, 1677 in Thal bei Eisenach geboren, war bis zu seinem Tod 1731 Kapellmeister am Hof zu Meiningen. Elf Motetten aus seiner Hand sind in der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek überliefert. Ludwig Bach macht aus dem Gegensatz der irdischen Hütten zu den verheißenen himmlischen Wohnungen ein expressives Mini-Drama: „Wir wissen“ erklingt betont, in einer Generalpause wird die melodische Linie gekappt und das Wort „zerbrochen“ tatsächlich in zwei Teile gespalten.

Carl Philipp Emanuel Bach, das zeigt die vierstimmige Motette „Oft klagt dein Herz, wie schwer es sei, den Weg des Herrn zu wandeln …“, gehört dann einer anderen Zeit an. Nicht mehr die kontrapunktische Arbeit, die lebendige Polyphonie stehen im Vordergrund. Er vertraut den Ausdruck der Melodie an, auf der die Worte kontinuierlich getragen statt im Einzelnen musikalisch ausgedeutet werden. Das Pathos etwa der Opern Christoph Willibald Glucks oder Antonio Salieris ist nahe.

Das Solistenensemble der Rheinischen Kantorei und die Continuo-Gruppe von „Das kleine Konzert“. Foto: Michael Rathmann

Das Solistenensemble der Rheinischen Kantorei mit acht Sängern widmet sich diesen unterschiedlichen musikalischen Stilen so engagiert wie kompetent. Burchards hatte sich entschieden, die Motetten nicht – nach dem Ideal des 19. Jahrhunderts – unbegleitet singen zu lassen. Er lässt die Stimmen von der Continuo-Gruppe von „Das kleine Konzert“ begleiten. Sibylle Huntgeburth (Cello), Miriam Shalinsky (Violone) und Johann Liedbergius (Orgel) sind einfühlsame Partner des Gesangsensembles: Die begleiteten Stimmen klingen runder, die harmonischen Verläufe wirken wie von Brokat umkleidet, auch einzelne Schärfen oder Missverhältnisse in der Balance werden ausgeglichen.

Die Flexibilität der Stimmen, die Intonation, die Expressivität des Wortes, die noble Emphase des Klangs, die Präzision in Fugen und polyphonen Abschnitten sind auf dem professionellen Niveau, das man von Hermann Max‘ Ensembles gewohnt ist. Lediglich der Sopran tut sich schwer, sich in den Klang einzufügen: Forcierte, grell und flach gesungene hohe Töne stören die Balance. – Zum Abschluss des Programms trug „Jesu meine Freude“ in kunstvoller Ausformung zur Freude der Zuhörer in der Basilika bei, die nicht zuletzt auch Flóra Fábri mit vier Duetten aus der „Clavier Übung“ Johann Sebastian Bachs vital befeuerte: Ihr nobles Spiel an der Truhenorgel war eine willkommene „Gemüths Ergezung“.

Seinen Abschied nahm Hermann Max am Samstag, 23. September, in einem festlichen Konzert in der Abteikirche, das vier Kantaten aus dem Frühwerk Bachs vor seiner Leipziger Zeit vorstellte – krönender Abschluss einer Festival-Leitung, die man getrost als Ära bezeichnen darf.

Das Festival Alte Musik in Knechtsteden (Gemeinde Dormagen) findet alljährlich im September statt. Info: https://knechtsteden.com/




Geschichtenerzähler im Videokabinett – Kunstsammlung NRW präsentiert den britischen Künstler Isaac Julien

Isaac Juliens Zehnkanalinstallation „Lessons of The Hour“ über den ehemaligen Sklaven, Freiheitkämpfer und Fotografen Frederick Douglass. (Foto: Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Achim Kukulies)

Überall Videos. Abgedunkelte Räume voll von unterschiedlich großen Projektionsflächen, auf denen in bunten Farben Bewegtbilder ablaufen. Alles sehr ordentlich, professionell und, ja, so kann man durchaus sagen: schön. Natürlich ordnet sich der überwältigende erste Eindruck zügig, die realen Räume sind eben auch Themenräume, in denen auf drei, fünf, zehn Bildflächen, je nachdem, Geschichten erzählt werden.

Große Werkschau

Der Schöpfer dieser Arbeiten, den Videokünstler zu nennen es nur zum Teil trifft, ist Isaac Julien, Jahrgang 1960, Brite, Documenta- und Biennale-Teilnehmer und für sein künstlerisches Schaffen bereits hoch geehrt. Zu sehen sind nun elf Video-Installationen sowie eine Reihe von Fotografien in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, im K21, dem Haus für das Zeitgenössische, das früher mal den Landtag beherbergte.

Videokünstler, Filmemacher, Fotograf: Isaac Julien (Foto: Theirry Bal/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen)

Schwarz und schwul

Seit Julien in den frühen 80er Jahren, mit Amateurvideo-, 8- und 16-Millimetermaterial zunächst, zu arbeiten begann, sind „schwarz“ und „schwul“ zentrale Motive. Von Anfang an ist da der Zorn über die ungerechten Verhältnisse. „Who Killed Colin Roach?“ aus dem Jahr 1983 etwa thematisiert den Mord an einem Farbigen vor einem Londoner Polizeirevier, „Territories“ (1984) Erfahrungen junger farbiger Frauen in England, und der Titel des Zehnminüters „This Is Not An AIDS Advertisement“ (1987) ist quasi selbsterklärend. „Western Union: Small Boats“ (2007) erzählt von afrikanischer Migration, verwebt die Dokumentation auf unerhörte Weise mit einer Tanzperformance Russell Maliphants. Altchinesische Mythen wiederum und die zu Anfang des 20. Jahrhunderts glamouröse Filmstadt Shanghai sind Thema von „Ten Thousand Waves“ (2010), werden thematisch in Zusammenhang gebracht mit dem tragischen Tod von chinesischen Wanderarbeitern in England. Es gibt der Themen etliche mehr.

Harlem Renaissance: Szene aus „Looking For Langston“ von 1989 (Foto: Isaac Julien, Courtesy the artist and Victoria Miro/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen)

Geschichte

Seit dem Ende der 80er Jahre, jedenfalls vermittelt die Düsseldorfer Schau diesen Eindruck, verlagert sich Juliens Interesse stärker hin zu historischen Themen. „Looking for Langston“ (1989), ein zwischen schwelgerischer Reinszenierung, Spielhandlung und eleganter Erotik meisterlich changierendes Werk in Schwarzweiß, thematisiert die „Harlem Renaissance“, die selbstbewußte Manifestation schwarzen homosexuellen Lebens in den 20er Jahren. „Ein wichtiger Beitrag zur Erforschung schwarzen, queeren Begehrens“ ist „Looking…“ laut Pressetext, „die wichtigste Arbeit der Ausstellung“ in den Worten von Kuratorin Doris Krystof.

Sklave, Freiheitskämpfer, Fotograf

Auch das üppigste Werk der Schau hat ein historisches Thema. „Lessons of The Hour“ (2019) – 10 Bildkanäle, Surroundsound, knapp eine halbe Stunde lang – portraitiert Leben und Werk des ehemaligen Sklaven Frederick Douglass, der sich selbst befreite und zum Freiheitskämpfer wurde. Douglass befaßte sich intensiv mit Fotografie, schrieb über sie, gilt überdies „als die meistfotografierte Persönlichkeit in den USA im 19. Jahrhundert“. „Der moralische und soziale Einfluß des Bildermachens“, noch einmal sei mit diesem Terminus der Pressetext zitiert, hat Isaac Julien in seinem eigenen Schaffen tief und nachhaltig motiviert. Und das Video (wenn man es denn doch einmal so nennen darf): schöne Bilder aus einer versunkenen Zeit, lange Kleider, Samt und Seide. Bilder gerade so, wie sie seinerzeit in den Fotoateliers entstanden.

In einem Fotoatelier des 19. Jahrhunderts; Szene und Still aus „Lessons of The Hour“ von 2019 (Foto: Isaac Julien, Courtesy the artist and Victoria Miro/Kunstsammlung Nodrhein-Westfalen)

Bildergalerie

Vier Stunden 35 Minuten braucht man, um alle in Düsseldorf gezeigten Filme vollständig anzuschauen. Aber dazu muß man sich schon zwingen, denn die Gleichzeitigkeit vieler Bildbotschaften nebeneinander vermittelt einen paradoxen Eindruck von Bewegungslosigkeit, von Gemäldeausstellung mithin. Das scheint ein wenig auch gewollt zu sein, ähnelt die Bildpräsentation doch sehr jener der brasilianischen Architektin und Designerin Lina Bo Bardi, die in von ihr geplanten Museumsbauten Alte Meister gerade so im Raum platzierte wie Isaac Julien in seinen Ausstellungen die Videoflächen. „Lina Bo Bardi – A Marvellous Entanglement“ (2019) heißt sein Film über sie, der übrigens nur über drei Videoflächen läuft.

Freiheit bedeutet, keine Furcht zu haben

Je länger man in der Schau verweilt, im Untergeschoß des K21, desto mehr verflüchtigt sich der Eindruck von „Oberflächlichkeit“ (ich stelle das mal in Tüttelchen, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen), den die formal makellose, technisch aufwendige Präsentation zunächst hervorgerufen hatte. In der zeitgenössischen Kunstproduktion begegnet man einem gewissen Mißverhältnis zwischen Aufwand und Botschaft häufiger, da hat sich beim Betrachter vielleicht eine falsche Erwartungshaltung herausgebildet. Isaac Julien jedenfalls erzählt ganze Geschichten, die trotz ihrer Opulenz nur zu einem Teil über die Videowand laufen und ihre Ergänzungen in den Köpfen der Betrachter finden. Und vielleicht erzählt er auch nur eine Geschichte. „I’ll tell you what freedom is to me. No fear” zitiert er die amerikanische Jazz-Sängerin und Bürgerrechtsaktivistin Nina Simone. Aus ihrem Satz ist der Titel der Ausstellung, die vor Düsseldorf übrigens in der Londoner Tate-Gallery zu sehen war, abgeleitet.

  • „Isaac Julien. What Freedom Is To Me“
  • Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K21, Ständehaus, Ständehausstr. 1
  • Bis 14. Januar 2024
  • Geöffnet Di-So 11-18 Uhr
  • www.kunstsammlung.de
  • Katalog 207 Seiten, 46 €

 




Unauflösliche Märchenwelt: Oper Köln eröffnet die Spielzeit mit „Die Frau ohne Schatten“

Daniela Köhler (Kaiserin) und Irmgard Vilsmaier Der(Amme). (Foto: Matthias Jung)

Dem früheren Intendanten des Aalto-Theaters Essen, Hein Mulders, ist mit der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ zum Spielzeitauftakt ein markantes Statement gelungen. Die Inszenierung von Katharina Thoma hat jedoch Leerstellen, die auch von der hervorragenden Orchesterleistung unter Marc Albrecht nicht verfüllt werden können.

Das üppige Orchester, die häufigen Verwandlungen, die Länge und die fünf extrem anspruchsvollen Hauptpartien: Richard Strauss‘ und Hugo von Hofmannsthals „letzte romantische Oper“ über ein Zwischenwesen aus dem Geisterreich, das keinen Schatten wirft, ist ein dicker Brocken selbst für große Bühnen. Im Staatenhaus, der Spielstätte der Oper Köln bis zur hoffentlich baldigen Wiedereröffnung des Hauses am Offenbachplatz, sind häufige Verwandlungen oder ein technischer Bühnenzauber nicht zu realisieren. So macht Johannes Leiacker die Not zur Tugend: Eine Erhöhung, aus Schichten geformt wie eine geologische Formation, ganz in Weiß, in organisch verlaufenden Kurven, mit einem krönenden Felsen – das war’s in Sachen Bühnenbild.

Das Gürzenich-Orchester sitzt weit gestaffelt rechts von der Bühne: Der Klang ist weniger fokussiert als in einem Graben. Dirigent Marc Albrecht lässt die Musiker diesen Raum nutzen: Strauss‘ filigran verwobene Linien und Motive bündeln sich, streben massiert zusammen, spritzen in glitzernder Gischt wieder auseinander, entfalten sich frei und räumlich. Die wundervoll ausgekosteten Piano-Stellen tragen. Albrecht kann die Musik großzügig aufblühen lassen, breitet ein leuchtendes Spektrum aparter Klangfarben aus, baut vom zurückhaltenden ersten bis zum pathossatten dritten Akt einen Spannungsbogen auf, der sich nicht dynamisch verausgabt, bevor er die Kulminationspunkte in der zweiten Hälfte des Abends erreicht.

Sinnlich und klug disponierte Musik

Die Musiker des Gürzenich-Orchesters können zeigen, was sie drauf haben, ob Celli oder Celesta, die fünf Tuben oder Tamtam und chinesische Gongs. Aber der Raum setzt auch Grenzen: Blechbläsereinsätze geraten allzu gerundet, wo sie scharf attackieren müssten, die Holzbläser gehen seltsamerweise immer wieder unter. Trotzdem: Albrecht präsentiert sich als ein Strauss-Dirigent von Format, der diese „Frau ohne Schatten“ so sinnlich wie klug disponiert und nicht an den knalligen Effekt verrät.

Der Kaiser (AJ Glueckert) und sein Falke (Giulia Montanari). (Foto: Matthias Jung)

Für die Sänger ist der Vorteil unüberhörbar: Sie müssen nicht forcieren, werden vom Orchester nicht übertönt, auch wenn Albrecht die massive Wucht dieser vollkommenen Synthese des Symphonischen und des Dramatischen auskostet. Diese Chance nutzt AJ Glueckert als Kaiser. Er nimmt die Dramatik zurück, legt die Partie kantabel an, betont so, dass dieser romantische Jäger der weißen Gazelle, die sich zur Frau verwandeln sollte, ein verträumter Held ist, dem Geisterreich nicht zugehörig, aber zugetan. Der Stimme des Tenors kommt dieser Ansatz sehr entgegen.

Die Kaiserin Daniela Köhler setzt zu Beginn („Ist mein Liebster dahin …“) zu viel Vibrato ein und stört damit den ruhigen Fluss der Stellen im piano. Doch mit zunehmend bewusstem Stützen normalisiert sich das Schwingen des Soprans, der substanzvoll, leuchtend und sich in den typischen weiten Strauss-Phrasen blühend aufschwingt. Köhler verkörpert die zentrale Figur dieser Inszenierung: Das Streben nach einem Schatten führt sie in die Welt einfacher Menschen, in der sie mehr und mehr erkennt, wie Empathie und Zuwendung das Leben menschlich machen – und der Schatten steht ja als Symbol nicht nur für weibliche Fruchtbarkeit, für die Erweiterung der Person in die Welt hinein, sondern für die ambivalente menschliche Existenz, die auch Schmerz, Opfer und Tod umfasst. Im Kontakt mit dem Färber Barak und seiner unverbrüchlich naiven Bereitschaft, Schattenseiten anzunehmen und zu ertragen, erkennt sie, was es bedeutet, als Mensch zu fühlen und zu handeln. Deutlich wird ihr Wandel in einer berührenden Szene im zweiten Akt, als sie dem erschöpften Barak den Schweiß von Stirn und Füßen wäscht.

Kampf mit vokalen Herausforderungen

Die Hierarchie ist klar: Oben steht die Kaiserin (Daniela Köhler), unten die Färberin (Lise Lindstrom), dazwischen die Amme (Irmgard Vilsmaier). Foto: Matthias Jung.

Auch die Färberin gestaltet ihre Rolle als einen Lernprozess: Lise Lindstrom kämpft nicht nur mit der Armut, mit den Zumutungen der drei versehrten Brüder im Haushalt (Insik Choi, Christoph Seidl, Ralf Rachbauer), sondern auch mit ihren unerfüllten Wünschen. Die bunten Kleider, die ihr Kostümbildnerin Irina Bartels verpasst, stehen für ein Lebensbegehren, das die Färberin im Mutterglück sucht, und für das Streben nach Anerkennung in einem Haus, in dem sie als „Weib“ abgewertet und lediglich „gehegt und gefüttert“ wird. Beide, der Färber und seine Frau, lernen, sich zu achten und Liebe aus gegenseitigem Respekt zu gewinnen.

Lindstrom kämpft aber auch mit den vokalen Herausforderungen: Ihr Sopran leidet unter übermäßigem Vibrato. Spitzen- und andere im Metrum bedeutende Töne werden überstark herauskatapultiert, während Linien unterbelichtet bleiben und nicht kontinuierlich durchgestützt werden. Die flackernde Tonproduktion lässt die Farben der Stimme verblassen und stört eine saubere Artikulation. Anders der Färber von Jordan Shanahan: Er singt verständlich, bildet den Klang füllig und sonor, ist auf entspannten Fluss bedacht.

Als Amme hat Irmgard Vilsmaier eine Reihe exponierter Momente, in denen sie stimmlich alles geben muss. Als alte Dame mit Stock, altbackenem Hütchen und einem großmütterlich schwarzem Kostüm mit weißen Handschuhen steht die Amme zwischen dem cleanen, gestylten Weiß der Geister und der realistisch farbvielfältigen Welt der Menschen. Die „schwarz-weiße Schlange“ wirkt enthoben und mutiert zum Symbol, wenn sie im zweiten Akt als Spinne in einem projizierten Netz den Schlaftrunk für Barak bereitet, auf dass der verführerische Jüngling als Preis für den Schatten ungestört für die Färbersfrau verfügbar sei. (Bryan Lopez Gonzalez sieht blendend aus, bewältigt die Rolle aber mit müden und mühevollen Tönen unbefriedigend). „Was Menschen bedürfen, du weißt es zu wenig“ sagt ihr die Kaiserin: Die Amme konnte die Entwicklung ihres Schützlings nicht mitvollziehen. Stimmlich wie szenisch bleibt Irmgard Vilsmaier mit herben und gleißenden Tönen präsent, bis sie von der machtvollen Stimme des Boten (Karl-Heinz Lehner) aus dem Geisterreich verstoßen und bewegungslos hinausgefahren wird.

Zwischen Phantastik und Sozialrealismus

Der Vorzug der Inszenierung von Katharina Thoma ist, den Personen den erzählerischen Raum zu öffnen, soweit die Berg-Insel Leiackers es zulässt. Doch wohin mit dem Märchenhaften der „Frau ohne Schatten“, mit dem Symbolismus? Der Falke ist lediglich eine aparte, rot leuchtende Erscheinung (Giulia Montanari), aber die Nachtwächter (Sinhu Kim, Yongmin Kwon, Michael Terada) dürfen in schwarzen Priestersoutanen über die Bühne schreiten und ihren Sinnspruch in magischen Strauss-Choralklängen verkünden. Und wohin mit dem anfechtbaren Frauenbild oder gar dem Immanentismus von Richard Strauss, der seltsam quer zu den transzendierenden „romantischen“ Bestrebungen des Hoffmannsthal-Librettos steht? Dafür bietet Thoma keine plausible Lösung.

Die Regisseurin, Wunschkandidatin von Intendant Hein Mulders, gestaltet in den ersten beiden Aufzüge weitgehend die Story aus, nutzt Georg Lendorffs Projektionen, um erzählerischen Realismus aufzubrechen, setzt aber mit dem Verteilen und Verpacken von Altkleidern szenische Markierungen, die sich erst im dritten Aufzug auflösen: Jetzt wird verständlich, warum vorher schon Kinder die Fetzen und Lumpen von der Bühne geräumt haben. Alttextilhändler Barak ist am Werk! Doch jetzt, nach der videogesättigten Katastrophe am Ende des zweiten Aufzugs, wird ein Lebloser von Sanitätern abtransportiert, bevölkern Kinder und Erwachsene die Stufen wie Migranten den Strand von Lampedusa.

Gleichzeitig kriechen fantastische Lemuren am Bühnenrand entlang, die später die Amme hinausfahren werden. Die Kaiserin hat ihr Geisterweiß verloren und tritt in fraulichem Gewande auf, der Fels, an dem der Kaiser bereits in ununterscheidbarem Grau angeklebt war, zerbricht. Übermächte und Sozialrealismus vermischen sich, ohne dass eine Sinn-Synthese geboren würde. Katharina Thomas Inszenierung verpufft. Was bleibt, sind szenische Bilder und das Gefühl, diese unzeitgemäße „Frau ohne Schatten“ beharre starrköpfig in einer unauflösbaren Märchenwelt.

Weitere Vorstellungen am 23., 29. September, 3., 8., 11. Oktober.
Info: https://www.oper.koeln/de/programm/die-frau-ohne-schatten/6547




Mit Lust in die neue Spielzeit: Daniel Hope eröffnet den Konzertreigen der Essener Philharmonie

Daniel Hope und Ryszard Groblewski beim Eröffnungskonzert der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz)

Was für eine sympathische Idee, die Spielzeit der Essener Philharmonie mit Mozart und mit einer Uraufführung zu beginnen.

Da haben wir musikalisch den „inspirierenden Dialog“, den sich die neue Intendantin Marie Babette Nierenz für die Philharmonie als Teil der Stadtgesellschaft wünscht. Da haben wir die künstlerische Exzellenz, die einen Konzertsaal dieser Größe und diesen Renommees füllt. Und wir richten den Blick auf ein musikalisches Genie, das mit früher höher geschätztem Pathos, aber nicht zu Unrecht als „apollinisch“ bezeichnet wurde: Wenn es denn einen Gott gibt, dann hat er in Musik wie der „Jupiter“-Sinfonie seinen tönenden Abglanz auf Erden gefunden.

Mit dieser C-Dur-Sinfonie, die den Höhepunkt der musikalischen Entwicklung des 18. Jahrhunderts markiert und gleichzeitig visionär in die Zukunft weist, präsentieren sich Daniel Hope und das Zürcher Kammerorchester vor fast voll besetztem Saal. Der in Südafrika geborene Geiger mit irischen und deutschen Wurzeln ist seit mehr als zehn Jahren häufiger Gast in Essen. Das Konzert war der erste von drei Teilen einer Reihe, welche die Philharmonie Hope zum 50. Geburtstag widmet. Die beiden anderen Konzerte – eines davon seine „Irish roots“ musikalisch freilegend – folgen am 20. und 21. April 2024.

Daniel Hope. (Foto: Daniel Waldhecker)

Das Zürcher Kammerorchester hat sich die Frische im Spiel bewahrt, die sein Gründer und langjähriger Leiter Edmond de Stoutz gepflegt hat – auch wenn diese Generation unter seinen Musikern inzwischen abgetreten sein dürfte. Hope leitet die Sinfonie als „Erster unter Gleichen“ an der Violine und lässt den frisch-geschmeidigen, auf Transparenz und sauber polierte Tongebung achtenden Klang des Orchesters frei sich entfalten. Nicht ohne Dramatik das heftige Pochen, in dem man den Komtur aus „Don Giovanni“ an die Pforten klopfen hört; mit sanfter Eleganz und wunderbar warmem Flair die kontrapunktischen Spiele der Bläser mit ihrer „Zauberflöten“-Poesie. Flott das Tempo, deutlich die Artikulation – nur die Balance zwischen Streichern und Bläsern fällt dann fragil aus, wenn die Violinen einmal kräftig Contra geben müssten. Da sind dann doch die Limits der Besetzung zu spüren.

Elegante Transparenz

Ganz aus dem Geist eleganter, beseelter Transparenz heraus entwickelt sich auch Mozarts Sinfonia concertante (KV 364). Daniel Hope und der Bratscher Ryszard Groblewski spielen sich die Notenlinien zu, turnen auf den Phrasen mit stupender Leichtigkeit, sorgen für Beleuchtungswechsel und bebend sanfte Rhythmik. Manchmal wirkt die Artikulation ein wenig weich und kraftlos, dann werden auch die Tutti des Orchesters mulmig. Aber das straffe Tempo, vor allem im prägnanten „Presto“-Finalsatz, richtet es wieder: Wenn’s hurtig wird, zeigen die Musiker, wie trennscharf und präzise sie zu gestalten wissen. Mozart, unsere Freude!

Ob in Salzburg, Paris, Mannheim, Italien oder Wien: Wolfgang Amadé hat stets Neues begierig aufgesogen, als genialer Imitator adaptiert und in seine eigene Sprache verwandelt. So passt es programmatisch bestens, zwischen Mozarts Paradestücken eine Uraufführung zu platzieren: Der 1970 in Stanford, Connecticut geborene und in England aufgewachsene David Bruce hat bereits 2014 Gil Shaham ein Violinkonzert („Fragile Lights“) gewidmet und nun für Daniel Hope sein zweites Werk in diesem Genre vorgelegt: „Lully Loops“ ist ein gewitzt-spielerisches Capriccio, das Fragmente des italienisch-französischen Komponisten und Violinisten in neue musikalische Zusammenhänge stellt – eben auch eine Anverwandlung in eigene Sprache.

Knistern und Blühen

Die vier Teile werden jeweils von einem knisternd aufgenommenen, kaum verständlichen Text – soll der Ton lediglich nostalgisches Gefühl wecken? – eingeleitet. Die Themen Lullys treten deutlich hervor und wiederholen sich wie „loops“. Im ersten Teil setzen sich unterschiedlich artikulierte harmonisch konsonante und spannungsreiche Liegetöne mit dem Thema auseinander, im zweiten kommentieren Pizzicati ein eher tänzerisches Thema. Im dritten blühen aus einer Art Bordun die Töne heraus, die sich zur Melodie verdichten. Das vierte lässt den klaren Rhythmus Lullys hören und bricht mit einem Absinken der Stimmung ab, so, als werde ein Tonband verlangsamt. Ein harmonisch dichtes Gewebe, das spielerisch sicherlich Freude bereitet und den Zuhörer nicht ohne Humor mit Vergnügen am Entdecken und an der Verfremdung, aber auch einem Hauch augenzwinkernder Nostalgie abholt.

Bunte Vielfalt im Herbst

Ein Saisonauftakt voller Musiklust und ohne bemühte Schwere, dem die Philharmonie in den nächsten Wochen eine bunte Vielfalt von Konzerten folgen lässt. Mit dem Dirigenten Sir Antonio Pappano und der Geigerin Patricia Kopatchinskaja stellen sich demnächst die beiden „Porträtkünstler“ dieser Saison vor. Beide kommen am 22. Oktober mit dem London Symphony Orchestra, als dessen neuer Chefdirigent Pappano fungiert: Kopatchinskaja spielt das Violinkonzert „Tausend und eine Nacht im Harem“ von Fazil Say; Pappano widmet sich Beethovens Siebter Sinfonie. Am 8. November ist Pappano dann mit seinem bisherigen Orchester, der römischen Accademia di S. Cecilia und Igor Levit zu Gast, diesmal mit dem c-Moll-Klavierkonzert Beethovens und zwei Tondichtungen, „En Saga“ von Jean Sibelius und Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“.

Schon am 22. September eröffnet die moldawische Geigerin die Reihe ihrer sechs Saisonkonzerte mit einem sehr persönlichen Programm im RWE Pavillon. „Zu Hause bei Patricia Kopatchinskaja“ vereint Werke von George Enescu, Béla Bartók, Darius Milhaud, Paul Schoenfield, Igor Strawinsky und ein eigenes Stück „für Polina und andere Traumwesen“: Gemeint ist die Pianistin Polina Leschenko, die mit dem Klarinettisten Reto Bieri den instrumentalen Part des Abends gestaltet. Am 9. und 10. November spielt Kopatchinskaja mit den Essener Philharmonikern als Uraufführung ein Violinkonzert von Aurelio Cattaneo.

Ligeti und Bruckner

Mit fünf Konzerten in den kommenden zwei Monaten fehlt auch ein Schwerpunkt zum 100. Geburtstag von György Ligeti nicht. Die Spanne reicht von einem Abend mit Pierre-Laurent Aimard und Ligetis „Musica ricercata“ am 26. September, dem „Poème Symphonique“ für 100 Metronome am 1. November, Ligetis „Lux Aeterna“ und dem Requiem, verbunden mit einem neuen Orchesterwerk von Clara Iannotta ebenfalls am 1. November, bis zu Ligetis Erstem Streichquartett in einem Konzert des Mannheimer Streichquartetts am 19. November in der Alten Synagoge.

Im nächsten Jahr erklingt dann in einem Schwerpunkt zum 200. Geburtstag Anton Bruckners vor allem geistliche Musik des österreichischen Meisters. Damit nicht genug des Chorklangs: Mit Mozarts „Requiem“ mit Philippe Herreweghe, Felix Mendelssohn Bartholdys „Elias“ mit Raphaël Pichon und Joseph Haydns „Die Jahreszeiten“ mit Jordi Savall erwarten das Essener Publikum große Vokalwerke in hochkarätigen Besetzungen.

Info: www.theater-essen.de

(Das Konzert mit Daniel Hope wurde vom WDR aufgezeichnet und wird am Sonntag, 8. Oktober, im Fernsehen ausgestrahlt).

 




Die feine Art des Speisens: Vincent Moissonniers Ratgeber „Der Käse kommt vor dem Dessert“

Das literarische amuse gueule, also das geschmacksanregende Vorwort stammt vom Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, einem sinnenfrohen Genießer. Autor des Haupttextes ist indes der aus Frankreich stammende Küchenchef Vincent Moissonnier. Er hat sich seit langer Zeit mit seinem Spitzenrestaurant in der vermeintlich „französischsten“ deutschen Stadt niedergelassen, in Köln. Das Prädikat ist anfechtbar, aber egal.

In frankophilen Zusammenhängen, so weiß man, wird seit jeher am edelsten gespeist. Auch die zugehörigen Benimmregeln sind ursprünglich aus der höfischen Kultur Frankreichs hervorgegangen. Just um die heute wünschenswerten Varianten und Nuancen geht es im vorliegenden Buch „Der Käse kommt vor dem Dessert“. Untertitel: „Goldene Regeln für den Restaurantbesuch – von Dresscode bis Trinkgeld“.

Sind wir etwa wieder in Zeiten angelangt, in denen förmlicher Benimm abermals eine größere Rolle spielt? Mit mehr oder weniger wohligem Gruseln erinnern sich die Älteren unter uns an bestens parodierbare Publikationen wie „Der gute Ton in allen Lebenslagen“. Doch wahrscheinlich brauchen wir ja dringlich solche Gegenkräfte zur oftmals waltenden Rüpelhaftigkeit; wenn auch nicht mehr so steifleinen wie ehedem.

Köln mit französischen Akzenten

Argwöhnische Menschen mögen „kölschen Klüngel“ dahinter wittern, andere die kuschelige Vertrautheit zu schätzen wissen: Vorwortgeber Ortheil ist gebürtiger und überzeugter Kölner. Moissonnier betreibt just dort sein Gourmet-Restaurant, in dem gewiss auch Ortheil gelegentlich zu dinieren pflegt. Ko-Autor des Buches ist Joachim Frank, seines Zeichens Mitglied der Chefredaktion beim Kölner Stadtanzeiger, der wiederum im Dumont-Verlag erscheint. Kein Wunder also, dass dieses Buch im Dumont-Buchverlag herauskommt. Man ahnt: Hier herrscht gesteigerte Kölschigkeit mit französischem Akzent, mithin nicht nach lässiger Art der ortsüblichen Köbes-Gastronomie.

Moissonnier will uns einerseits die Furcht vor allzu rigiden Verhaltensregeln nehmen, es gehe vornehmlich darum, ein Gefühl für Stil zu entwickeln. Eine seiner Grundregeln lautet: Hauptsache, dass alle Beteiligten sich wohlfühlen. Dennoch häuft er im Laufe des Buches viele, viele Empfehlungen an, die sich denn doch zum dicht geflochtenen Regelwerk summieren. Was da alles zu beachten ist!

Sind Smoking und Frack vorhanden?

Wann verschickt man die Einladungskarte, was sollte draufstehen, wie wird zu- oder abgesagt, welcher Dresscode soll jeweils gelten (hoffentlich haben alle Herren zur Not wenigstens einen Smoking und einen Frack parat, es wird hier quasi vorausgesetzt), wie verhält es sich mit der Sitzordnung, wie schaut der perfekt gedeckte Tisch aus, wie die Speisen- und Getränkefolge, wann und wo darf zwischendurch geraucht werden, wie wird diskret reklamiert, wie am besten bezahlt und ein Trinkgeld gegeben, wie genau wird das auch nicht ganz unkomplizierte Begrüßungs- und Abschiedsritual absolviert? Und so weiter, und so fort. Puh!

Die Benutzung der Servietten (selbstverständlich aus Stoff, keine – so wörtlich – „gottverdammten Papierservietten“) möge als kleines Beispiel dienen. Zitat:

„Zum Essen legen Sie die Serviette einmal quer gefaltet auf Ihre Beine, die offene Seite zu Ihnen gewandt, und putzen sich die Lippen immer mit der Innenseite ab. Wenn Sie die Serviette danach zurücklegen, bleibt die Außenseite sauber und man sieht die Flecken nicht. Denken Sie auch daran, während des Essens jedes Mal die Serviette zu benutzen, bevor Sie etwas trinken. Fettränder vom Essen am Glas sehen einfach scheußlich aus. (…) Am Ende des Essens landet die Serviette bitte nicht auf dem Teller. Das ist eine Katastrophe…“

Mit Gläsern anstoßen oder nicht

Man hat ja schon von schlimmeren Katastrophen gehört, aber sei’s drum. Auch nationale Unterschiede der Esskultur geraten hin und wieder in den Blick. Die englische und US-amerikanische Angewohnheit etwa, die Linke aufs Knie zu legen, während die Rechte nur noch mit der Gabel operiert; die deutsche Sitte, mit den Trinkgläsern anzustoßen, die in Frankreich unbekannt ist; die angeblich vorwiegend niederländische Neigung, sich am Buffet für ganze Tage zu versorgen… Moissonnier wird es wohl wissen, er hat Gäste aus praktisch allen Ländern dieser Erde bewirtet. Freilich wohl kaum aus unteren Schichten der Gesellschaft.

Der Buchtitel bezieht sich natürlich aufs Finale der Speisenfolge. Der alte Merksatz, demzufolge „Käse den Magen schließt“, sei unsinnig, befindet Moissonnier. Stets gehöre das Dessert ans Ende eines stilvollen Essens. Dazu gibt es einleuchtende Begründungen.

Butter nicht streichen, sondern heben

Zuweilen geht es allerdings arg ins Detail. Wird etwa Brot auf einem Vorspeisenteller kredenzt, so sollen wir die Butter um Himmels Willen nicht schnöde aufstreichen, sondern mit dem Messerchen als hauchdünne Schicht aufs Brot heben. Tja. Wer solche Feinheiten nicht befolgt, steht in diesem Kontext ganz schön belämmert da. Vor einem Besuch im „Moissonnier“ zu Köln (oder vergleichbar ambitionierten Etablissements) sollte man tunlichst dieses Buch gelesen haben, sonst tuschelt eventuell das Personal – oder es erscheint gar der Maître persönlich am Tisch, was in besonders peinlichen Fällen geschehen sein soll.

Einzelheiten muten übertrieben penibel an. Dass jedoch gewisse Grundformen gewahrt und gepflegt werden, ist keinesfalls nur hochnäsiger Unsinn im bourgeoisen Sinne. Insofern haben wir hier doch einen kundigen Ratgeber aus wahrlich berufenem Munde. Muss auch nicht jeder Satz beherzigt werden, so eben doch der Geist und das stilistische Empfinden.

Vincent Moissonnier / Joachim Frank: „Der Käse kommt vor dem Dessert.“ Mit einem Geleitwort von Hanns-Josef Ortheil und Illustrationen von Nishant Choksi. Dumont. 160 Seiten, 20 Euro.

 




Klangreise in die Unterwelt: Das Orchester „Les essences“ spielt ein Konzeptkonzert im Essener Katakomben-Theater

Das Kammerorchester „Les essences“ wird vom Kulturministerium des Landes NRW gefördert (Foto: eyedoit)

Wir steigen hinab, Stufe um Stufe, Stockwerk um Stockwerk. Aus der Hitze, der blendenden Helligkeit eines Spätsommertags in die dunklen Räume des Essener Katakomben-Theaters, die uns verschlucken wie ein Höhlensystem: eine fensterlose Gegenwelt mit schwarzen Wänden und verwinkelten Verbindungsgängen.

Schon bevor der erste Ton erklingt, sind wir mitten im Spiel des Kammerorchesters „Les essences“, das diesen Ort sehr bewusst für ein Konzeptkonzert zu den Themen Trauer und Tod ausgewählt hat. Wie Klang und Raum zusammenwirken, wird bei den Konzerten dieses jungen, international besetzten Orchesters besonders deutlich. Sein Gründer und Leiter, der deutsch-türkische Geiger Önder Baloglu, legt hohen Wert darauf, die Musik mit den Orten zu verbinden, für die sie ursprünglich geschrieben wurde. So spielt „Les essences“ Serenaden unter freiem Himmel, geistliche Werke in der Kirche und Kammermusik gerne mal im Salon.

Die Räumlichkeiten im Katakomben-Theater nutzt das Orchester für eine Art Wandelkonzert. Durch eine geöffnete Seitentür spielt es in den fast vollständig abgedunkelten Saal hinein, dessen Bühne lange leer bleibt. Nur für ein paar Streichquartettstücke wechseln vier Musikerinnen und Musiker vom Nebenraum auf die Hauptbühne, wo sie nahezu ohne Beleuchtung spielen. Die weißen Oberhemden der Musikerinnen und Musiker schimmern matt im Schein der iPads, die auf den Notenpulten stehen.

Für das Publikum gibt es fast nichts zu sehen, dafür aber viel zu hören. Wie der Klang der Streicher in den Zuschauerraum hinein sickert, sich dort flächig ausbreitet und Atmosphäre schafft, hat meditative Qualitäten. Zwischenapplaus gibt es nicht, denn alle Stücke werden nahtlos durch den Obertongesang des Bratschisten Gareth Lubbe verbunden, der singend und spielend durch die Räume schreitet, als sei er ein Wiedergänger des Orpheus aus der griechischen Sage.

Durch seine Zwischenspiele verschmilzt die Programmfolge zu einer Einheit, verbunden durch das kristallklare Flöten der Obertöne, die Gareth Lubbe mit großer Beherrschung aus seinem Kehlkopf zaubert. Selbst Triller sind ihm keine Unmöglichkeit. Exotisch und zugleich vertraut wirken die diversen „Om“-Laute und Vokale, die er anstimmt. Manchmal erinnern sie auch an den Klang des australischen Didgeridoos. Die Bratsche, dem Klang der menschlichen Stimme ebenfalls nahe, ergänzt dieses Spektrum passgenau.

Önder Baloglu ist Gründer und Leiter des Kammerorchesters „Les essences“ (Foto: Ulrike von Loeper)

Das Orchester schaut seinerseits über den Gartenzaun der Genregrenzen. Türkische Klage- und Volkslieder wie „Ich bin auf einem langen, schmalen Weg“ (Uzun ince bir yoldayim) von Asik Veysel stehen gleichberechtigt neben der Trauermusik von Paul Hindemith, Benjamin Brittens „Lachrymae“ und einem Stück des im Libanon geborenen Armeniers Tigran Mansurian, der seine Komposition „Testament“ zu einem Zeitpunkt schrieb, als seine Frau sehr krank war.

Einem so dicht konzipierten und durchdachten Programm tut es kaum Schaden an, wenn live nicht alles gelingt. Es bleibt eine Randnotiz, dass die Intonation der Geigen im Variationssatz von Franz Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ hörbar auf die Probe gestellt wird. Dafür blühen Puccinis „Chrysanthemen“ in einer Luft auf, in der ein Hauch von Salon liegt: fein parfümiert, ohne übergroße Süße.

Samuel Barbers berühmtes „Adagio for Strings“ in einem einzigen, bruchlosen Crescendo zum Höhepunkt zu steigern, ist in der Kammermusikbesetzung weit schwerer als mit einem großen Sinfonieorchester. Aber die Musikerinnen und Musiker von „Les essences“ treffen die richtige Stimmung: Der resignierte Tonfall legt sich wie Mehltau über die weit geschwungenen Melodiebögen. Hätte dieses Programm im Rahmen der Ruhrtriennale stattgefunden, zu der es übrigens nahezu perfekt gepasst hätte, wäre es gewiss gefeiert worden.

Damit der Abend nicht gar zu morbid endet, gibt es zum Ausklang einen Rembetiko: die Musik des griechischen Undergrounds, entstanden aus den Liedern rebellischer Außenseiter. Das Publikum regt sich, verlässt den Saal zu lebensfrohen Klängen. Draußen scheint die Sonne noch immer.

(Transparenzhinweis: Die Autorin ist freie Musikjournalistin, unterstützt das Orchester aber gelegentlich bei der Pressearbeit. Weitere Informationen zu „Les essences“ unter https://lesessences.net/)




Nachbarschaftliches Tauwetter – Elke Heidenreichs Buch „Frau Dr. Moormann & ich“

Beginnen wir mit Binsen: Im Hanser Verlag dürfen beileibe nicht Hinz und Kunz veröffentlichen. Und ein Michael Sowa wird auch nicht die Texte aller möglichen Leute illustrieren. Wenn aber die Bestseller-Autorin Elke Heidenreich mit einer Kleinigkeit käme? Ja, dann… Dann fügt es sich natürlich.

Ihr neues Buch heißt „Frau Dr. Moormann & ich“. Es handelt vom Ärger mit einer ziemlich bärbeißigen Hausnachbarin, die immer etwas zu beanstanden hat. Die Geschichte ist recht einfach gestrickt. Schon bald ist absehbar, dass es zwischen den beiden Frauen ganz allmählich ein nachbarschaftliches Tauwetter geben wird. Daran nicht ganz unbeteiligt ist der Mops der Ich-Erzählerin, der den Namen Gustav trägt. Friede den Menschen und den Nachbarinnen ein Wohlgefallen.

Zwischendurch tröpfeln etwas Botanik (Frau Dr. Moormann als Pflanzen-Expertin) und klassische Hochkultur (renommierter Dirigent als Gefährte der Erzählerin) hinein. Womit auch dem Bildungsauftrag Genüge getan wäre. So bereichert die Mitteilung, dass es karierte Pflanzen gibt, unsere bisweilen schüttere Allgemeinbildung.

Elke Heidenreich erzählt die Petitesse routiniert, unangestrengt, sozusagen mit spätsommerlicher Leichtigkeit, ohne sonderliche Ambition. Hie und da hat ihr Buch einen ganz leisen pädagogischen, jedoch stets freundlichen Unterton, so etwa nach dem wohlmeinenden Motto: Kinder, merkt euch das doch bitte. Beispielsweise, dass Ex-Bundespräsident Gustav (!) Heinemann einst gesagt hat, er liebe nicht Deutschland, sondern seine Frau. Zwischendurch gibt’s immer mal wieder schnellfertig hingeworfene, selbst gebastelte Sprichwörter und Merksätze von solcher Art:

„Der Mops ist prächtig, schau nur hin!
Ein Mops gibt deinem Leben Sinn.“

Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? Aber gewiss doch! Schon Loriot wusste ja: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.“

Bliebe noch die Frage, ob dies vorwiegend ein Buch für Kinder sei. Darauf könnte etwa ein liebevoll ausgiebiger Exkurs über einige Teddybären hindeuten.  Doch auch ältere Leute erinnern sich gern an diese Genossen ihrer Frühzeit. Jedenfalls dürfte das schmale Bändchen weihnachtstauglich sein, auch als nettes kleines Mitbringsel. Wem ihr es schenken könntet? Doch nicht etwa der Nachbarin?

Elke Heidenreich: „Frau Dr. Moormann & ich“. Mit Bildern von Michael Sowa. Hanser Verlag, 88 Seiten, 20 Euro.




Vom Dosenaufreißer bis zum Propeller – Schau zur Archäologie der Moderne in Herne

In Herne wie ein Kleinod präsentiert: Dosenring vom Woodstock-Festival, 15. bis 18. August 1969. (Leihgeber: The Museum at Bethel Woods, Bethel (USA) / Foto: Bernd Berke)

Was glitzert denn da in der Vitrine? Ein ziemlich kleines Objekt. Wahrscheinlich kostbar. Mal näher rangehen. Nanu? Das ist ja ein ringförmiger Dosenaufzieher der gewöhnlichsten Sorte (mutmaßlich für Coca oder Pepsi); noch dazu angerostet, aber präsentiert wie ein Kleinod oder gar Kronjuwel. Dazu muss man allerdings wissen, dass das alltägliche Stück zu den materiellen Hinterlassenschaften des legendären Woodstock-Festivals (1969) gehört und vielleicht Rückschlüsse auf das Ereignis zulässt, das eine ganze Generation mitgeprägt hat. Und wer zeigt so etwas?

Nun, wir befinden uns im LWL-Museum für Archäologie und Kultur in Herne. Das Haus zählt zu den Vorreitern einer neueren Entwicklung im Ausgrabungs-Wesen. Seit immerhin rund 15 Jahren befasst man sich hier mit Archäologie der Moderne, also nicht mehr ausschließlich mit ur- und frühgeschichtlichen oder antiken Funden, sondern auch mit Dingresten der letzten 200 Jahre.

Ergänzung zu schriftlichen Quellen

Aber ist denn nicht die herkömmliche Geschichtswissenschaft für die letzten Jahrhunderte zuständig? Doch, gewiss. Das wird auch so bleiben. Doch die Archäologen glauben, dass ihre Fundstücke noch einmal andere Befunde erschließen können, die den Umgang der Menschen mit der Dingwelt in den Blick nehmen und das sonstige, schriftlich und visuell reichlich angesammelte Wissen womöglich ergänzen. Georg Lunemann, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), bringt es auf eine Formel: „Auch Schrott, Schutt und Müll können eine Geschichte erzählen.“ Wenn man sie denn mit archäologischem Rüstzeug zu bergen und zu deuten versteht. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders spricht von einem buchstäblich „handfesten Beitrag“ zur Geschichte. Ob alle Historiker diese Hilfestellung zu schätzen wissen oder sie als Einmischung in ihre Belange begreifen? Abwarten.

Viele Exponate aus westfälischen Grabungen

Wie breit das Spektrum ist, das sich da zu eröffnen verspricht, zeigt nun jedenfalls die große, in Deutschland bislang beispiellose Überblicks-Ausstellung mit dem bezeichnenden Titel „Modern Times“. Rund 100 Funde und Fundkomplexe aus der Zeit zwischen 1800 und 1989 sind zu sehen, darunter etwa die Hälfte aus westfälischen Grabungskampagnen. Eine eigens erstellte App und Leih-Tablets im Museum sollen die Geschichte(n) hinter den Objekten so ausführlich darstellen, wie es mit musealen Texten und Schautafeln nun mal nicht geht. Die Ausstellung gliedert sich in sechs Stränge, deren Titel eher willkürlich und assoziativ klingen: Innovation, Gefühl, Zerstörung, Besonderes, Zweck und Erinnerung. Wahrscheinlich könnten die meisten Objekte in mehrere Kategorien eingeordnet werden. Sei’s drum.

Diese Champagnerflasche aus den 1840er Jahren hat es wirklich in sich. (Foto: Bernd Berke)

Champagner vom 1840er Jahrgang

Eines der erstaunlichsten Exponate ist jene noch gefüllte Champagnerflasche von etwa 1840. Gleich 168 solcher Flaschen wurden 2010 in der Ostsee aus einem alten Schiffswrack geborgen. 50 Meter unter dem Meeresspiegel herrschten Temperatur- und Druckverhältnisse, die das edle Getränk konserviert haben. Es soll sogar noch trinkbar sein, versichern Fachleute. Freilich: Der Zuckergehalt, so ergab eine Analyse, sei damals ungefähr zehnmal so hoch gewesen wie bei heutigem „Schampus“. Also doch eher nicht trinkbar, zumindest nicht genussreich für jetzige Geschmäcker. Dennoch ist der Fund wertvoll. Er gibt eben Auskunft über die damalige Wein- und Champagner-Herstellung, über den Stand des Luxus und der Moden sowie über mutmaßliche Verschiffungswege. War die Fracht gar für den russischen Zarenhof bestimmt? Lieferscheine lagen nicht mehr bei…

Was und wie sie wohl im Protestcamp zu Gorleben gegessen haben? Das lassen weitere Vitrinenstücke in der Herner Schau zur Archäologie der Moderne ahnen. (Foto: Bernd Berke)

Was vom Protestcamp übrig blieb

Ganz anderer Themenkreis: Da gibt es beispielsweise – Jahrzehnte später ausgegrabene – Funde vom einstigen Protestcamp „Republik Freies Wendland“ aus Gorleben. Auch hierzu sieht man einige Relikte als Vitrinenstücke. Fast schon zum Schmunzeln, wie sich die Überbleibsel den verschiedenen Seiten zuordnen lassen. Die jeweils kurzfristig dorthin beorderten Polizeikräfte nahmen in Gorleben offenkundig eilige Mahlzeiten von Papptellern ein, während die campierenden Demonstranten sich auf längere Dauer mitsamt Kochstellen eingerichtet hatten und beispielsweise Livio-Speiseöl in Blechdosen mit sich führten. Keine grundlegend neue Erkenntnis zur historischen Sachlage, aber sozusagen doch eine Art zusätzlicher, lebensnaher Farbtupfer.

Erschütternde Relikte aus der NS-Zeit

Bis hierher ging es um Exponate, die relativ harmlos anmuten. Doch man wird in Herne auch durch Fundstücke erschüttert, die von Stätten des NS-Terrors stammen, so etwa von Erschießungsplätzen zwischen Warstein und Meschede oder vom Kriegsgefangenenlager Stalag 326 bei Stukenbrock (Ostwestfalen), wo russische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg gepeinigt wurden. Diese schrecklichen Fundstätten werden zu verschiedenen Zeitpunkten Thema flankierender Studio-Ausstellungen sein. Besonders nahe geht einem der Anblick persönlicher Hinterlassenschaften, wie etwa Frauenschuhe oder bunte Perlen. Das Leben hätte schön sein können…

Britischer Kampfflugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg. (Foto: Bernd Berke)

Probleme mit tonnenschweren Fundstücken

Während übliche archäologische Funde aus weit zurück liegender Zeit meist sehr kleinteilig sind (Gefäß-Fragmente, Schmuckstücke, Knochenreste), hat es die Archäologie der Moderne öfter mit deutlich größeren und manchmal tonnenschweren Kalibern zu tun. So gehören zur Herner Schau beispielsweise eine gußeiserne Säule aus zwischenzeitlich verschütteten Beständen der Firma Krupp, ein kapitaler Heizungs-Ventilator aus dem zerstörten kaiserlichen Berliner Schloss (als Zeugnis zur Technikgeschichte) oder ein in Essen aufgefundener britischer Flugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg, der ein Einschussloch aufweist. Dieser Umstand lässt wiederum vermuten, dass das Objekt in Deutschland als vermeintlicher Abschuss-Triumph der Wehrmacht öffentlich vorgezeigt worden ist. LWL-Chefarchäologe Prof. Michael Rind betont, dass derlei Dinge ungeahnte Herausforderungen im Hinblick auf Konservierung, Restaurierung und Lagerung bedeuten. Zu fragen wäre wohl auch, ob wirklich alles aufgehoben werden muss oder ob hie und da eine präzise Dokumentation der Funde genügt.

Urzeit des Videospiels

Jetzt noch eine Spezialität für Videospiel-Fans: Aus der Urzeit des Genres, den frühen 1980er Jahren, stammt die Spielkassette für Konsolen, die tatsächlich später ausgegraben wurde. Die vom Kommerz-Flop tief ettäuschte Firma hatte das gesamte Material in der Wüste von New Mexico verscharren lassen, um möglichst nie wieder daran denken zu müssen. Es ist einigermaßen kurios, dass diese einst so unliebsame Erinnerung jetzt in Herne wiederbelebt wird.

Unterwegs zur „klimaneutralen“ Ausstellung

Die Ausstellung hat schließlich noch einen anderen Aspekt. Es soll erkundet werden, wie „nachhaltig und klimaneutral“ eine solche Schau zu bewerkstelligen ist – angefangen bei wiederverwertbaren Stellwänden, Katalog auf Recycling-Papier und so fort. Das zukunftsweisende Projekt wird gefördert – im Rahmen des Programms „Zero – klimaneutrale Kunst- und Kulturprojekte des Bundes“. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders möchte sämtliche Möglichkeiten zur ressourcenschonenden Gestaltung ausloten, stellt aber vorsichtshalber klar, dass das schonendste aller Verfahren nicht in Frage kommt: „Keine Ausstellungen mehr zu machen, das ist keine Option“.

„Modern Times“. Ausstellung zur Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts. LWL-Museum für Archäologie und Kultur, Herne, Europaplatz 1.

Ab 8. September 2023 bis zum 18. August 2024. Di / Mi / Fr 9-17, Do 9-19, Sa / So / Feiertage 11-18 Uhr. Tel.: 02323 / 94628-0. Katalog (632 Seiten) für 34,95 Euro im Museumsshop.

www.lwl-landesmuseum-herne.de
und
https://www.sonderausstellung-herne.lwl.org/de/

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Ähnlich gelagerte Schau im Essener Ruhr Museum

Archäologie der Moderne scheint wirklich im Schwange zu sein. Just in diesen Tagen wirbt das Essener Ruhr Museum auf Zollverein (Gelsenkirchener Straße 181) für seine offenbar ähnlich gelagerte Schau „Jüngste Zeiten. Archäologie der Moderne an Rhein und Ruhr“, die vom 25. September 2023 bis zum 7. April 2024 in der Kohlenwäsche zu sehen sein soll. Öffnungszeiten: Mo-So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Katalog (304 Seiten) 29 Euro. www.ruhrmuseum.de

Herne und Essen geben Eintritts-Rabatte bei Vorlage eines Tickets der jeweils anderen Ausstellung.




Malen für die guten Schwingungen – Christoph M. Gais in der Duisburger Küppersmühle

Tableaus, wandgroß (Foto: MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, 2023)

Was ist hier das Kunstwerk? Ist es das riesige, rechteckige Tableau, das fast so groß ist wie die Wand, vor der es hängt, in der nicht eben raumsparend konzipierten Küppersmühle?

Oder sind es die vielen unterschiedlich großen und formatierten Einzelbilder, die in ihrer Summe das Tableau bilden und die, wie es scheint, immer Ähnliches zeigen: Rhythmisierte Muster, Strukturen, Malgründe, vor die relativ einfach gestaltete Gesichter gesetzt sind. Punkt, Punkt, Komma, Strich wurden überwiegend als Öffnungen ausgefertigt, was wiederum den Blick auf die dahinterliegende Struktur freilegt und den bezüglichen Charakter der Gesichter unterstreicht.

Die Wand hing lange in Italien

Es sind schematische Menschen-Abbilder aus der Vorstellung des Künstlers, expressive Hervorbringungen mithin vor informeller Grundierung. Und nun erhebt sich nebelgleich die Frage, was der Dichter, der hier ein Maler ist, uns damit sagen will. „Diese Wand hing lange in meinem Atelier in Italien“, erläutert er bereitwillig, doch macht uns das zunächst einmal nicht klüger.

Künstler Christoph M. Gais in seiner Ausstellung (Foto: Daniel Sadrowski, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, 2023)

Kein Wilder

Der Künstler, dem das renommierte Duisburger Privatmuseum Küppersmühle (MKM) nun eine opulente Werkschau ausrichtet, heißt Christoph M. Gais, geboren 1951 in Stuttgart, tätig in Orvieto (Italien) und in Berlin. Wo soll man ihn verorten? Für die Pop-Art war er vielleicht noch zu jung, aber bei den Jungen Wilden hätte er durchaus schon mitmachen können, damals, in den 80ern. Doch scheint es nicht das gewesen zu sein, was er suchte, oder, genauer, was er vielleicht deutlicher und schmerzlicher wahrnahm als andere.

Zwei prominent präsentierte Großformate ohne richtige Titel aus den späten 80er Jahren zeigen in dystopischer, aus der Ferne scheinbar hyperrealistischer Dreidimensionalität feindselige Rechteckkörper aus dem Chaos sich erhebend, Hohlkörper mögen es in einem Fall sein, Steine im anderen. Das andere – Bild – trägt als Titel das Datum seiner Entstehung „12.1.88“, und ohne allzu große Phantasie kommt man assoziativ zum wenig später erfolgten Mauerfall und dem Ende der DDR. Gais gibt gerne zu, daß seine Empfindungen in jener Zeit, in Berlin, Aufbruch, Abbruch, tiefgreifende Veränderung waren, schwer erträglich für einen empfindsamen Menschen und ein Grund, die Stadt zu verlassen. Im anderen großen Bild dieses Raumes Untergangsphantasien auszumachen ist gleichfalls nicht schwierig, auch wenn 9/11 da noch 12 Jahre entfernt war.

Vorweggenommener Mauerfall: „Ohne Titel (12.1.88)“, Öl, Pastell und Gouache auf Karton (Foto: Henning Krause, Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher © Christoph M. Gais)

Drei Esel

Kurz und gut: Anfang der Neunziger ging Christoph M. Gais aufs Land, kleiner Bauernhof in italien, viele, viele Tiere um ihn herum, unter ihnen drei Esel. Nun malte er Strukturen, schön und gleichförmig, schwingend, schwebend, schwerelos, in großen Formaten, Öl auf Leinwand, ganz klassisch.

Manchmal meint man ein antikes Fries zu erkennen, was natürlich sein kann, aber nicht das Ziel der Bemühungen war. Eher wirken diese Arbeiten wie der malerische Versuch, zu Harmonie mit dem eigenen Inneren zu gelangen, zu den sprichwörtlichen guten Schwingungen. Und küchenpsychologisch sei noch die Vermutung angehängt, daß die vielleicht einfacheren, regelmäßigeren, zuverlässigeren Schwingungen der Tiere auf dem Bauernhof ebenfalls ihren Anteil daran gehabt haben könnten, dem Künstler Stabilität und Stärke zu verleihen.

Afrikanische Skulpturen vor blauem Dreiecke-Tableau (Foto: Daniel Sadrowski, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, 2023)

Intensive Figuren

Doch die afrikanischen Holzskulpturen, die Gais in einem anderen (etwas kleineren) Raum aufgestellt hat, verheißen Veränderung. Solche Figuren, ein jeder weiß es, entstanden nicht nach der Natur, sondern zeigen in frappierender Intensivierung Eigenschaften, Eigenheiten, Grundlegendes; gleichgültig letztlich, ob diese Wahrheiten religiöse, rituelle oder schlicht menschliche sind. „Gais begegnet der afrikanischen Kunst mit großem Respekt“, sagt sein Künstlerkollege Thomas Huber, der diese Ausstellung auch kuratiert hat, „er sieht afrikanische Werke als künstlerische Werke.“

Es ist die Auseinandersetzung mit der Kunst anderer Künstler, die vielleicht, manchmal sind die Dinge ja auch nicht ganz so einfach wie sie scheinen, dazu geführt hat, in den eigenen Arbeiten die Expression menschlicher Gesichter, menschlicher Präsenz mithin, als zentralen Bezugspunkt einzufügen. Übrigens ist der „afrikanische“ Raum mit, kann man gar nicht anders sagen, wunderschönen Gemälden bestückt, die in betörenden Blautönen ein schlichtes Muster aus kleinen Dreiecken zu einer nur scheinbar homogenen Fläche machen. Gaus hat diese Flächen mit Schaumgummistempeln und Ölfarbe „gedruckt“ und brauchte Unmengen Schaumgummi dafür, weil dies sich in der Ölfarbe schnell auflöste und nicht mehr zu gebrauchen war.

Regal aus dem Berliner Atelier des Künstlers, in Duisburg originalgetreu aufgebaut (Foto: Kay Heymer, © Christoph M. Gais, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher)

Schweinchen

Vis-à-vis vom Eingangsbereich – Besucher der Küppersmühle kennen das – gibt es in einem ersten Raum fast immer den umgehbaren Kubus, in dem häufig Werke aus früheren Schaffensperioden der Künstlerinnen und Künstler gezeigt werden. Hier nun aber ist das Berliner Atelier von Gais nachgebaut worden, das große, überaus dekorative Regal mit seinen Bildern und Skulpturen, den Kleinmöbeln, den knubbeligen Schweineskulpturen, aus afrikanischer Erde oder aus Eselkot. Ein hervorragendes Material, beteuert der Künstler, sehr formstabil durch den natürlichen Anteil von unverdautem Heu und Stroh.

Das Publikum kommt mit ins Bild

Im Gang neben dem Kubus hängen einige besondere Einzelportraits. Ihr Hintergrund ist rhythmisierte Struktur, der Vordergrund jedoch eine ornamentierte Glasscheibe, die in der Kontur des Gesichts klar bleibt. Außerdem spiegelt sich der Betrachter in der Scheibe, wird mithin hineingezogen in den Sehraum des Bildes, wird somit Teil des Kunstwerks. Und einmal mehr ist man beeindruckt von den vielen Spielarten der Bezüglichkeit, die dieser Künstler in seinem Werk herausarbeitet. „Acht Räume, acht Klänge“ – so beschreibt Gais das Ausstellungskonzept seines Kollegen Thomas Huber für die Küppersmühle in knappen Worten. Wir wollen dem nicht widersprechen. Aber fraglos sind in dieser eindrucksvollen Werkschau auch viele reizvolle Zwischentöne zu entdecken.

  • „Christoph M. Gais – Bilderwelten von 1990 bis heute“, Museum Küppersmühle, Duisburg
  • Bis 26. November 2023. Mi 14-18 Uhr, Do-So und Feiertage 11-18 Uhr
  • Eintritt 6 EUR, gesamtes Haus 12 EUR
  • www.museum-kueppersmuehle.de



60 Jahre Bundesliga – und der zwecklose Versuch, online eine BVB-Karte zu kaufen

Kurz nach 12 Uhr – und noch 55 Minuten Wartezeit bis zum Eintritt in den eigentlichen Ticketshop. (Screenshot von der BVB-Homepage)

Tätäääää! Großer Tusch. Heute ist es auf den Tag genau 60 Jahre her, dass die Bundesliga ihren Spielbetrieb aufgenommen hat. Die Gründung der höchsten deutschen Spielklasse war übrigens vom DFB in Dortmund beschlossen worden. Und das allererste Liga-Tor hat Timo Konietzka vom BVB erzielt – beim Auswärtsspiel gegen Werder Bremen. Die Grünweißen haben dann doch noch 3:2 gewonnen. Naja, Schwamm drüber. Es lässt sich derweil gar nicht ermessen, wie viel gesamtgesellschaftlicher Gesprächsstoff und verbra(u)chte Lebenszeit sich aus der Liga ergeben hat.

Apropos Lebenszeit. Damit zu einem allzeit dringlichen Thema beim BVB. Nein, es geht nicht um weitere Spielertransfers, sondern um dies: Während man sich andernorts schlicht und einfach eine Karte kauft, um ein Spiel zu sehen, ist das in Dortmund anders. Ganz anders. Hier muss man Zeit opfern und großes Glück haben. Selbst im europäischen Vergleich ist der Kartenabsatz beispiellos. Da sage noch jemand, die Bundesliga sei kein Erfolgsmodell. Hier ist sie jedenfalls eins.

In jedem Falle ausverkauft

Bei 81.365 Zuschauern wird im größten deutschen Stadion regelmäßig „ausverkauft“ gemeldet. Egal, gegen wen die Partie bestritten wird. Scherzbolde sagen, das Westfalenstadion sei schon proppenvoll, wenn der Platzwart den Rasen mäht. Satte 55.000 Plätze werden bereits durch Dauerkarteninhaber belegt (abzüglich derer, die am jeweilen Spieltag verhindert sind, ihre Tickets aber anderweitig vergeben). Bleiben rechnerisch also gerade mal 26.365 „freie“ Plätze, von denen wiederum das Gäste-Kontingent abgezogen werden muss – je nach Gegner mal mehr, mal weniger. Von Frei- und Gefälligkeitskarten (für Sponsoren etc.) mal ganz abgesehen.

Beispiel: Am 23. September geht es für die Borussia gegen den VfL Wolfsburg, der – gelinde gesagt – nicht allzu viele Fans zur Fahrt nach Dortmund mobilisiert. Also bleiben ein paar Plätze mehr für heimische Fans übrig. Doch was nützt es?

Habe mich also heute ins Abenteuer der Online-Kartenvergabe gestürzt. Wohlgemerkt: Es geht nicht etwa gegen die ungeliebten Bayern oder dito Leipzig, sondern eben gegen das nicht übermäßig attraktive Wolfsburg. Noch dazu kann ich mich – theoretisch mit zigtausend anderen Leuten – als Vereinsmitglied einloggen. Für uns Auserwählte gibt es den „freien“ Vorverkauf einen Tag vor dem offiziellen. Doch was nützt es?

„Ebenfalls per Zufallsprinzip“

Der Online-Zugang zum Ticketshop ist am entsprechenden Vorverkaufstag aus guten Gründen streng geregelt. Zitat aus der bürokratisch trockenen Erläuterung:

„Erst mit Beginn des Vorverkaufs (um 12 Uhr) wird eine festgelegte Anzahl an Personen per Zufallsprinzip in den Ticketshop gelassen. Alle Fans, die nicht sofort in den Shop geführt werden können (Hahaha! d. Red.), befinden sich dann in einem Warteraum, der transparent die Zeit angibt, bis die jeweilige Person an der Reihe ist. Die Position im Warteraum wird ebenfalls per Zufallsprinzip zugeteilt…“

Und wenn man sich nun schon um 10 Uhr einloggt? Dann bringt das offenbar auch keinen Vorteil: „Der Zeitpunkt, wann der Ticketshop (vor 12 Uhr) aufgerufen wird, ist nicht entscheidend für die spätere Ticketvergabe!“

Viele geben vorzeitig auf

Nun muss man also im virtuellen Warteraum ausharren. Ein kleines Männlein, das durch einen gelben Streifen auf ein Ziel hin schreitet, zeigt den Fortgang an. Wie niedlich. Jedoch ein schwacher Trost. Erste Meldung: 55 Minuten (!) Wartezeit bis zum ersehnten Eintritt in den Ticketshop. Offenbar geben an diesem Punkt manche schon auf, denn die Wartezeit verkürzt sich nun schneller, als die Uhrzeit voranschreitet. Plötzlich sind es „nur“ noch 42 Minuten, dann sprungweise 35, 29, 25, 18, 14, 8, 6, 5, 3… Bereits um 12.14 Uhr plus ein paar Sekunden ist die imaginäre Null-Linie erreicht, ich darf in die heiligen Hallen eintreten. Großes Oh und Ah!

Doch was ist das? Die knappe Viertelstunde hat anscheinend schon ausgereicht, dass andere Fans den gesamten Kartenbestand abräumen konnten. Ich verkneife es mir, sie „gierige Geier“ zu nennen. Ich wäre ja im Erfolgsfalle selbst einer gewesen. Jedenfalls heißt es an dieser Stelle, dass keine Karten mehr zur Verfügung stünden.

Einen anderen Browser benutzen? Längst probiert. Dauerfeuer mit der F5-Aktualisierungstaste? Zwecklos. Da muss man sich wohl ins Schicksal fügen.

 




„Wenn man einmal in Bayreuth war, ist man süchtig danach“: Altistin Karolin Zeinert aus Düsseldorf singt im Chor der Festspiele

Karolin Zeinert vor dem Bayreuther Festspielhaus. (Foto: Werner Häußner)

Die Düsseldorfer Altistin Karolin Zeinert singt mittlerweile in ihrer 11. Spielzeit im Chor der Bayreuther Festspiele. Im Interview erzählt sie, wie sie in Bayreuth ihre professionelle Laufbahn begonnen hat und warum es so faszinierend ist, im Chor der Festspiele mitzuwirken.

Wie hat’s bei Ihnen begonnen mit Bayreuth?

Ich habe immer gerne im Chor gesungen. Mit fünf habe ich damit angefangen, bin dann in meiner Heimatstadt Gera auf ein chororientiertes Gymnasium gegangen und wollte immer Choristin werden. Ich habe dann das Studium begonnen, war nach vier Semestern beim RIAS Kammerchor als Praktikantin und habe festgestellt: Chorsingen ist wirklich meins. Dann habe ich an verschiedenen Theatern Produktionen mitgemacht. Nach dem Abschluss meines Studiums habe ich mich initiativ in Bayreuth beworben. Wagners Musik mochte ich immer, ich habe ja auch am gleichen Tag wie er Geburtstag. Ich habe vorgesungen und ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass es klappt, aber ich wurde genommen und bin nun seit 2012 jedes Jahr bei den Festspielen in Bayreuth. Als ich 2014 an der Deutschen Oper am Rhein ins Festengagement ging, habe ich mir das Okay geholt, dass ich im Sommer nach Bayreuth gehen kann. Mein Chef ist da extrem kulant und die Kollegen haben Verständnis für mich. Das klappt also ganz gut.

Sie sind also bei den Bayreuther Festspielen in Ihre professionelle Laufbahn eingestiegen?

Karolin Zeinert. (Foto: privat)

Ja, tatsächlich. Vorher war ich mal eine Spielzeit in Leipzig, hatte aber sonst immer nur Gastverträge. Ich habe so mein Studium finanziert und Erfahrungen gesammelt. Und nicht zuletzt für mich geklärt, ob ich diesen Job mein Leben lang machen möchte und auch kann. Denn das Singen im Chor ist schon ein spezieller Beruf. Man ist viel unterwegs, soziale Kontakte zu Menschen außerhalb des Theaterbetriebs sind schwierig, und immer, wenn andere frei haben, arbeiten wir. Aber Bayreuth war schon das Highlight für mich. Als ich hier anfing, war ich 26, und lange war ich die jüngste unter den zweiten Altistinnen im Festspielchor.

War Bayreuth neu für Sie? Waren Sie vorher einmal hier?

Weder als Gast noch als Stipendiatin. Die Festspiele waren für mich totales Neuland. Ich kannte auch die Stadt nicht, fühlte mich aber sehr schnell zu Hause. Auch weil ich in Weimar studiert hatte, eine Stadt von ähnlicher Größe und Struktur.

Und wie sind sie mit der Arbeit am Grünen Hügel umgegangen? Hat Sie ein besonderes Bayreuth-Gefühl erfasst?

Die Damen des Bayreuther Festspielchores in Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ mit Nadine Weissmann als Mary (links) und Elisabeth Teige als Senta. (Foto: Enrico Nawrath)

Ich erinnere mich, dass ich an einem der ersten Tage einmal an der Hinterbühne vorbeigegangen bin. Die großen Tore waren offen, so dass man von dort in den Zuschauerraum blicken konnte. Ich hatte noch nie in einem Haus mit so vielen Plätzen gesungen und noch nie ein Theater mit so einer tiefen Bühne gesehen. Das war ehrfurchtgebietend, aber ich habe es damals nicht als furchteinflößend erlebt. Erst später, wenn ich jungen Kollegen davon erzählt habe, wurde mir bewusst, was man für Produktionen erlebt hat und mit welchen Sängern man zusammen auf der Bühne gestanden hat. Da habe ich so ein bisschen „das Fürchten gelernt“. Der Premierentag in Bayreuth macht mich immer noch etwas nervös und auch die Vorstellungen sind etwas Besonderes, wenn ich zum Beispiel die kleine Rolle eines Edelknaben im „Tannhäuser“ singe. Da herrscht eine andere Anspannung, weil man es besonders gut machen möchte.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Wagners Musik entwickelt?

Ich hatte eine Lehrerin in Weimar, die schon recht früh gesagt hat, meine Stimme passe gut ins deutsche Fach und zu Wagner. Daher habe ich mich bald dran versucht und im Studium Erda oder die Wesendonck-Lieder gesungen. Das lag mir gut und passte zu meiner Stimme, weil es viel um die Ausgestaltung von Text geht. So habe ich mich in Wagner reinverliebt. Meine erste Produktion, da war ich Anfang Zwanzig, habe ich in Gera mitgemacht, das war „Tannhäuser“ mit einem Vierzig-Personen-Chor. Das habe ich sehr genossen, und so habe ich mich nach und nach mit den anderen Opern befasst.

Welche ist Ihre Wagner-Lieblingsoper?

Karolin Zeinert im Kostüm – hier für Wagners „Tannhäuser“. Rainer Sellmaier hat die Kostüme für Tobias Kratzers Inszenierung entworfen. (Foto: privat)

Das ist eine fiese Frage, schwierig zu beantworten und von den Umständen abhängig. Beim Bayreuther „Ratten-Lohengrin“ von Hans Neuenfels dachte ich, ja, das ist „meine“ Wagner-Oper. Dann kam der nächste „Lohengrin“, der szenisch anders war und bei dem ich die Längen des Stücks spürte. Ich bin auch eine große Freundin von „Parsifal“, der kann aber auch ewig dauern. Wenn ich mich entscheiden müsste, dann zwischen „Tannhäuser“ und „Parsifal“. Das Elegische im „Parsifal“ finde ich ganz wunderbar, und das zaubert Pablo Heras-Casado in diesem Jahr wirklich toll. Er lässt das Orchester so leise spielen, dass wir in der Höhe stehen und uns manchmal fragen, ob das Orchester überhaupt noch spielt. Für jemanden, der in Bayreuth debütiert hat und die akustischen Finessen des Hauses noch nicht kennt, hat er die Musik großartig umgesetzt. Er hat auch eine Chorsaalprobe mit uns gemacht und ganz fein gearbeitet. An einem normalen Haus ist gar keine Zeit, so intensiv an Details zu arbeiten. Hier ist es möglich, auszuprobieren, wie weit man ein piano dimmen kann, damit es noch trägt und hörbar bleibt. Das hat großen Spaß gemacht.

Wenn Sie die Arbeit hier mit Düsseldorf oder anderen Theatern vergleichen: Was ist das Spezielle in Bayreuth? Gibt es das?

Ja, das gibt es auf jeden Fall, und zwar unter einigen Aspekten. Zum einen ist der Chor mit 134 Personen hier groß genug. Wir haben zum Beispiel in Düsseldorf auch einen „Fliegenden Holländer“, und da ist es nicht üblich, dass am Abend die Matrosen und der Geisterchor beide live gesungen werden. Die Geister kommen in aller Regel vom Band. Und dabei sind wir in Düsseldorf mit 65 Sängern ein relativ großer Chor – aber hier ist es eben das Doppelte. Hier kommt alles live. Zum anderen konzentriert man sich hier nur auf Wagner. In Düsseldorf haben wir innerhalb einer Spielzeit ein breites Repertoire. Da ist für eine solche Konzentration einfach kein Raum. Es gibt auch nicht so viele musikalische Proben und nicht so viel Zeit, an kleinsten Nuancen zu feilen.

Hier machen wir zehn Wochen lang nichts anderes als Wagner. Wir treffen uns bei „Parsifal“ vor jeder Vorstellung, sogar vor jedem Akt, und singen uns ein. Das heißt, man singt sich zusammen, geht nahe ans Dirigat, lotet noch einmal die Dynamik aus. Man ist hier sehr darauf angewiesen, auf die Chordirigenten zu achten, weil auf der Bühne eine andere Akustik herrscht als im Saal. Wir sind extrem davon abhängig, dass unsere Chordirigenten gut hören und uns perfekt führen. Wir leben hier in der „Glocke Bayreuth“, das ist keine Alltagssituation.

Was nehmen Sie mit aus Bayreuth für Ihre Arbeit an Ihrem Stammhaus? Auch wenn das Niveau der Dirigate unterschiedlich beurteilt wird, arbeiten Sie hier mit verschiedenen musikalischen Charakteren mit unterschiedlichen Auffassungen.

Man nimmt in jedem Fall die unterschiedlichen Weisen des Herangehens an die Musik mit. Wir haben dieses Jahr mit Nathalie Stutzmann im „Tannhäuser“ eine Sängerin als Dirigentin, und es ist interessant, wie ganz anders sie mit der Musik umgeht als Axel Kober, der ja mein Chef in Düsseldorf ist und mit dem wir hier in den letzten Jahren viel Freude hatten. Frau Stutzmann macht viel vor, dirigiert sehr gesanglich, mit viel Bogen und Fläche. Für das Orchester mag das schwierig sein, weil sie wohl weniger akzentuiert. Aber für uns im Chor ist das etwas ganz anderes. Manchmal ist es auch ein bisschen schwierig, wenn ich zurückkomme und von Bayreuth eine genaue Vorstellung mitbringe, wie bestimmte Stellen zu klingen haben.

Aufschlussreich ist auch zu beobachten, wie unterschiedlich Dirigenten im Umgang mit dem Orchester, dem Ensemble und auch mit Regisseuren sind – und welche Entwicklung sie im Lauf der Zeit machen. Ich erinnere mich an meine ersten Begegnungen mit Christian Thielemann, bei denen ich dachte: Oh, das ist hier aber ein harscher Ton. Einige Jahre später habe ich ihn viel gelöster erlebt. Da wirkte er, als wäre er „angekommen“. Was ich an Bayreuth schätze, ist das Verschwimmen der Distanz zu den „großen“ Sänger-Solisten. Man sitzt in der Kantine, und dann setzt sich ein Georg Zeppenfeld einfach mit an den Tisch. Wenn solche Solisten an einem Haus als Gast kommen und gehen, kommt dieses Miteinander nicht auf.

Wie erleben Sie die Arbeit mit den Regisseuren?

In den letzten elf Jahren habe ich hier – wie auch anderswo – festgestellt: Arbeit und Name gehen nicht immer konform. Es gibt Leute mit großem Ruf, bei denen ich bei der Arbeit die Hände über dem Kopf zusammenschlage und denke, die Ergebnisse sind nur ihrem Team zu verdanken. Und dann gibt es welche, die vielleicht nicht den prominentesten Namen haben, aber genau wissen, was sie wollen und eine tolle Arbeit machen, bei der man sich als Choristin auch mitgenommen fühlt. Die große Herausforderung speziell in Bayreuth ist, dass man den großen Chor auf der Bühne abholt und mitnimmt. Wenn von 134 Leuten jeder am Abend wissen soll, was er zu tun hat, wie seine Rolle und Funktion ist, dann ist das nochmal eine andere Hausnummer als beispielsweise den Chor in Düsseldorf zu führen, der halb so groß ist. Manche Regisseure sind von dieser Menschenmasse einfach eingeschüchtert und vielleicht auch überfordert.

In welchen Inszenierungen haben Sie sich besonders wohl gefühlt?

Die beste Produktion, die ich in den letzten Jahren mitgemacht habe, ist sicherlich der „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer. Er kam zur ersten Probe und konnte jeden mit Namen ansprechen! Jeder hat von ihm eine Intention, eine Rolle bekommen, hat genau erfahren, was er wann und wo zu tun hat. Da ist eine solche Truppe dann natürlich voll dabei. Genauso Barrie Kosky. Bei ihm würde ich gerne noch einmal eine Regierarbeit mitmachen, weil mich seine Perfektion beeindruckt hat. Das ist natürlich anstrengend. Im letzten Akt seiner „Meistersinger“ gab es einige „freeze“-Situationen, in denen alle Bewegungen auf Stichwort „einfrieren“ müssen. Das hat er so lange geprobt, bis es 134 Leute plus Statisterie auf den Punkt gemacht haben. Das beeindruckt, nimmt den Chor mit und macht Spaß. Bei Regisseuren, die den Chor eher als Masse oder als Kollektiv betrachten, fühlen sich nicht alle angesprochen. Das ist ein normales Gruppenproblem.

Hat der Bayreuther Festspielchor im Vergleich zu anderen Chören eine eigene Gruppendynamik?

Von den 134 Menschen, die wir in diesem Jahr glücklicherweise wieder sind, sind nicht alle in festen Engagements. Viele arbeiten frei, treffen sich im Sommer hier und haben Bayreuth als Schwerpunkt in ihrem Arbeitsplan. Wer nach Bayreuth kommt, um hier seinen Sommerurlaub zu verbringen, bringt ein spezielles Arbeitsethos mit. Das zeigt sich, wenn der Chor nach einem Jahr wieder zusammenkommt zur ersten Probe. Wir haben die Stücke im Jahr zuvor so minutiös geprobt, dass man das Ergebnis unter den Umständen eines anderen Opernhauses ohne weiteres auf die Bühne stellen könnte. Aber an diesem Punkt beginnt die Arbeit in Bayreuth erst. Da wird an der Intonation gefeilt, da werden Einzelstimmen herausgekitzelt. Das ist anstrengend, aber die Chorsänger, die hier sind, wollen genau das. In einem normalen Opernhaus würde man das zeitlich überhaupt nicht schaffen. Außerdem ist das Klangerlebnis ein ganz anderes. In Düsseldorf haben wir sechs Stellen im zweiten Alt, hier sind es zwölf. Das ist ein ganz anderes Gefühl in der Gruppe. Wenn man da die Augen zumacht, ist der Klang traumschön.

Kann es dieses Erlebnis nicht doch auch anderswo geben?

Ich glaube, das kann man an keinem anderen Haus erreichen. Der Chor ist auch sehr multikulturell, die Sänger kommen von überall her, man trifft so viele Leute, was total schön ist und ein ganz eigenes Gefühl erzeugt. Dann bilden sich Freundschaftsgruppen, die auch Bayreuth überdauern. Man hat eine gemeinsame Leidenschaft, gemeinsame Erinnerungen. Das sind Gründe, warum sich so viele Leute den Sommer um die Ohren schlagen und lange dabei bleiben. Wir feiern regelmäßig 30jährige Jubiläen. Viele sagen: Wenn man einmal in Bayreuth war, dann ist man süchtig danach.




Beethoven nach dem Bombenhagel – Sasha Waltz choreographiert das Grauen des Krieges

Ensemble-Szene aus der „Beethoven 7″-Choreographie von Sasha Waltz. (Foto: © Sebastian Bolesch/Radialsystem)

Nebelschwaden empfangen das Publikum. Es wabert und wölkt, zischt und dampft aus allen Rohren. Mühsam schälen sich menschliche Silhouetten aus dem grauen Nichts: fremdartige Wesen mit riesigen Masken, die vielleicht von einem andern Stern oder aus den Abgründen unserer Fantasie kommen. Aliens des Bösen, die wie ferngesteuerte Kampfmaschinen wirken.

Manche tragen Brustpanzer, die an die Westen von Selbstmord-Attentätern erinnern. Sie verklumpen sich zu grotesken Körperskulpturen. Mit dem anschwellenden Bocks-Gesang ihrer ritualisierten Ekstase werden auch die zirpenden und zischenden Klänge immer lauter. Bässe wummern, Trommeln wirbeln, steigern sich zu einem Kakophonie der Katastrophe. Manche können den ohrenzerfetzenden Lärm und den Bombenhagel der atonalen Misstöne nicht mehr ertragen und verlassen fluchtartig den von musikalischem Krieg und tänzerischer Entgrenzung künstlerisch verminten Saal. Was tödliche Wirklichkeit für die von russischem Dauerbeschuss drangsalierten Menschen in der Ukraine ist, wird in der Choreographie von Sasha Waltz und der Musik von Diego Noguera zum ästhetischen Erlebnis, zum perfiden Schein. Muss das sein?

„Freiheit/Extasis“ nennt der in Chile geborene und seit Jahren in Berlin lebende Musiker Diego Noguera sein elektronisches Klang-Experiment, zu dem Sasha Waltz mit ihrem 13-köpfigen Ensemble vergeblich nach einem tänzerischen Ausdruck sucht: Viel Lärm und schweißtreibende Gymnastik um ein geschmackloses Nichts, das ohne Ohrenstöpsel kaum auszuhalten ist. Jetzt kann nur noch Beethoven helfen und uns aus dem Jammertal der musikalisch-tänzerischen Tränen befreien.

Für den Kultursender Arte hat Sasha Waltz 2021 in der antiken Tempelstätte von Delphi für zwei Sätze aus Beethovens 7. Sinfonie eine Choreographie entworfen, die den klanglichen Reichtum und die romantische Freiheits-Perspektive der mit rhythmischen Leitmotiven und mit hüpfenden, suggestiv-tänzelnden Elementen auftrumpfenden Komposition überzeugend einfing. Jetzt erweitert sie ihre szenische Beethoven-Weihe zu einem sinfonisch-tänzerischen Gottesdienst; zu einer Ton-Aufnahme unter Leitung von Teodor Currentzis schwebt und schreitet ihre Compagnie fröhlich und freiheitstrunken durch den vom Nebel des Krieges befreiten Raum im Berliner Radialsystem: „Beethoven 7“ feiert die Schönheit des Körpers und die Synchronität der Bewegungen. Arme werden gen Himmel gereckt, heiße Blicke ausgetauscht, Paare finden sich, Passenten schlendern vorbei, wagen ein ausgelassenes Tänzchen. Doch die zwischen französischer Revolution und europäischer Restauration eingeklemmte Welt, die den fast ertaubten Beethoven beim Komponieren 1811/12 umgab, ist fragil, der Frieden ein frommer Wunsch, die Freiheit ein schöner Schein.

In der Stille zwischen dem dritten und vierten Satz zerbricht die Idylle, verkantet sich ein einsamer Tänzer, reißt alle anderen mit sich in die Tiefe der Ungewissheit. Die harmonisch fließenden Bewegungen zerfasern, die Einigkeit der Liebenden löst sich auf. Nur schwer können die vereisten Körper ihre Erstarrung überwinden und der Fahne der Freiheit folgen, die von einer Tänzerin enthusiastisch geschwungen wird und den Weg in die Zukunft weist. Nach dem verkorksten Auftakt mit Noguera ist Beethoven die Rettung.

Sasha Waltz & Guests: „Beethoven 7“ und „Freiheit/Extasis“. Berlin, Radialsystem. Aufführungen wieder am 31. August sowie am 1., 2. und 3. September.

www.radialsystem.de




„Sprache lässt sich nicht mit Normen lenken“ – Zum Tod von Martin Walser: Erinnerung an zwei Gespräche mit dem Schriftsteller

Martin Walser am 10. Oktober 2013, Frankfurter Buchmesse. (Foto: Wikimedia Commons / Lesekreis, Heike Huslage-Koch). Lizenz: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en

Schon seit seinem Roman „Ehen in Philippsburg“ (1957), der die gesellschaftlichen Verhältnisse der 1950er Jahre auf den Begriff brachte wie kein anderer, war der Schriftsteller Martin Walser einer der wichtigsten Protagonisten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Jetzt ist er ist mit 96 Jahren in seinem Haus am Bodensee gestorben. Aus diesem traurigen Anlass hier noch einmal der Wortlaut zweier Gespräche, die ich 1996 und 1998 mit ihm führen durfte. Zunächst der Text von 1996:

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Dortmund. Mit seinem Roman „Finks Krieg“ hat Martin Walser (69) tiefen Einblick ins Innenleben eines Ministerialbeamten gegeben, der im Zuge eines Regierungswechsels auf einen minderen Posten abgeschoben wird. Dieser Fink, einer wirklichen Person nachgebildet, aber literarisch zur Kenntlichkeit gebracht, wird zum angstgepeinigten Kämpfer für sein Recht. Walser stellte das bei Suhrkamp erschienene Buch jetzt mit einer Lesung im Dortmunder Harenberg City-Center vor. Dort traf ihn die Westfälische Rundschau zum Gespräch.

Sie haben die vor wenigen Tagen publizierte „Frankfurter Erklärung“ mitunterzeichnet, einen entschiedenen Protest vieler Autoren gegen die Rechtschreibreform. Kommt das nicht zu spät?

Martin Walser: Ich hatte immer mein Leid mit dem Duden und mußte mich immer gegen Lektoren durchsetzen, die unter Duden-Diktat meine Manuskripte korrigiert haben. Mit nachlassender Energie habe ich immer auf meinen Schreibungen beharrt.

Nennen Sie uns ein Beispiel?

Walser: Mein Paradebeispiel ist „eine Zeitlang“. Ich hab‘ stets „eine Zeit lang“ in zwei Wörtern geschrieben. Der Duden verlangt es in einem Wort, was ja völlig unsinnig ist. Es stimmt weder historisch noch rational. Nach der neuen Rechtschreibung dürfte ich’s auseinander schreiben. Das ist für mich ein Fortschritt. Nur: Es ist eine autoritär ausgestattete Reform. Sie behebt einige Idiotien und installiert dafür andere. „Rau“ ohne „h“, da möcht‘ ich mal wissen, wer sich das ausgedacht hat…

Und wieso erheben Sie erst jetzt Einspruch?

Walser: Nun, weil Friedrich Denk (Deutschlehrer und Literatur-Veranstalter in Weilheim, d. Red.), der die Sache angeregt hat, mich jetzt befragt hat. Ich selbst hätte gedacht: Na, schön. Das ist gut, das ist blödsinnig – und hätte es dabei belassen. Weil ich sowieso nicht praktiziere, was im Duden steht. Schauen Sie: In meinem Roman „Brandung“ steht die Wortfolge „zusammenstürzender Kristallpalast“. Das müßte ich in Zukunft auseinander schreiben: „zusammen stürzender“.

Eine Sinnverfälschung?

Walser: So ist es. Hoffentlich sehen die Leute nun, daß solche Sprachnormen relativ sind. Vielleicht bildet sich gerade dann ein bißchen mehr Freiheit gegenüber den Regeln. Denn Sprache ist doch Natur – und sie ist Geschichte. Beides läßt sich nicht mit Normen lenken. Ich schreibe ja mit der Hand, folge einem rein akustischen Diktat in meinem Kopf. Wenn ich das nachher lese: Das ist so unorthographisch, so grotesk. Wenn ich Ihnen das zeigen würde, würden Sie sagen: „Das ist ein Analphabet.“ V und F geht da durcheinander wie „Fogel und Visch“. Schreibend ist man eben nicht auf Duden-Niveau.

Mal abgesehen von der Rechtschreib-Debatte: Ansonsten hat sich – Stichwort: Deutsche Einheit, die Sie früh und vehement befürwortet haben – die Aufregung um Sie ein wenig gelegt.

Walser: Zum Glück. Aber ich krieg‘ immer noch genug ab. Ein Rezensent hat geschrieben, er höre in „Finks Krieg“, in der politischen Tendenz „Marschmusik“. Seit der Diskussion um die Einheit haben die mich in diese Richtung geschickt, diese Arschlöcher! Der Peter Glotz empfindet in meinem Roman „dumpf-deutsche Fieberphantasien“. Ein anderer hat sinngemäß geschrieben: „Der Walser hat sich vom linken Kämpfer zum CSU-Festredner der deutschen Einheit entwickelt.“ Und das in einer Buchbesprechung.

Worte, die sich in Sie hineinfressen?

Walser: Ja, ja, ja. Ich wandere geistig aus d i e s e r Art von Gesellschaft aus. Ich will damit nichts zu tun haben, mit diesen Einteilungen – links, rechts. Mein Hausspruch lautet: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ In mir hat mehr als eine Meinung Platz. Ich hab‘ in den 70er Jahren erfahren, wie die Konservativen mit mir umgegangen sind. Damals hieß es: „Du bist ein Kommunist.“ Jetzt weiß ich, wie die Linken mit Andersdenkenden umgehen. Es ist noch verletzender. Und ich meine nach wie vor: Das größte politische Glück, das die Deutschen in diesem Jahrhundert hatten, ist diese Einheit. Die Misere steht auf einem anderen Blatt, aber sie hat Aussicht auf Behebung. Die Misere vorher war aussichtslos.

Und „Finks Krieg“, ist das der Roman über unsere politische Klasse?

Walser: Für mich ist es der Roman über einen leidenden Menschen. Übrigens war die Vorarbeit sehr quälend. Ich habe zwei volle Jahre Material studiert. Furchtbar. Immer nur notieren ist entsetzlich. Ein unguter Zwang. Ich bin auch nicht ganz gesund geblieben dabei. Ich habe manchmal gedacht: Vielleicht hört es überhaupt nicht mehr auf, vielleicht wirst du nie Herr des Verfahrens, vielleicht bist du nie imstande, frei zu schreiben. Mein neues Projekt hat deswegen gar nichts mehr mit Quellen und Recherchen zu tun. Es wird ein Buch über meine Kindheit – so, wie sie mir heute vorkommen möchte.

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…und hier der Text vom Oktober 1998:

Dortmund. Mit seinem Roman „Ein springender Brunnen“ hat Martin Walser (71) einen grandiosen Erfolg erzielt. Lesepublikum und Presse waren beeindruckt von dieser stark autobiographisch geprägten Geschichte einer Dorf-Kindheit in der NS-Zeit.

In die politische Diskussion geriet Walser durch seine am 11. Oktober gehaltene Frankfurter Rede zur Friedenspreisverleihung des Deutschen Buchhandels, in der er sich gegen allzu eingefahrene Wege der „Vergangenheitsbewältigung“ und gegen die „Instrumentalisierung von Auschwitz für gegenwärtige Zwecke“ wandte. Daraufhin warf ihm Ignatz Bubis (Zentralrat der Juden in Deutschland) „geistige Brandstiftung“ vor. Jetzt las Walser im Dortmunder Harenberg City-Center (Mitveranstalter: Westfälische Rundschau und Buchhandlung Krüger) aus seinem Roman. Bei dieser Gelegenheit sprach die WR mit ihm.

Haben Sie mit derart barschen Reaktionen auf Ihre Frankfurter Friedenspreis-Rede gerechnet?

Martin Walser: Natürlich nicht. Mit so etwas kann man nicht rechnen. Solche Wörter können einem ja vorher nicht einfallen, mit denen man da beworfen wird. Wenn mich jemand als „geistiger Brandstifter“ bezeichnet, dann ist das seine Sache. Ich kann das gar nicht kommentieren, weil ich es auch nicht verstehen kann. Und mich mit Rechtsradikalen wie Frey und Schönhuber zu vergleichen, weil die angeblich „auch nichts anderes sagen“… Da habe ich ein anderes Sprachverständnis.

Sind Sie verbittert?

Walser: Verbittert nicht, aber entsetzt. Ich bin doch kein Dauerobjekt für Beleidigungen! Zum Glück gab es ja auch unendlich viele andere Reaktionen, so wie noch nie. Das Thema hat sich noch lange nicht erledigt. Die Affäre wird in der Entwicklung dieses Themas in diesem Land eine Wirkung haben – welche, das bleibt abzuwarten.

Ihr Roman ist fast durchweg begeistert aufgenommen worden. Waren Sie erstaunt?

Walser: Mh. Das darf mich nicht erstaunen. Es hat mich unheimlich gefreut. Ich habe noch nie so rasch so viele briefliche Leser-Reaktionen bekommen. Ich war mir ja beim Schreiben des Romans eines gewissen Risikos bewußt. Es hat mich gerührt, daß die meisten meine Auffassung teilen, daß man auf diese Art über „damals“ schreiben kann.

Ein paar wenige Rezensenten haben moniert, Sie hätten die Schrecken des NS-Regimes nicht erwähnt.

Walser: Ja. Das ist absurd. Dieses NS-Regime kann auch auf andere Weise vorkommen, ohne daß das Stichwort „Auschwitz“ fallen muß. Wer das zu einem Pensum macht, zu einer Pflichtaufgabe, der muß damit rechnen, daß er nur Lippenbekenntnisse bekommt. Die meisten haben aber begriffen, daß in meinem Text die NS-Zeit präsent ist, so wie sie aus der Perspektive des Kindes Johann präsent sein konnte.

Was bedeuten Lesereisen für Sie? Eher eine Last oder eine Chance, vom Publikum etwas zu bekommen?

Walser: Ich mache solche Reisen vielleicht zu oft. Ich werd s sicher nicht mehr sehr lange machen, aber diesmal schon noch. Ich probiere den Text eben gerne in Sälen. Man weiß ja nie so genau, wie die Leute reagieren. Ich hatte es mir diesmal sehr schwer vorgestellt. Meine bisherigen, oft neurotischen Romanhelden habe ich pointiert dargeboten. Das hat den Leuten eingeleuchtet, da haben sie sich wiedererkannt. Jetzt hab ich diesen fünfjährigen Johann im Jahr 1932. Da war ich nicht so sicher, ob das überhaupt vorzulesen ist. Doch es geht, sehr gut sogar. Ich muß sagen: Die Leute in diesem Land sind einfach fabelhaft. Da redet man immer vom Fernsehen – und dann kommen Abend für Abend viele hundert Menschen zu den Lesungen und hören zu und reagieren unheimlich lebendig. Toll! Es gibt noch eine literarische Gesellschaft. Das hat kein bißchen abgenommen. Wer das Gegenteil behauptet, hat keinen Kontakt mit der Wirklichkeit.

Vielleicht sind Sie eine rühmliche Ausnahme?

Walser: Nein, nein. Drei meiner vier Töchter schreiben ja auch. Sehr verschieden voneinander – und keine wie ich. Eine von ihnen schreibt sogar viel schöner, poetischer und schwieriger als ich. Und doch macht sie bei Lesungen ähnlich gute Erfahrungen.

Eine erstaunliche Familie. Haben Sie Ihre Töchter Johanna, Alissa und Theresia als Kinder zum Schreiben angehalten?

Walser: Um Gottes Willen, nein. Nicht einmal zum Lesen. Es ist halt so gekommen. Außerdem ist die Sache nicht so heiter, wie sie klingt: Ich kenne den Preis des Schreibens. Man schreibt nicht, weil es einem gut geht. Im Gegenteil.

Eigentlich wollten Sie ja keine Interviews mehr geben.

Walser: Nun ja, diese Kommentierungs-Funktion wird einem „über“ – daß man immer seine eigenen Sachen auslegen soll. Im Gegensatz zum Interview kommt beim Roman keine bestimmte Meinung heraus. Ein Roman bewegt sich schwebend und landungsscheu…




Rudi Stephans einzige Oper „Die ersten Menschen“ in Frankfurt: Tobias Kratzer entdeckt ein aktuelles Endzeitstück

BegBegehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel)ehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). Foto: Matthias Baus.

Begehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). (Foto: Matthias Baus)

Die Frau steht am Fenster und schaut hinaus auf sanft geschwungene Hügel, grüne Hecken, blühende Rapsfelder unter blauem Himmel. Im Raum waltet werkelnd ein Mann, pflegt ein Beet unter einer UV-Lampe. Ein Stromaggregat ist zu erkennen, neben der Wohnküche eine Kammer mit Dosen und Einmachgläsern. Bis zu 200.000 Prepper bereiten sich Schätzungen zufolge in Deutschland auf einen Zivilisationskollaps vor; auf der Bühne der Oper Frankfurt blicken wir in Rudi Stephans Oper „Die ersten Menschen“ auf eine Familie, die in ihrem Bunker eine solche Katastrophe überlebt hat.

Nach draußen geht der Weg über einen Schacht, der nur mit Schutzmaske erklettert wird. Die Naturidylle in den Fenstern erlischt bei einem Stromausfall und erweist sich als bloße Projektion auf LED-Screens. Frau, Mann, zwei erwachsene Söhne: die letzten Menschen stehen vor uns.

Tobias Kratzer, ab 2025 Intendant der Hamburgischen Staatsoper und ein gesuchter Regisseur („Tannhäuser“ in Bayreuth), hat das Thema der Oper virtuos umgedeutet, ohne dem Sujet Gewalt anzutun. Denn eigentlich geht es um Adam und Eva, Kain und Abel – das ist das Personal von Rudi Stephans Oper aus dem Jahr 1914. Der höchst begabte Komponist blieb 1915 in der heutigen Ukraine auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs, eines von Millionen sinnlosen Opfern; einer, dessen Genius elend ausgelöscht wurde.

Passionierte, drängende Musik

Die Sehnsucht nach dem "wilden süßen Weib":

Die Sehnsucht nach dem „wilden süßen Weib“ führt zu einem ersten Gewaltausbruch: Iain MacNeil (Kajin) und Andreas Bauer Kanabas (Adahm). (Foto: Matthias Baus)

Welches Potenzial in dem 28-Jährigen am Erwachen war, eröffnet Sebastian Weigle dem Ohr mit dem sinnlich-üppig aufblühenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester – die letzte von 38 Premieren mit ihm in 15 Jahren als Generalmusikdirektor in Frankfurt. Eine würdige Wahl: Die Epoche der in die Moderne hinüberklingenden Spätromantik liegt dem Dirigenten besonders nahe, das hat er mit Richard Strauss oder Franz Schreker bewiesen. Und der junge Rudi Stephan zeigt in jedem Moment seiner passionierten, drängenden Musik, dass er alle Mittel seiner Zeit verlegenheitslos beherrscht. Es gibt keine Durchhänger in den zweieinhalb Stunden.

Schon in der ersten Szene deckt Kratzer auf, welche psychischen Konstellationen die Beziehungen bestimmen. Auch dass die Figuren der Bühne mehr repräsentieren als ein individuelles Schicksal. Es geht um Lebenstriebkräfte, die den Zugang eines Menschen zu seiner Welt bestimmen: Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung (Eva), Arbeit und Weltgestaltung (Adam), sexuelles Begehren (Kain) und Erfahrung des Transzendenten, die sich im Begriff „Gott“ verdichtet (Abel). Das Libretto verwendet die hebräischen Namens-Umschriften Adahm, Chawa, Kajin und Chabel mit einem dialektischen Sinn: Die Personen werden näher an die jüdische Heilige Schrift gerückt, gleichzeitig markieren die Bezeichnungen eine Distanz zur christlich-lateinischen Überlieferung und zur biblischen Thematik des Sündenfalls und der gestörten Gottesbeziehung.

In diesem Setting entwickelt sich eine Familienkonstellation, die eher an Ibsen, Strindberg und Freud denken lässt als an die Bibel. Adahm ist der unermüdliche Gestalter, der auch nach der Katastrophe aus seinem Geiste die Welt „neu pflanzen“ will. Seine Emotionen sind „im Brunnen in der Brust“ tief verschüttet. Chawa formuliert nach einem an Wagners „Tristan“ erinnernden Englischhorn-Solo in großen erotisch geladenen Bögen ihre Sehnsucht nach Nähe, unverständlich für ihren Mann, der den Sinn des Lebens in Arbeit sucht, ein „höheres Eden“ schaffen will: Das „neue Kleid“ für seine Frau ist eine praktische Schürze. Explizit und von explosiver Musik drastisch unterstützt, formuliert das Libretto das Erwachen von Kajins jugendlich ungestümer Sexualität: Aus unbestimmtem Drängen – er „fühlt nicht, was es ist, und fühlt doch, es ist da“ – kristallisiert sich das Begehren, das sich auf die einzige Frau dieser hermetischen Welt, seine Mutter Chawa richtet.

Präziser Sprach-Expressionismus

Der heute völlig unbekannte Dramatiker Otto Borngräber (1874-1916) hat diese Entwicklung in der überspannt expressionistischen Sprache des Librettos ohne blumige Umschreibung ausgedrückt – so explizit, dass die Uraufführung seines Schauspiels 1912 in München zum Skandal geriet und das Stück verboten wurde. Bei aller möglichen Kritik am Pathos der Worte: Borngräber erfasst die menschlichen Triebkräfte ungeniert direkt, anders als etwa Hugo von Hofmannsthal im raunenden Ungefähr seiner allegorischen und symbolischen Verschlingungen.

Ambur Braid (Chawa) und Iain MacNeil (Kajin). Foto: Matthias Baus.

Wenn sich Kajins aggressive Suche nach der Erfüllung seines sexuellen Begehrens zuspitzt, wechselt der Schauplatz auf Rainer Sellmaiers Bühne. Im düsteren Licht (Joachim Klein) wird eine zerstörte Welt sichtbar. Baumstümpfe, ein hoch gemauerter Kamin, ein aschgrau ausgebranntes Auto. Die Gestelle von Kinderschaukeln und ein wunderhaft farbenfroh gebliebenes Aufblas-Schwimmbecken signalisieren: Hier könnte einst ein Garten Eden gewesen sein, ein Zauberland verlorener Kindheit, bevor die Schlange dem Menschen das Wissen um „Gut“ und „Böse“, die Distanz zu sich selbst und zu seiner Umwelt eröffnet hat. Hier legen Chabel und Chawa ihre Masken ab, hier kommt es in einer Mischung aus religiöser Ergriffenheit und zitterndem Begehren zum Sex. Kajin, der zu kurz gekommene Bruder, oft begleitet vom „schmutzigen“ Instrument Saxophon, erschlägt Chabel in einem urgewaltigen Ausbruch purer Verzweiflung, ohnmächtig seiner ausbrechenden Gewalt ausgeliefert. In solchen Momenten zeigt sich, wie genau Kratzer die Personen führen kann, wie gekonnt er die inneren Kräfte und Konflikte der Charaktere freilegt.

Das Ende umreißt noch einmal den ganzen Horizont des Geschehens – und Stephans Oper bezieht in ihre Dramatik Eckpunkte der Religionskritik ein, die bis heute gültige Fragen stellen. Es geht um den Begriff des Existenz Gottes: Ist „Gott“ eine grenzenlose Lüge, schaffen wir ihn uns selbst, um unserer durchs All taumelnden Welt einen Sinn zu geben? Hat alles Geschehen seinen Grund, aber der ist ein Fluch (Adahm)? Was bringt es dem Leben, wenn ich einen Begriff von Gott habe (Chawa)? Und vor allem: Ist Gott gerecht, sieht er das „blutenden Herz“ (Kajin)? Was in Borngräbers Text formuliert ist, macht Kratzer auf der Bühne erlebbar: Theaterkunst von ungeahnter Tiefe und hohem Können. Wenn am Schluss für den sich selbst kastrierenden Kajin und das Elternpaar ein „neuer Tag“ anbricht, kriechen lemurenhaft graue Gestalten aus den Trümmern der alten Welt. Einer Welt, deren Bedürftigkeit nach Erlösung aus jeder ihrer düsteren Klüfte klagt.

Entdeckungen beanspruchen Aktualität

Die Frankfurter Produktion der „ersten Menschen“ bestätigt die Erfahrung mit anderen Werken abseits des Repertoires: Eine früher gar nicht einmal erfolglose Oper, länger vergessen, erweist sich als aktuell in ihrer Korrespondenz mit drängenden Themen unserer Gegenwart. Dafür hat es in den vergangenen Spielzeiten einige überraschende Beispiele gegeben: Karol Rathaus‘ „Fremde Erde“ in Osnabrück, Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“ in Bonn, Walter Braunfels‘ „Die Vögel“ in Köln, Ernst Kreneks „Leben des Orest“ in Münster, Peter Tschaikowskys „Zauberin“ in Frankfurt, Gioachino Rossinis „Le Siege de Corinthe“ in Erfurt, Benjamin Godards „Dante“ in Braunschweig. Nicht zu vergessen eindrucksvolle Uraufführungen, von „Dog Days“ von David T. Little ebenfalls in Braunschweig über „Blühen“ von Vito Žuraj in Frankfurt bis „Dogville“ von Gordon Kampe in Essen. Keine Rede davon, dass die Kunstgattung Oper an ihr Ende gelange, was im Zusammenhang mit der eingebrochenen Kartennachfrage bei den Bayreuther Festspielen wieder herbeigeraunt wird.

Doch Frankfurt macht auch auf Rudi Stephans „eigene, neuartige Tonsprache“ – so der Kritiker Paul Bekker – aufmerksam, die sich zwischen Wagner-Erbe, Strauss-Innovation und Schreker-Sensualismus ihren Weg erkämpft. Sebastian Weigle schreitet den musikalischen Horizont ab, von Stephans Spektrum grell dissonanter Akzente bis zu smarten Akkordfolgen, wie sie zwanzig Jahre später Paul Abraham in seinen Operetten verwendet hat, von einer Klangfarbenpalette auf der Höhe der Zeit bis zu ausladenden melodischen Konstrukten für die Solisten.

Das Personenquartett ist szenisch gefordert und muss sich musikalisch im Wagner-Format bewähren. Ambur Braid als Chawa zeigt gestützte Präsenz, lässt aber auch die Anstrengung der großen Bögen in der Höhe merken. Andreas Bauer-Kanabas gibt den leidenschaftslosen Adahm präzis deklamierend, aber auch mit einer trockenen Verzweiflung, die sich hinter Pragmatismus verkriecht. Iain MacNeil hat als Kajin die komplexeste Figur zu verkörpern und realisiert sein wildes Aufbegehren, seinen verzweifelten Zynismus, aber auch das drängende Pathos der Figur mit einem in Farben und Klang imponierenden Bariton. Ian Koziara sichert die visionären Leuchtetöne des Chabel im Timbre seines Zentrums ab, die Passaggio-Übergänge und die Höhen wirken angefochten.

Die Oper Frankfurt hat mit Rudi Stephans singulärem Werk wieder einmal längst fällige Entdeckerarbeit geleistet und sich als wichtiges Kraftzentrum der Oper in Europa bewiesen. In der kommenden Spielzeit mit ihren elf Premieren setzt Intendant Bernd Loebe diese Linie fort. Während sich der Nachfolger von Sebastian Weigle als GMD, Thomas Guggeis, am 1.Oktober mit Mozarts „Le Nozze di Figaro“ vorstellt, verspricht der Spielplan mit „Le Grand Macabre“ des vor 100 Jahren geborenen György Ligeti, Mozarts Frühwerk „Ascanio in Alba“, Alexander Zemlinskys „Der Traumgörge“ und Wolfgang Fortners „In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa“ wieder erstrangige Befragungen jenseits des Mainstreams.

 




„Lyriksalven pflügen sich kometenhaft ins Gedächtnis“ oder: Höhenflüge beim Poetry Slam

Nur mal so als Beispiel fürs Genre: Sebastian Rabsahl, deutschsprachiger Meister im Poetry Slam 2008, bei einem Slam-Auftritt in Kiel, 2016. (Foto: Wikimedia Commons, © Ichwarsnur / Marvin Radke) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en

Es ist schon sehr lange her, doch erinnere ich mich gut, wie uns schon in den Einführungs-Veranstaltungen des Germanistikstudiums eingeschärft wurde, doch bitte Worte wie „Dichtung“ und „Dichter“ (vom Gendern war noch keine Rede) nicht weiter zu verwenden. So erhaben und feierlich sollte es nicht mehr zugehen, denn derlei Tremolo-Stimmung war oft genug missbräuchlich verwendet worden.

Daher die im Grunde nachvollziehbare Kehrtwende. Schlicht und einfach „Texte“ sollte es fortan heißen; ganz gleich, ob es nun um Lyrik von Hölderlin und Rilke oder einen Artikel der „Bild“ ging. Mit solch nüchterner Nivellierung ging vielleicht auch eine – einstweilen noch unbeabsichtigte – unterschwellige Einebnung, wenn nicht gar Wertminderung schriftstellerischer Schöpfungen einher. Wenn eh alles eins ist, kann ja auch alles Literatur sein. Und überhaupt: „Jeder Mensch ist ein Künstler“, so lautete ja jene oftmals falsch verstandene Beuys-Parole, die seither im Schwange war.

Es war wohl e i n e der Voraussetzungen für den Aufstieg dessen, was wir seit einiger Zeit als popkulturelle Haupt-Erscheinungsform von Literatur kennen: Poetry Slam. Wörtlich könnte man’s ungefähr mit „Dichtungs-Kracher“ übersetzen. Aber das scheint in Zeiten, in denen sich nahezu alle als perfekt Englisch-Sprechende gerieren (haha!), wohl herzlich überflüssig zu sein.

Poetry Slam also. Gern in Form einer Stand-Up-Comedy-Darbietung (ähnlich wie beim Impro-Theater), in jedem Falle bühnentauglich. Das Publikum muss trampeln und johlen, sonst war es eigentlich nix. Na gut, manchmal darf es auch ein wenig ergriffen sein. Selbst Bewerbungen um Stadtschreib-Posten sollten tunlichst Hinweise auf „Skills“ in Poetry Slam und allfällige Diversität enthalten, sonst sinken die Chancen erheblich.

Die Urheberinnen und Urheber sitzen nicht mehr (oder allenfalls nebenbei) im stillen Poesie- oder Prosa-Kämmerlein und schreiben empfindsam vor sich hin, sondern betreten am liebsten gleich die Bretter und hauen ihre Zeilen beherzt ‚raus. Keine Frage, dass es dabei auch etliche Könnerschaft zu bewundern gilt. Doch es sind inzwischen dermaßen viele Slammer(innen) unterwegs, dass auch viele Dilettierende unter ihnen sind, ja sein müssen. Wie auf jedem anderen Gebiet menschlichen Schaffens auch. Was willst du denn mal werden: Influencender oder Slammerin?

Hehre Kunst der Überleitung: Just heute erreicht uns eine über die Maßen wortmächtige Pressemitteilung aus der Ruhrgebiets-Gemeinde Herne, Absender ist die Organisation WortLautRuhr. Sozusagen mit Pauken und Trompeten wird die Tatsache verkündet, dass mit 16 Veranstaltungen auf acht Bühnen vom 27. bis 30. Oktober 2023 in Bochum die „deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam“ stattfinden, und zwar mit dem Einzelfinale in der „prestigereichsten Location des Ruhrgebiets“. Nun ratet! Welche Location könnte das denn sein? Die Weltkulturerbe-Zeche Zollverein in Essen? Das Dortmunder Westfalenstadion? Das Schauspielhaus Bochum?

Weit gefehlt. Nach dieser Lesart ist es das Bochumer Starlight Express-Theater. Das Kriterium muss also viel mit Show und manches mit Remmidemmi zu tun haben. Egal. Die Leute, die bei der Meisterschaft antreten, kämen jedenfalls „aus allen 7 deutschsprachigen Ländern“ – wobei schon zu fragen wäre, ob etwa Bayern, Sachsen und Thüringen jeweils einzeln mitgezählt werden. Nun ja, ebenfalls egal.

Bei der Beschreibung dessen, was Poetry Slam sei, greifen die Macherinnen und Macher des gastgebenden WortLautRuhr jedenfalls mächtig in die Harfe. Drum wollen wir es abschließend in Form lyrischer Hervorbringungen hierher setzen. Poetry Slam erzeuge immer wieder „Internet-Hypes“ (gähn!), es dränge jede Menge „hungriger Nachwuchs“ (puh!) auf die Bühnen. Und dann, alles wörtlich zitiert:

Poetry Slam ist Party,
Poetry Slam ist Emotion.
Hier haut einen die geballte Wortgewalt
und Performance-Ekstase von den Sitzen,
Lyriksalven pflügen sich
kometenhaft ins Gedächtnis,
Lachmuskelkater garantiert.

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Infos:

www.wortlautruhr.de
www.slam23.de

 




Jane Birkin – Fülle des Lebens

Jane Birkin, wahrhaftig eine Ikone ihrer Generation, ist mit 76 Jahren gestorben. Aus diesem traurigen Anlass nochmals der Text einer Kurzbesprechung, die erstmals am 16. Februar 2008 in der Westfälischen Rundschau erschienen ist:

Wenn Jane Birkin singt, sind Geister gegenwärtig. Dann wird Musik schon mal zur gehauchten Beschwörung.

Nein! Diese knabenhafte Frau in Cargo-Hosen und T-Shirt, die fast zwei Stunden ohne Pause auf der Bühne des Dortmunder Konzerthauses steht, kann keine 61 Jahre alt sein. Niemand mag es glauben.

Und besagte Geister? Nun, natürlich schwingt vor allem die Erinnerung an ihren langjährigen, 1991 gestorbenen Lebens- und Bühnenpartner Serge Gainsbourg mit. Obwohl sie sich einst von ihm getrennt hat: Diese Liebe wirkt spürbar nach – schier grenzenlos. Jane Birkin ist denn auch so klug, seither mit keinem anderen das berüchtigte Stöhn-Lied „Je t’aime – moi non plus…“ (Skandal von 1969) darzubieten. Darauf müssen wir also verzichten.

Sonst aber enthält das Konzert so ziemlich alles, was man sich von ihr wünschen kann. Flankiert wird sie von einem famosen Trio: Die drei Herren beherrschen neben Klavier, Gitarre, Geige und Schlagzeug manche andere Instrumente virtuos. Eine ideale Tragfläche für Jane Birkins sanft-brüchigen Gesang, der zwischen Liebes-Melancholie und kindlicher Freude etliche Schattierungen umfasst.

Eine Glockenstimme hat Jane Birkin nicht. Aber es klingt ihre ganze Lebensfülle an – und das ist mehr. In dieser Liga, in die auch eine Marianne Faithfull gehört, zählt erfahrene, erlittene Individualität. Auch politische Appelle (gegen die Diktatur in Birma) haben da ihren Platz, weil sie von Herzen kommen.

Sie trifft genau die richtige Mischung aus englischen und französischen Akzenten, angejazzten Rock- und Chanson-Elementen. Titel aus neueren Alben und Rückgriffe bis in die 70er Jahre runden sich zum bewegenden Ereignis. Bravo!




Liverpool zwischen Beatles und „Kloppo“

Beatles-Skulpturen an den Gestaden des River Mersey in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal ein paar Zeilen, die so gar nichts mit dem Ruhrgebiet zu schaffen haben – und „irgendwie“ dann doch. Bin jetzt auf einer England-Reise endlich mal einen Tag lang in Liverpool gewesen.

Erwähnt man dort, dass man aus Dortmund kommt, hellen sich manche Mienen auf. Denn alle, die auch nur ansatzweise „Ahnung“ von Fußball haben, wissen natürlich, dass Jürgen Klopp – vor seiner Zeit beim FC Liverpool – Borussia Dortmund meisterlich trainiert hat. Es ist, als schlinge dieser Sachverhalt ein imaginäres Band um beide Städte, auch wenn Dortmunds eigentliche englische Partnerstadt Leeds ist. Aber die sind abgestiegen (unqualifizierter Zwischenruf: „Wie Schalke!“).

Allgegenwärtiger „Kloppo“: „Jürgen’s Bierhaus“ in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Mitten in Liverpool mit seinen (auch baulich) imposanten Museen steht man plötzlich vor einem Pub namens „Jürgen’s Bierhaus“. „Kloppo“ scheint an der Merseyside allgegenwärtig zu sein. Und kaum minder beliebt als einst in Dortmund. Man hat schon etwas über das Phänomen gelesen, hier aber erfährt man es direkt. Apropos: Zweierlei Einschätzungen sind uns im Vorfeld begegnet. Die eine kam von einer gebürtigen Liverpoolerin (deren Bruder ausgerechnet in Dortmund lebt), die ihre „Liverpudlians“ in höchsten lokalpatriotischen Tönen als warm und herzlich pries. Eine andere, südenglische Betrachtungsweise klang hingegen wie eine gelinde Warnung: Bewohner Liverpools, hieß es von jener Seite, seien oft ziemlich direkt und rau („rough“) im Umgangston. Damit sollten Revierbewohner freilich nur begrenzt Probleme haben. Ein offenes Wort wird hier wie dort gepflegt.

Typische Location im Touristenviertel. (Foto: Bernd Berke)

Mit Liverpool war doch noch etwas? Aber ja! Besucht man Liverpool erstmals, so ist selbstverständlich mindestens eine der diversen Führungen auf den Spuren der Beatles zu absolvieren. Unser Guide war eine Frau, stammte aus Irland, bekannte sich fußballerisch zum Lokalrivalen FC Everton, ließ aber Jürgen Klopp notgedrungen gelten. Viel wichtiger: Sie kannte so manche Anekdote zum Leben und Wirken der unvergleichlichen Band – vor allem über ihren erklärten Lieblings-Beatle John Lennon (einverstanden!) und seinen sehr „komplexen Charakter“, die Fährnisse rund um Yoko Ono inbegriffen. Mindestens fünf Mal hat unsere Bärenführerin im Laufe der fast dreistündigen Tour gesagt: „They’ve changed the world.“ Nun, was die damalige Musik und Jugendkultur angeht, ist das nicht übertrieben.

Mit der Musik der Beatles aufgewachsen, habe ich bislang immer „Sgt. Pepper“ und das „White Album“ für die absoluten künstlerischen Höhepunkte gehalten. Was ja auch durchaus stimmen dürfte. Seltsam unterschätzt habe ich jedoch die LP „Revolver“, trotz aller langjährigen Hörpraxis. In dieser Hinsicht hat mir der Rundgang mit Hinweisen der buchstäblich bewanderten Expertin Augen und Ohren geöffnet. Sie hat unbedingt recht: „Revolver“ war, vor den folgenden Höhenflügen, bereits ein Auf- und Durchbruch zu anderen Sphären. Eine gar späte Einsicht, nicht wahr?

Noch so eine Kultstätte. (Foto: Bernd Berke)

Rund 60 Jahre ist es her, dass die Beatles 1963 die Charts umkrempelten und eine Massenhysterie auslösten. US-Präsident John F. Kennedy wurde im November 1963 in Dallas erschossen und es war, als hätten die Beatles (die weder „Fab Four“ noch „Pilzköpfe“ genannt werden sollten) die westliche Welt aus dem damaligen Stimmungstief gerissen. Es musste sie einfach geben. Genau damals. Und genau so, wie sie gewesen sind. Bis sie so wurden, wie sie ewig in Erinnerung bleiben werden, hat es allerdings seine Zeit gedauert. Etliche Einflüsse, Umstände und Menschen mussten „zufällig“ zusammenkommen, um das Wunder zu bewirken. Die Vorläufer-Bands sollen anfangs fürchterlich geklungen haben, doch nach und nach hat sich das gegeben. Und wie!

Kraftvoller Auftritt: Impression aus dem Liverpooler Museumsviertel. (Foto: Bernd Berke)

Gewiss: In bestimmten Straßenzügen von Liverpool (rund um den „Cavern Club“ etc.) werden Touristen aus aller Welt dermaßen unablässig beschallt, dass viele es offenbar nur mit alkoholischer Betäubung durchstehen bzw. zu steigern versuchen. Man muss es ja nicht über sich ergehen lassen.

Der leider zu kurze Aufenthalt hat mich jedenfalls im Gefühl bestärkt, dass zwei der großartigsten kulturellen Dinge in meiner Generation just aus England zu uns gedrungen sind: die Beatles (sowie viele andere Combos neben und nach ihnen) – und Monty Python’s Flying Circus. Na gut, mit den Filmen der Nouvelle Vague haben auch Franzosen einiges zum positiven Lebensgefühl hinzugefügt. Und Deutschland? Nun, Robert Gernhardt und die Neue Frankfurter Schule waren gleichfalls nicht zu verachten. Was einen halt so geprägt hat.




Mit „Normalos“ durch die Hölle – Heinz Strunks Geschichtenband „Der gelbe Elefant“

Claudia und Andi treffen Olli und Melli „beim Griechen“. Ach, wie putzig das schon klingt. Es geht in dieser Auftaktgeschichte um zwei „Pärchen“ in Lübeck. Bekanntschaft aus dem Korfu-Urlaub. Nun sondern sie beim arg misslingenden Wiedersehen dermaßen belangloses Zeug ab („super“ und „toll“ sind fast noch die klügsten Einlassungen), dass es einen beim Lesen recht ordentlich quält.

„Bitte! Jetzt nicht auch noch das!“ So möchte man den Autor anflehen. Doch ein Heinz Strunk gibt kein Pardon. Er zieht die Sache mal wieder gnadenlos durch und beleuchtet seelische Trümmerhaufen gerne grell. Schmerzlich nahe kommt er dabei einem landläufigen „Normalo“-Sound.

Auch im weiteren Verlauf seines Erzählbandes „Der gelbe Elefant“ spürt er mit Vorliebe das Normale im Bizarren und das Bizarre im Normalen auf. Da ist zum Exempel der total gefühllose Typ in Bitterfeld mit seinem Kampfhund namens „Tyson“, der einen Kevin zu Tode beißt. Alles, was dem Hundebesitzer dazu einfällt, ist ein genervtes „Och nö“.

Familiäre Zusammenkünfte sind unterdessen fürchterlich leblos, mit zunehmendem Alter werden die Menschen unerträglich ranzig. Ihre Gesprächsversuche bröckeln und bröseln nur noch dahin. Einsam sind sie sowieso; auch dann, wenn sie zusammenhocken.

Zwischendurch ereilen uns die bodenlos dämlichen Mail-Texte des aufgekratzten Schriftsteller-Groupies Carola, die den Autor (Heinz heißt er!) zu gesellschaftlichen Aktivitäten in ihrem Schlepptau anstacheln will. Und ja, sie fasst ihre Vorstellung vom gelingenden Leben tatsächlich in grenzdebile Wendungen wie „lachi lachi spaßi spaßi saufi, saufi“. Auch da winken Lesende wohl ermattet ab. Gnade! Aufhören! Genug!

Dabei müsste man Heinz Strunk eigentlich danken, dass er sich solcher Themen annimmt, die die meisten anderen scheuen. Aber erhebt er sich etwa manchmal auch über die leider nicht „schweigende Mehrheit“? Ja, soll er sich denn empathisch mit allen gemein machen? Auch mit jenen mehrfach auftretenden, hoffnungslosen Nerds oder Schlaffis, die schon in ihren jungen Jahren am Ende sind?

Strunk, ein Erzähl-Berserker vor dem Herrn, scheint beim Schreiben ein gehöriges Maß an Aggression zu mobilisieren. Er schickt seine Figuren durch die Hölle, zuweilen auch mitten hinein. Beispielsweise den vermeintlich kerngesunden Fitness-Freak und Selbst-Optimierer Werner (75), der eine Osteoporose-Diagnose ignoriert, sich folglich beim Workout die Gräten bricht und nicht mehr hochkommt. Nun eine abermals quälende Schilderung: 23 Tage harrt dieser total vereinsamte Mensch vor Schmerzen wimmernd und ohne Nahrung aus. Dann sollen endlich die Leute kommen, die seine Wohnung termingerecht übernehmen wollen…

Grässlich spannend auch die Story über jenen Motivationstrainer und „Keynote-Speaker“ mit „Arschloch-BMW“, der sich vor einem lukrativen Vortragstermin mal eben das Neandertal bei Düsseldorf anschauen will. Er verirrt sich, gerät in ein fast undurchdringliches Gestrüpp, schlägt sich wütend hindurch – und begegnet auf der anderen Seite veritablen Vorzeitmenschen, die ihn fesseln und offenbar fressen wollen… Kann er sie mit seiner geschulten Überredungs-Stimme zur Umkehr bewegen?

Mehr wird hier nicht verraten – auch nicht, was es mit dem gelben Elefanten auf sich hat. Die Grundrichtung des (dennoch abwechslungsreichen) Bandes dürfte klar sein. Es wäre zu empfehlen, dieses Buch in gefestigter seelischer Stimmung zu lesen. Nanu! Habe ich jetzt womöglich eine dieser blöden „Trigger-Warnungen“ ausgesprochen? Sorry, soll so bald nicht wieder vorkommen.

Heinz Strunk: „Der gelbe Elefant“. Rowohlt. 208 Seiten, 22 Euro.

 

 




Keine Heimlichkeiten mehr! Spickzettel sind in Dortmund museumsreif

Schulmuseumsleiter Michael Dückershoff zeigt einen Spickzettel, der in einer Schutzmaske steckt. Eine solche Schummel-Gelegenheit ergibt sich wegen der ausgelaufenen Vorschriften nicht mehr so leicht. (Foto: Katrin Pinetzki/Stadt Dortmund)

Ganz gleich, ob man früher damit durchkam oder gelegentlich erwischt worden ist, lässt diese Nachricht jedenfalls aufhorchen: Das Westfälische Schulmuseum zu Dortmund kann eine besondere Kollektion aufstocken, nämlich die von Spickzetteln.

Jawohl! Gemeint sind diese knittrigen Papierchen, die zwischen Schulbank und Hosentasche (oder wie auch immer) heimlich hervorgenestelt und beäugt wurden, um vor allem lästige Formeln oder Vokabeln parat zu haben. Sonderlich viel geholfen hat’s ja meistens nicht, oder?

Damit das geklärt ist: Geschicklichkeit im Umgang mit diesem speziellen Informations-Medium, von dem sich die Handy-Generationen keinen Begriff mehr machen, dürfte einen mehr übers späterhin Lebens-Notwendige gelehrt haben, als so manche Lektion vom offiziellen Lehrplan. Aber das bleibt jetzt unter uns.

Spick-Leporello im Anspitzer, präsentiert von Dr. Bernd Apke, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Westfälischen Schulmuseums. (Foto: Katrin Pinetzki/Stadt Dortmund)

Besagte Dortmunder Spickzettel-Sammlung kann also um rund 250 Exemplare erweitert werden, die aus dem Berufskolleg St. Michael in Ahlen/Westfalen stammen. Johannes Gröger, Lehrer und Schulseelsorger daselbst, hat seinen papierenen Schatz ans Museum übergeben. Nicht nur klassische Zettel mit möglichst winziger Schrift gehören dazu, sondern auch – wie die Stadt Dortmund anerkennend mitteilt – „sehr originelle und kreative Versuche, während der Klassenarbeit mithilfe von Taschentüchern, Getränkeverpackungen oder Anspitzern zu schummeln“.

In Zeiten, da auch Audios beim Spicken eine Rolle spielen und KI-Instrumentarien wie ChaptGPT schon mal für Hausarbeiten bemüht werden, mutet die Zettelwirtschaft geradezu liebenswert altmodisch an.

Das Westfälische Schulmuseum will die einschlägige Sammlung weiter pflegen und sucht noch Nachschub. Na, wie sieht’s damit bei Euch und Ihnen aus? Wie bitte? Nie gebraucht, so’n Zeug? Jetzt auch noch abstreiten und flunkern! Das gibt einen saftigen Tadel im Klassenbuch.

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Info:

Westfälisches Schulmuseum, An der Wasserburg 1 in 44379 Dortmund-Marten, Tel. 0231/613 095. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr, freier Eintritt. In den Sommerferien (NRW 22.6. bis 4.8.) geschlossen.

Das Museum beschränkt sich natürlich nicht auf Spickzettel, sondern beherbergt generell eine der bundesweit größten schulgeschichtlichen Sammlungen. Zum Programm gehören u. a. regelmäßige „Unterrichtsstunden“ im autoritären Stil früherer Zeiten. Damals war’s bestimmt fürchterlich, nachgespielt ist’s ziemlich amüsant.

Zur Zeit läuft im Schulmuseum die Sonderausstellung „Talking ‚bout my Generation – Der Aufbruch der Jugend in den 1960er und 1970er Jahren“ (bis 22. Oktober 2023).

schulmuseum.dortmund.de




Diese oft bizarre Republik – Robert Lebecks Fotoband „Hierzulande“

Fast so rätselhaft wie einer seiner Thriller: mysteriöser „Fingerzeig“ für Alfred Hitchcock in der deutschen Bahn – das Cover von Robert Lebecks Foto-Bildband „Hierzulande“. (© Robert Lebeck / Steidl Verlag)

Es beginnt 1955 mit Momenten einer (nachträglichen) „Geburtsstunde“ der Bundesrepublik Deutschland, die den Krieg „endgültig“ hinter sich zu lassen glaubte. Der Fotograf Robert Lebeck (1929-2014), damals gerade 26 Jahre alt, lieferte für die Zeitschrift „Revue“ Aufnahmen der letzten deutschen Kriegsgefangenen, die aus russischen Lagern zurückkehrten.

Ausgemergelt, sichtlich erschöpft, in einheitliche Wattejacken gekleidet, so kamen sie mit notdürftigen Holzkoffern ins fremd gewordene Heimatland. Und nun schaue man, wie sie ihre Familien wiedersehen, welche Freudentränen da fließen, welches Befremden sich jedoch auch allseits zeigt und wohl nicht offen zu zeigen wagt. Schließlich: wie fieberhaft verzweifelt wartende Menschen ihre Männer, Väter, Söhne, Geschwister und Freunde unter den Rückkehrern suchen.

Auch sonst hat Lebeck, der seit den frühen 1960er Jahren besonders durch seine Arbeit für den seinerzeit stilbildenden „Stern“ bekannt geworden ist, viele prägsame Augenblicke der frühen Bundesrepublik mit untrüglichem Gespür erfasst – selbstverständlich im authentisch wirkenden  Schwarzweiß. Diese Bilder sind tief in ihrer Zeit verwurzelt. In der Diktion von damals könnte man vielleicht vom „Antlitz der Zeit“ sprechen. Oder halt vom herrschenden Zeitgeist.

Enthemmung im „Wirtschaftswunder“

Ganz anders als beim ernsten Auftakt mit den Kriegsheimkehrern geht es in dem Bildband „Hierzulande“ weiter: Wir sehen Szenen von feuchtfröhlichen, um nicht zu sagen saufseligen Busausflügen ins Weinörtchen Altenahr. Bizarre Enthemmung im sogenannten „Wirtschaftswunder“. Eine Luxusvariante folgt etliche Seiten später: Lebeck lichtete 1962 mit nötiger Diskretion, doch auch im übertragenen Sinne „enthüllend“, die Nackten und Reichen von Sylt ab.

Auch nimmt uns das Buch mit ins hessische Friedberg, wo am 1. Oktober 1958 Elvis Presley seine Dienstzeit als US-Soldat antrat. Robert Lebeck wartete ab, bis der Pulk der Foto-Kollegen abgereist war und Elvis zugänglicher wurde. Nun bekam er ganz spezielle Motive mit dem Weltstar. 1959 gelangen ihm ikonische Bilder der Operndiva Maria Callas, 1960 ließ sich in Hamburg kein Geringerer als Alfred Hitchcock von Lebeck in sinistren Situationen fotografieren, die der Filmregisseur allerdings gleichsam „mitinszenierte“ und die daher stets etwas ungreifbar Mysteriöses an sich haben. Aus späterer Zeit folgen noch geradezu entwaffnende Aufnahmen von Romy Schneider.

Unverkennbar Konrad Adenauer

Doch beileibe nicht nur mit Stars konnte Lebeck menschlich und bildnerisch umgehen. Auch der (un)gewöhnliche Alltag erschloss sich seiner Kamera oder vielmehr: seinem feinen und wachen Empfinden. Ostberliner auf Einkaufstour durch Westberlin – kurz vor dem Mauerbau. All die (vergleichsweise noch bescheidenen) Lockungen des Westens. Sodann die 1961 entstandenen Milieustudien auf der Reeperbahn und vom Hamburger Fischmarkt. Es ist eine versunkene Welt, die Lebeck da festgehalten hat. Doch einige Bilder deuten darauf hin, dass das Vergnügungsviertel in gewisser Hinsicht auch ein Soziallabor gewesen sein könnte. Grandios jenes freche „Fräulein“, das die verschämt amüsierten männlichen Passanten um den Finger wickelt. Stichwort erwachendes weibliches Selbstbewusstsein. Stichwort freizügige Sexualität in immer noch arg verklemmten Zeiten. Freilich zumeist im Zeichen des Geldes.

Die Polit-Prominenz in der Bonner Republik kommt ebenfalls gebührend vor. Winston Churchill hält 1956 im Palais Schaumburg Hof. Frappierend Konrad Adenauers Konterfei, an seinem 90. Geburtstag über die Schulter eines Gesprächspartners hinweg fotografiert. Es zeigt nur einen Bruchteil seines gleichwohl unverkennbaren Gesichts. Ein meisterhaftes Bildnis. Nicht minder typisch und sozusagen „den ganzen Filou“ enthaltend: Willy Brandt beim Flirt mit einer jungen Frau im Speisewagen der Bahn. Dann aber auch seine bittere, resignierte Miene 1974. Es war am Tag seines Rücktritts als Bundeskanzler, im Zuge der Guillaume-Affäre. Und Helmut Kohl? Wird 1976 in selbstgefälliger Pose ausgerechnet im Ruhrgebiet „erwischt“, wo dergleichen Mache am allerwenigsten hingehört…

Der Zeitbogen reicht bis 1983. Da hatte Robert Lebeck den Auftrag, ein Porträt des Landes in Bildern zu entwerfen – wahrlich keine leichte Aufgabe. Heraus kam das vielfältig aufgefächerte Bild einer oft eher grotesken Republik, mit merklichem Schwerpunkt auf Ödnis und Verwahrlosung. Die „Bild“-Zeitung erregte sich seinerzeit über die „Nestbeschmutzung“. Mit anderen Worten: Lebeck kann – um das Mindeste zu sagen – auch hierbei nicht ganz falsch gelegen haben.

Robert Lebeck: „Hierzulande“. Reportagen aus Deutschland. Foto-Bildband. (Hrsg.: Cordula Lebeck). Mit einem Essay von Daniela Sannwald. Steidl Verlag. 192 Seiten im Format 20 x 28,5 cm, Hardcover. 35 Euro.

Das Buch begleitet eine Ausstellung in der Kunsthalle Lüneburg, die noch bis zum 25. Juni 2023 dauert.

 

 

 

 




Ungeahnte Leuchtkraft der Farben – Heinz Mack (92) stellt in Hagen aus

Der Künstler Heinz Mack (92) und Hagens Osthaus-Museumsdirektor Tayfun Belgin (li.) vor einem Bild von Mack. (Foto: Bernd Berke)

„Ich bin ein stolzer Maler!“ Das sagt der heute 92-jährige Künstler Heinz Mack im Hagener Osthaus-Museum. Dort zeigt er rund 70 neuere Arbeiten, die von ungebrochener Vitalität zeugen.

Seine künstlerischen Anfänge reichen weit zurück. 1957 gründete er mit Otto Piene die Avantgarde-Gruppe ZERO, der sich bald darauf auch der „Nagelkünstler“ Günther Uecker anschloss. Heinz Mack hat sich schon 1963 von der Tafelmalerei verabschiedet und sich vollends auf Skulptur und Kinetik verlegt. Damals sah nicht nur er die Malerei „am Ende“. Doch um 1991 hat er wieder zu malen begonnen und ist bis heute dabei geblieben.

Mack betrachtet sein Oeuvre nicht chronologisch. In Japan habe er die asiatische Sichtweise kennengelernt. „Dort denkt man nicht linear, sondern in Zyklen.“ Auch sein Werk zeichne sich durch kreisende Wiederkehr aus, nicht durch fortschreitende Entwicklung. Von einer Wiederholung des Immergleichen kann jedoch nicht die Rede sein. Mack selbst spricht von der „Kraft des Wachsens“.

Heinz Mack in seinem spanischen Atelier neben einer 2022 entstandenen „Chromatischen Konstellation“. (Foto: © Courtesy Archiv Atelier Mack)

Seit Picasso, so Mack weiter, gehe es in der Kunst nicht mehr um Komposition, sondern um Strukturen. Dieser Entwicklung habe auch er sich nicht entziehen können. Deutlich wird dies in seriellen Mustern seiner Reliefs oder in subtilen Farbstufungen seiner meist titellosen Bilder. Vor allem die Übergänge zwischen verschiedenen Farben erprobt er bis in alle Nuancen.

Eigentlich inspiriere ihn alles, sagt der Künstler. Er gehe „mit offenen Augen durch die Welt“ und orientiere sich an der Natur, auch im mikroskopischen Bereich. Gerade da zeigten sich die wunderbarsten Strukturen. Es sind Anregungen sondergleichen.

Ein Raum der Osthaus-Schau verblüfft mit großformatigen Bildern in Schattierungen von Schwarz, Weiß und Grau. Selbst diese Tönungen beginnen auf ihre Art zu leuchten. Erst recht erstrahlen die farbstarken Arbeiten. Heinz Macks Bekenntnis: „Licht i s t eine Farbe“. Ergo: Farbe zeichne sich vor allem durch Leuchtkraft aus.

Glücklicher Moment: Heinz Mack umarmt seine Tochter Valeria in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Heinz Mack lebt auf einem Anwesen bei Mönchengladbach (und auf Ibiza): „Ich bin da von lauter Frauen umgeben, die mir bei der Arbeit helfen.“ Allen voran seine Ehefrau Ute und seine Tochter Valeria, die Kunstgeschichte studiert hat, zur Vorbesichtigung nach Hagen kam und vom Vater beim Pressetermin ganz spontan herzlich umarmt wurde. Ein anrührender Moment.

Neben der täglichen Malerei beschäftigen ihn vor allem archivarische Katalogisierungen seiner Werke, die sich auf fünf größere Lagerstätten verteilen. Hinzu kommen viele, viele seiner Bilder und Objekte in über 140 öffentlichen Sammlungen. Der Mann hat mehr als 400 Einzel- und zahllose Gruppenausstellungen absolviert. Wie soll da jemand den Überblick behalten? Sogar der Künstler selbst tut sich da manchmal schwer. Der Schöpfer ist eben höchstens in zweiter Linie Archivar.

Heinz Mack – „Das Licht in mir“. Bis zum 3. September 2023 im Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navi-Info: Hochstraße 73). Geöffnet Di-So 12-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 7 Euro, diverse Ermäßigungen. Telefon 02331 / 207 3138.

www.osthausmuseum.de




Aufrecht in den Feuertod: „Sardanapal“ nach Lord Byron an der Berliner Volksbühne

Eher Zauderer und Schöngeist als Wüstling: Szene mit Fabian Hinrichs als „Sardanapal“. (Foto: © Apollonia Theresa Bitzan / Volksbühne)

Seine Schauspiel-Karriere startete Fabian Hinrichs einst an der Berliner Volksbühne. Mit Frank Castorf und René Pollesch hat er manch wüste Theaterschlacht geschlagen. Auch wenn er inzwischen zum Film- und Fernseh-Star und „Tatort“-Kommissar avanciert ist, kommt er immer wieder gern an die Stätte seiner ersten Triumphe zurück. Jetzt sogar als Regisseur und Schauspieler in Personalunion. Er hat ein fast vergessenes Werk ausgegraben und inszeniert an der Volksbühne ein von Lord Byron verfasstes Drama: „Sardanapal“.

Es ist eine historische Tragödie des Dichters und Erotomanen, der für seine Affären mit Männern und Frauen berüchtigt und ein notorischer Abenteurer und glühender Verfechter nationaler Freiheits-Bestrebungen war. Als Vorlage dient der Assyrerkönig Sardanapal, doch Byron verwandelt den prunksüchtigen Wüstling in einen zögerlichen Schöngeist, einen Hamlet im orientalischen Gewand, der sich nicht dazu aufraffen kann, den Putschisten, die ihn ermorden und sein Königreich vernichten wollen, mit dem Schwert entgegen zu treten. Statt zu handeln sucht er lieber auf einem selbst errichteten Scheiterhaufen den Feuertod.

Gegen jede Form von Herrschaft

Zusammen mit Lilith Stangenberg feiert Hinrichs nun ein Fest der Fantasie, eine groteske Theater-Burleske mit Musik und Tanz. Bevor Sardanapal zum entrückten Typen wird, der jede Form von Herrschaft und Unterdrückung ablehnt, sich selbst und sein Reich der toxisch verminten Männlichkeit abschaffen möchte, lassen es alle noch mal richtig krachen: Damit das schön laut und bunt wird, bietet Hinrichs viele Musiker und Tänzer und ein gut gelauntes Jugend-Sinfonieorchester auf.

In einem endlosen Vorspiel tanzt Hinrichs zu lautem Punk wilden Pogo und bollert gegen den geschlossenen Eisernen Vorhang. Wenn der sich hebt, hockt Lilith Stangenberg missmutig in einem Supermarkt an der Kasse und fertigt die Kunden ab, bis Hinrichs auftaucht und sie nach ihren Träumen fragt. Flugs wirft sie ihren Alltagstrott ab, wünscht sich in südliche Gefilde, suhlt sich im Sand und sagt Gedichte auf, während sie von Musikern und Tänzern umzingelt wird.

Durch die Fantasiewelt tanzen

Hinrichs mutiert derweil zu einem Apostel des Pop, malträtiert sein Schlagzeug und singt, begleitet von Sir Henry am Klavier, von „Sex & Drugs & Rock´n´Roll“. Irgendwann werden die Potemkinschen Fassaden des Supermarkts abgeräumt, wird die Bühne in ein Märchen aus Tausendundeinenacht verwandelt, werden König Sardanapal und seine Gattin Myrrhe in orientalische Gewänder gekleidet und in eine Fantasiewelt aus bunten Tüchern und sanften Kissen entlassen. Während tanzende Rebellen Schwerter schwingen, genießt Sardanapal die erotischen Spiele in seinem Harem, süffelt köstlichen Wein und lehnt es ab, zu fliehen. „Ich will keine Angst haben!“ ruft er und nimmt noch schnell ein labendes Bad. Dann ist die Party vorbei, und er stolziert aufrecht in den Flammentod.

Ganz großes Kino. Fast möchte man eine Träne verdrücken, doch schon setzt das eben noch tieftraurige Orchester neu an und intoniert Abba: „Dancing Queen“. Da müssen dann alle mitsingen und mittanzen bei diesem als Theater getarnten Kindergeburtstag. Der Versuch, eine Bühnen-Leiche zu reanimieren, als Lebenselixier der Freiheit wieder zu entdecken und als subversive Flaschenpost in die Gegenwart zu schmuggeln, ist dann doch nicht viel mehr als ein Rohrkrepierer.

Berlin, Volksbühne: „Sardanapal“ (Fabian Hinrichs nach Lord Byron). Nächste Vorstellungen: 19. und 24. Juni.




„Rheinaufwärts“: Franz Hohlers Wanderungen ins Unscheinbare

Der Titel führt ein wenig in die Irre. Wenn ein Buch „Rheinaufwärts“ heißt, erwartet man wohl eine Tour von der Quelle bis zur Mündung – oder wenigstens auf wesentlichen Teilen dieser Strecke. Doch der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler (Jahrgang 1943) vollführt seine Wanderungen praktisch nur in eidgenössischen oder unmittelbar benachbarten Gefilden. In seinem Buch geht es überhaupt ausgesprochen gemächlich und betulich zu.

Begonnen hat Hohler seine Wege bei Schaffhausen und Stein am Rhein im Mai 2020, zur Frühzeit der Corona-Pandemie. Es geschieht gar wenig Aufregendes. Praktisch jede Einkehr zum Kaffeetrinken wird anfangs erwähnt. Bald wissen wir auch, dass Hohler gern Apfelschorle trinkt. Dass er zwischendurch die eine oder andere Lesung absolviert. Und dass er verheiratet ist. Seine Frau wird gelegentlich als solche genannt, allerdings stets ohne Vornamen. Immer und immer wieder erwähnt Hohler die Autobahnen, die das Rhein-Erlebnis stören, wenn sich der Fluss in seinem Vorfeld nicht ohnehin den Blicken entzieht. All das mag man wohlwollend „unprätentiös“ nennen, aber ist es nicht auch langatmig?

Im Grenzgelände zwischen Schweiz, Österreich und Liechtenstein hat sich der Autor Ortschaften erwandert, von denen Deutsche, zumal nördlicherer Herkunft, schwerlich gehört haben werden. Auch in diesem Sinne wäre es hilfreich gewesen, dem Band eine Übersichtskarte beizugeben. Sie hätte recht klein ausfallen können, denn der in Zürich lebende Hohler tritt immer wieder aufs Neue Bahnfahrten zu den Wegmarken an, ohne sich deutlich nordwärts zu bewegen. Düsseldorf wird nur einmal erwähnt. Bonn kommt nur im fünfzeiligen Epilog vor wie ein Gerücht, Köln überhaupt nicht. Dass der Rhein zum Meer strebt, sagt sich auch nur so dahin.

Hie und da spürest du kaum einen Hauch von Ironie am Wegesrand. Ansonsten ist dies ein kreuzbiederer Text der unscheinbar kleinen Dinge und Vorfälle. Spürbar wird eine sanftmütige Sehnsucht nach angehaltener oder wenigstens verlangsamter Zeit; womöglich, um Gedanken ans Alter zu entrinnen. Freilich machen sich unterwegs kleine Wehwehchen und lästige Hindernisse bemerkbar, einmal ist dann auch eine Rücken-Operation erforderlich und die Wanderungen müssen vorerst abgebrochen werden. Im seltsamen Kontrast zur begrenzten Fortbewegung stehen punktuelle, eigentlich nur assoziative Vergleiche mit Regionen, die Hohler in der weiten Welt gesehen hat. Sonderlich ergiebig sind auch sie nicht.

Und der Rhein, so weit er sich denn offenbaren mag? Mal fließt er einfach „ungerührt“ weiter, mal wird er dem Schriftsteller zum Freund, auch stellen sich bei seinem Anblick andächtige Gefühle ein, schließlich ist Hohler geradezu „stolz“ auf den Fluss. Mal ist – gleichsam nur nachrichtlich – von Überschwemmungen, dann wieder von Austrocknung droben in Deutschland die Rede. Nichts, was man nicht auch den Medien entnehmen könnte. Keine tiefer gehende Reflexion, wie es scheint.

Auf Seite 117 stehen zusammengefasst ein paar Zumutungen, die dem Rhein zuteil werden. Zitat übers Quellgebiet: „Der Rhein?… Ein Kind, das noch nicht weiß, was von ihm verlangt wird. Energie soll es hergeben, schiffbar soll es werden, schwimmbar soll es sein, und tief genug für Selbstmörder.“ Eine für Hohler vergleichsweise direkte, ja krasse Aussage, bei der man endlich einmal aufhorcht.

Die Strömung des Flusses, so ist zu ahnen, hat eine Menge mit der Strömung von Zeit zu tun. Gegen Schluss verdunkeln sich die Gedanken, als der russische Überfall auf die Ukraine begonnen hat. Umso befremdlicher, wenn Hohler direkt danach formuliert: „Es ist fast sommerlich heiß geworden, als ich in Disentis einmarschiere…“ Eine Gedankenlosigkeit, die das Lektorat hätte mildern sollen.

Franz Hohler: „Rheinaufwärts“. Luchterhand. 128 Seiten, 22 Euro.

 




Schauspielkunst ausgebremst: „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ mit Maja Beckmann in Bochum

Maja Beckmann (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Zugegeben: Wenn Maja Beckmann nicht auf dem Besetzungszettel gestanden hätte, wäre ich wohl nicht hingegangen. Maja Beckmann – für den, der es nicht weiß – ist die etwas ältere Schwester der noch etwas bekannteren Lina Beckmann. Beide Schauspielerinnen stammen aus Herne, beiden ist, in unterschiedlichen Ausprägungen, ein Theaterspiel eigen, das, unter Frauen zumal, seinesgleichen auf deutschen Bühnen nicht leicht findet.

Zwei Schwestern

Wenn Lina der etwas zupackendere, offensivere Charakter ist, dann treffen auf Maja eher Attribute wie zurückhaltend, zögernd, schüchtern, unsicher, aber in diesen Valeurs wiederum auch zupackend und mutig zu. Mit dem vermeintlich falschen Ton am richtigen Platz wildgrubern sie beide ein bißchen, und ein bißchen auch ist gerade Maja die Gabe eigen, auf ganz entzückende Art mitunter in ihrer Rolle etwas neben sich zu stehen – wie es weiland Andrea Breths Liebling Wolfgang Michael zustande brachte oder durchaus auch, heutzutage, Bochums gefeierter Macbeth Jens Harzer. Dies nur in aller Kürze zur Attraktion des Abends.

Clee (Anna Drexler, links) und Cheryl Glickman (Maja Beckmann) (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Jetzt Zürich

Maja Beckmann spielte etliche Jahre in Bochum Theater und hat es mittlerweile bis nach Zürich gebracht. Das Stück, das an diesem Abend im großen Bochumer Haus zur Aufführung gelangt, heißt „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ und entstand, köstlicher Scherz, nach Miranda Julys Debutroman „Der erste fiese Typ“. Da haben die Schlauberger vom Schauspielhaus Zürich – von dort nämlich wurde das Stück übernommen – gleich zwei Sprachsignale im Titel untergebracht, Respekt. Und damit das ganze nicht so plump wirkt, wie es eigentlich ist, beginnt der Abend denn auch damit, daß die beiden Frauen auf der Bühne in einem kindlich schüchternen Dialog dem Publikum diese Titelwerdung erklären.

Clee (Anna Drexler, links) und Cheryl Glickman (Maja Beckmann) (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Großartige Anna Drexler

An diesem Punkt gilt es, das weitere Personal vorzustellen. „Miranda…“ ist im Kern ein Zweipersonenstück, auch wenn sich zu Spitzenzeiten fünf Leute auf der Bühne aufhalten. Maja Beckmann gibt die ältere Frau Cheryl Glickman (jenseits der 40), Anna Drexler Clee (um die 20), und auch sie beeindruckte nachhaltig. Nach einem Anlauf von wenigen Minuten ist sie eins mit ihrer Rolle, eine wilde, junge Frau, etwas verhuscht, etwas verschroben, etwas arrogant, manchmal fast noch ein Kind. Und dann plötzlich auch eine leidenschaftliche Liebhaberin. Anna Drexler spielt all das mit einer kraftvollen, offensiven Selbstverständlichkeit, die einem Respekt abnötigt. Sie und die Beckmann, ein Traumpaar. Jedenfalls auf der Bühne.

Feine Musik

Weiterhin wirken mit: Die Musikerin Brandy Butler, adipös und dunkelhäutig, und gerne geißelten wir an dieser Stelle Wokeness und Quotenunfug in den Theatern. Aber das wäre grob unfair. Butler macht sehr schöne, feine, sparsame Untermalungsmusik, ist in einigen Spielszenen ein zurückhaltender, dritter Pol (wenn man einmal so sagen darf), marschiert aber auch ganz vorne mit, wenn die beiden Hauptdarstellerinnen es so richtig krachen lassen. Vierte ist die Kamerafrau Anna Marienfeld, die nach Kräften videographiert und auch ein bißchen mitspielen muß, fünfter schließlich der Astronaut, dessen Gesicht wir nicht zu sehen kriegen und für dessen sprachlose Rolle gleich drei Besetzungen erscheinen (Anton Engelmann, Mia Kaufhold, Henri Mertens). So weit, so gut.

Raumgreifende Lebensbeschreibungen

Auch der Plot schien nicht ohne Reiz zu sein, ein (wie man hoffen konnte) angelsächsischer, nüchterner Erzählweise verpflichteter biographischer Stoff aus dem Alltag, der sich einreiht bei den derweil häufig anzutreffenden Lebensbeschreibungen scheinbar gänzlich unscheinbarer Menschen im raumgreifenden Stil (wenn man es Stil nennen möchte), beispielsweise einer Annie Ernaux. Bei Miranda July geht es sogar vergleichsweise dramatisch zu, Stichworte mögen eine heftige lesbische Liebesbeziehung und eine Schwangerschaft „aus heiterem Himmel“ sein. Maja Beckmann und Anna Drexler hätten das fraglos auch wunderbar herausgespielt. Wenn man sie denn gelassen hätte.

Es spritzt. Clee (Anna Drexler, links) und Musikerin Brandy Butler (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Zu viel Video

Doch Christopher Rüping läßt sie nicht. Dem Regisseur hat es gefallen, die dramatischen Veränderungen im Leben der beiden Frauen, ihren Liebestaumel, ihre obsessive Sexualität, ihre bedrohliche, herrliche Nähe und was der starken Momente mehr sind in die Form einer heftigen Video-Performance zu packen, in der viel gelaufen und gerauft wird und die durch große, naturgemäß dramatische (Portrait-)Aufnahmen der Heldinnen geprägt ist.

Man sucht nach dem tieferen Sinn für den massiven Maschineneinsatz, der sich jedoch nicht erschließen will. Wenn dann (es läuft bruchlos darauf zu) die Geburt ansteht, gibt es viel Geschrei, spritzt viel Wasser und Bühnenblut. Und all das ist von der Art, die Theater (häufig jedenfalls) so unattraktiv macht, weil bei großem Geräusch- und Bewegungsaufwand eigentlich nichts Handlungsrelevantes geschieht. Statt die mehrfachen heftigen Veränderungen in ihrer Beziehung mit den Möglichkeiten der Schauspielkunst nachvollziehbar zu machen, müssen Maja Beckmann und Anna Drexler sportlichen Einsatz zeigen. Ihrer beider Leistungsfähigkeit ist imposant, das immerhin.

Na gut. Einen Tag später hat sich die Erinnerung an zwei wunderbare Schauspielerinnen noch nicht verflüchtigt. Eher hat sich leichter Groll angesammelt auf eine Inszenierung, die ihnen zu wenig Möglichkeiten bot, ihre Kunst zu zeigen. Vielleicht zieht es Maja Beckmann demnächst ja noch einmal in ihre alte künstlerische Heimat, nach Bochum. Dann würde mal wohl wieder hingehen.

  • Termine:
  • Sa.03.06., 19:30 — 21:45
  • So.04.06., 17:00 — 19:15
  • Do.15.06., 19:30 — 21:45
  • Fr.16.06., 19:30 — 21:45

www.schauspielhausbochum.de




Eine Stadt, in Schwarzgelb gehüllt: Borussia Dortmund stand kurz vor der Meisterschaft – aber dann…

Die Kluft fürs Wochenende lag bereit. (Foto: Bernd Berke)

An einem einzigen Tor sind sie gescheitert… Bayern eins zu viel, der BVB eins zu wenig. Hallers verschossener Elfer, Adeyemis Verletzung. Ja, man könnte lange lamentieren. Doch was hilft’s? Borussia Dortmund hätte heute wirklich und wahrhaftig deutscher Fußballmeister werden können – erstmals wieder seit 2012, als es unter Jürgen Klopp sogar ein BVB-Double mit Pokalsieg gegeben hat. Hier die Zeilen, die vor dem entscheidenden Spiel gegen Mainz geschrieben wurden:

In der Stadt wird seit Tagen eigentlich über nichts anderes mehr geredet. Spätestens am Pfingstwochenende wird hier und im Umland so ziemlich alles in Schwarzgelb gehüllt sein, alle denkbaren Verrücktheiten im Zeichen dieser Farben inbegriffen. Nervosität und Vorfreude steigen von Stunde zu Stunde. Da wird sogar die gestern verkündete, überraschende (nur vorübergehende?) Rettung des Dortmunder Karstadt-Hauses zur lokalen Randnotiz, wenn auch zu einer erfreulichen.

Man muss nicht alles wieder herbeten, was dazu geführt hat, dass der Meistertitel in greifbar(st)e Nähe gerückt ist. Doch ein paar Faktoren sollten genannt werden: die immense Formsteigerung von Spielern wie Donyell Malen und Karim Adeyemi (welch eine pfeilschnelle „Flügelzange“!) oder auch dem immer stabileren Emre Can; die geradezu unglaubliche Wiederkehr des Sébastien Haller; der ungeahnte „zweite oder dritte Frühling“ von Mats Hummels; Gregor Kobel, der – wie man so schön sagt – immer mal wieder „die Unhaltbaren hält“. Na, und so weiter. Und natürlich hat Herzblut-Trainer Edin Terzic einen Riesenanteil an der ungemein erfolgreichen Rückrunde. Und nein: Es liegt keinesfalls nur an der Schwäche der Bayern, wenn es dem BVB gelingt. Es liegt auch und vor allem an eigenen Qualitäten. Jawoll!

Die tabellarische Ausgangslage ist bestens, doch kein Anlass zur Selbstzufriedenheit (was man der Mannschaft auch nicht nachsagen kann). Neben arg verfrühtem Siegestaumel bei etlichen Fans mehren sich nun auch die Unkenrufe aus allerlei Richtungen: „Vielleicht vergeigen sie es kurz vor der Ziellinie doch noch!“ Sollen wir uns nun ein nervenschonendes oder ein maximal spannendes Finale wünschen, das sich womöglich erst in der Nachspielzeit entscheidet? Mh. Dauerhafte Schnappatmung wäre der Gesundheit nicht unbedingt zuträglich. Und ob sie quer durch die Republik einen schönen Nervenkitzel haben, ist doch wohl zweitrangig, oder? Es soll bitteschön klar ausgehen.

Ich halte jedenfalls dafür, dass „zwischen Flensburg und Freiburg“ (um noch so ein Klischee zu bemühen) eine satte Mehrheit eher Dortmund den Titel gönnt als den Bayern. Natürlich bedeutet die Meisterschaft in dieser oft gebeutelten Stadt auch ungleich mehr als drunten im begünstigten Süden, wo sie es kaum noch anders kennen, als gelangweilt die Schale abzuräumen und wo sie schon zu Tausenden vorzeitig die Allianz-Arena (aka „Arroganz-Arena“) verlassen, wenn „dahoam“ vorentscheidend gegen Leipzig verloren wird.

So ähnlich hätte es wieder aussehen können: Impression vom Meister-Corso des BVB am 15. Mai 2011, hier mit (v. li.) Mario Götze, Lucas Barrios und Nuri Sahin. (Foto: Bernd Berke)

Wie es heißt, hat es vor dem entscheidenden Heimspiel gegen Mainz 05 weit über 300.000 Kartenanfragen gegeben. Zwar steht in Dortmund das größte deutsche Stadion, das immerhin knapp über 81.000 Zuschauer fasst, doch hört und liest man von exorbitanten Ticket- und Übernachtungspreisen, die die 1000-Euro-Marke überschreiten.

Für viel Ärger hat im Vorfeld dies gesorgt: Der Fußballsender Sky/Wow mag am Samstag partout keine großen Public Viewing-Ereignisse in Dortmund zulassen und es Kneipen mit Sky-Lizenz nicht einmal erlauben, ihre Bildschirme so zu drehen, dass sie von außen sichtbar sind. Wahrscheinlich ist es (ohne dass sie es zugeben dürften) auch der Stadt und der Polizei so ganz recht, weil dann nicht noch mehr riskante Events stattfinden. Der Sonntag mit einem möglichen Meister-Corso dürfte mit vorab geschätzten 200.000 bis 400.000 Fans zwischen Borsigplatz, Wallring und „Dortmunder U“ schon genug Probleme bereiten. Freilich: Gerade weil der Massenzulauf am Samstag vielleicht noch nicht richtig kanalisiert wird, sondern wahrscheinlich spontan entsteht, ist die Lage keineswegs ungefährlich. Kann und soll man sich beispielsweise mit Kindern in die City trauen?

Übrigens: Manche in Schwarzgelb frohlocken, dass heute Schalke absteigen kann. Andere sagen, sie würden jedenfalls das „Derby“ arg vermissen. Und wenn dann auch noch Bochum… Das wäre fürs Revier ja gar nicht auszudenken. Also bitte, Leute, gebt Euch einen Ruck: Daumendrücken hier wie dort. Und wenn’s nur wegen der Derbys ist.