Aufbrüche aller Art: Spuren der 60er und 70er Jahre in der Wuppertaler Sammlung

Andy Warhol: „Mao Tse Tung“, 1972. Zehnerserie, je 91,5 x 91,5 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc.)

Wuppertals Von der Heydt-Museum kreist weiterhin produktiv um sich selbst, genauer: um seine eigene Sammlung, deren Schätze noch gar nicht komplett gehoben zu sein scheinen und noch immer Aha-Erlebnisse mit sich bringen. So entstehen neue Perspektiven aufs Vorhandene. Kostensparend sind derlei Ausstellungen ohne Leihgaben obendrein.

Kürzlich begann die Reihe der „Freundschaftsanfragen“ mit künstlerischen Stellungnahmen zu ausgewählten Beständen des Hauses, die Premierenschau läuft noch bis zum 10. Juli. Und schon gibt es eine weitere Ausstellung, die selten oder sogar noch nie vorgezeigte Arbeiten aus den Depots holt. „Fokus Von der Heydt“ lautet der Obertitel, ins Blickfeld rücken dabei „ZERO, Pop und Minimal“ sowie weitere Richtungen der ungemein vitalen und vielfältigen 1960er und 70er Jahre.

Gerhard Richter: „Scheich mit Frau“, 1966, Leinwand, 140 x 135 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © Gerhard Richter)

Das Wuppertaler Museum, im Kern wesentlich mehr „klassisch“ aufgestellt, war bislang nicht so bekannt für nennenswerten Eigenbesitz aus dem genannten Zeitraum. Seit eineinhalb Jahren aber sind die Magazine gründlich durchgesehen worden – und es kam manch Überraschendes ans Tageslicht. Seinerzeit war Wuppertal mit der legendären Galerie Parnass (finale 24-Stunden-Aktion mit Beuys, Vostell, Charlotte Moorman, Bazon Brock und vielen anderen am 5. Juni 1965) ein Fixpunkt der Avantgarde. Und siehe da: Damals wurde vom Museum zumindest punktuell klug und vorausschauend angekauft – sozusagen „am Puls der Zeit“, wie Von der Heydt-Direktor Roland Mönig findet. Doch seither sind viele Werke für Jahrzehnte im archivarischen Dunkel verschwunden. Bis jetzt.

Vieles musste erst einmal restauriert werden

Etliche Bilder, Objekte und Skulpturen mussten überhaupt erst einmal wieder restauratorisch für die Ausstellung aufbereitet werden werden, wie die Kuratorinnen Beate Eickhoff und Anika Bruns erläutern. Paradebeispiel ist eine veritable Wiederentdeckung, jene filigrane Skulptur von Harry Kramer, die von einem kleinen Motor über Spulen in Bewegung versetzt werden soll und nicht mehr funktioniert hat. Die Reparatur ließ sich fachgerecht bewerkstelligen, weil man einen früheren Assistenten des 1997 verstorbenen Künstlers aufgespürt hat und fürs Vorhaben gewinnen konnte.

Rune Mields: „Komposition“, 1970. Leinwand, 150 x 100 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Der Rundgang im 2. Obergeschoss hat keinen erschöpfenden, sondern eher kursorischen Charakter. Er umfasst 130 Arbeiten von nicht weniger als 95 Künstlerinnen und Künstlern, darunter viele bekannte, aber auch (aus welchen Gründen auch immer) verblasste Namen. Trotz der relativen Fülle kann jede Ausprägung nur vage „angetippt“ werden, denn die Bandbreite reicht von der Gruppe ZERO (Uecker, Mack und Piene) über Op-Art, kinetische Kunst, konkrete Kunst, Minimal Art und Fluxus bis hin zur Land-Art (naturgemäß nur in Relikten und auf Fotografien vorhanden), neuen Realismen und Pop-Art. Doch halt! Es würde zu weit führen, hier alle Spielarten und Protagonisten aufzuzählen. Die Ausstellung ist als Langzeit-Projekt bis (mindestens) zum Hochsommer 2023 angelegt, zwischendurch sollen auch schon mal Exponate ausgewechselt werden.

Die 60er und 70er waren jedenfalls eine Zeit, in der nach und nach mit allem Denk- und Sichtbaren experimentiert wurde, mal ernsthaft und beflissen, mal eher spielerisch oder auch frech. Licht und Bewegung wurden zu neuen Grundelementen der Kunst, die Gattungsgrenzen wurden allseits gesprengt, die Skulpturen von den Sockeln geholt, Nachkriegs-Dogmen der abstrakten Kunst überwunden. Aktionen, Performance und Happenings kamen auf. Nichts schien dauerhaft zu sein.

Konrad Klapheck: „Die Sexbombe und ihr Begleiter“, 1963. Öl auf Leinwand, 89 x 69,5 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Einige der damaligen Kunst-Bewegungen drängten entschieden aus den Museen heraus und in den Lebensalltag hinein. Insofern haftet ihrer jetzigen Präsentation im musealen Zusammenhang auch etwas Widersprüchliches an; ganz so, als würde da etwas einstmals Lebendiges eingezäunt oder gezähmt. Doch wie soll’s denn anders gehen?

Soll man einzelne Arbeiten hervorheben? Wozu? Allzu verschieden sind die künstlerischen Positionen, so dass sich jede(r) die eigene Schneise des Beliebens schlagen sollte. Zieht es einen zu Warhols Mao-Siebdrucken, zur Zeichnung von Cy Twombly, zum Lichtrelief aus der ZERO-Gruppe, zu Wolf Vostells furioser Übermalung des Kennedy-Attentats, zu Horst Antes‘ „Kopffüßler“-Vorläufer oder zu Dieter Kriegs frappierend realistischer „Malsch-Wanne“? Man sollte Parcours nicht stur geradeaus geradeaus absolvieren, sondern sich spontan treiben lassen. Gut möglich, dass einem dann noch etwas mehr vom damaligen Zeitgeist einleuchtet.

„ZERO, Pop und Minimal – Die 1960er und 1970er Jahre“ („Fokus Von der Heydt“). Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Seit 10. April 2022 bis 16. Juli 2023. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12, ermäßigt 10 Euro. Katalog erst gegen Ende des Jahres 2022.

Tel. 0202 / 563-6397

www.von-der-heydt-museum.de

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Beim Pressetermin erhob sich noch eine Quizfrage für Spezialisten: Was wurde anno 1902 früher eröffnet – der Vorläufer des Wuppertaler Von der Heydt-Museums (damals noch Städtisches Museum Elberfeld) oder der Vorläufer des Osthaus-Museums, das damalige Folkwang-Museum in der benachbarten Stadt Hagen?

Lösung: Hagen am 9. Juli 1902, Wuppertal am 25. Oktober 1902. Was aber weiter nichts besagen will, schon gar nicht qualitativ.




„Die Jahre der wahren Empfindung“ – Helmut Böttigers anregendes Buch zur Literatur der 70er

Noch andere Leute hier, die hauptsächlich in den 1970er Jahren literarisch sozialisiert worden sind? Mir wurde es wieder bewusst, als ich jetzt Helmut Böttigers Buch „Die Jahre der wahren Empfindung“ gelesen habe, in dem die 70er laut Untertitel als „wilde Blütezeit der deutschen Literatur“ gelten (wobei es eigentlich „deutschsprachig“ heißen müsste, aber das wäre zu sperrig fürs Cover). Und tatsächlich: Wie reich an lesenswerten, ja aufregenden Büchern ist jenes Jahrzehnt gewesen!

Umschlag des besprochenen Buches: Auf dem rechten Foto sieht man übrigens Nicolas Born und Peter Handke beim gemeinschaftlichen Wassertreten. (Wallstein)

Man könnte jetzt schier endlos Namen und Buchtitel aufzählen. Den Exzess lassen wir mal bleiben. Aber ein paar Beispiele müssen doch genannt sein. Böll, Grass und Siegfried Lenz schienen seinerzeit „irgendwie“ schon ein bisschen vorbei zu sein, Walser noch nicht. Um es mal subjektiv anzugehen: Wahrhaftig habe ich damals vieles von dem gelesen, was Böttiger noch einmal unter die Rückblicks-Lupe nimmt. Peter Schneiders „Lenz“, Karin Strucks „Klassenliebe“, Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy, die Herren Piwitt und Delius, Fritz Zorn („Mars“) und Bernward Vesper („Die Reise“). Ja, sogar eine Verena Stefan („Häutungen“) stand seinerzeit weit oben auf dem Zeitgeist-Zettel. Von diversen Berühmtheiten mal ganz abgesehen. Natürlich einiges von Handke und Bernhard, Enzensberger, Arno Schmidt, Peter Weiss, dann aber auch Gernhardt, der frühe Genazino usw. usw. Jetzt aber Schluss mit dem Namedropping. Die Namen sollen ja nur ungefähr den Rahmen abstecken.

All die kleinen Literaturzeitschriften

Böttiger schreitet mehr oder weniger das ganze Jahrzehnt aus, er vergisst auch nicht zeittypische Phänomene wie die zahllosen hektographierten Literaturzeitschriften und die regen „Szenen“, die sich drumherum entfaltet haben. Selbstverständlich kommt auch die „Vaterfigur“ all dieser Kreise angemessen vor: der begnadete Netzwerker Josef Wintjes aus Bottrop, letztlich einer der literarisch wirksamsten Menschen, die das Ruhrgebiet bislang hervorgebracht hat.

Gewichtiger noch: Spezifische Grundzüge der DDR-Literatur werden ebenso ausführlich erläutert wie die der gleichfalls unverzichtbaren Werke aus der Schweiz und Österreich. Hin und wieder wird’s persönlich, so etwa, wenn harsche Auseinandersetzungen im Literaturbetrieb (Streithähne in der Gruppe 47, später dann der unversöhnliche Konflikt Wagenbach vs. Rotbuch) oder Vorgänge hinter den Kulissen (Marcel Reich-Ranickis unermüdliches Werben um Peter Rühmkorf als FAZ-Mitarbeiter) geschildert werden.

Als die Defizite der Achtundsechziger sichtbar wurden

Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen jedoch vor allem Werke, die die (nicht geringen) Defizite der 68er Polit-Revolte sichtbar gemacht haben. Einen weiteren Hauptstrang bilden verspätete Anknüpfungen deutschsprachiger Literatur bei popkulturellen Entwicklungen. Da gab es, verglichen mit anglophoner Literatur, eine Menge aufzuholen. Nicht nur der wüste Brinkmann, auch Handke hatte hierbei seine Verdienste. Zudem verweist der Buchtitel sowieso auf Handkes „Die Stunde der wahren Empfindung“.

Ab und zu lässt Böttiger diskret durchblicken, dass er manche der literarischen Protagonisten persönlich gekannt hat. Er breitet also nicht nur Bücher-, sondern auch Erfahrungswissen mit Ergänzungen vom Hörensagen aus. Das kann nicht schaden, wenn es so zurückhaltend und nicht auftrumpfend geschieht.

Die „blinden Flecken“ der Wahrnehmung

Man hat damals manches, aber längst nicht alles Wesentliche gelesen. Böttiger macht vielfach Lust darauf, bestimmte Bücher nachzuholen, die nach seinem Dafürhalten auch über ihre Zeit hinaus Gültigkeit besitzen. Nun gut, „Zettels Traum“ von Arno Schmidt werde ich auch jetzt nicht nachträglich durchackern. Doch Uwe Johnsons „Jahrestage“ sollte man sich noch einmal neu vornehmen. Auch habe ich mir speziell diese schmählich versäumten Schriftsteller notiert: Guntram Vesper, Jörg Fauser, Christoph Meckel („Licht“) und Manfred Esser („Ostend“), der mir bislang gar kein Begriff war.

Es gibt eben auch in der literarischen Wahrnehmung sozusagen „tote Winkel“. Übrigens hat Böttiger selbst seine „blinden Flecken“. Dass etwa Wolf Wondratschek nur einmal ganz kurz – wie versehentlich – gestreift wird und Franz Xaver Kroetz überhaupt nicht vorkommt, verwundert denn doch. Und wenn wir schon ein kleines bisschen nörgeln, so soll nicht verschwiegen werden, dass Böttigers absolutes, immer mal wieder verwendetes Lieblingswort offenbar „Suchbewegungen“ lautet. Eine Petitesse? Ja, gewiss. Und noch eins, schon etwas gravierender: Die gelegentlich eingestreuten Fotos sind teilweise hinreißend, aber leider deutlich zu klein geraten. Eine Kostenfrage, schon klar. Das war’s aber auch an Einwänden.

Botho Strauß und seine Abkehr von Adorno

Das Jahrzehnt klingt bei Böttiger mit dem Aufkommen von Botho Strauß und dem Erscheinen seines Bandes „Paare Passanten“ aus. In diesem Buch habe Strauß seine wehmutsvolle Absage an die Dialektik Theodor W. Adornos formuliert. Damit war wohl ein Weg in die so ganz anders gearteten 80er gebahnt. Dazu fällt mir spontan noch ein bezeichnendes Strauß-Zitat ein, es stammt aus seinem damals ebenso gefeierten Stück „Groß und klein“ (Uraufführung 1978, Regie Peter Stein) und lautet schlichtweg: „In den siebziger Jahren finde sich einer zurecht.“ Je nun, sie waren war halt auf ihre Weise so komplex und kompliziert wie jede andere Dekade.

Hinein in die Schlusskurve: Ich erinnere mich mit Befremden an einen Kommilitonen bei den Bochumer Germanisten, der damals mit arroganter Attitüde gesagt hat, bei Thomas Mann (!) höre für ihn die Literatur auf, Gegenwärtiges interessiere ihn nicht. Er ist denn auch ausgerechnet Studienrat für Deutsch geworden. Sagen wir mal so: In Thomas Bernhards Titel „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ würde er zumindest für den ersten Teil einstehen können. Wobei ich gerne zugebe, dass ich hernach nie wieder so entschieden „gegenwärtig“ gelesen habe wie just in der 70ern. Woran es wohl gelegen hat? Wir waren jung und brauchten die Bücher…

Helmut Böttiger: „Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur“. Wallstein Verlag, Göttingen. 473 Seiten, 32 Euro.




Als Frauen aus der Rolle fielen – ein Abend mit Super-8-Filmen der 60er und 70er Jahre beim Frauenfilmfestival in Dortmund

Hoch die Tassen! Auch Alkohol half beim temporären Abschied von gewohnten Rollenbildern. (Screenshot aus dem Film „Feier 197576")

Hoch die Tassen! Auch Alkohol wirkte beim temporären Abschied von gewohnten Rollenbildern mit. (Screenshot aus dem Super-8-Film mit dem Archivtitel „Feier 197576″)

Allenthalben befasst sich die Kultur mit Fakes, Lügen und Täuschungen, so auch das Internationale Frauenfilmfestival IFFF in Dortmund (und Köln). „Bilderfallen“ heißt das Schlagwort zum Schwerpunkt. Natürlich sollen wir (und namentlich Frauen) möglichst nicht in derlei Fallen tappen, sondern allzeit wachsam bleiben oder werden. Nun denn!

Das größte deutsche Filmfestival seiner Art beginnt am 9. April und steht – nach Jahrzehnten mit Silke Räbiger an der Spitze – unter neuer Leitung: Maxa Zoller (44), auf nahezu abenteuerlichen Lebenswegen über die Eifel, London und Kairo ins Revier gekommen, trägt erstmals die Verantwortung. Das Programm, das sie mit ihrem Team zusammengestellt hat, lässt sich hier durchstöbern.

Vor solcher Fülle und Vielfalt mit rund 130 Filmen und Videos aus 38 Ländern kapitulierend, habe ich mich in eine Programmnische begeben und mir vorab 14 Kurzfilme angeschaut, die unter dem Titel „Café Kosmos“ am Samstag, 13. April (18 Uhr, Dortmund, domicil, Hansastraße), im Rahmen des Festivals zu sehen sein werden – garniert mit einem nachfolgenden Gespräch zur Sache.

Die neue Festivalchefin Maxa Zoller (Foto: © Julia Reschucha)

Die neue Festivalchefin Maxa Zoller (Foto: © Julia Reschucha)

Es handelt sich um eine Reihe von Super-8-Filmchen, die durch öffentliche Aufrufe ans Licht gekommen sind, nunmehr digitalisiert vorliegen und also (vorerst) für die Nachwelt gerettet worden sind. Künftig werden sie zur Mediathek Ruhr auf der Essener Zeche Zollverein gehören.

Insgesamt umfasst das Konvolut, das von der Interkultur Ruhr gesammelt und aufbereitet wurde, rund 1000 Schmalfilme. Sicherlich eine Fundgrube zum Privaten, das bekanntlich immer auch politisch ist.

Familiäre Festivitäten und Selbstinszenierungen

Die fürs Festival ausgewählten Super-8-Filme (sämtlich ohne Ton, aber zumeist schon farbig) zeigen überwiegend familiäre Szenen aus dem Ruhrgebiet der 60er bis 80er Jahre; freilich nicht so sehr den ganz normalen Alltag, sondern vielfach private Festivitäten, mithin Geschehnisse an besonderen Tagen. Auch haben wir es hier nur bedingt mit der Wirklichkeit oder gar mit der „Wahrheit“ zu tun, sondern eher mit (Selbst)-Inszenierungen. Die Filme haben also gleichsam (mindestens) einen „doppelten Boden“ und enthalten mutmaßlich auch etliche „Bilderfallen“.

Doch so vertrackt und fallenstellerisch wirken die einzelnen Filme zunächst nicht. Im Gegenteil: Mit diesen kurzen Zeitreisen tauchen wir in familiäre Niederungen scheinbar simplen Zuschnitts ein. Für die Älteren lautet das Motto, frei nach Peter Rühmkorf: „Die Jahre, die ihr kennt“. Wie bogen sich da die Wohnzimmertische unter alkoholischer Schwerlast (Eckes, Asbach, Doppelkorn etc.), wie schrankenlos wurde da Kette geraucht – selbstverständlich auch im Beisein der Kinder!

Nachwirkende Rollenbilder aus der Kittelschürzen-Zeit

Bei näherem Hinsehen zeigen sich – über solche Befunde hinaus – allerlei Rollenmuster einer Gesellschaft, die noch in den Nachwehen der erzkonservativen und elend verklemmten Adenauer-Ära befangen war. Nur ganz allmählich, das lässt sich hier ahnen, traten Frauen aus den ihnen traditionell zugewiesenen Rollen der Kittelschürzen-Zeit heraus. Dies war offenkundig nicht zuletzt unter Alkoholeinfluss der Fall. Einmal richtig „angeschickert“ (wie man damals sagte), fassten sie Mut zu ungeahnt extrovertierten Auftritten im Familien- und Freundinnenkreis.

Es waren vielleicht (fragile und brüchige) Signale eines gesellschaftlichen Aufbruchs, in denen sich spätere Schritte zur Befreiung ankündigen mochten. Doch allzu viel sollte man nicht hineindeuten. Eine gehöriger Anteil der Filme ragt ins Peinliche hinein. Ein Streifen heißt denn auch knapp und unverhüllt „Tanzen und besoffen“. Auf dem Weg zur Befreiung, so ließe sich sagen, gab es auch manche Entgleisungen. Ob Frauen oder Männer: Betrunkene mögen (sofern sie noch dazu in der Lage sind) offener reden und meinetwegen auch neue Rollen erproben, aber fraglos glorifizieren lässt sich das nicht. Andererseits ist Vorsicht geboten: Dies sind auch keine Anlässe, um sich (aus vermeintlich sicherer zeitlicher Entfernung) wohlfeil lustig zu machen.

Schwerelosigkeit im Ruhrgebiets-Partykeller

Immerhin sind Entwicklungen erkennbar: In dem 1961 gedrehten Streifen „Ein Tag wie mancher andere“ ziehen 8 Minuten lang Szenen eines seinerzeit typischen Frauenalltags vorüber. Babypflege, Hausputz, Wäsche, sodann Einkauf und Kochen, damit der Mann, der von der Arbeit kommt, liebevoll umsorgt und bestens versorgt ist, so dass er noch ganz schnell das Kind ins Bettchen legen kann. Hernach liest er die Zeitung, während sie strickt. Damit verglichen, fallen die Frauen in einigen später gedrehten Filmen eben schon mal aus der Rolle. Selbst eine Kegelbahn kann dann zum bizarren Laufsteg werden. Und in dem herzigen Partykeller-Streifen „Kosmos“ erkunden sie, angetan mit Phantasie-Masken wie Dadaistinnen, gemeinsam mit Kindern und Männern gar spielerisch die „Schwerelosigkeit“.

Allerdings erschöpft sich das „Aufbegehren“ hin und wieder auch in der bloßen Bereitschaft, sich im Alkoholdunst von allen abküssen zu lassen, neckisch den Rock zu lupfen oder für Zehntelsekunden blitzartig den Hintern zu zeigen. Aus dem Objektstatus waren die Frauen damit noch lange nicht heraus. Sie erlaubten sich nur kleine Fluchten.

Aber ich will hier nicht den Hobby-Feministen geben. Wahrscheinlich sehen Frauen von heute das alles ganz anders, vielleicht gar als Teil einer „Ahnengalerie“ eigener Befreiungen. Und wahrscheinlich hat der Feminismus schon wieder ein paar allerneueste Wendungen vollzogen, um hierbei theoretische und praktische Folgerungen zu ziehen, von denen bislang kaum zu träumen war. Oder etwa nicht?

Internationales Frauenfilmfestival (IFFF) Dortmund/Köln. 9. bis 14. April. Eröffnung am 9. April um 19:30 Uhr im CineStar Dortmund mit „The Man Woman Case“. Veranstaltungsorte in Dortmund: CineStar, Kino im „U“, Schauburg, domicil. Weitere Informationen:
https://www.frauenfilmfestival.eu/index.php?id=2




So also standen damals die Dinge – Bilder schlürfen, Dialoge trinken auf filmischen Zeitreisen in die 60er und 70er Jahre

In den letzten Wochen und Monaten habe ich zuweilen Streaming-Dienste wie vor allem den auf deutsche Filme spezialisierten Auftritt alleskino.de in Anspruch genommen, um mich auf cineastischem Wege in die späten 60er und frühen 70er Jahre zurückzuversetzen. Warum nur?

Tableau aus Rudolf Thomes Kinofilm von (Screenshot)

Weitwinkel-Tableau aus Rudolf Thomes Kinofilm „Fremde Stadt“ von 1972. (Screenshot)

Es war die Zeit, in der man sein bisschen Bewusstsein herausbildete, in der man sich aber stark und gelegentlich sogar unbesiegbar fühlte, was natürlich auch den einen oder anderen „Kater“ nach sich zog.

Wie sehr ist das alles mit der Zeit geschwunden! Wie kopfschüttelnd und zugleich verständnisinnig sieht man heute die Jungen sich am Weltenlauf abarbeiten.

Nun trinkt, schlürft und inhaliert man geradezu die Signaturen jener alten Zeiten, in denen man selbst so sehr nach vorne schaute. Musikalisch sowieso. Doch auch im Lichtspiel: Man scannt gleichsam jedes einzelne Bild. So also haben die Lichtschalter und Hinterhöfe ausgesehen. So die Möbel. So die Kleidungsstücke. So die Tapeten. So die Autos. So die Straßen und Gebäude. Wie man damals redete und sich gab…

Deutlicher und dringlicher als heute

Und man war ja selbst mitten darin, wohl deutlicher und dringlicher als heute. Eigentlich unfassbar. Es war Botho Strauß, der gegen Ende des Jahrzehnts in seinem Theaterstück  „Groß und klein“ (1978) den nachmals legendären Satz prägte: „In den siebziger Jahren finde sich einer zurecht!“

Es war ein anderes Deutschland damals. Es war anscheinend alles noch so einfach und vergleichsweise übersichtlich verteilt. Wie war das denn noch ohne Handy, Computer und all das Zeug? Wie war das mit den Schreibmaschinen? Man weiß ja kaum noch, wie das gegangen ist. Und was hat man damals versäumt? Wie wirklich und unwirklich hat man gelebt; keineswegs so, wie es einem im Kino vorkommt.

Auf den Spuren von Rudolf Thome

Besonders die Filme von Rudolf Thome („Tagebuch“, „Fremde Stadt“) haben es mir angetan. Nicht, weil sie besondere Meilensteine des Kinos wären, sondern weil sie so viel von dem Lebensgefühl jener Jahre enthalten und bewahren. In all ihrer Unbeholfenheit und Naivität. Oder gerade deshalb. Wie quälend in „Tagebuch“ – mit gesuchtem Bezug auf Goethes „Wahlverwandtschaften“ – Beziehungen durchkonjugiert wurden, jaja, so schrecklich verkopft war das mitunter in den Siebzigern. Und wie Thome beispielsweise versucht hat, amerikanische Gangsterfilme nachzubilden… Mit heißem Bemüh’n, jedoch teilweise mit untauglichen Mitteln, mit unzulänglichen Darstellern. Und dennoch: Respekt! Das damals in diesem Lande so gewagt zu haben, ist ein bleibendes Verdienst.

…und natürlich Wenders, Herzog, Fassbinder

Sogar May Spils‘ „Zur Sache Schätzchen“ habe ich mir noch einmal angetan. Und tatsächlich: Die impulsive Rebellion, das Andersseinwollen ist auch in diesem Film gültig aufbewahrt. Auch Ulrich Schamonis „Alle Jahre wieder“ habe ich mir abermals angeschaut, in dem das altbekannte Spießertum der westfälischen Provinz (Münster) und seine noch zaghaften Gegenkräfte wieder aufleben. Kein Wunder, dass der Streifen alljährlich zur Weihnachtszeit am Hauptdrehplatz wieder und wieder gezeigt wird, wie andernorts nur „Das Leben des Brian“.

Auch Wim Wenders‘ „Alice in den Städten“ und Werner Herzogs „Stroszek“ zählen zum Umkreis der Filme, die mich zuletzt wie magisch angezogen haben. Und ich weiß schon, dass demnächst die üblichen Verdächtigen wieder an der Reihe sein werden: mehr von Wenders, Herzog und Fassbinder. Lieber noch wär’s einem auf der Kinoleinwand, doch zeigt mir bitte das Lichtspielhaus im Ruhrgebiet, in dem nennenswerte Arthouse-Retrospektiven laufen. Dabei wäre das Publikum der passenden Jahrgänge durchaus vorhanden.

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P.S.: Der obige Screenshot kommt erst in Vergrößerung richtig zur Geltung. Ein Hinweis zu Vorgehen:  https://www.revierpassagen.de/groessere-bilder




Journalist damals: Möblierter Herr mit mechanischer Schreibmaschine

„Wie war das Leben ehedem / als Journalist doch angenehm.“ Dieser soeben flugs erfundene, allerdings recht wilhelmbuschig oder nach Heinzelmännchen-Ballade klingende Reim stimmt natürlich inhaltlich nicht, aber ein paar Dinge waren damals doch besser. Oder halt anders.

Zepter und Reichsapfel (alias Typometer und Rechenscheibe) als frühere Insignien der Zeitungsredakteure. (Foto: BB)

Zepter und Reichsapfel (alias Typometer und Rechenscheibe) als frühere Insignien der Zeitungsredakteure. (Foto: BB)

Jetzt erzähl ich euch mal was aus der Bleizeit, jedoch quasi impressionistisch, wie es mir gerade in den Sinn kommt:

Zeitungs-Volontär war ich mit knapp 20 Jahren, bereits vor dem Studium. Damals ging so etwas noch. Ich habe etwa 600 DM (Deutsche Mark) im Monat verdient, es gab jede Menge Abendtermine, lediglich 14 Tage Jahresurlaub und für allfällige Sonntagsarbeit noch keinerlei Freizeitausgleich.

Für die paar Kröten…

Mit anderen Worten: Für die paar Kröten hat man aber so richtig geschuftet – bei der „Westfälischen Rundschau“ (WR) damals letzten Endes für die Kassen der SPD, die WAZ-Gruppe ist erst später eingestiegen. In seinen frühen Zwanzigern hielt man Frondienste dieser Sorte noch klaglos aus; zumal man ja glaubte, den Job für alle kommenden Zeiten sicher zu haben.

Ich fand es sogar aufregend. Meine allererste Meldung mit Cicero-Zeile, meine allererste Reportage, meinen allerersten Gerichtsbericht, meine allererste Theaterkritik (zunächst lokalen Ausmaßes). Alles war noch so neu und frisch. Fotos durfte man ebenfalls machen und in abgedunkelten Hinterzimmern oder dito Toiletten selbst entwickeln. Toll.

Von Ort zu Ort

Man war als „Volo“ gehalten, alle paar Monate von Ort zu Ort zu wechseln (in meinem Falle waren das: Olpe, Ennepetal/Gevelsberg, Hamm, Ahlen mit Zwischenstationen in Dortmund und Wanne-Eickel – ich sag’s euch) und wohnte dort jeweils residenzpflichtig in möblierten Zimmern, die der Verlag angemietet hatte. Ja, ich bin als Jungspund in den frühen 70er Jahren tatsächlich noch ein „möblierter Herr“ gewesen. Schon damals hatte es etwas Vorgestriges.

Andererseits sind Journalisten zu jener Zeit von diversen Institutionen noch ein wenig hofiert und umgarnt worden, auch gab es prozentual und absolut ungleich mehr Zeitungsleser, die überdies noch etwas mehr Respekt hatten. Wir „Zeitungskerle“ (so mein altvorderer Kollege Charly P.) galten noch etwas, jedenfalls auf lokaler Ebene. Da gab’s vielleicht schon mal einen erzürnten Leserbrief, aber keine wüsten Beschimpfungen, erst recht keinen „Shitstorm“ oder gar Drohungen wie hie und da jetzt.

Klare Partei-Präferenzen

Der Deutsche Journalistenverband (DJV) hat kürzlich in seinem Newsletter aus einer Studie über die erschreckenden Erfahrungen zitiert, die viele Kollegen heute, in den Zeiten des „Lügenpresse“-Gegröles, damit machen müssen. Früher waren solche Zustände undenkbar.

Als WR-Redakteur hielt man es damals tunlichst eher mit den Sozialdemokraten. Ruhrnachrichten und Westfalenpost galten hingegen als CDU-nah. Wie hübsch die Präferenzen damals noch verteilt waren… Und damit es nur deutlich gesagt ist: Journalisten fungierten in dieser anscheinend klar gegliederten Welt zuweilen auch als nützliche Idioten, als Erfüllungsgehilfen der Polit-Darsteller ihrer jeweiligen Couleur. Manchmal ging es vollends unverblümt her: Ein WR-Lokalchef war zugleich SPD-Ratsherr – in der Nachbarstadt, so dass er wenigstens nicht über sich selbst berichten musste.

Zigaretten zur Selbstbedienung

Jedenfalls war es in den 70ern und bis in die frühen 80er hinein noch üblich, dass bei so manchen lokalen Pressekonferenzen Kästchen mit Zigaretten zur gefälligen Selbstbedienung auf dem Tisch standen. Geraucht wurde immer und zu jeder Gelegenheit. Der eine oder andere Kollege verließ den Termin nicht, ohne den notorischen „Journalisten-Rollgriff“ angewendet zu haben, sprich: Er nahm noch einige zusätzliche Zichten als Wegzehrung mit. Wie hatte Kurt Tucholsky in den 20er Jahren schon geschrieben: Journalismus sei ein Beruf, den man (nur) mit der Zigarette im Mundwinkel ausüben könne.

Grundnahrungsmittel Bier

Hinzu kam, bevor die Computer Einzug hielten und die Korrektoren eingespart wurden, als tägliches Grundnahrungsmittel mindestens das Bier. Gelegentlich ging es damit schon (oder erst?) mittags los, wenn andere Berufe schon ihren Grundpegel erreicht hatten. Die mit der mechanischen Schreibmaschine gehackten und per Kurier oder Regionalzug zur Zentrale geschickten Manuskripte wurden ja dort allesamt noch mehrfach überprüft. Was sollte also schon passieren? Noch Mitte der 80er Jahre gab es vereinzelt Ausstellungs-Vorbesichtigungen, zu denen stilvoll und kultiviert Cognac gereicht wurde, was allerdings auch mit der Disposition gewisser Museumsleiter zu tun hatte. Zum Wohle? Nun ja. Wie man’s nimmt.

In New York verwöhnt

Heute ziemlich undenkbar wäre auch ein Kulturtermin, der die seinerzeit noch zahlreicheren Regionalblätter von Nordrhein-Westfalen mit einem beachtlichen Tross nach New York führte und aus dem Etat des Düsseldorfer Kulturministeriums bestritten wurde. Einziger Anlass war ein bevorstehendes NRW-Kulturfestival im Big Apple, von dem unsere Leser eigentlich herzlich wenig hatten. Doch man verwöhnte uns geradezu korrumpierend mit Linienflug, Unterkunft in einem noblen Hotel und einem hochinteressanten Programm, das vom Besuch bei der New York Times bis zum eigens polizeilich geschützten Trip durch die seinerzeit so gefährliche Bronx reichte. Als das Land NRW noch glaubte, Geld freihändig ausstreuen zu können…

Auch hättet ihr gestaunt, wenn ihr gesehen hättet, was in der Vorweihnachtszeit an Firmen-Präsenten in unserer Wirtschaftsredaktion eingetroffen ist. Die Kollegen konnten die Gaben schwerlich zurückschicken, machten das Beste daraus und organisierten alljährlich eine Verlosung, zu der sich auch noch unsere betagten Rentner bemühten.

Aber ich verplaudere mich.

Verdichtung der Arbeit

Spätestens seit Anfang der 80er wurde die gesamte Zeitungsbranche mit Aufkommen der Computer recht zügig diszipliniert. Die Arbeit verdichtete sich zusehends, man schrieb nicht nur, sondern war nun auch gleichzeitig Layouter, Setzer, Korrektor und Schlussredakteur. Irgendwann war es so weit, dass man sich keine Mittagspausen mehr erlauben konnte, sondern nur noch hastig etwas nebenbei verschlang. Die Leute, die in den Beruf nachrückten, waren im Schnitt stromlinienförmiger als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen. Vorher gab es noch Typen. Typen…




Leben im Wildwuchs der Lektüren: Ulrich Raulff blickt in die 1970er Jahre zurück

Leicht kommen einem die eigenen Jugendjahre mitsamt den Zwanzigern wie die allerbesten Abschnitte der Geschichte vor. Das waren noch Zeiten. Da fühlte man sich noch (gelegentlich) kraftvoll und schier unverwundbar. Und wie man von Tag zu Tag immer klüger wurde, wie man allen die Stirn bieten wollte…

In solchem Sinne, wenn auch mit nachträglicher Skepsis ausbalanciert, hat Ulrich Raulff jetzt Bruchstücke seiner intellektuellen Autobiographie vorgelegt. Ein weiteres Beispiel fürs Genre „Wenn Großvater erzählt“?

Der 1950 in Meinerzhagen geborene Raulff hat seine historischen und philosophischen Studien vornehmlich in Marburg, Frankfurt und Paris betrieben, sich aber auch in Berlin, England, Italien und den USA umgetan. Man darf da wohl einen gutbürgerlichen Familienhintergrund mit entsprechendem Selbstbewusstsein vermuten.

Raulff

Jedenfalls hat Raulff etwas aus sich gemacht: Er war zeitweise Feuilletonchef der FAZ sowie leitender Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und ist schließlich 2004 Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach geworden. Alles vom Feinsten.

In dem Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern“ erzählt er nun vornehmlich von seinen studentischen Lehr- und Wanderjahren. Der „Nach-68er“ Raulff, der somit an der vermeintlich großen Rebellion nicht beteiligt war, schildert die frühen 70er Jahre als Zeit des überaus heiligen Ernstes aus dem allmählich versiegenden Geiste marxistischer Strömungen und Grüppchen. Welch eine Rechthaberei herrschte da! Wie war man im Gehege des Zeitgeistes gefangen! In so mancher festgefahrenen Debatte ward den Sensibleren unbehaglich zumute. Hier drohte der Absturz ins Kleinbürgerliche, dort das Elend der Polit- und Psychosekten.

Ulrich Raulff beschreibt die vielen, vielen langen Tage, die er in den schönsten und ergiebigsten Bibliotheken verbracht hat. Er selbst baute an der Uni regelmäßig einen Büchertisch auf. Auch die erotische Neigung zu zartsinnigen Mädchen scheint sich allemal durch gehabte oder ersehnte Lektüren angebahnt zu haben. Büchereien, so lernen wir abermals, sind nicht zuletzt Stätten eines im weitesten Sinne erotischen Begehrens. Das Leben und das Lesen waren also nahezu eins.

Als große Befreiung hat der junge Mann es erlebt, im Paris der mittleren und späten 70er Jahre in ein ganz anderes intellektuelles Klima einzutauchen als vormals in Marburg, wo etwa Wolfgang Abendroth das Sagen hatte. In Frankreich waren es die großen Zeiten von Roland Barthes und Michel Foucault. Glückhafter Umstand für die weiteren Jahre: Von Foucault hielt Raulff alsbald ein Empfehlungsschreiben in den Händen, das seinerzeit in Paris und eigentlich weltweit alle Türen der Geisteswelt öffnete. Er und ein Freund hatten sich einfach getraut, den großen Meister anzusprechen…

Der Strukturalismus und seine Vernunftkritik, die etwas später als Import in Deutschland anlangten, erwiesen sich für Raulff als Vademecum gegen den bis dato stramm links dominierten Diskurs. Ideologische Spurwechsel wurden damals vielfach vollzogen. Vom „Auszug aus der Suhrkamp-Kultur“ ist bei Raulff die frohe Rede. Als weiterer Zweig des Bedenkenswerten kam u. a. Aby Warburgs und Erwin Panofskys Ikonologie (Lehre von den Bildern) hinzu, deren Impulse im deutschen Sprachraum von Denkern wie Klaus Theweleit und Ausstellungsmachern wie Harald Szeemann aufgenommen wurden.

Noch heute zeigt sich Raulff so beseelt von jener Zeit, dass er sich vielfach in Einzelheiten verliert. Der Punk kam damals auf und Raulff war Mitbegründer einer eher randständigen Zeitschrift namens „Tumult“. Man vernimmt hie und da Gestus und Duktus eines weltläufigen „Ich war dabei“, doch behält all das einen gewissen Charme und gerät nirgendwo zum Auftrumpfen. Gegen die Gefahren eines Bildungsphilistertums ist Raulff offenbar gefeit.

Auch kann man wahrlich die Wehmut nachvollziehen, mit der Raulff die schweifenden, wildwüchsigen Lektüren beschwört, deren Früchte sich in Zettel- und Karteikästen statt in Computer-Dateien ergossen haben. Jeder Lesende war sozusagen seine eigene Suchmaschine.

Wer damals (wenngleich begrenzter und glanzloser) ebenfalls studiert hat, kann zudem einigen geistigen Signaturen jener Jahre nachspüren, die einen selbst – so oder so – berührt haben. Auch in diesem Sinne sind Raulffs Erinnerungen ein aufschlussreiches Dokument der „Jahre, die ihr kennt“.

Ulrich Raulff: „Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens“. Klett-Cotta. 170 Seiten. 17,95 Euro.




Der Sex von damals ist nur noch ein fader Aufguss – Robert van Ackerens Nachlese „Deutschland privat 2 – Im Land der bunten Träume“

Von Bernd Berke

Ach, wie lang sind sie vorüber: die 60er und 70er Jahre – mitsamt den Super-8-Filmchen, die damals im familiären Kreise oder in zweisamer Verschwiegenheit gedreht wurden.

Als Robert van Ackeren („Die flambierte Frau“) 1980 solche Kostproben unter dem Titel „Deutschland privat“ ins Kino brachte, da hatte man noch den Nachgeschmack jener Jahre auf der Zunge. Es ging einen noch an. Auch deshalb waren die oft neckischen Blicke in Alltag und Intimsphäre der Nation ein Lacherfolg in den Programmkinos. Wer da lauthals geierte, dünkte sich meist weitaus weniger spießig als die Leute auf der Leinwand. Derlei billige Gewissheiten haben sich längst verflüchtigt.

Jetzt gibt’s – aus gehöriger Distanz – den wohl endgültigen Abgesang auf die Ära derSuper-8-Streifen (eine Weltfirma hat kürzlich die Produktion des Materials völlig eingestellt). Der passionierte Super-8-Sammler Van Ackeren zieht jetzt eine späte Fortsetzung ans Licht: „Deutschland privat 2 – Im Land der bunten Träume“.

Wiederum liegt ein Schwerpunkt auf den inzwischen so fern gerückten 70er Jahren. Der Rückgriff ähnelt fast archäologischer Feldforschung. Da schwappt noch die Sexwelle, und die DDR existiert bräsig vor sich hin.

All das Getue und Geschiebe auf Super-8-Filmchen

Gut die Hälfte der 25 Streifen befasst sich explizit mit Sex. Ganz ehrlich: All dies Getue und Geschiebe könnte einem die Freude an der Sache beinahe verleiden. Wir sehen „die“ Deutschen als Exhibitionisten, als heillos enthemmte Nackte. Sexuelle Leistung wird geliefert, gelegentlich bis zum Übersoll. Bloß nicht prüde sein. Von Erotik bleiben höchstens Spurenelemente. Nicht gerade schön, zuweilen trist oder gar abstoßend. Deutschland bizarr.

Das Ganze riecht wie fader Aufguss. Van Ackeren schwört weiterhin auf die Wahrhaftigkeit solcher Amateurfilme. Doch das ist naiv.

Die Auswahl schmort im eigenen Saft

Natürlich waren Formen und Inhalte vielfach anderweitig vorgeprägt – durch Fernsehen, Werbung, kommerzielle Pornos usw. Immerhin: In besseren Momenten werden alteingeführte filmische Mittel als Klischees bloßgestellt. Gleichsam nebenbei. Und rührend unbeholfen.

Zudem erschrickt man über ein paar veritable Fundstücke. Der wohl stärkste Beitrag zeigt, wie sich rebellische DDR-Jugendliche bei ihrem übermütigen Tun gefilmt haben. Vollends abgründig ist die Episode „Ich auf Brautschau“: Ein Mann, der noch bei Mutti wohnt, holt sich gegen Bares blutjunge Frauen aus dem Asien-Katalog ins traute Heim und filmt gierig drauflos. Verklemmt und unverfroren zugleich.

Aufschlussreich wären Vergleiche – mit ähnlichen Filmen etwa aus Frankreich, Italien und England. Oder mit heutigen privaten Hervorbringungen auf DVD und im Internet. Doch Van Ackerens Auswahl schmort im eigenen, schon lange vergorenen Saft.