Eric Clapton: Auf dem Gipfel des Gitarrenspiels / Dortmunder Publikum am Rand der Raserei

Von Bernd Berke

Dortmund. Untrügliches Kennzeichen für einen Klasse-Gitarristen: Er dreht sich auch bei heiklen Passagen nicht vom Publikum weg. Und er macht keine abenteuerlichen Verrenkungen, um als Gitarrero zu imponieren. Wer jetzt in der ausverkauften Westfalenhalle gesehen hat, wie souverän Eric Clapton die irrwitzigsten Läufe „wegspielt“, weiß Bescheid.

Dieser Mann, seit „Yardbirds“-Zeiten Mitte der 60er Jahre ein Denkmal des Rock, gehört nach wie vor zur Weltelite seines Instruments. Wo andere wie auf einem Hackbrett herumfuhrwerken, entlockt Clapton der Gitarre immer neue Singstimmen. Und er trieb damit sein Dortmunder Publikum nach und nach bis an den Rand der Raserei. Auch eine Vorgruppe wie die Leute um Tony Joe White mit ihrem durchaus soliden Südstaaten-Rock verblaßte da nachträglich zur Dutzendware.

„Clapton ist Gott“ – der Graffiti-Spruch aus! den 60ern ist dennoch mindestens Blödsinn. Überdies ist John McLaughlin im Zweifelsfalle noch eine Hundertstel schneller, aber Gitarrespielen ist kein Formel-1-Rennen. Und Johnny Winter mag noch ein paar Zentimeter tiefer im Blues stecken, aber es gibt nicht nur den Blues. Vielleicht gehört Clapton in eine Art altgriechischen Götterhimmel, wo er eben nicht allein ist. Beim Zeus!

Titel aus „Cream“-Zeiten als Gerüst

Clapton (47) weiß, wann er seine allerstärkste Zeit gehabt hat – mit Jack Bruce und Ginger Baker in der Supergruppe „Cream“. Also stieg er gleich mit „White Room“ ins Dortmunder Konzert ein. „Cream“-Titel bildeten ein Gerüst der Show – von „Sunshine of Your Love“ bis „Crossroads“. Weitere Hits im Programm: „I Shot the Sheriff‘, „Layla“, eine hochenergetische Version von „She’s Waiting“ und – aus neuester Produktion – „Tears in Heaven“, ein Song über seinen tödlich verunglückten Sohn Conor.

Über zwei Stunden ohne Pause legten Clapton & Co. los. Keine Ansage, kein überflüssiges Gerede, nur ab und zu ein „Dankeschön, Thank You“. Fast alle Titel geben dem Meister, der von einer vorzüglich eingespielten Formation gestützt wird, Gelegenheit zu ausführlichen Soli. Das hört sich nach Schema an, doch Clapton sprengt es. Dabei kommt, auch an rasanten Stellen, jeder Ton hörbar einzeln und sauber heraus, da wird nichts hudelig „verschliffen“. Kraft, Dynamik und Filigranarbeit sind hier beispielhaft vereint. Wird sie so gespielt, ist auch ältere Musik nie „von gestern“.

Wenn nur die Tontechniker etwas sensibler ausgesteuert hätten! Die kreischende Lautstärke, die sie hier und da für nötig hielten (und die Clapton ja wohl „abgesegnet“ hat), hat ein solcher Könner nicht nötig. Oh Ohrenpfeifen, laß nach! Nicht nur deshalb war man dankbar, daß Clapton auch ein paar Balladen (Höhepunkt: „Wonderful Tonight“) einstreute. Klar, daß da Wunderkerzen und Feuerzeuge im Publikum feierlich aufleuchteten. Und die Augen mancher (Alt-)Freaks zwischen 16 und 60 hatten nachher jenen seidigen Glanz…




Documenta-Splitter: Große Schau mit ein paar Macken

Von Bernd Berke

  • Kassel. Der Andrang zur documenta in Kassel ist riesengroß. Bereits am letzten Wochenende, als die Weltkunstschau gerade erst eröffnet war, strömten 18.000 Leute auf das Ausstellungsgelände, bis gestern waren über 40.000 da. Zeitweise mußten einzelne Gebäude geschlossen werden, sonst hätte man nur noch Besucher und keine Kunst mehr gesehen. Bis zum Schlußtag (20. September) dürfte man also den 1987 aufgestellten Rekord von 480.000 erreichen.
  • Auf der großen Wiese vor dem Fridericianum herrscht an sonnigen Tagen echte Volksfest-Atmosphäre. Das liegt nicht nur an den zahlreichen Imbiß- und Getränkeständen (einigermaßen zivile Preise), sondern vor allem daran, daß hier auch ein Forum für allerlei Weltverbesserer und Sonderlinge entstanden ist. In diese quirlig-bunte Szene mischt sich dann und wann auch eine Gruppe namens „DuKunst“ (Köln/Iserlohn), verpaßt Besuchern Goldstempel auf die Hand, verschenkt Reiskörner, erklärt documenta-Chef Jan Hoet für abgesetzt und läßt wissen, ein gewisser „Chez“ halte sich als Ersatz bereit. Auffallen ist alles.
  • Auf dem gleichen Platz ist meist auch der wohl gesprächsfreudigste aller documenta-Künstler zu finden: Mo Edoga, in Mannheim lebender Afrikaner, der dort aus Holzabfällen eine unübersehbar große Skulptur gebaut hat und Passanten sein Opus gern und genau erklärt. Unterdessen kam auch schon die Polizei zum (etwas ernsteren) Plausch vorbei, weil in dem Kunstwerk angeblich Teile öffentlicher Straßensperren „verbaut“ worden sind.
  • Weiterer Zwischenfall: Der Stand einer Gruppe namens „Atlantis“, die am Rande der documenta zu ökologisch gefärbten Kunstdiskussionen anregen wollte, ging in Flammen auf — Brandstiftung.
  • Für noch weit größeres Aufsehen könnte der Österreicher Wolfgang Platz sorgen, angeblich der einzige Künstler, der nach Eigenbewerbung bei Jan Hoet Gnade fand. Im September will Platz in Kassel eine seiner berüchtigten Performances (Zwischending von Körper-Kunst und Theateraufführung) zeigen. Man munkelt schon, Kassel werde noch lange davon sprechen – und daß es Platz‘ letzte Performance sein wird. Wer weiß, daß Platz bereits bei anderen Anlässen seine Unversehrtheit und sogar sein Leben „für die Kunst“‚ riskiert hat, fürchtet das Schlimmste.
  • Nichtraucher und Kultur-Puristen sind erbost: Als einer der Hauptsponsoren der documenta verdingt sich eine Zigarettenfirma, die ihre Markenpackung als „Sonderedition“ mit einem aufgedruckten Sinnspruch von Jan Hoet („Kunst bietet keine klaren Antworten. Nur Fragen.“) auf der Ausstellung anpreist.
  • Wem ein normaler documenta-Besuch zu schnöde ist und wer über entsprechendes Kleingeld verfügt, kann den sogenannten „documenta-V.I.P.-Service“ in Anspruch nehmen. Für 890 DM pro Nase wird man dann rundum betreut und braucht sich um Kleinigkeiten wie Eintrittskarten oder Hotel nicht mehr zu kümmern. Auch die Erfüllung „individueller Wünsche“ sei möglich, heißt es. Je nachdem, dürfte es dann noch etwas teurer werden.
  • Regionalpatrioten werden von der documenta enttäuscht sein. Kein im Ruhrgebiet oder Südwestfalen lebender Künstler gehört zu den rund 190 Auserwählten. Gerade mal einer ist in Dortmund geboren: Martin Kippenberger, der aber schon lange in Köln lebt. Damit könnte man sich denn auch trösten. Das Gros der deutschen Künstler wohnt immerhin in NRW, sprich Köln oder Düsseldorf. Na, bitte!

 




Überall ist Künstlerland – ein Gang durch die Kasseler documenta

Von Bernd Berke

Kassel. In Kassel ist es jetzt so gut wie unmöglich, der Kunst zu entgehen. Die „documenta“ belegt ein ganzes Stadtviertel. Drinnen und draußen stößt man überall auf Kunst – selbst da, wo man es überhaupt nicht erwartet. So sind sogar unscheinbare Eckplätze wie Toilettenzugänge und Aufzüge Ausstellungsflächen geworden, und aus einem Grashügel blickt ein abgefilmtes Auge auf den Betrachter.

Im berühmten Fridericianum, dem würdevollen Zentralbau der documenta, entscheidet sich in der Regel bereits, ob die ganze Sache gelungen ist. Und tatsächlich kann man hier wechselvolle Kunst-Erfahrungen machen wie sonst in vielen Monaten nicht. Es ist ein Überblick im besten Sinne, nur hier und da – an den Rändern – in Beliebigkeit ausfransend.

Einen gewissen Schwerpunkt bilden Arbeiten, die auch Körper-Erfahrungen vermitteln, seien es solche der Angst oder auch der Freude. Da läuft man durch einen ganzen Wald aus Punching-Säcken, die einem heftige Knüffe geben, da gerät man anschließend unversehens in die „Transit-Bar“ der Exil-Tschechin Vera Frenkel und bekommt am Tresen per Videoeinspielung einige Emigranten-Schicksale „kredenzt“. Gleich danach schockiert eine Figuren-Installation, in der ein Gorilla auf einen gefesselten Menschen gehetzt wird.

Doch es gibt auch Ruhezonen – wie jenes begehbare Fach von Louise Bourgeois, in dessen Halbdunkel die Elemente einer Kindheitsgeschichte dämmern, oder Lawrence Carrolls kleine Wand- und Bodenobjekte, die sich vor dem Blick beinahe verstecken wollen und darum desto nachhaltiger wirken. Eine erstaunliche Strategie in dieser verdichteten Konkurrenz der Künstler.

Ein innerer Zusammenhalt

Überhaupt zeichnet es diese Documenta aus, daß die Künstler nicht nur intensiv auf die jeweiligen Bauten und Räume, sondern im Idealfalle auch aufeinander reagiert haben. Das verleiht dieser „Kunst-Olympiade“, allem Pluralismus der Formen und Stile zum Trotz, einen inneren Zusammenhalt.

In der „Neuen Galerie“ und im „Ottoneum“, zwei weiteren documenta-Stätten, wird dies besonders augenfällig. Dort hat man die existierenden Bestände nicht einfach ausgeräumt, sondern mit documenta-Beiträgen innig durchsetzt –in einem Fall wird auf klassische Moderne, im anderen auf naturkundliches Inventar wie etwa ausgestopfte Vögel Bezug genommen; mal bescheiden kommentierend, mal mit weit ausgreifendem Anspruch wie bei Joseph Kosuth, der in der „Neuen Galerie“ fremde Werke mit Tüchern verhängt, auf denen Sätze der abendländischen Geistesgeschichte stehen. Die Worte – so eine mögliche Deutung – haben die Bilder „aufgefressen“, die Deutungen die ursprünglichen Anlässe vernichtet.

Ein ähnlich raumgreifendes Werk hat in der neuen documenta-Halle Mario Merz installiert: ein 50 Meter langes „Gebüsch“ aus Reisigholz, versehen mit magisch leuchtenden Neonzahlen, wie man sie auch aus anderen Werken dieses Künstlers kennt. Sinnlos-selbstvergessen vor hinstampfende Maschinen und Notsignale einer nur noch dürftigen Restnatur – das sind weitere Kunstzeichen in der neuen Halle.

Nur noch leise Hilferufe?

Hier und in anderen Gebäuden taucht denn auch immer mal wieder jene von Jan Fabre gestaltete Hand auf, die sich um einen Notgriff, einen letzten Halt zu klammern scheint. So wäre es also um die Kunst bestellt: daß sie nur noch leise Hilferufe geben kann?

Kein beruhigender Befund also, was des Menschen Körperlichkeit angeht. Und auch Landschaften, so zeigen viele Arbeiten, „gehen“ längst nicht mehr ohne Zersplitterung. Sie kommen nur noch als künstliche Aufbauten und Konstruktionen vor. Oder man läuft durch notdürftig vernagelte, verlassene Endzeit-Stätten wie jenes Holzhüttendorf des Japaners Tadashi Kawamata, das allerdings auf hintersinnige Weise auch ein Stück ökologischer Hoffnung enthält.

In den sogenannten „temporären Bauten“ draußen in der Karlsaue, einer Art Kunst-Eisenbahn mit verschobenen „Waggons“, findet man schließlich auch Beispiele der guten alten Farbfeld-Malerei. Es ist eben dies, was die documenta so spannend und sympathisch macht: daß sie keine Kunstform ausklammert, und zwar nicht nach dem schnöden Prinzip, daß heute eben „alles möglich ist“, sondern indem sie zeigt, daß all diese Stile im Not- und Zweifelsfall wichtig sein können.




Ein Mann stürmt himmelwärts – Jan Hoet und die 9. documenta in Kassel

Von Bernd Berke

Jede „documenta“ hat ihr Wahrzeichn. Waren es bei früheren Ausgaben der Weltkunstschau zum Beispiel Walter de Marias im Boden versenkter „Erdkilometer“, Joseph Beuys‘ gigantische Öko-Aktion „7000 Eichen“ oder anno 1987 Ian Hamilton Finlays Guillotinen, so ist diesmal Jonathan Borofskys auf einer Glasfiberstange in den Himmel stürmender Mann das beherrschende Symbol: „Man walking to the sky“ – das könnte auch auf Jan Hoet, den Chef der morgen startenden 9. documenta zutreffen.

Auch bei der gestrigen Eröffnungspressekonferenz waren die Aussagen des Belgiers wolkig. In einer deutsch-englischen sprachlichen Achterbahnfahrt sondergleichen teilte er den fast 2000 staunenden Journalisten aus aller Welt mit, die Beiträge der etwa 190 documenta-Teilnehmer seien „Vorschläge der Künstler an die Gesellschaft“. Kunst gegen den „Körper-Verlust“ sei angesagt. Dieser Verlust äußere sich unter anderem in Phänomenen wie Aids, Armut und Krieg.

Da dies noch die Sätze mit der größten Substanz waren, artete die Presse-Show zur mehr oder weniger fröhlichen Absurdität aus. Da wurden Menschheitsfragen diskutiert wie jene, ob Boxfan Jan Hoet tatsächlich den (wegen Vergewaltigung inhaftierten) Weltmeister Mike Tyson jemals zur documenta-Diskussion eingeladen habe. Hoet dementierte dies heftig.

Eingeladen hatte Hoet hingegen den renommierten Künstler Sigmar Polke, doch der befand das „Museum der 100 Tage“ nicht einmal einer Reaktion für würdig. Hoet kleinlaut: „Ich habe gehört, er konzentriert sich lieber auf seine Einzelausstellung in Amsterdam.“ Jedenfalls vermisse er Polke ebenso schmerzlich wie jene Handvoll weiterer Künstler, die „aus technischen Gründen“ nicht präsentiert werden könnten. Dafür habe man aber erstmals „einen wirklichen Amerikaner“ dabei, nämlich einen waschechten Cherokee-Indianer…

Anflug von Chaos und Wahn

Überhaupt läßt sich Hoet von Einwänden ungern behelligen. Da wird die neue deutsche Mittellage der ehemaligen Zonenrandgebietsstadt Kassel bejubelt, doch die osteuropäischen documenta-Teilnehmer kann man an einer Hand abzählen. Da zeigt sich Hoet „bewegt, dankbar und tiefglücklich“, ist überzeugt, er habe die schönste documenta aller Zeiten gemacht, denn: „Das jüngste Kind ist immer das schönste.“ Und dann muß er unter dem meckernden Gelächter der versammelten Presse bei der Frage passen, mit welchem Etat man eigentlich wirtschafte. Antwort: Rund 16 Millionen DM.

Doch der sanfte Anflug von Chaos und Wahn, der Hoet umweht, seine entschiedene und durch nichts zu beirrende Subjektivität sowie der riesige Freiraum, den er den Künstlern gelassen hat, haben eine zu großen Teilen wirklich überzeugende Ausstellung bewirkt. Das wird schon bei einem ersten Rundgang deutlich. Von keinem Konzept eingeschnürt, läßt Hoet die ganze Breite heutiger Kunst zu – wenn das einzelne Werk nur Kraft hat.

Außerdem hat Hoet auch nüchterne Einsichten. Der Standardfrage zuvorkommend. warum mehr Männer als Frauen an der documenta beteiligt sind, sagte er, in diesem Punkt interessiere ihn weder Männlein noch Weiblein, sondern nur gute Kunst.

documenta, Kassel. 13. Juni bis 20. September. 10.30 bis 19.30 Uhr täglich / Tageskarte: 20 DM.




Die (noch) verborgene Kunst – Ruhrfestspiele und ÖTV-Streik

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Nach der Premiere des Musicals „Kiss me, Kate“ (die WR berichtete), liegt jetzt ein zweites Hauptereignis der Ruhrfestspiele wegen des ÖTV-Streiks auf Eis: die Ausstellung „Cowboys and Indians“.

Wirrwarr am Samstag: Hatte es mittags noch geheißen, die Schau werde nicht eröffnet, aber zumindest der Presse vorgestellt, war am Nachmittag schon wieder alles anders. Auch die versammelten Journalisten durften noch keinen Blick hinter jene Eisentür werfen, hinter der Bilder von Andy Warhol, Horst Gläsker, Friedemann Hahn und Horst Antes vorerst verborgen bleiben.

Kunsthallen-Chef Dr. Ferdinand Ullrich hatte eine solche Situation noch nicht erlebt: eine fix und fertige Ausstellung, auf die er merklich stolz ist, die er aber niemandem zeigen darf. Zwar standen keine Streikposten vor der Kunsthalle, doch eine Weisung der Festspiel-Geschäftsführung hatte dem Museumsleiter die Hände gebunden.

Grundlage ist ein Abkommen zwischen der ÖTV-Kreisleitung und der Festspiel GmbH. Genaugenommen werden nicht die Festspiele als solche bestreikt, sondern „nur“ die städtischen Einrichtungen, die an das Festival vermietet sind. Dazu zählen Festspielhaus und Kunsthalle, nicht aber das „Theater im Depot“. Jedenfalls verpflichteten sich die Festspiel-Macher, den Streik nicht zu brechen.

Ferdinand Ullrich schilderte, in welchem Zwiespalt viele Kulturschaffende dieser Tage stecken. Man wolle den ÖTV-Aktionen nicht in die Parade fahren, aber doch liebend gern die Früchte der oft monatelangen Proben- und Vorbereitungs-Arbeit herzeigen. Nicht nur Theaterleute, sondern auch Ausstellungsmacher arbeiteten – mit stetig wachsender Anspannung — auf Premieren- bzw. Eröffnungs-Termine hin. Wenn die dann ungenutzt verstrichen, sei erst einmal „die Luft ‚raus“ (Ullrich).

Auch finanzielle Probleme wirft die Situation auf. Natürlich entgehen den Ruhrfestspielen Eintrittsgelder. Sie müssen aber nach Lage der Dinge wohl auch an Streiktagen die (maßvolle) Miete für jene Gebäude zahlen, die sie derzeit aufgrund „höherer Gewalt“ gar nicht bespielen können.

Vollends vertrackt: Andererseits finanziert die ÖTV via Gewerkschaftsbund die Festspiele mit.




Visionen für die „documenta“ – Jan Hoet präsentierte in Kassel 186 Namen und ein vages Konzept

Von Bernd Berke

Kassel. „documenta“-Macher Jan Hoet ist schon ein seltener Mensch. Kaum einer vermag sich und andere so für das Abenteuer Kunst zu begeistern wie er, doch auch kaum einer redet sich dabei dermaßen ins Ungefähre und Vage hinein.

Der Belgier hat beinahe Qualitäten eines Erweckungs-Predigers: Mag man auch manchen Satz für abwegig halten, so fühlt man sich doch mitgerissen. Man weiß nur nicht so recht, wohin. Jan Hoet hätte denn auch gestern – statt seiner Visionen für die Weltkunstschau – ebensogut die „Merseburger Zaubersprüche“ vortragen können. Nicht nur die in großen Mengen nach Kassel geströmten Journalisten dürfen immer noch rätseln, wie „es“ denn in den 150 Tagen bis zur Eröffnung gedeihen wird.

Und das ist auch gut so, denn das wirkliche Ereignis ist ja die Begegnung mit der Kunst, nicht das vorschnelle Gerede darüber. Hoet verriet, daß jedem documenta-Gebäude eigenes Recht widerfahren solle. So werde etwa das altehrwürdige Fridericianum, das die „Potenz der Vergangenheit“ verkörpere und „männliche“ wie „weibliche“ Bauteile in sich vereinige, mit entsprechender Kunst bestückt. Bruce Nauman zum Beispiel werde dort für das „maskuline Element“ der Kunst einstehen, während Marisa Merz und Louise Bourgeois für „femininen“ Kontrast sorgen. Die neue documenta-Halle (Ersatz für die Orangerie) gleiche hingegen einer Kirche. Die Halle, die am 28. Februar endgültig eingeweiht wird (ein religiöser Begriff, der hier trifft), soll also offenbar ein geheiligter Kunst-Ort sein.

Am liebsten schwärmt Jan Hoet: von der neuen „Akropolis“ (sprich: documenta-Halle) oder auch vom Kasseler Königsplatz, der nunmehr herrlich rund in der Mitte des vereinten Deutschland liege. Es blieb anderen vorbehalten, auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen. So machte Kassels Oberbürgermeister Wolfram Bremeier einen (so wörtlich) „wahlkampfergebnis-gefährdenden“ Gestaltungsstreit um eben jenen Königsplatz aus. Er ließ auch durchblicken, daß die Spendierwilligkeit der Politik schon auf die Probe gestellt worden sei. Immerhin beträgt der Etat der 9. documenta 15,6 Mio. DM (davon 6,6 Mio. DM Zuschüsse), die documenta-Halle hat rund 23 Mio. DM gekostet. Vor fünf Jahren reichten noch 10,2 Millionen DM. Einen Teil der Kosten will man vom 13. Juni bis 20. September durch verdoppelte Tages-Eintrittspreise (20 statt 10 DM) wieder „einspielen“.

Jan Hoet legte immerhin die komplette Liste der 186 documenta-Künstler vor. Man wird zwar nicht Namen, sondern Werke beurteilen müssen, doch ein paar Dinge fallen auf: viele weniger bekannte Namen, was die Sache spannend macht; mit den ehemals „Wilden“ hat Hoet überhaupt nichts im Sinn, zudem sind recht wenige Osteuropäer vertreten. Außerdem: Da Größen wie Ulrich Rückriem, Sigmar Polke, A. R. Penck und Gerhard Richter dabei sind. fällt das Fehlen zweier deutscher Namen um so mehr auf: Georg Baselitz und Anselm Kiefer. Befragt, welchen Grund es für Kiefers Nichtteilnahme gebe, beschied Hoet lakonisch: „Meinen Grund!“

Es wird die erste documenta „nach Beuys“ sein. Hoet dazu: „Ich habe keinen neuen Beuys gesucht. Aber fast alle beteiligten Künstler sind durch Beuys‘ Gedanken hindurchgegangen“. Insofern sei der Verstorbene doch höchst präsent. Im Verlauf der Pressekonferenz kam es zu zwei kleinen Zwischenfällen: Ein Hamburger Künstlerduo knallte im Namen einer „neuen Freiheit“ mit Schreckschußpistolen in die Luft, ein weiterer Hanseat legte Hoet einen hochhackigen Schuh hin und orakelte: „Hätte van Gogh Damenschuhe gemalt, wäre er nicht verrückt geworden.“ Wann hat man schon einmal so ein großes Presseforum…

Zum guten Schluß gab Jan Hoet der deutschen Kunstkritik noch einen Denkzettel mit: Hierzulande fahre man auf den vielen Autobahnen meist geradeaus. Ähnlich stehe es mit der Beurteilung von Kunst. Auch da wolle man immer gleich zum Ziel.