Heinrich Böll: Vom Kinderfoto bis zum Altersgedicht – Erstmals umfassende Ausstellung in Köln

Von Bernd Berke

Köln. „Charakterliches Streben: zufriedenstellend; Geistiges Streben: zufriedenstellend; Religion: genügend; Deutsch: genügend“ – Kein sehr glänzendes Abiturzeugnis. Aus dem Menschen kann nicht viel geworden sein, könnte man meinen. Doch die mäßigen Bewertungen stehen auf dem Reifezeugnis, das am 6. Februar 1937 auf den Namen Heinrich Böll ausgestellt wurde.

Das Origiaaldokument ist eines von rund 450 Exponaten, die zur ersten wirklich umfassenden Böll-Ausstellung gehören. Am 21. Dezember, dem Tag, an dem der wohl bekannteste deutsche Nachkriegs-Schriftsteller 70 Jahre alt geworden wäre, wird die Zusammenstellung in der Kölner Zentralbibliothek (Josef-Haubrich-Hof) mit einer Ansprache von Walter Jens eröffnet.

In dem eingangs zitierten Zeugnis wurden auch die Verhältnisse geschildert, aus denen der Autor stammte: „Geordnetes Familienleben, doch sehr dürftige Verhältnisse. Der Vater, Bildhauer, ist seit langem arbeitslos. 6 Kinder“. Unter dem Punkt „Charakter“ behaupten die Lehrer: „Schwerblütig, verträglich, vielleicht nicht energisch genug“.

Natürlich wird nicht nur Bölls Schulzeit durch Ausstellungstücke dokumentiert. Die vom Böll-Neffen Viktor und von Gabriele Ricke erarbeitete Schau ist chronologisch in sieben Abteilungen gegliedert, sie reicht vom Kinder-und Klassenfoto über die Kriegspostkarte aus Nordfrankreich, über Briefwechsel mit den Kollegen von der „Gruppe 47″ bis hin zu Dokumenten, die das stete politische Wirken Heinrich Bölls belegen. Fotos zeigen ihn z. B. bei einer Rede gegen die Notstandsgesetze (Mai 1968) und bei der großen Bonner Friedensdemonstration (Oktober 1981).

Zwei weitere Dokumente markieren die Extrempole der öffentlichen Einschätzung Bölls: eine infame Karikatur, die Böll als Helfershelfer der Terroristen darstellt – und jenes Telegramm, mit dem die Schwedische Akademie der Wissenschaften dem Schriftsteller 1972 mitteilte, daß man ihm den Literaturnobelpreis verliehen habe.

Nicht nur jene, die Bölls politische Wirkung höher einschätzen als seine literarische Potenz, kommen auf ihre Kosten. Detailliert wird – am Beispiel des Buchs „Gruppenbild mit Dame“ – Bölls Schaffensprozeß belegt. Der Einblick in die literarische Werkstatt des 1985 verstorbenen Kölner Ehrenbürgers umfaßt erste Ideen, Notizen, Entwürfe, Ma- terialien, die der Autor tieim Schreiben heranzog, Korrekturfahnen und Buchausgaben.

Ein Brief, den er Ende der 40er Jahre an seinen ersten Lektor schrieb, erhellt auch ein weniger bekanntes Kapitel aus Bölls Leben. Er war damals – kaum, daß er begonnen hatte – drauf und dran, die Schriftstellerei ganz aufzugeben, und zwar aus finanziellen Gründen. Spürbaren Erfolg hatte er mit seinen Büchern nämlich erst ab Mitte der 50er Jahre.

Daß die Materialien über Boil in Köln so zahlreich beisammen sind, ist erfreuliche Folge des Vertrags, den der Autor seinerzeit mit der Stadt schloß: Köln zahlte ihm eine Pension, Böll überschrieb der Domstadt dafür seinen Nachlaß.

Die Ausstellung schließt mit einem sehr privaten Dokument, einem Gedicht, das Böll kurz vor seinem Tod, am 8. Mai 1985, für seinen Enkel Samay schrieb:

„Wir kommen weit her / liebes Kind / und müssen weit gehen / keine Angst / alle sind bei Dir / die vor Dir waren / Deine Mutter, Dein Vater / und alle, die vor ihnen waren“.

Die Ausstellung dauert vom 22. Dezember bis 30. Januar 1988 (Öffnungszeiten: Di. u. Do. 11.30 bis 20 Uhr, Mi. u. Fr. 9-18 Uhr, Sa. 10-15 Uhr). Eintritt frei, Begleitbroschüre 2 DM.




documenta 8: Der Hunger nach Bildern scheint vorerst gestillt

Von Bernd Berke

Kassel. Das weltweit diskutierte „Museum der 100 Tage“, die 8. Kasseler documenta, öffnet heute die Pforten. Während die documenta 1977 vornehmlich der Selbstreflexion gewidmet gewesen war und „Kunst über Kunst“ in den Vordergrund gestellt hatte, legte die Weltkunstschau 1982 den Akzent auf expressive Stile (Stichwort „Neue Wilde“) und folgte einem Konzept der „Kunst über Künstler“.

So sieht es jedenfalls der künstlerische Leiter der neuen documenta, Manfred Schneckenburger (48). Mit dem von ihm verantworteten Fünfjahres-Resümee, so Schneckenburger, melden sich die Künstler in der Wirklichkeit zurück. Kein neuer Stil habe sich als Schwerpunkt aufgedrängt, sondern eine neue Haltung: Die Kunst beziehe sich wieder verstärkt auf die „historische und soziale Dimension“. Statt der Nabelschau auf Formstrukturen zu frönen, wage man wieder öfter Metaphern und Bilder, die auf unsere Wirklichkeit verweisen.

Schon ein erster Rundgang zeigt, daß mit derlei Schlagworten nicht die Rückkehr zur Politkunst oder zu simplen Vermittlungsformen gemeint sein kann. Das gesellschaftliche Moment der allermeisten Arbeiten kommt, falls überhaupt, oft erst über vertrackte ästhetische Bezüge oder Denkumwege zum Vorschein. Die .„Brücke zum Publikum“, die man laut Schneckenburger diesmal schlage, erweist sich oft genug als Zickzack-Strecke, manchmal gar als Holzweg.

Die absolute Ausnahme bildet ein Künstler wie Hans Haacke, der im „Fridericianum“ eine Installation errichtet hat, die man zunächst für einen schnöden Reklamepavillon hält, die sich aber sehr schnell als direkte Kritik am Gewinnstreben deutscher Großkonzerne in Südafrika erweist. Relativ problemlos ist der Zugang auch noch zu den Bildern eines Leon Golub, der Gewalt und Unterdrückung ohne Umschweife thematisiert.

Vielfach dominieren negative Utopien

Schwieriger wird es schon bei einigen Hauptwerken dieser documenta. lan Hamilton Finlays vier Guillotinen, die auf einer Blickachse in Richtung eines Schlosses liegen, eine Qualität von Schönheit und Schrecken darstellen und durch Inschriften auf den französischen Revolutionsberserker Robespierre Bezug nehmen, verlangen schon genaueres und längeres Hinsehen, sind interpretationsbedürftig. Ähnliches gilt für die Arbeit des Chilenen Alfred Jaar, der mit „1+1+1″ der Frage nachgeht, wie Kunst die politische Wirklichkeit darstellen, ja überhaupt erst auf die Füße stellen kann. Vielfach dominieren freilich negative Utopien, katastrophische Szenen, die weniger zum Nachdenken denn zum Horror gereichen.

Eins zeigt sich als Tendenz recht deutlich: Der vielbeschworene „Hunger nach Bildem“ ist einstweilen gestillt. Die documenta 8 hat aus der Not eine Tugend gemacht und die Flucht in die dritte Dimension ergriffen: Architektur (Modelle von „idealen Museumsbauten“), Design sowie Skulpturen und Objekte im städtischen Raum spielen eine Rolle wie nie zuvor. Zusammenfassend könnte man sie als selbstbewußte Interventionen der Kunst ins Reich der Wirklichkeit ansehen. Einfacher ausgedrückt: Es geht um Kunst, die sich nützlich machen will und manchmal auch Unterhaltungswerte nicht scheut.

Insgesamt wird man jedoch den Eindruck nicht leicht los, daß dieselben Arbeiten, unter einem anderen Konzept-Blickwinkel als dem Schneckenburgers betrachtet, sich auch ganz anders deuten ließen. Aber auch das gehört ja zum Spannenden an der Kunst, daß sie jeder Interpretation immer um mindestens einen Schritt voraus ist.

Übrigens: Dem verstorbenen Joseph Beuys, ohne den man sich eine documenta noch immer nicht vorstellen kann, ist ein eigener, zentraler Raum im gräßlich restaurierten Fridericianum gewidmet. Erstmals ist dort seine Endzeit-Vision „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“ authentisch zu sehen.

„documenta 8″. Kassel (u. a. Fridericianum, Orangerie, Innenstadt, Auepark, Karlswiese). 12. Juni bis 20. September, täglich 10 bis 20 Uhr, Freitag/Samstag 10 bis 22 Uhr-Tageskarte 10 DM, Dauerkarte 80 DM. Katalog (3 Bände) 90 DM, Kurzführer 12 DM. Führung durch die gesamte Ausstellung 6 DM pro Person. Führungsdienst/Information: Tel. 0561/77 3104