Kulturdenkmal besonderen Ranges: 100 Jahre Pferderennbahn in Dortmund-Wambel

Durch schieren Zufall bin ich darauf gestoßen, dass die Galopprennbahn in Dortmund-Wambel vor ziemlich genau 100 Jahren eröffnet worden ist. Am 3. Juli 1913 wurde dort das erste Rennen ausgetragen.

Wenn ich es recht sehe, so ist dieses doch recht gewichtige Jubiläum von den Print-Medien und vom Hörfunk fast durchweg ignoriert oder vollends vergessen worden. Offenbar ist der Dortmunder Rennverein, der die Bahn betreibt, auf Berichterstattung auch nicht allzu versessen gewesen, sonst hätte man doch wohl schon im Vorfeld die werbliche Trommel geschlagen. So aber sieht es fast nach Desinteresse oder gar Resignation aus.

Alle Bilder zu diesem Beitrag sind im September 2008 entstanden. (© Bernd Berke)

Alle Bilder zu diesem Beitrag sind im September 2008 entstanden. (© Bernd Berke)

Wirtschaftliche Probleme

Um Pferderennen ist es in Deutschland generell nicht gut bestellt. Seit etlichen Jahren gehen Zuschauerzahlen und Wettumsätze zurück. Auch die Dortmunder Rennbahn ist zwischenzeitlich wirtschaftlich ins Schlingern geraten. Es war sogar einmal vom Verkauf des weitläufigen Geländes an Investoren die Rede. Man kann nur hoffen, dass sich gegen derlei monströse Vorhaben (falls sie denn jemand wieder aufgreifen sollte) starker Bürgerprotest regen würde.

Neuerdings streiten sich die Parteien in der Bezirksvertretung um die Nutzung nach einem bereits erfolgten Teilgrundstücksverkauf an der Rennbahn. Hier sollen nach den jetzigen Plänen Seniorenwohnungen entstehen – offenbar ohnehin eine der hauptsächlichen Bauaufgaben im gesamten Stadtgebiet.

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Die Bauten auf dem Areal und rings um die Rennbahn ergeben ein großartiges Ensemble aus den 1910er und 1920er Jahren, wie es in der Stadt sonst nicht vorzufinden ist. Manches steht unter Denkmalschutz. Und in der Tat haben wir es hier mit einem Kulturdenkmal zu tun. Bis 2012 gab es hier auch einen schönen schattigen Biergarten, für den sich leider noch kein neuer Pächter gefunden hat. Zusatzeinnahmen bringt immerhin der Golfplatz im Innenfeld der Rennbahn.

Ein paar Stichworte zur Vorgeschichte: Bereits 1886 war der Dortmunder Rennverein gegründet worden, den allerersten Renntag gab’s am 18. September 1887, damals noch im Freizeit- und Vergnügungspark Fredenbaum, 1893 zog man zur Buschmühle (heute Bestandteil des Westfalenparks) um und 1913 just zum heutigen Standort in Dortmund-Wambel, wo traditionell u.a. das Deutsche St. Leger ausgetragen wird. 1981 enstand zusätzlich eine Sandstrecke mit Flutlicht, wodurch Wambel zur ersten Allwetterbahn Europas wurde.

Gut gemischtes Publikum

Ruft man im Internet ein Luftbild von Dortmund auf, so ist das Riesenrund der Pferderennbahn – außer dem Gebiet des Phoenixsees – eine der ersten Stätten, deren Gestalt sich schon aus großer Höhe abzeichnet; übrigens lange vor dem vergleichsweise kleinen Westfalenstadion, das im Sponsorendeutsch bekanntlich Signal Iduna Park heißt.

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Nach der Schule habe ich ein paar Monate lang in einem Pferdewettbüro der Dortmunder Innenstadt gearbeitet. Es war damals eine Gelegenheit, Teile der hiesigen Halbwelt zumindest von Angesicht kennen zu lernen. Einige Herren trugen die Hunderter bündelweise in den Jackentaschen bei sich und führten schon mal ziemlich grobschlächtige Reden, um es vornehm auszudrücken.

Andererseits weiß man, dass sich zu den Renntagen auch durchschnittliche, gediegene und sogar halbwegs erlauchte Kreise der Gesellschaft einfinden. In der reichhaltigen Mischung sind „Turffreunde“ allemal ein interessantes Publikum. Überhaupt kann man die ganze Atmosphäre eines Renntags (der nächste steht am 9. September an) durchaus inspirierend nennen – vom Wettfieber einmal ganz abgesehen.




Labyrinth aus Liebe und Lügen – William Boyds Roman „Eine große Zeit“

Wien ist nicht nur die Hauptstadt des galanten Selbstmordes und der morbiden Friedhofskultur. Die österreichische Metropole ist auch der Geburtsort der Psychoanalyse. Wenn Anfang des vorigen Jahrhunderts ein an traumatischen Kindheitserlebnissen und erotischen Unpässlichkeiten leidender junger Engländer dorthin flüchtet, wo Sigmund Freud gerade über Traumdeutung, Totem und Tabu nachdenkt und die auf seiner Couch liegenden Patienten auf ihrer Reise ins verdrängte Innerste ihrer Seele begleitet, so ist das eine einleuchtende Idee.

Für William Boyd, den 60jährigen britischen Autor, der seine Leser mit einem fein ausgetüftelten psychoanalytischen Spionagethriller begeistern will, liegt die Idee jedenfalls auf der Hand. Sein Held wider Willen, der englische Jungschauspieler Lysander Rief, hält sich im Jahr 1913, also am Vorabend des Ersten Weltkrieges und des katastrophalen Zivilisationsbruchs, in Wien auf. Eigentlich will er in der (gleich bei Freud um die Ecke liegenden) psychoanalytischen Praxis von Dr. Bensimon nur seinen Macken und Marotten auf den Grund gehen. Doch dann steigt er nicht nur in die Abgründe seiner Ängste hinab, er verfällt auch den unergründlichen Augen und den erotischen Reizen einer sexbesessenen Frau. Hettie Bull, so heißt die rätselhafte Schöne, blendet, betört und heilt den kopflos Verliebten, aber sie verwickelt ihn auch in eine brisante politische Affäre und stößt ihn in einen Strudel aus Lug und Betrug, Geheimnis- und Landesverrat.

William Boyd, der hierzulande mit „Ruhelos“ und „Einfache Gewitter“ zwei veritable Erfolge hatte, liebt das literarische Spiel mit Erzählweisen und Perspektiven. Dichtung und Wahrheit liegen bei ihm oft ununterscheidbar beieinander. In der fiktiven Künstlerbiografie über den Maler „Nat Tate“ hat er das Verwirrspiel so weit getrieben, dass viele Leser und Künstler beschwören wollten, den erfundenen Nat Tate und seine Bilder gekannt zu haben. In seinem neuen Roman „Eine große Zeit“ erfindet er nicht nur eine abenteuerliche Spionagestory, er führt den Leser auch in eine von Mythen und Märchen, Lügen und Legenden bis zur Unkenntlichkeit durchdeklinierten Epoche des wissenschaftlichen Fortschritts und politischen Irrsinns. Es geht, wie immer bei Boyd, um Unruhe und Rastlosigkeit, Identitätssuche und Selbstbetrug – und um den schmalen Grat, der aus einem brillanten ein gescheitertes Leben machen kann.

Lysander Rief ist neugierig und intelligent, aber auch naiv und leicht zu beeinflussen: ein gefundenes Fressen und gefügiges Opfer für sexuelle und politische Manipulation. Nicht nur Hettie Bull treibt ihr Spiel mit dem jungen Schönling, auch der britische Geheimdienst weiß, wie man sich die Schauspieltalente Lysanders zu Nutzen machen kann. Kaum ist der Krieg ausgebrochen, wird man den Mimen zum Agenten umformen und ihn an die Spionagefront schicken. Das allein wäre vielleicht ein spannender, doch noch kein großer Roman. Aber Boyd weiß um seine literarischen Stärken und entwickelt, parallel zum immer komplizierter werdenden Labyrinth aus Liebe und Verrat, ein schillerndes Spiel mit Erzählweisen. Neben dem allwissenden Erzähler gibt es auch den Ich-Erzähler Lysander Rief. Auf Anregung seines Psychoanalytikers führt er ein Tagebuch seiner geheimsten Wünsche. Diese Tagebuchpassagen sind voller poetischer und zweifelnder Gedanken, manchmal erweitern, manchmal konterkarieren sie die vom allwissenden Erzähler vorangetriebene Handlung. Ist das, was geschieht, vielleicht nur ein literarisches Spiel des Autors oder eine Einbildung des psychisch lädierten Ich-Erzählers? Um dem Geheimnis dieses sich zwiebelartig häutenden Erzählwerkes auf den Grund zu kommen, braucht der Leser Geduld. Aber die Lösung ist eigentlich ganz einfach. Sie liegt offen zutage. Man muss nur den Mut haben und in der Lage sein, sie zu sehen und wahrzunehmen.

William Boyd: „Eine große Zeit“. Roman. Aus dem Englischen von Patricia Klobusiczky. Berlin Verlag, 446 Seiten, 22,90 Euro.