F. C. Delius: „Erinnerungen mit großem A“ (und ein paar anderen Buchstaben)

Na, da hat Friedrich Christian Delius – häufig gekürzelt als F. C. Delius – aber ein bisschen geschummelt. Die selbstgesetzte Vorgabe für seine „Erinnerungen mit großem A“ (Untertitel) lautete, dass die Bruchstücke aus seiner Biografie allesamt, quasi-lexikalisch, just mit dem Anfangsbuchstaben A überschrieben sein sollten.

Doch einer wie Delius hat sich nicht in ein derartiges Schreibkorsett gezwängt, er ließ mit Freuden fünfe gerade sein. Will er etwas über den Beatle Paul McCartney mitteilen, so läuft das eben unter A wie Abbey Road, geht es um den großen Georg Christoph Lichtenberg, so lautet das Stichwort „Agamemnon“ (weil L. diesen Namen in einem berühmten Aphorismus verwendet hat). Und so weiter, über zahllose Einträge hinweg. Viele stimmen jedoch auch bruchlos überein, was das A anbelangt. Beispiel: Adorf, Mario. Ein grundsympathischer Mensch, dessen Heiterkeit in wohltuender Weise ansteckend gewesen sei. Auch das glauben wir gern.

Delius, am 30. Mai 2022 verstorben, würde am 13. Februar 80 Jahre alt werden. Er ist eines von etlichen Pastorenkindern der deutschen Literatur, sein Vater war zeitweise Pfarrer an der Deutschen Evangelischen Kirche in Rom, deswegen ist F. C. Delius dort geboren, dann freilich in der hessischen Provinz (genauer: Wehrda bei Marburg) aufgewachsen, die es literarisch ebenfalls „in sich“ hat.

Ein erbärmlich schlechter Schüler – sogar in Deutsch

Tatsächlich zieht Delius hier, aller Fragmenthaftigkeit zum Trotz (das Leben besteht ja eh aus Bruchstücken), eine biographische und vielfach auch literarische Bilanz (wer will das bei ihm voneinander trennen?), die durch das Auswahlprinzip kleinteilig, kurzweilig und kristallin funkelnd geraten ist. Ein Leitsatz dazu stammt von Annie Ernaux, derzufolge es keine zweitrangigen Erlebnisse gibt. Man muss sie halt „nur“ zu schildern wissen. Bei Rilke wiederum holte sich Delius ein ergänzendes Motto, das da sinngemäß heißt, bloße Erinnerung reiche nicht aus, es müsse ein Gärungsprozess hinzukommen. Delius war stets klug und vorsichtig genug, derlei Entwicklungen abzuwarten, bevor er geschrieben hat. Gleichwohl haben seine Prosa und die Gedichte auch einen entschieden spontanen, erfrischenden Anteil.

Unter dem Zensuren-Schlagwort „Ausreichend“ berichtet Delius, dass er – selbst im Fach Deutsch – ein erbärmlich schlechter Schüler gewesen sei und lange Zeit heftig gestottert habe. Auch mit sportlichen oder musikalischen Taten habe er die Defizite bei weitem nicht ausgleichen können. Drum hat er oft lieber geschwiegen und sich den sprachlichen Innenwelten zugewandt. Gut denkbar, dass „1968″ mit seinen Vorläufern (Delius bezeichnete sich lieber als „66er“) für ihn als Befreiung gerade recht kam. Später hat er sich couragiert in mancherlei Debatten eingemischt und Reden vor hunderten Zuhörern gehalten. Erstaunlich genug und Hoffnung für viele verheißend.

Als sich Autoren ums „richtige“ Schreiben prügelten

Eine gewisse Schüchternheit muss dennoch nachgewirkt haben, hat er doch nach eigenem Bekunden eher befremdet und etwas ängstlich verfolgt, wie sich Autorenkollegen in den zuweilen so rigorosen Meinungskämpfen der 1970er Jahre über die richtige Art des Schreibens lauthals gestritten haben. Nach langem, immer wieder an der Beleidigungsgrenze fortgesetztem Disput, hatte sich zwischen Yaak Karsunke und Hans Christoph Buch so viel Wut aufgestaut, dass sich diese beiden Schriftsteller um die wahre Lehre geprügelt haben. Ja, auch solche anekdotisch getönten Innenansichten aus dem Literaturbetrieb zumal der 60er bis 80er Jahre enthält dieses Buch reichlich. Somit ist es eine Zeugenschafts-Quelle ersten Ranges.

Und wen hat er nicht alles gekannt! Mehr oder weniger alle wichtigen Protagonisten der Nachkriegsliteratur seit den Tagen der „Gruppe 47″, auch war er ein Wanderer und Mittler zwischen dem östlichen und dem westlichen Deutschland. Hier kommt er abermals auf seinen zermürbenden und kostspieligen juristischen Streit mit dem Siemens-Konzern (über das Buch „Unsere Siemens-Welt“) zurück; zudem greift er noch einmal die bewegten Verlagsjahre als Lektor bei Wagenbach auf, wo harsche ideologische Frontstellungen (vor allem die Haltung zum RAF-Terrorismus betreffend) zur Spaltung und zur Gründung des Rotbuch-Verlages führten, wo sogleich Peter Schneiders exemplarische Erzählung „Lenz“ Furore machte. Schneider forderte – sicherlich auch in Delius‘ Sinn – im literarischen Gewand mehr lebendige Dimensionen von den „Achtundsechzigern“ ein, die übers rein Politische hinausweisen sollten. Eine Diskussion, die damals praktisch alle linken Gemüter bewegte, sofern sie nicht in Rechthaberei erstarrt waren.

Ein undogmatischer Linker, dessen Stimme fehlt

Mit Klaus Wagenbach hat sich Delius nie wieder so richtig aussöhnen können, obwohl er es „beim Italiener“ versucht hat. Aber dazu hätten zwei gehört. F. C. Delius war ein durch und durch undogmatischer, geistig beweglicher Linker, dem die Orthodoxie vieler Richtungen und Splittergruppen fremd war. Gerade in den heutigen Zeiten vermisst man eine solche Stimme schmerzlich. Auch in diesem Buch benennt er das ein- und nachdrückliche Festhalten von Augenblicken als Wesen der Literatur, statt dass sie Gesinnungsprosa gleich welcher Couleur liefere.

Das Buch ist eine Fundgrube, so recht zum Stöbern, auch hin und her, vorwärts und rückwärts ist es lesbar, immer mit Gewinn. Gar manche Erfahrung lässt sich nur zu gut nachvollziehen, so etwa unterm Stichwort „Ahnung“ Delius‘ vage Frühzeit-Erinnerung an die Sechsjährige mit Erstklässler-Schulranzen, in die er sich als Fünfjähriger „verguckt“ hat. Bemerkenswert die ängstliche Regung des längst arrivierten Autors, vom hellsichtigen Großdenker Alexander (mit A) Kluge als „mittelmäßig“ durchschaut zu werden. Auch der einstige „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki kommt vor. Wohl kein Kritiker seiner Generation habe mit seinen Urteilen so oft danebengelegen wie MRR. Dennoch zollt Delius ihm milden Respekt. Auch seine Kritik am Kultautor Rolf Dieter Brinkmann hat etwas für sich. Über Brinkmanns „Rom, Blicke“ heißt es: „…teils geniale, teils banale Tiraden, aber sein Hass, seine Ego-Sicht machen ihn blind für die Widersprüche der Stadt und ihrer Bewohner…“

Was die junge Japanerin filmen wollte

Und dann ist da noch die Story unter dem Etikett „Ärsche“ – mit den beiden jungen Frauen, darunter eine Japanerin, die ihn und einen Freund 1967 in London bei einem Rockkonzert angesprochen haben, weil sie ihrer beider nackte Hinterteile filmen wollten. Holla! Nach etwas Hin und Her lehnten die Deutschen ab. Später erfuhren sie, dass es sich bei der Asiatin um die seinerzeit noch nicht so bekannte Yoko Ono handelte, die wahrhaftig zu ihrem Karrierestart einen solchen Film gedreht hat. Delius fragt sich nachträglich: Wäre die Rockgeschichte anders verlaufen, wenn sie zugesagt hätten? Hätte Yoko Ono dann eventuell John Lennon nicht oder erst später kennengelernt? Delius‘ Freund galt schließlich als ausgemachter Womanizer. Dabei kann man anderswo nachlesen, dass John und Yoko sich zum fraglichen Zeitpunkt bereits gekannt haben. Egal. Trotzdem eine nette Was-wäre-wenn-Geschichte.

So weit ein paar willkürlich gewählte Beispiele. Den ganzen großen „Rest“ möge jede(r) für sich erschließen. Bliebe lediglich noch zu klären, warum das Buch so heißt, wie es heißt: „Darling, it’s Dilius“ war der Ausruf mit angloamerikanischem Zungenschlag am anderen Ende der Leitung, wenn Delius bestimmte Freunde in den USA angerufen hat. Auch eine hübsche Idee, daraus den Titel zu basteln.

Friedrich Christian Delius: „Darling, it’s Dilius!“ Erinnerungen mit großem A. Rowohlt Berlin, 320 Seiten. 24 Euro.

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Gewissermaßen eine Vorläufer-Publikation war der 2012 erschienene Delius-Band „Als die Bücher noch geholfen haben“ – unsere damalige Besprechung findet sich hier.




Aufruhr in der Provinz: Das Jahr 1968 in Westfalen

„1968 in Westfalen“: Der Buchtitel lässt aufhorchen, stehen doch Sauer- und Münsterländer ebenso wie Bewohner von Bergmannssiedlungen im Revier nicht gerade in dem Ruf, Rebellionen anzuzetteln. Folglich müsste es doch eigentlich vor 50 Jahren ganz ruhig geblieben sein, als in Frankfurt, Hamburg, München und Berlin Studenten in Scharen mit der Parole „Unter den Talaren Muff aus 1000 Jahren“ auf die Straße gingen.

Der Historiker Thomas Großbölting von der Uni Münster betreibt in dem Band nun eine Spurensuche. Er will rekonstruieren, was das Jahr 68 im Westfalenland nun wirklich ausgemacht hat. Herausgekommen ist dabei weit mehr als eine simple Chronik von Ereignissen, sondern die prägnante und zugleich einordnende Darstellung eines Umbruchjahres mit seinen Folgewirkungen für die Provinz. Großbölting ist übrigens der Ansicht, dass Dortmund oder Münster seinerzeit eher Mittel- als Großstädte gewesen seien.

Vom kurzen und vom langen ’68

Auch in Westfalen riefen die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg und des charismatischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke sowie die Massaker der US-amerikanischen Soldaten in Vietnam massive Reaktionen hervor. Die Menschen versammelten sich in großer Zahl zu Gedenk- oder auch Gebetsstunden, auch kam es zu offenen Protesten gegen Rassismus, Diskriminierung und das militärische Vorgehen der USA in Indochina.

Nachdem Großbölting gleich zu Beginn seines Buches erklärt hat, 1968 könne nicht rein als Jahreszahl verstanden werden, sondern sei vielmehr Chiffre für Widerstand, Proteste und Revolte, geht er auf die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge und Entwicklungen jener Zeit ein. Dabei kommt er zu einer aufschlussreichen Unterscheidung. Der Wissenschaftler spricht von dem „kurzen“ und dem „langen“ 1968.

Er meint damit einerseits die eher ereignisorientierte Ebene. Die beginnt für ihn bereits am 2. Juni 1967 mit dem Tod von Benno Ohnesorg, den während der Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss. Diese Phase endet mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze Ende Mai 1968 im Bundestag – gegen alle Widerstände in der Bevölkerung.

Nachhaltige Veränderung der Gesellschaft

Andererseits – und das ist dann die Langversion – hat 1968 zu nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Nach Darstellung des Historikers sind „ökologisches Bewusstsein, Gleichstellung von Mann und Frau, die Akzeptanz verschiedener Formen von Sexualität, Friedensorientierung, Emanzipation und Partizipation“ heute nicht nur Teil des Mainstreams, sondern man definiere damit auch die „Loyalität zum System“.

An diesen Umwälzungen und speziell an dem „kurzen“ 1968 haben traditionelle Unistädte wie Münster mit den Studierenden ihren Anteil, aber ebenso die dazu im Vergleich noch sehr jungen Hochschulen in Ruhrgebiet. Dass es überhaupt zur Gründung der Unis in Dortmund, Bochum oder Bielefeld kam, steht im engen Zusammenhang mit dem Bildungsnotstand, der nicht nur in Deutschland, sondern in der damaligen westlichen Welt in Folge des Sputnik-Schocks ausgemacht wurde. Sputnik hieß der erste Satellit, den die Sowjetunion ins Weltall geschickt und damit im Westen Bedrohungsängste ausgelöst hatte. Mit der Forcierung von Bildung wollten nun die Industriestaaten im Wettlauf mit den Russen deutlich punkten.

Bildungsnotstand als Keim der Kritik

Bildungsnotstand und Kritik am Bildungssystem sollten allerdings auch zum Thema der Studierenden werden. Ihr Aufbegehren in Westfalen entsprang aber vor allem universitären Anlässen, wie beispielsweise in Bochum als Protest gegen eine geplante Univerfassung. Oftmals ging es allerdings auch um politischen Ereignissen, unter anderem bei der wohl größten Aktion in Münster mit über 2000 Beteiligten, die den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger bei einem Besuch der Stadt mit Sprechchören ob dessen Nazi-Vergangenheit empfingen.

Nun ist das Buch aber nicht nur lesenswert, weil es aufzeigt, dass auch Studierende in Westfalen es verstanden, auf die Straße zu gehen, sondern es beschreibt auch das gesamte Ausmaß von Aufruhr in Westfalen und darüber hinaus. Wenn man so will, blieb kaum eine gesellschaftliche Gruppe verschont, auch die Kirchen nicht. Beim Katholikentag in Essen gab‘s Debatten am laufenden Band und eine bis dahin kaum gekannte Heftigkeit der Kritik an den Kirchenoberen. Schüler und Lehrlinge machten Front gegen zu hohe Busfahrpreise, Jugendliche forderten mehr Jugendzentren. In Bochum oder auch in Münster machten Aktivistinnen von sich reden, die die traditionelle Rolle von Mann und Frau in Frage stellten und damit die Emanzipationsbewegungen nach vorne brachten.

Als Rudi Dutschke mit Johannes Rau diskutierte

Dass es in diesen stürmischen Zeiten auch Momente gab, die von Sachlichkeit geprägt waren, macht der Autor am Beispiel einer Debatte in der Wattenscheider Stadthalle deutlich. Im Februar 1968 diskutierte dort der damalige Fraktionschef der NRW-SPD (und spätere Bundespräsident) Johannes Rau mit Rudi Dutschke, der sich nach Meinung von Beobachtern nicht als radikaler Studentenführer präsentierte, sondern eher als „parteipolitischer Konkurrent der SPD“.

Wer nun wissen möchte, wo denn eigentlich der Protest seinen Ausgang nahm, den nimmt Großbölting mit auf einen Besuch in den USA Mitte der 60er Jahre, als Studierende sich für Redefreiheit auf dem Campus einsetzten, Woodstock zur Legende wurde, Schwule und Lesben, Native Americans sowie Vietnamkriegsgegner Demonstrationen organisierten. Apropos USA: Großbölting nutzt die letzten Zeilen des Buches, um eindringlich darauf hinzuweisen, dass die heutige Liberalität, die zweifellos 68 zuzuschreiben ist, keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt.

Thomas Großbölting: „1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung“. Ardey Verlag, Münster. 172 Seiten, 13,90 €.




Leuchtende Hoffnungen der 60er Jahre – Peter Kurzecks Hörbuch „Unerwartet Marseille“

Es gab eine Zeit, in der die Welt von Tag zu Tag besser zu werden schien. Auch nach der Sommersonnenwende (21. Juni) soll damals die Helligkeit noch zugenommen haben. Wie denn das?

Wenn jemand damals einen Tramper mitnahm, so bedeutete das einfach: einsteigen, sein Leben mitbringen, sich freimütig austauschen. Es war der Vorschein des Jahres 1968, der da schon flirrte. In dieser Zeit vordem ungeahnter Freiheitsversprechen wollten die Jungen und Neugierigen, einmal aufgebrochen, immer und immer weiter fahren. Da konnte es geschehen, dass man auf einmal in Südfrankreich war, obwohl man doch am nächsten Tag wieder hätte arbeiten sollen: „Unerwartet Marseille“, so telegraphierte Peter Kurzeck damals seinem Arbeitgeber als „Entschuldigung“ – und wurde nicht entlassen. Ein paar Jahre später hat sich Kurzeck fürs Leben eines Schriftstellers entschieden. Auch davon weiß er mit großer Genauigkeit und ansteckender Begeisterung zu berichten.

Peter Kurzeck (Jahrgang 1943) zuzuhören, das ist eine Labsal. Wesentliche Teile seines Werks sind just mündliche Erzählungen – und von dort kommt ja letztlich alle Literatur her. 2007 kam seine weit ausgreifende, nicht genug zu preisende Kindheits-Geschichte heraus: „Ein Sommer, der bleibt“ (4 CDs, 290 Minuten, erschienen bei supposé, Berlin, 34,80 Euro), jene wunderbar detailreich gesponnene nordhessische Nahansicht der bundesdeutschen Nachkriegszeit aus der Perspektive eines kleinen Jungen und sodann Heranwachsenden. Man möchte sie geradezu trinken, all diese wahrhaftigen Augenblicke, die sich nie zur falschen Idylle verklären. Manches ist zum Flennen schön.

Jetzt also liegt Kurzecks neues Hörbuch vor: „Unerwartet Marseille“ (2 CDs, 123 Minuten, erschienen bei Stroemfeld, 19,80 Euro). Es ist die Aufzeichnung einer Live-Lesung an der Universität Siegen vom 25. Mai 2011. Da erstrahlen noch einmal die Hoffnungen, die viele junge Menschen vor und um 1968 nicht nur gehegt, sondern innigst gelebt haben. Taucht man ein in Kurzecks wunderbar ruhigen Erzählfluss, so möchte man weit, weit getragen werden – am liebsten bis an die Gestade gelungener Zukunft, an die Ufer der Utopie. Zitat: „Alles, was man sieht, fängt ein bisschen zu leuchten an.“

Der linke Großvater erzählt, zum soundsovielten Male? Oh nein, das ist es beleibe nicht. Kurzecks Mitteilungen aus der Vergangenheit sind bar jeder Ideologie, überhaupt frei von jeglicher Anmaßung. Weder geht es hier um Deutungshoheit, noch kann von Naivität die Rede sein. Längst Verwehtes wird getreulich im gesprochenen Wort bewahrt. Man könnte meinen, etwas vom Geist jener Zeit wehe auf einmal wieder hier und jetzt. Es muss da eine Substanz geben, die womöglich bleibend ist. Welch ein wertvoller Stoff!

Der Erzähler glitt im milden Dauerrausch durch Tage und durchwachte Nächte. Allfälliges Kiffen und Trinken „von Glas zu Glas“, an anderer Stelle als „konsequentes Trinken“ bezeichnet, grundieren die ungemein gelassene Wahrnehmung, für die sich alles im Fluss befindet. Vor allem im Sonnenlicht funkelnde Weiß- und Roséweine verschönen die ohnehin schon wunderbaren Tage.

Kurzeck hatte damals spürbar Lebenshunger, war stets begierig auf neue Gegenden und Menschen, sorglos unterwegs, für ein paar Jahre gleichsam „unsterblich“. Seine Reisewege führen z. B. nach Amsterdam, München, Venedig, Triest, Istrien, Wien, Schweden, ans Nordkap. Jede Stadt und Region hat zwar ihr eigenes Gepräge, doch überall gibt es den Hauch der neuen Hoffnung.

Schon 1964 fährt Kurzeck erstmals ins goldene Prag, wo viele Menschen bereits den Vorfrühling in Köpfen und Herzen tragen. Und dann erst 1968, dort! Da herrscht rundum das intensive Gefühl, dass die Welt besser wird, dass alles schlichtweg so sein soll und nicht anders… In diesem Klima ist der Erzähler immer wieder neu verliebt, denn siehe, auch die Frauen sind in jenen Tagen schöner denn je!

Wehmut und Wut darüber, wie dieses Wachsen der Utopie hernach zertreten und von Panzern überrollt wurde, werden insgeheim miterzählt, doch es überwiegt der Gestus des rettenden Festhaltens der federleichten Freiheit – für diese und für kommende Zeiten: Solche Tage waren einmal möglich. Warum soll es nicht einmal wieder so werden?




Kunst 1968: Alles auf Anfang

Zu „1968“ ist nun wahrlich so manches gesagt und gezeigt worden. Da fällt einem kaum noch etwas ein. Die meisten Restbestände vom Dachboden der Zeitgeschichte dürften zum 40. Jahrestag anno 2008 auf den Tisch des Hauses gekommen sein. Oder etwa nicht? *** (siehe Fußnote). Man glaubte jedenfalls, über die damalige Rebellion in groben Zügen einigermaßen Bescheid zu wissen.

Umso mehr verwundert nun der Ansatz der Bielefelder Kunsthalle. Dort steht die Kunst des Jahres 1968 unterm Leitwort „Unschuld“. Ja, das Motto lautet sogar „Die Große Unschuld“. Während andere Museen die politischen Aspekte von 1968 rauf und runter buchstabiert haben, steht Bielefeld mit dem ästhetischen Zugang ziemlich einzig da.

Nanu? Unschuld? Auf diesen vermeintlich Harmlosigkeit aufrufenden Begriff ist man nicht gerade gefasst, wenn man an jene Zeiten zurückdenkt. Doch beim Rundgang durch die Bielefelder Schau leuchtet die Perspektive so manches Mal ein. Um den geronnenen Klischeesatz gleich zu verwenden: So viel Anfang wie damals war selten. Sinnbildlich für weite Teile der Auswahl könnte der leere Globus des bei uns weitgehend unbekannten Slowaken Július Koller stehen: Da nimmt der innige Wunsch nach tabula rasa (reiner Tisch), nach völligem Neubeginn Gestalt an. Alles auf Anfang.

Allseits offen und frei gab sich sich seinerzeit die Kunst, gaben sich auch zahlreiche Künstler im Dasein. Gar vieles schien möglich zu sein. Kaum etwas, was nicht zum Experiment, zur Umschöpfung und gründlichen Umdeutung anregte. Diese wunderbare, vielfach zukunftsfrohe Vitalität des Veränderungswillens mutet im historischen Rückspiegel nicht nur unschuldig an, sondern gelegentlich auch ein wenig unbedarft und nahezu naiv. Aber man gäbe reichlich was drum, wenn wenigstens ein Hauch dieser Stimmung durch unsere Gegenwart wehen könnte.

Die Kunsthalle hat sich ein immenses Pensum aufgeladen, das beinahe ihre Dimensionen und Möglichkeiten sprengt. 350 Arbeiten von 150 Künstlern sind zu sehen. Nicht nur alle Etagen des Hauses werden (zuweilen dicht an dicht) „bespielt“, sondern die Flut der Exponate ist hie und da bis an den Rand der Treppenhäuser, in die Flure und ins Kellergeschoss geschwappt.

In dieser Fülle und aus dem gehörigen zeitlichen Abstand zu 1968 wird man einiges gewahr. So etwa auch die Leidenschaft des Zeitgeistes für allerlei aufblasbare Hüllen – von Christos berühmter Riesen-„Wurst“ auf der documenta bis zu Hans Holleins durchsichtigem, aufblasbarem „Büro“, das zugleich auf die schier grenzenlose Mobilität der Lebens- und Denkweisen und auf die Lust an der Transparenz verweist. Solche „Architektur aus Luft“ war gewissermaßen ein Prägezeichen der geschichtlichen Stunde. Gleich daneben vermittelt ein Flugzeugmodelle von Panamarenko das freudige Vorgefühl fürs Abheben.

Ausstellungs-Kurator Roman Grabner geht in der Interpretation noch weiter – und dabei zum Ursprung zurück. Er macht in den Kunst-Hüllen von und um 1968 imaginäre Gebärmütter aus, von denen sich die Menschen wohlig warm umhüllt fühlen konnten – auch ein Schutz gegen grellen Konsumterror, anschwellende Gewalt und (Vietnam)-Krieg? So betrachtet, gewinnt das Wort „Unschuld“ nochmals eine andere Qualität.

Doch natürlich lässt sich die vielfältige Kunst nicht so ohne weiteres auf wenige Begriffe bringen. Das ist auch gar nicht das Ziel dieser keineswegs eindimensionalen Ausstellung. Sie rekonstruiert Partikel eines Zeitklimas und eines Energiestromes, der zumindest in Rinnsalen bis heute fließt. Und es drängt sich der Eindruck auf: Alles, was wir heute als Kunst akzeptieren, hat damals einen Neuanfang genommen.

Viele Protagonisten der Zeit waren allerdings ausgesprochene Sonderlinge und Einzelgänger, die jeweils ureigenes Neuland betraten. Zahlreich also die „Positionen“, deren Hervorbringungen den Betrachter in wahre Wechselbäder tauchen und die sich nicht einfach gesellschaftlich „verrechnen“ lassen.

Einige Beispiele: Der noch junge Sigmar Polke drehte das bis dahin gängige Kunstvokabular durch den Wolf – stets in dem Sinne, nichts „Höheres“ mehr gelten zu lassen. Umgekehrt erlangten bei ihm rüde Schimpfwörter (auf einer Art Bildteppich versammelt) „Museumswürde“, die freilich zugleich wieder grundsätzlich dementiert wurde. Eine windungsreiche Kunst gegen jede hierarchische Ordnung.

Die Wiener Aktionisten (Otto Muehl, Hermann Nitsch, Günter Brus) ergingen sich derweil in rituellen Orgien mit Blut, Urin, Kot und Sperma. Der zur rigorosen Askese neigende Brus riskierte bei Performances des öfeteren seine physische Unversehrtheit.

Die Anfänge der avancierten Lichtkunst (Dan Flavin) kommen ebenso in Betracht wie die Entgrenzungen der Body Art und der Land Art, die letztlich ins Unendliche zielte und von der im Museum nur vage Spuren gezeigt werden können. Die fast vollkommene formale Zurückhaltung der Minimal Art wird hier – gerade im Kontrast zu aufgeregteren Spielarten – als Quell erhabener Ruhe erfahrbar. Die Arte povera (mit „armen“ Materialien geschaffen) spendet weitere, nochmals anders gelagerte Energien, etwa mit den (Uterus-förmigen!) Iglus des Mario Merz. Und die feministisch oder matriarchalisch inspirierte Kunst beispielsweise der grandiosen Louise Bourgeouis lässt auch die Frage nach einer etwaigen „spezifisch weiblichen“ Ästhetik aufkommen. Schwieriges Gelände.

Ebenso plakativ vordergründig wie abgründig wirkt der „Auftritt“ des Andy Warhol mit einem Motiv von 1963, das er just 1968 erneut aufgriff. Er stellte einen Elektrischen Stuhl auf die Bildbühne und „porträtierte“ das furchtbare Möbel in schillernd wechselnder Farbgebung. Ob dies irgend eine Kritik an Hinrichtungen bedeutet oder nur das Spiel mit visuellen Werten, ist ganz und gar nicht gewiss. Explizit „politische“ Kunst (z.B. Edward Kienholz) wird in Bielefeld eher in Nischen gezeigt. Der brachiale Einbruch des Vietnam-Krieges in spießige US-Wohnzimmer ist dabei ein Standardthema.

Auch gegenläufige Richtungen, an die man bei der Stichzahl „1968“ nicht sofort denkt, wurden just damals eingeschlagen und füllen das Maß in Bielefeld noch üppiger: In der DDR orientierte sich der frühe A. R. Penck (bürgerlich Ralf Winkler) an archaischen Signaturen der Höhlenmalerei. Georg Baselitz irritierte mit Hund- und Jagd-Bildern die linken Präferenzen, er wurde zunächst geflissentlich ignoriert. Noch heftiger am kritischen Zeitgeist zielte Anselm Kiefer vorbei, der sich vor diversen Hintergründen unverdrossen mit dem Hitlergruß zeigte. Um das Mindeste zu sagen: Eine ausgesprochen störrische, monströse Arbeit, die bis heute Rätsel aufgibt.

„1968. Die Große Unschuld“. Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Straße 5). Bis 2. August. Geöffnet täglich 11-18 Uhr, Mi 11-21 Uhr, Sa 10-18 Uhr. Pfingsten (31. Mai/1. Juni) geöffnet). Eintritt 7 €, ermäßigt 2 bis 5 €, Familie 14€. Katalog (576 Seiten) im Museum 28 € (im Buchhandel 49,95 Euro). Internet: http://www.kunsthalle-bielefeld.de

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*** Die neueste Debatte (um den 2. Juni 1967, Kurras und die Stasi) lassen wie hier mal geflissentlich außen vor.




40 Jahre danach: Abrechnung mit den 68ern – Persönliche Erinnerungen und nachträgliche Analysen zur Revolte

Von Bernd Berke

Vierzig Jahre ist es nun schon her, doch das Thema scheint schier unerschöpflich: Was ist vom Mythos des rebellischen Jahres 1968 geblieben? Was wirkt weiter? Was hat sich womöglich „erledigt“? Mit solchen Fragen befassen sich in diesen Jahr etliche Buchautoren. Eine Auswahl:

Höchst provokant geht Götz Aly zu Werke, ein einstiger Mitstreiter der Revolte. Verglichen mit damals, vollzieht er eine komplette Kehrtwende. Schon der Titel seiner Abrechnung, „Unser Kampf 1968″, der gefährlich an Adolf Hitlers „Mein Kampf“ anklingt, lässt es ahnen. Zwar kann auch Aly bis heute die Anstöße zum Aufstand (verdrängte NS-Vergangenheit, Vietnamkrieg, Springer-Presse) nicht ganz leugnen, doch wendet er ansonsten alles gegen die studentischen Akteure.

Als wolle er sich und seine Generation nachträglich selbst bestrafen, bezeichnet Götz die Studentenrevolte als eine „Bewegung“, die manches mit den verhassten Vätern aus der NS-Zeit gemein gehabt hätte – bis hin zur Figur des Anführers, dem laut Aly „machthungrigen“ Rudi Dutschke.

Seine Quellen waren u. a. Akten vom Verfassungsschutz. Skepsis wäre da angebracht gewesen. Statt dessen: schnöder Verrat an der eigenen Jugendzeit! Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung vertritt ähnliche Thesen, doch ungleich leiser. Sein mit Anmerkungen gespicktes Buch „Acht und Sechzig. Eine Bilanz“ kehrt totalitäre Versuchungen und Tendenzen der Revolte hervor, wie sie seinerzeit schon der Philosoph Theodor W. Adorno angeprangert hat.

Andere sagen’s gänzlich anders: Laut Peter Schneider war Rudi Dutschke ein Mensch „reinen Herzens“, und Reinhard Mohr attestiert dem Studentenführer schlichtweg mitreißendes Charisma. Der Schriftsteller Peter Schneider (Romanerfolg „Lenz“) hat für „Rebellion und Wahn – Mein 1968″ seine Tagebücher von damals neu gelesen – mit wachem Sinn für beide Lebensphasen. Er macht die Impulse seiner jungen Jahre nicht nieder, sondern nimmt sie wichtig, ohne sie zu glorifizieren. Ein betrüblicher Befund: Das Private sei in jenen Jahren unterm Politischen verschüttet worden. So bemerkt Schneider heute mit Erstaunen, dass er damals eine Liebesgeschichte durchlitten hat, die im Grunde mindestens so bedeutsam war wie all die Demos, in deren Sog man anfangs eher per Zufall hineingeraten sei.

Reinhard Mohr („Spiegel online“) ist kein Achtundsechziger, sondern ein Nachgeborener. In „Der diskrete Charme der Rebellion“ betrachtet er die Dinge aus ironischer Distanz, was als Gestus des „Darüberstehens“ nicht immer angenehm ist. Recht ausführlich zeigt er die Vorgeschichte: Stumpf- und Biedersinn der Adenauer-Zeit; erste Gegenkräfte, etwa bei den Schwabinger Gaudi-Krawallen der frühen 60er Jahre.

Mohr schildert Konflikte zwischen dem strengen Studentenbund SDS und der „Spaßguerilla“ rund um die „Kommune 1″. Kommunarde Fritz Teufel, so erfahren wir, habe viele Groupies gehabt, während Dutschke verbissen die Klassiker las. Mohrs Fazit: Vieles sei neoromatische Halluzination gewesen, Selbstüberschätzung aus bloßen Stimmungen heraus – mit Ausläufern bis in die RAF-Terrorszene. Diese Schattenseiten vergisst kein Autor.

Rudolf Sievers verfolgt mit „1968 – Eine Enzyklopädie“ eine völlig andere Absicht. Mit Texten zum bewegten Jahr (Marx, Adorno, Marcuse, Enzensberger, Dutschke, Flugblätter usw.) will er den Zeitgeist von ’68 wieder lebendig machen. Manches liest sich mit Gewinn, doch man steigt nicht zweimal in den selben (Zeit)-Fluss.

Hans-Peter Schwarz hat sich einer Hassfigur der „68er“ gewidmet: In „Axel Springer. Die Biografie“ lässt er dem Mann, dessen „Bild „-Zeitung die Stimmung gegen Dutschke und Genossen seinerzeit anheizte, größtmögliche Gerechtigkeit widerfahren. Es waltet Verständnis für die Motive des Großverlegers. Springer habe „Schneid“ besessen und sich nicht gängigen Meinungen anbequemt. Als nach dem Attentat auf Dutschke die „Bild“-Lieferwagen brannten, habe er freilich tief betroffen über einen (Teil)-Verkauf seines Imperiums nachgedacht.

Die Kulturgeschichte der 60er Jahre, die nachhaltiger gewirkt haben dürfte als alle politisierten Debatten, kommt leider in allen Bänden zu kurz. Auch wird die „Provinz“ kaum in den Blick genommen. Meist nur Berlin, Frankfurt und Paris – das ist nicht die ganze Wahrheit.

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SERVICE

Die vorgestellten Bücher

  • Götz Aly: „Unser Kampf 1968″. S. Fischer Verlag. 256 Seiten, 19,90 Euro.
  • Peter Schneider: „Rebellion und Wahn. Mein ’68“. Kiepenheuer & Witsch, 364 Seiten, 19,95 Euro.
  • Wolfgang Kraushaar: „Acht und Sechzig. Eine Bilanz“. Propyläen. 256 S., 19,90 Euro.
  • Reinhard Mohr: „Der diskrete Charme der Rebellion“. Wolf Jobst Siedler Verlag (wjs). 238 S., 19,90 Euro.
  • Rudolf Sievers (Hrsg.): „1968. Eine Enzyklopädie“. Edition Suhrkamp. 475 Seiten, 18 Euro.
  • Hans-Peter Schwarz: „Axel Springer. Die Biografie“. Propyläen. 600 S., 26 Euro.
  • Außerdem zu nennen:
  • Gerd Koenen / Andreas Veiel (Hrsg.): „1968. Bildspur eines Jahres“ (200 Pressefotos der Zeit). Fackelträger, 190 Seiten, 29,95 Euro.
  • Lothar Menne: 1968. Unter dem Pflaster lagen die Träume“. Goldmann Verlag, 250 S., 14,95 Euro.
  • Michael Ruetz: „1968. Die unbequeme Zeit.“ Steidl Verlag, 224 S., 40 Euro.
  • Norbert Frei: „1968. Jugendrevolte und globaler Protest“. dtv premium, 288 S., 15 Euro.

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EXTRA

Generation ’68 im Revier

  • In Paris gingen sie auf die Barrikaden – und in Berlin. Aber an Rhein undRuhr – gab es da auch die zornige Generation ’68?
  • Der Autor Manuel Gogos beantwortet die Frage auf seiner Feature-CD „Die Revolution mit der Heizdecke“ (8,50 Euro) klar mit ja. In Bonn rauchten freche Studis die Zigarren des Rektors, in Köln rockte sich die Band CAN in Trance, selbst an den Werkstoren im Revier wurde erregt diskutiert. Was haben die Kinder der Revolution gewollt? Warum verflossen Pop und Protest?
  • Als Studenten auf die Barrikaden gingen und Arbeiter mehr Rechte einforderten, war Norbert Kozicki gerade 15.
  • Der Aufbruch faszinierte den heutigen Sozialwissenschaftler. Was den Pazifisten begeisterte: Die jungen Rebellen entdeckten ’68 eine neue, unblutige Waffe – die Sprache.
  • Genau das ist Thema von Kozickis Buch „Aufbruch in NRW. 1968 und die Folgen“ (7,95 Euro).
  • Beide Titel sind im Rahmen der „mediathek für Nordrhein-Westfalen“ ab sofort in den WR-Leserläden zu haben.

 




Als die Rebellion noch ganz frisch war – Gespräch mit dem Autor F. C. Delius über seinen neuen Roman zur Studentenrevolte

Von Bernd Berke

Die Werkliste des Friedrich Christian Delius (54) ist lang. Das Spektrum reicht von herzhaften Attacken auf Konzerne („Unsere Siemens-Welt“, 1972) bis zum Romanzyklus über den „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977. In „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (1994) schilderte Delius die Gefühle eines kleinen Jungen zur Zeit der Fußball-WM 1954. Sein neuer Roman „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ (Rowohlt-Verlag) spielt 1966, im Vorfeld der 68er Studenten-Rebellion. Ein Gespräch mit F. C. Delius auf der Frankfurter Buchmesse:

Warum die Revolte der 60er Jahre als Romanthema? Aus Nostalgie?

F. C. Delius: Ich bin im Grunde kein „68er“, sondern ein „66er“. 1966 fing die enorme geistige und kulturelle Bewegung an und erweiterte sich dann aufs Gebiet der Politik. Demonstrationen hatten noch einen ganz schlichten moralischen Impuls. Und eine dieser allerersten Demonstrationen – im Februar 1966 vor dem Amerikahaus in Berlin – versuche ich zu beschreiben. 1968 gab es bereits eine Verengung. Da waren viele schon überzeugt bis zur Selbstüberschätzung und sprachen von Revolution. Der Aufbruch ist eine Sache von 1966. Das war noch frei von Dogmatismus und Ideologie, es war die Erweiterung des Horizonts. Der erste Blick nach Vietnam…

Ihre Trilogie zum „Deutschen Herbst“ und das „Weltmeister“-Buch liegen vor. Jetzt also 1966. Haben Sie eine komplette Roman-Chronik der Republik im Sinn?

Delius: Den Ehrgeiz habe ich nicht. All diese Bücher haben sich aus ganz persönlichen Fragestellungen entwickelt. Mit den Romanen zum „Deutschen Herbst“ wollte ich meine Lähmung und meine Hilflosigkeit erkunden. Das „Weltmeister“-Buch hat mit meiner Kindheit zu tun.

Sie verknüpfen in Ihrem neuen Roman die politischen Vorgänge mit den sexuellen Problemen Ihrer Hauptfigur. Dieser Martin ist überaus schüchtern und kommt nicht recht an die Mädchen heran.

Delius: Es geht mir nicht nur in politischer Hinsicht um das Öffnen des Blicks, das Öffnender Person. Ich finde, daß immer ein Zusammenhang besteht zwischen dem Sexualleben und den politischen Gefühlen und Gedanken.

Im „Literarischen Quartett“ ist das Buch vor ein paar Tagen recht gut weggekommen. Aber die „Frankfurter Allgemeine“ hat Ihnen vorgehalten, Sie hätten „Ich war dabei“-Literatur geschrieben.

Delius: Das finde ich eher amüsant. Meine Figur ist ja gerade kein Held, sondern ein relativ schwacher Mensch mit einigen Macken. Er entspricht nicht dem Klischee, das sich von den 68ern gebildet hat. Damals waren viele arme Würstchen dabei, die trotzdem was bewegt haben und was Richtiges gedacht haben.

Für wen haben Sie das Buch in erster Linie geschrieben: Für die Apo-Generation, oder eher für jüngere Leute?

Delius: Ich denke beim Schreiben zunächst mal nicht ans Publikum. Ich muß erst gucken, daß das, was ich mir vorgenommen habe, auf die Reihe kommt. Erst dann kann es auf andere wirken. Aber gerade jüngere Leute finden das Buch glaubwürdig, weil ich nicht das Heldenepos eines fertigen Jung-Revoluzzers geschrieben habe, sondern von einem erzähle, der skeptisch beobachtet, der Angst hat und Scham kennt.

Was sagen Sie zu den landläufigen Vorwürfen, die deutsche Gegenwartsliteratur sei nicht welthaltig genug?

Delius: Das ewige Gejammer ist dumm. Die deutsche Literatur ist stärker, als man allgemein denkt.




Die Kinder der Revolte machen bruchlos weiter – Das legendäre „Living Theatre“ bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. So kann man’s machen: Auf der Hinfahrt zum Theater den Cassettenrecorder oder Walkman mit Musik der 60er Jahre laden. Mit Stones, Doors, Velvet Underground & Co. Dann ist man emotional ungefähr da, wo das „Living Theatre“ noch heute leibt und lebt: mitten in den Jahren der Revolte.

Die Kinder dieser Zeit machen bruchlos weiter, als sei seit jenen 60ern nichts geschehen. Diesen Eindruck, von dem man nicht recht weiß, ob man ihn verheißungsvoll oder befremdlich finden soll, nimmt man aus Recklinghausen mit. Dort tritt die legendäre New Yorker Theatertruppe bei den Ruhrfestspielen auf. Steckbrief: 1951 von Julian Beck (†) und Judith Malina gegründet, in den 60er Jahren d a s freie Theater überhaupt und eine Mutter der Alternativ-Szene. „Paradise Now“ hieß das bekannteste Projekt, der Aufschrei einer Generation.

Das neue Stück „Rules of Civility“ (etwa: Anstandsregeln) entstand durch Zufall. Bei einem Ausflug kam die Gruppe, die bis heute als Kommune zusammenlebt, in ein Nationalmuseum. Man fand dort eine Broschüre über den US-Gründervater George Washington (1732-1799). Der vermeintliche Erz-Demokrat hatte in 110 Regeln dargelegt, wie er sich das rechte Leben vorstellte. Essenz: Immer schön Respekt vor den Höhergestellten haben. Und immer saubere Fingernägel vorzeigen.

Sonnenklar, daß ein solches Korsett den Nachfahren von ’68 mißfällt. Das „Living Theatre“ zeigt nun, mit recht simplen darstellerischen Mitteln, wie solche Regeln, wenn sie von Menschen gegen Menschen durchgesetzt werden, direkt den menschlichen Körper betreffen, ihn gewaltsam einschnüren, zurichten, zurechtbiegen.

Sie sind so naiv und so schrecklich sympathisch

Die Darsteller schwärmen auch, nach ihrer Gewohnheit, ins Publikum aus und rufen damit Angstlust im Parkett hervor. Alle 110 Paragraphen werden in der englischsprachigen Aufführung zitiert und musikalisch unterlegt, der Präsidenten-Patriarch betritt als Doppel-Figur (Erwachsener und Kind) die Bühne. Hauptrequisit ist eine Ananas, die als Zeichen für Kolonialismus herhält.

Es wäre leicht, sich ironisch über die Sache herzumachen, so naiv bezieht das „Living Theatre“ George Washington auf die Gegenwart. Dessen Regeln, so ruft man uns inbrünstig von der Bühne aus zu, seien Regeln des Krieges — aus ihnen ableitbar sei Amerikas fatale Weltpolizistenrolle. Und alles, was sie uns gezeigt haben, sagen sie auch noch viele Male: All‘ diese Regeln müsse man brechen, dann werde die Welt besser.

Schön war’s ja: Wir alle benehmen uns spontan — und alsbald herrscht Frieden. Man möchte dem „Living Theatre“ seine Botschaft gerne glauben. Die Truppe ist so mit sich im Reinen, geradeaus und ehrlich. Sie sind gewiß nicht die besten Schauspieler, aber sie sind schrecklich sympathisch.

Im Grunde vollführt man ein Schattenboxen gegen Washington. Seine strikten Benimmregeln sind eh längst außer Kraft. Ja, vielleicht brauchen wir gar das Gegenteil: Mehr statt weniger Form im Zusammenleben. Wenn auch nicht im stocksteifen Sinne Knigges oder Washingtons.

Aber der Schluß ist stark: Da ziehen die Leute von „Living Theatre“ in einer Lichterprozession mit dem Publikum ins Freie – zur stillen Meditation. Rund ums „Depot“ hört man nun Vogelstimmen in der Abenddämmerung. Wer weiß: Vielleicht wird doch noch alles, alles gut…




Ruhrfestspiele: Zurück zur Utopie von 1968 – Hansgünther Heyme stellt Programm in Prag vor

Aus Prag berichtet Bernd Berke

Auch im Spätherbst ist Prag eine wunderschöne, aber oft neblige Stadt. Nebulös und ungewiß auch die nahe Zukunft: In weniger als einem Monat wird Prag die Metropole eines neuen Staates sein, der Tschechischen Republik. Die Slowaken gehen dann eigene Wege. Wird es gutgehen?

Das entsprechende Hickhack um Besitzstände (bis hin zum Streit um einzelne Kunstwerke), ist jedenfalls derzeit d a s Gesprächsthema an der Moldau. Selbst die schlimmen Nachrichten über deutsche Rechtsradikale dringen bislang eher gedämpft in die goldene Stadt.

Hierher also hatte Ruhrfestspiel-Chef Hansgünther Heyme gebeten, um seine Festival-Pläne für 1993 zu erläutern. Warum an die Moldau und nicht an die Ruhr? Nun, man versteht sich ja seit ein paar Jahren als Europäisches Festival. Zweiter Grund: der jäh beendete „Prager Frühling“ vor fast 25 Jahren. Denn das Jahr 1968 spielt in Heymes Plänen für 1993 eine tragende Rolle. Schließlich gehören Gastspiele von Prager Bühnen zum Programmgerüst. Und Vaclav Havel, so hofft man, übernimmt die Schirmherrschaft.

Bedeutet das Ende des Realsozialismus auch das Ende aller Utopien? Nicht für Heyme! Im Gegenteil: Er möchte am liebsten die Antriebskräfte des rebellischen Jahres 1968 wieder mobilisieren. Die damalige Aufbruchstimmung ist Schwerpunkt, wenn auch nicht durchgehende Leitlinie der Festspiele ’93.

Odysseus als ruheloser Intellektueller

Die Kunstausstellung der Festspiele wird eine Zeitgeist-Schau über 1968. Heyme selbst steuert seine Inszenierung „Heimkehr des Odysseus“ (nach Homer) bei. Odysseus, so ein Regiegedanke, ist Prototyp des ruhelosen Intellektuellen, wie er auch um ’68 aktiv gewesen sein könnte. Außerdem plant Heyme die Uraufführung eines Textes von Gaston Salvatore, in dem dieser einstige Mitstreiter Rudi Dutschkes die APO-Vergangenheit „aufarbeiten“ soll. Beide Stücke sind Koproduktionen mit Heymes neuer Wirkungsstätte Bremen.

Auch Johann Kresnik, Chef des Bremer Tanztheaters, ist dabei: Seine „Wendewut“-Choreographie basiert auf einem politischen Text von Günter Gaus über die deutsche Vereinigung. Doch schnell zurück nach Prag: Friedrich Dürrenmatt hatte „Minotaurus“ seinerzeit eigens für das weltberühmte Prager Theater „Laterna Magika“ verfaßt. Nur der Regisseur Milan Svoboda könne diesen Prosatext angemessen auf die Bühne bringen, befand der Schweizer Autor. So geschah es. Svoboda verzichtet weitgehend auf Sprache und setzt den Geist des Textes in magische Bilder um. Er kommt mit seinem multimedialen Spektakel zu den Ruhrfestspielen.

Trotz Unterdrückung an Idealen festhalten

Deutlicher sind die Bezüge zu 1968 bei der zweiten tschechischen Produktion. „Laute Einsamkeit“ von Bohumil Hrabal hatte beim „Theater am Geländer“ bereits 1983 Premiere. Obwohl bis zur „samtenen Revolution“ des Jahres 1989 nicht dafür geworben werden durfte und auch keine einzige Kritik erschien, sprach sich das Ereignis herum und kam auf über 300 Vorstellungen. Hrabals Text behandelt die Frage, wie man trotz Unterdrückung an seinen Idealen festhalten kann.

Der Programmüberblick verspricht weitere Bühnen-Genüsse: Andrea Breth zeigt ihre Berliner Version von Gorkis „Nachtasyl“. Aus New York reist das legendäre „Living Theatre“ an und spielt – erstmals in Europa – „Rules of Civility“. Vorlage ist hier ein Text von George Washington zum Thema Demokratie.

Das spanische Totaltheater „La Fura dels Baus“, das schon 1991 bei den Festspielen Furore machte, kommt mit einer neuen Produktion wieder. Mittlerweile ist die Truppe aus Barcelona durch die Gestaltung der Olympia-Eröffnungsfeier zu weltweiter Berühmtheit gelangt. Gute Bekannte in Recklinghausen sind auch Maurice Béjart und seine Tanzcompagnie aus Lausanne. Diesmal führen sie „Cinema – Cinema“ auf, eine Hommage an die Filmregisseure Fritz Lang, Pasolini und Godard zu Musikstücken von Verdi, Bartók und Schönberg.

Sogar das Musical „Anything Goes“ (Alles ist möglich) feiert Wiederauferstehung. Heyme hatte Cole Porters Werk vor Jahresfrist als publikumsträchtige Eigenproduktion bringen wollen, war mit diesem Vorhaben aber gescheitert. 1993 kommt „Anything Goes“ als eingekauftes Gastspiel vom Berliner Theater des Westens. Na, bitte. Fast alles ist möglich.




Lachnummern aus der Menschheitsgeschichte – Roland Rebers „Merlin“ beim Theaterpathologischen Institut in Lünen

Von Bernd Berke

Lünen. Irgendwo zwischen Zeit und Ewigkeit steht ein Gitter. Davor lümmelt sich „Merlin“ (Joe Bausch), seines Zeichens keltischer Zauberer, in den Sessel. Ein Greis in Morgenrock und langen Unterhosen, verschmitztes Einstein-Gesicht.

In Roland Rebers „Merlin“-Projekt, das am Samstag vom „Theaterpathologischen Institut“ (TPI) im Lüner Hilpert-Theater erstaufgefiihrt wurde, ist diese Titelfigur der unsterbliche Geist, der (wenn er nicht gerade über sein intergalaktisches Radio die neuestenRock-Hits sendet) die Historie mit weltbewegenden Ideen infiziert, die allemal in Katastrophen enden.

Es erscheinen einige von Merlins früheren Opfern: Die vor lauter Lustverzicht mannstoll gewordene Lysistrata (Ute Meisenheimer); der sagenhafte König „Artus“ (Jochen Nickel), über die mißlungene Gralssuche zeternd; die schamhafte Jungfrau Jeanne d’Arc (Fee Sachse), die die Holzzweige ihres Scheiterhaufens wie ein Röckchen trägt, und Robespierre (Frank Holz), ein Klugschwätzer sondergleichen. Sie alle sind auf Erden im Dienste von Ideen gescheitert. Nun sind sie Lachnummem, die mit ihren Klischees hausieren und vor Stammtisch-Zoten nicht zurückschrecken. Vollends in den Gefilden der Farce bewegen sie sich, als Robespierre den anderen das Ritual scheindemokratischer Abstimmungen beibringt. So weit das leidlich lustigeund schauspielerisch noch tragbare Geschichts-Kabarett.

Als ganz gewöhnliche Leute, diesen Plan rückt „Merlin“ dann endlich heraus, sollen die vier ins Leben zurückkehren – zwecks „Projekt ’68“, also APO-Zeit. Folgt ein Umbaupausen-Film über Vorfahrtregeln im Verkehr. Dann führt uns Reber – aber „volle Kanne – in die rebellischen Spätsechziger: dicker Joint, Che-Guevara-Poster, dümmliches Gelaber von sexueller Revolution und – Theater im Theater – lachhafte Proben für ein „proletarisches“ Stück. Soll man denken, es hätten damals nur Vollidioten die Szene beherrscht? Wirklich auseinandergesetzt hat sich der Stücke-Schreiber Roland Reber mit seinem Thema offenbar kaum – er wäre ohnehin reichlich spät dran.

Nachdem Reber das, was er für die „68er“ hält, gründlich niedergemäht hat, treibt er einige Darsteller (Auftritt: die Beziehungsgeschädigte; die Terroristin) doch noch in „große“ Tiefsinns-Monologe hinein – etwa des Inhalts, daß, gleichsam von Lysistrata bis Dutschke, der Einzelmensch unter Ideengebäuden sich krümmte, was aber nicht sein soll. Welch eine Erkenntnis! Am Schluß taucht „Merlin“ wieder auf und krächzt „We shall overcome“. Das ganze Ideentheater könnte also von vorn beginnen? Nein, danke!

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Leserbriefe

„WR-Kritiker fiel offenbar Haßgefühlen zum Opfer“

Betr.: WR-Bericht „Lachnummern aus der Menschheitsgeschichte“

Wenn Ihre Mitarbeiter und Ihre Zeitungsich schon überregional mit theaterspezifischen Themen auseinandersetzen, kann man als Leser ja wohl ein Mindestmaß an Objektivität und Sachkenntnis erwarten. Dieser oben genannte Artikel läßt aber eindeutig den Schluß zu, daß Herr Berke sich von dem Stück persönlich angegriffen fühlte und deshalb auf ein rhetorisch so niedriges Niveau abgesunken ist.

Im übrigen ist festzustellen, daß die lokale Berichterstattung sich von der überregionalen deutlich nach oben hin abhebt. Es gibt also noch Leute mit Sachverstand. Gott sei Dank! Klaudia Witt, Lünen

Eigentlich lohnt es sich nicht, über die Berichterstattung Ihres Mitarbeiters Bernd Berke Worte zu verlieren. Dieser primitive Schreibstil erreicht bzw. übertrifft noch einen Bild-Zeitungs-Journalismus. Herr Berke muß bei seiner Berichterstattung in seiner Arroganz außerdem wohl Haßgefühlen gegen Roland Reber zum Opfer gefallen sein.

Ulla und Eugen Zymner, Olfen