Religion darf die Welt nicht spalten – Gespräch mit dem Schriftsteller Thomas Hürlimann

Von Bernd Berke

Noch nie gab es auf ein Buch von Thomas Hürlimann (51) ein so vielfältiges Echo wie auf die Novelle „Fräulein Stark“, erschienen im Zürcher Ammann-Verlag. Ein Hauptgrund: Kritikerpapst Reich-Ranicki hatte dem Autor vorgeworfen, das Thema Judentum unangemessen nebensächlich behandelt zu haben. Schon über 50000 Exemplare wurden verkauft, die vierte Auflage wird gedruckt. Die WR sprach mit Hürlimann auf der Frankfurter Buchmesse.

Haben Sie mit einer solch breiten Reaktion auf ihr Buch gerechnet?

Thomas Hürlimann: Überhaupt nicht. Ich habe sogar mit dem Verleger gewettet, dass nicht mehr als 30000 Exemplare verkauft werden. Jetzt muss ich ihm und seiner Frau einen mehrtägigen Aufenthalt im Grand Hotel Victoria in Interlaken spendieren.

Das wird nicht billig.

Hürlimann (lacht): Bei der Auflage kann ich’s mir ja jetzt erlauben.

Marcel Reich-Ranicki hat behauptet, in Ihrem Buch werde die jüdische Herkunft des Ich-Erzählers so verborgen, dass man sie kaum bemerkt.

Hürlimann: Genau das ist ja das Thema: Dass die jüdischen Vorfahren des Jungen vor ihm verborgen werden, dass er es selbst erst langsam herausfindet. Wenn man von einem Lügner erzählt, muss man ihn lügen lassen. Erzählt man von einem Tabu, so muss es erst einmal bestehen. Da lässt man nicht gleich die Katze aus dem Sack.

Der Stoff ist stark autobiographisch gefärbt?

Hürlimann: Ja. Der Junge, der einen letzten Sommer als Bibliothekshelfer verbringt, bevor er acht Jahre lang in die Klosterschule kommt, das bin ich im Jahre 1963. Er kommt zwei Geheimnissen auf die Spur: dem anderen Geschlecht, indem er den Bibliotheks-Besucherinnen heimlich unter die Röcke schaut – und dem eigenen Geschlecht, also seiner familiären Herkunft. In der Schweiz sagen wir „Geschlechtsname“ statt „Familienname.

Das Fräulein Stark, die Haushälterin des Bibliothekars, ertappt den Jungen immer wieder und will ihn von sündigen Gedanken abbringen. Aber sie ist auch lebenslustig.

Hürlimann: Ja, auf eine versteckte Art. Es ist noch der Geist der 50er Jahre. Und sie hat katholisch motivierte Vorurteile gegen das Judentum. Das gab es bis in die 60er Jahre hinein. Die Schweiz hat so etwas wie einen Zusammenbruch des Faschismus nicht erlebt. Man sah keinen Grund, eine große Korrektur anzustellen. Man wähnte sich auf Seiten der Sieger.

Auch an Sie die Frage: Verändern die Terroranschläge des 11. September die Literatur?

Hürlimann: Literatur sollte nie derart ins Tagesgeschehen eingreifen. Aber Bücher, die so etwas erfassen können, sind immer schon geschrieben worden. Das, was in New York geschehen ist, ist ja fast archaisch. Quer durch die Weltliteratur gibt es Texte, die solche Katastrophen schildern – angefangen beim Alten Testament und bei Homer. Vorahnungen hatte Botho Strauß, den man vor einigen Jahren heftig attackiert hat wegen seines „Anschwellenden Bocksgesangs“, weil er von künftigen Kriegen schrieb und weil er gesagt hat, wir müssten Begriffe wie Soldat und Priester wieder ernst nehmen.

Haben Sie Strauß damals auch gescholten?

Hürlimann: Oh, nein. Ich selbst habe zehn Jahre in Berlin-Kreuzberg gelebt. Mit den türkischen Nachbarn verstand ich mich eigentlich gut. Doch eines Tages wurde der Tochter verboten, mich zu grüßen, weil ich kein Moslem bin. Wenn wir Bier tranken, durften sie alle nicht mehr das Glas verwenden, das ich als „Ungläubiger“ benutzt hatte. Das war so ein schleichender Vorgang, es entstand da eine Frontlinie, da riss etwas auf.

Die Klosterschule schwebt als ständige Bedrohung über dem Jungen in ihrer Novelle. Haben Sie dort einen „christlichen Fundamentalismus“ kennen gelernt?

Hürlimann: Es war sehr ideologisch. Das hat ja auch etwas Großartiges, dass man an ein Jenseits glaubt. Dass ich diesen Glauben verloren habe, empfinde ich auch als Verlust. Aber wenn Religion die Welt in Gut und Böse einteilt, dann sage ich: Rette sich, wer kann!




„Schreiben ist für mich eine Lust“ – Gespräch mit Wilhelm Genazino

Von Bernd Berke

Mit seinem Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ hat Wilhelm Genazino nicht nur das „Literarische Quartett“ im ZDF überzeugt. Die Geschichte eines arbeitslosen Stadt-Flaneurs, der auf seinen Wegen gelegentlich gegen Entgelt Luxus-Schuhe testet, registriert allerlei „Merkwürdigkeiten“ unseres täglichen Lebens. Unaufdringlich, aber höchst eindringlich. Die WR traf Genazino am Buchmessestand des Carl Hanser Verlages.

Die unvermeidliche Frage dieser Tage: Müssen sich Autoren nach den Terroranschlägen vom 11. September thematisch neu orientieren?

Wilhelm Genazino: Nein. Wer das fordert, ist töricht. Die Literatur kann doch nicht unentwegt den Terror nachspielen. Man hat ja immer noch wenigstens ein Bein im normalen Leben. Wenn es nur noch Bücher über Terror gäbe, dann wäre der wirkliche Terror ausgebrochen.

Und was sagen Sie zum Befund, die Spaßgesellschaft sei nun vorüber, eine neue Ernsthaftigkeit müsse einkehren?

Genazino: Die „Spaßgesellschaft“ war sowieso immer eine Fiktion, die Erfindung einiger Medienvertreter. Gucken Sie sich nur die Hauptquelle unseres angeblichen Spaßes an, das Fernsehen. Wie todtraurig ist das, wie lustlos. Bald wird es uns allen zum Hals heraushängen. Immer mehr Menschen wenden sich davon ab…

Manche Kritiker halten Ihnen vor, sie hätten sich nach Ihrer „Abschaffel“-Romanreihe über das Leben der Angestellten von der sozialen Wirklichkeit entfernt.

Genazino: Das stimmt einfach nicht. In meinem neuen Buch geht es um seelische Folgen eines der zentralen Probleme der Gegenwart: Arbeitslosigkeit. Meine Eltern sprachen noch von einer „Lebens-Stellung“. So etwas gibt es heute kaum noch. Die Schleuderbewegung der Arbeitsgesellschaft wird immer mächtiger. Sie erfasst auch meinen Erzähler: Die Arbeit trägt sein Leben nicht mehr, er droht abzugleiten. Er bekommt Identitäts-Probleme, lebt nur noch nach innen. Identität bedeutet ja auch: zu wissen, was man arbeitet. Arbeit konturiert und erdet das Leben.

Wie sehr steigern Sie sich in eine solche Figur hinein?

Genazino: Eigentlich überhaupt nicht. Ich setze meine Ideen mit einiger Coolness um. Es ist eben schon mein 18. Buch. Inzwischen ist das Schreiben ein äußerst sachlicher, handwerklicher Vorgang. Man fällt nicht mehr vom Stuhl vor lauter Erregung oder Einfühlung. Wenn ich hitzig schriebe, ginge es schief. Dann hätte ich ein nasses Hemd, aber kein Buch. Ich bin auch kein Quäl-Schreiber, schreiben ist für mich eine Lust.

Sie veröffentlichen seit rund 30 Jahren Bücher. Im „Literarischen Quartett“ hat Marcel Reich-Ranicki bekannt, erstmals etwas von Ihnen gelesen zu haben…

Genazino: Tja, was soil man dazu sagen. Es ist sehr merkwürdig, aber ich kann mich nicht so recht darüber erregen. Autoren meines Schlages führen eben eine Geheimtipp-Existenz. Der Schriftsteller-Beruf gleicht ohnehin einer Achterbahnfahrt. Ich sage auch bei Schreibseminaren den jungen Leuten immer wieder: „Denken Sie daran, niemand außer Ihnen selbst verlangt, dass Sie Schriftsteller werden. Niemand wartet auf Sie. Es gibt bereits Abertausende von Schriftstellern.“

Gibt es zu viele?

Genazino: Im Gegenteil. Es sollte noch mehr geben. Irgendwann kann dann vielleicht jeder Leser den ihm gemäßen Autor finden, fast bis hin zur hundertprozentigen Identität. Das wäre ein Zeichen von hoher Kultur!




Ein Rest von Unbehagen: Rundgang durch die Frankfurter Buchmesse / Erhöhte Sicherheits-Maßnahmen

Aus Frankfurt berichtet Bernd Berke

„Öffnen Sie bitte Ihre Tasche!“ heißt es freundlich aber bestimmt am Eingang. Erst nach eingehender Prüfung darf ich das Gelände der Frankfurter Buchmesse betreten. Später, an den Pforten zur Halle 8, erledigen die Sicherheitskräfte die Durchsieht nochmals – jetzt ganz ohne meine Mitwirkung. Hier geht’s noch bedeutend gründlicher zu. Es ist nur allzu verständlich, denn in diesem Bereich stellen u. a. Verlage aus den USA, Großbritannien und Israel aus.

Die sichtbare Polizei-Präsenz bei den folgenden Messerundgängen hält sich in Grenzen. Man ist jedenfalls froh, dass Vorkehrungen getroffen werden. Beispiel: Es gibt keine Schließfächer, in denen jemand Explosives deponieren könnte. Um Punkt 19 Uhr müssen alle Hallen menschenleer sein, am anderen Morgen werden sie erneut durchkämmt. Trotz alledem bleibt ein haarfeiner Rest von Unbehagen. Heuer in Frankfurt zu sein, ist etwas anders als ehedem.

Branchenthemen rücken in den Hintergrund

Der Terror des 11. September hat eben auch das altvertraute Buchmessen-Feeling nicht ganz unberührt gelassen. Branchenthemen wie Euro-Umstellung oder Urhebervertragsrecht rücken in den Hintergrund. Und Editionen, die sonst vielleicht Trends markiert hätten, wirken auf einmal läppisch, beispielsweise die nun zahlreich erschienenen Bände, die im Gefolge des Fernseh-Quizbooms die Lust an raschen und eindeutigen Antworten nähren. Doch das Leben ist leider kein Quiz.

Akutere Relevanz besitzen hingegen viele der eilig in den Vordergrund geschobenen Bücher über den Islam. Allseits sehen sich nun Schriftsteller unter Erwartungsdruck gesetzt, dem bitteren Ernst der Weltlage gerecht zu werden. Manche wehren sich schon gegen derlei Ansinnen, so etwa gestern am Messestand der Wochenzeitung „Die Zeit“ der prominente Dramatiker Moritz Rinke.

Der Druck, jetzt Bücher über Terror zu schreiben

Bis man ein Buch zum Thema geschrieben und herausgebracht habe, hätten die Journalisten doch schon alles abgegrast, befand der Autor. Der „hohe Geräuschpegel“ mancher Darstellung gehe ihm schon jetzt auf die Nerven. Dennoch fürchtet auch Rinke, dass alle anderen Stoffe jetzt unter Nichtigkeits-Verdacht geraten. Im WR-Interview (ausführlich in einer der nächsten Ausgaben) äußerte sich auch Wilhelm Genazino ablehnend. Wer von Autoren jetzt nur noch dieses eine Thema fordere, der übe geistigen Zwang aus.

Heute, genau einen Monat nach den Attentaten, soll in den Messehallen eine Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer eingelegt weiden. Ohnehin geht es spürbar gedämpfter zu als sonst. Mag sein, dass sich dies im Lauf der Messetage normalisiert. Doch gestern hielten sich notorische Marktschreier für Druckwaren merklich zurück, und wo ein Werbefilm-Monitor lief, da hatte man den Ton zumeist auf Schwundstufe gedreht. Das gilt nicht zuletzt für die Hallenbezirke der US-Verlage. Wegen einiger Absagen klaffen hier denn doch ein paar empfindliche Lücken in den Reihen der Kojen.

Griechenland – nicht allzu lektürefreundlich

Orts- und Szenenwechsel: Mit dem Griechenland-Schwerpunkt ist das so eine Sache. Das Land so vieler antiker Klassiker ist heute nicht gerade lektürefreundlich. Nur 19 Prozent der Griechen lesen regelmäßig Zeitung. Zwar gibt’s in der Hauptstadt Athen eine ruhmreiche Straße mit Dutzenden von Buchladen, doch nur rund 700 000 von 10 Mio. Einwohnern des Staates dürfen als verlässliche Buchkonsumenten gelten. Ein wenig spiegelt‘ sieh dies auch in der Frankfurter Sonderschau, die mit vielen touristischen Reminiszenzen, Musik und bildender Kunst durchaus sinnlich garniert ist. Fast könnte man die Bücher aus und über Griechenland für Nebensachen halten. Dennoch kann man nicht nur von Homer bis Platon, sondern auch bei den griechischen Gegenwartsautoren einiges entdecken; zumal auf dem Felde der lyrischen Produktion.

Ein Kompliment muss man den Messegestaltern machen. Sie haben einiges verändert. Die Messe ist deutlich kompakter geworden, die neue Halle 3 (hier und in Halle 4 konzentrieren sich die deutschsprachigen Verlage) lässt reichlich Tageslicht zu den Büchern, man fühlt sich nicht mehr wie in einem großen Lesebunker. Neu sind auch das „Forum“ (Griechenland-Schwerpunkt) und ein großes Parkhaus, das etwaiges Anfahrts-Chaos mildert. All das könnte man als Besucher ungetrübt genießen. Wenn denn die Begleit-Umstände anders wären…

Bis Freitag nur für Fachbesucher. Sa/So. (13. und 14. Oktober) ist die Messe für alle zugänglich (jeweils 9 bis 18.30 Uhr). Tageskarte 14 DM.