Die Kraft kommt von innen – Maler Jörg Immendorff 60 Jahre alt, das Werk wird von seiner Krankheit fast verdeckt

Es ist nicht ganz leicht, Kopf und Blick frei zu bekommen für Jörg Immendorff als Künstler. Der Maler, der heute – wahrscheinlich unter Schmerzen – 60 Jahre alt wird, ist zuletzt anderweitig bekannt geworden, bis weit in kulturferne Kreise hinein.

Bringen wir es hinter uns: Wohl jeder weiß, dass die Polizei Immendorff am 16. August 2003 mit gleich neun Prostituierten und einigen Kokain-Vorräten in einem Düsseldorfer Nobelhotel ertappt hat. Er wurde auf Bewährung verurteilt und durfte seine Professur behalten. Auch ist bekannt, dass Immendorff an der unheilbaren Nervenkrankheit ALS leidet, die ihn zunehmend lähmt. Dies lässt seinen vermeintlich lüsternen Exzess nachträglich in anderem Licht erscheinen. Da wollte sich jemand verzweifelt ans Dasein klammern.

Es begann mit dem Schlachtruf „Hört auf zu malen!“

Ärzte haben prophezeit, dass er diesen 60. Geburtstag nicht mehr erleben würde. Doch sein Wille ist stark. Es scheint so, als werde er bis zum letzten Augenblick malen – mit welchem Handicap auch immer. Vielleicht hält ihn eine (geminderte) Form jener Lebensgier innerlich aufrecht, die den einstigen Kraftkerl früher bewegt hat. Zudem hat er eine junge Frau und eine kleine Tochter.

Die künstlerische Laufbahn des Offizierssohnes begann 1966 ausgerechnet mit dem Schlachtruf „Hört auf zu malen!“ Dieser Schriftzug stand auf einem Ölbild, das Immendorff kurzerhand durchgestrichen hatte. Damals, in den Zeiten der Studentenbewegung, standen Zweifel an den herkömmlichen Künsten hoch im Kurs. Möglichst renitente Aktionen waren gefragt.

Auch der widerspenstige Beuys-Schüler Immendorff befasste sich seinerzeit mit neo-dadaistischen Happenings, die er unter dem Nonsens-Begriff „Lidl“ (hat also nichts mit der Discount-Kette zu tun) ins Werk setzte. Nicht immer subtil, aber wirksam im Auftritt: So band er sich einen schwarz-rot-goldenen Klotz ans Bein und ging damit vor dem Bonner Bundestag auf und ab, bis quasi wunschgemäß die Polizei einschritt.

„Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?“

Mit zäher Konsequenz hat Immendorff, der von 1968 bis 1980 als Kunsterzieher Düs- seldorfer Hauptschüler unterrichtete, an der politischen Bedeutung von Kunst festge-halten, zuweilen denkbar plakativ: „Wo stehst du mit deiner ner Kunst, Kollege?“, heißt ein Bild von 1973, auf dem Proletarier den Maler von seiner Staffelei wegholen wollen – hin zu den Klassenkämpfen auf der Straße. Es waren etwas andere Zeiten als heute.

Die linke (zeitweise maoistische) Orientierung hat Immendorff immerhin dagegen gefeit, sich als dandyhafter „Malerfürst“ wie etwa Markus Lüpertz aufzuführen. Als Markenzeichen hat sich der Künstler die Biene („Imme“) und den „Maleraffen“ erkoren, der auf vielen Bildern und in Skulptur-Serien auftaucht. Signal: Das Schöpferische quillt nicht zuletzt aus animalischen Instinkten.

Fast schon unheimlichen Spürsinn fürs Kommende bewies Immendorff ab 1978 mit der furiosen Bilderserie „Café Deutschland“, die deutsch-deutsche Befindlichkeit auf magisch beleuchteten Panorama-Bühnen ausbreitete und dabei im Gewimmel auch Visionen einer Vereinigung im brüderlichen Geiste aufscheinen ließ. Eine Inspirationsquelle war hier die Freundschaft mit dem Dresdner Künstler A. R. Penck.

Zu Beginn der 80er galt Immendorff dann als Protagonist der „Jungen Wilden“, deren heftige Malerei nicht nur die documenta 1982 beherrschte. Gegen Ende der 90er Jahre schwanden die großen Bilderbühnen – vielleicht wegen nachlassender Körperkräfte. Anno 2000 wurde auch dieser „andere“ Immendorff im Dortmunder Ostwall-Museum offenbar: Mysteriös surreale, oft organ- oder pflanzenförmige Gebilde wie aus einer Parallelwelt bestimmten die seither kleineren Formate. Unterwegs zu neuen Dimensionen der Innenwelt…




Bärbeißiger Menschenfreund – zwischen Stadtstreicher und alttestamentarischer Figur: Harry Rowohlt wird 60

Von Bernd Berke

Seine Lesungen, zu denen oft viele hundert Leute kommen; hat er einmal „Schausaufen mit Betonung“ genannt. Zeugenaussagen schwanken allerdings: Manche behaupten, Harry Rowohlt vertilge bei abendlichen Auftritten mühelos eine Flasche Whisky oder mehr. Andere sagen, alles sei halb so wild. Und wir wollen hier keinerlei Tatsachenbehauptung aufstellen.

Denn wer immer über Harry Rowohlt schreibt, muss sich hüten oder notfalls ducken. Der Mann schlägt mitunter verbal ganz scheußlich zurück; wie jetzt auch seine in Buchform gesammelten Briefe (1966 bis Ende 2004) vielfach beweisen. Am Sonntag wird die wohl verwegenste Gestalt der deutschen Kulturszene 60 Jahre alt.

Kongeniale Übersetzung aus dem Englischen

Vor allem als Übersetzer aus dem Englischen hat der Mann ungeheure Verdienste. Das Spektrum seiner kongenialen Übertragungen reicht vom Iren Flann „O’Brien (den er entschieden höher einschätzt als James Joyce) über Frank McCourt („Die Asche meiner

Mutter“) bis hin zu „Pu der Bär“ und zum Comic-Heros Robert Crumb. Wahrscheinlich ist Rowohlt sogar der beste Englisch-Übersetzer, den wir haben. Denn er liebt die deutsche ebenso wie die englische Sprache – und das klingt mit.

Auch als Verfasser herrlich abgedrehter, genialisch abschweifender Kolumnen („Pooh’s Corner“) reicht ihm – außer vielleicht Max Goldt – so schnell keiner den Griffel. Harry Rowohlt wirkt wie eine Mischung aus Stadtstreicher (er spielt ja auch seit Jahren den „Penner“ in der TV-Serie „Lindenstraße“) und alttestamentarischer Figur.

.Vulkanisch sind zuweilen seine Zornesausbrüche. An den Kritiker Fritz J. Raddatz schrieb er laut Buchabdruck äußerst rüde, kaum familienverträglich zitierfähige Zeilen. Grund: Raddatz hatte ausgerechnet die Werke des verehrungswürdigen Robert Gernhardt als stillos abgekanzelt. Harry Rowohlt hatte also nur die edelsten Motive.

Doch der manchmal so unwirsche Brummbär aus Hamburg kann auch ganz anders. Der Sohn des großen Verlegers Ernst Rowohlt schrieb schon als knapp über 20jähriger Lehrling im Frankfurter Suhrkamp-Verlag ebenso einfühlsame wie erfrischend offenherzige Auskunfts-Briefe. Auch später zeugen seine Antworten auf Leserzuschriften von Liebe zur ganzen literarischen Gemeinde. Ruhmreichen Autorenkollegen wie etwa Peter Rühmkorf oder Eckhard Henscheid widmet er ohnehin warmherzige Zeilen.

Die Liebe zum Publikum im Ruhrgebiet

Überdies hat der bärbeißige Menschenfreund Rowohlt, wie ein Briefwechsel belegt, dem WR-Mitarbeiter Tilmann P. Gangloff einst einen heiß ersehnten Leuchtkugelschreiber für Kinokritiken besorgt. Ist das noch steigerungsfähig? Jawohl! Rowohlt nennt das Publikum im Ruhrgebiet sein allerliebstes, und für Unna hat er ein besonderes Faible. Wie der Schlawiner das wohl wieder meint?

Staunenswert ist Rowohlts politische Zähigkeit. Der Band beginnt mit Comics des 11-jährigen Harry, die bereits 1956 die sozialistische Revolution preisen. Bis heute unterzeichnet Rowohlt seine Briefe häufig mit einem ruppigen „Der Kampf geht weiter!“

Eine beharrliche Seele also. doch auch einer, der schon früh erkannt hat, dass die DDR nichts taugt. Ein weltweiser Hippie, kein dümmlich orthodoxer Kommunist. Angewidert von manchen Wegen des Zeitgeistes, zieht Rowohlt unbeirrbar seine Bahn. Auch von geistigen Getränken und filterlosen Zigaretten hat er sich nie abbringen lassen.

Reisen in die USA lehnt er aus gleichem Grund wie Günter Grass ab: Er werde doch kein elendes Nichtraucherland besuchen…

• Harry Rowohlt: „Der Kampf geht weiter! Nicht weggeschmissene Briefe“. Verlag Kein & Aber, Zürich. 464 Seiten, 22,80 Euro.

• Außerdem neu im Handel: Harry Rowohlt „Pooh’s Corner. Complett“. Verlag Zweitausendeins (Versand + eigene Läden). 478 S., 14.90 Euro.